5 Prinzip 5: Ärztliche Grenzen 5.1 Sich selbst schützen Eigene Grenzen wahren Respektieren Sie sich als Mensch. Respektieren Sie sich als Arzt. Respektieren Sie Ihre Grenzen. Arztsein bedeutet auch, Grenzen zu besitzen und zu beachten, ohne Zäune zu ziehen. Bevor auf Details von typischen, ärztlichen Belastungen eingegangen wird, machen Sie sich bitte klar, wie Sie konkret mit belastenden Situationen umgehen – und ob Sie das eher schwächt oder nicht. Selbsttest: Umgang mit belastenden Situationen Wenn ich in einer belastenden Situation bin, dann … Ja Nein » 쐌 bleibe ich stetig bei dem Thema, um das es mir geht. 쐌 spreche ich deutlich und ruhig. 쐌 bleibe ich bei mir und versuche, nicht ins Persönliche abzudriften. 쐌 habe ich die Situation, wenn sie vorbei ist, abgehakt, hänge also nicht nach. 쐌 kann ich meine eigenen Emotionen erkennen; d. h. ich verstehe, was ich selbst entwickelt habe und was das Verhalten des anderen mit mir gemacht hat. 쑽 192 5 Prinzip 5: Ärztliche Grenzen 쑽 쐌 denke ich nach einer ausreichend langen Pause noch einmal so distanziert es geht darüber nach. 쐌 lerne ich daraus, d. h. ich ändere etwas (Lernen bedeutet immer Änderung). Machen Sie sich nun auch bewusst, welche Gefühle von Patienten Sie in aller Regel belasten, denn auch ein Gefühl als solches kann Ihre eigenen Grenzen überschreiten. Selbsttest: Belastende Gefühle » Welche Gefühle belasten Sie und wie stark, wenn diese von anderen, wie z. B. Ihren Patienten, geäußert werden – oder wie empfinden Sie sie? Belastet mich nicht kaum oft meistens immer Trauer Hoffnungslosigkeit Wut Verzweiflung Missgunst Stress Misstrauen Sorge Angst Anspannung Leid Elend Einsamkeit Selbstmitleid Depression Resignation Verlegenheit Enttäuschung Maßlosigkeit 쑽 5.1 Sich selbst schützen 193 쑽 Anspruchsdenken Dankbarkeit Nähe Ungläubigkeit Unsicherheit Neugierde Überheblichkeit Hoffnung Verehrung Ehrfurcht Wehleidigkeit Grenzen erkennen und einhalten Die Anforderungen an Ärzte wachsen stetig. Im Fachlichen werden sie über vorgeschriebene Fortbildungen und die Vorschriften der Leitlinien (evidenzbasierte Medizin) gefordert, im Persönlichen sollen sich Ärzte an den Patienten als Partner gewöhnen und im Wirtschaftlichen sollen sie nun auch Meister werden [95]. Den nicht sicher beeinflussbaren Krankheitsverlauf zu begleiten, die immer neuen Vorschriften zu akzeptieren, sich allgemein dem Thema Krankheit, Leid und Tod zu stellen, verbraucht massiv innere Ressourcen. Dennoch vergessen viele Ärzte, ihre Ressourcen wieder aufzufüllen oder weniger abfließen zu lassen. Weniger Lebensenergie zu verbrauchen läuft über die strikte Beachtung eigener Grenzen und der Grenzen der Patienten und Mitarbeiter ab. Die Gesellschaft versucht Grenzen abzubauen – Grenzen zwischen Staaten, Grenzen zwischen Kulturen, Grenzen zwischen Wirtschaftsräumen. Das mag alles hilfreich sein, aber im menschlichen Bereich braucht es unabdingbar Grenzen, um sich selbst von anderen differenzieren zu können, um selbst bewusst zu bleiben. Auf körperlicher Ebene hilft uns automatisiert unser Immunsystem, auf der Ebene des Selbst müssen wird selbst darauf achten. Grenzüberschreitungen finden oft unbewusst statt, sowohl vonseiten des Arztes aus als auch vom Patienten. Sie können über die Sprache erfolgen, über Gesten, über Inhalte. Viele Chancen bieten sich gerade deshalb im ärztlichen Bereich, weil das Verhältnis zwischen Arzt und Patient so nah ist. Je näher man einem anderen Menschen steht, umso höher wird das Risiko, dessen Grenzen zu verletzen. Souverän wirken Sie, wenn Sie zu Ihren Grenzen stehen: Lieber Patient, bis hierhin und nicht weiter. Zur Grenzerkennung gibt es eine intensive und aufschlussreiche Übung, bei der die Ausführenden erkennen, wie weit der Raum tatsächlich ist, den sie 194 5 Prinzip 5: Ärztliche Grenzen um sich herum brauchen. Die Überraschung ist groß, wenn sie feststellen, rundum teilweise bis zu zwei Meter Raum zu benötigen, um sich wirklich sicher zu fühlen. Als Arzt müssen Sie ununterbrochen diese Grenze überschreiten – letztlich gegen den Patienten und auch gegen sich selbst. Sie sind also bei Ihren Patienten grenzverletzend tätig und nicht wenige Patienten sind es Ihnen gegenüber, wenn sie sich Ihnen zu sehr nähern. Bei Grenzbereichen wird die soziale von der persönlichen und der intimen Zone unterschieden: 쐌 Die soziale Zone ist die, in welcher sich Menschen in der Regel ohne große Angst und rasch untereinander wohlfühlen. Sie beginnt bei etwa drei Meter Abstand bis hin zu etwa einem Meter und zwanzig Zentimetern. 쐌 Die persönliche Zone müssen Sie als Arzt praktisch von Null auf Hundert erreichen, was eine, wenngleich in der Regel unbemerkt bleibende, Herausforderung ist. Die persönliche Zone reicht von etwa einem Meter zwanzig bis zu etwa 80 Zentimetern. Es ist die Zone des Vertrauens und der nahen, persönlichen Begegnung. 쐌 Meistens kommen Sie Ihren Patienten aber noch näher (beispielsweise bei einer Injektion) – interessanterweise tun das die Fachgruppen wie Psychotherapeuten, die sich besonders intensiv mit den Problemen der ihnen Anvertrauten befassen, nicht: Sie sind darauf bedacht, die persönliche Zone nicht zu unterschreiten. Sobald Sie am anderen Menschen etwas tun oder genau betrachten müssen, dringen Sie in dessen Intimzone ein. Bei jedem direkten oder nahen Kontakt sind Sie in der Intimzone des anderen – und der in Ihrer. Das kann unbewusst Angst machen. Diese Zone ist nämlich den tatsächlichen Intimkontakten zwischen zwei Menschen vorbehalten und wird in diesem Sinn verletzt. Der Arztberuf verlangt immer wieder nach dieser Leistung; der beste Umgang mit den eigenen Grenzen ist, sie ansonsten strikt zu beachten. Rücken Sie also Ihren Patienten nur kurz – und nur wenn es wirklich notwendig ist – zu nah auf die Pelle und achten Sie umgekehrt genauso darauf. Aber es gibt nicht nur Grenzen und Grenzüberschreitungen in Meter und Zentimeter. Noch stärker wirken Grenzüberschreitungen in sprachlich-inhaltlicher Hinsicht. Da unser Nerven-Sinnes-System kein Müllschlucker ist, liegt es in unserer Entscheidung und Macht, zwischen Inhalten zu trennen, die wir an uns heranlassen und vor denen wir uns abschotten – und noch mehr, vor denen wir unsere Kinder abschotten sollten. Hier machen stringente Grenzen Sinn und nutzen uns, indem wir Energie behalten statt Adrenalin auszuschütten. Stopfen Sie jedes Kuchenstück in sich hinein, das vor Ihnen liegt? Schlafen Sie mit jedem Menschen, der sich dafür vielleicht anbieten würde? Sicher nicht. Aber wie gehen Sie mit den visuellen und akustischen Reizen um, die Ihnen von der Umwelt angeboten werden, beispielsweise über Fernsehnachrichten? Schotten Sie sich da genügend ab? Meinen Sie, es tut Ihnen gut, zerstückelte Leichen, 5.1 Sich selbst schützen 195 Unglücke, Unfälle, Ängste, Risiken und sonstige Belastungen täglich zu sehen? Oder sind Sie der Meinung, Nachrichten seien objektiv? Ulrich Wickert sagte dazu, jede Nachrichtensendung sei allein durch die Auswahl der Themen manipulativ. Die Erde und die Menschen produzieren Hunderttausende Nachrichten an jedem Tag, und in den Nachrichtensendungen hören Sie davon zehn bis 20 Nachrichten, fast allesamt negativ. Allein der zahlenmäßige Unterschied zwischen den vorhandenen und den benannten Nachrichten ist so krass, dass von Objektivität keine Rede sein kann. Umgang mit Störungen Jede Störung überschreitet die Grenze Ihres Arztseins. Störungen können mittelbar und unmittelbar auftreten, es sind entweder 쐌 Unterbrechungen, z. B. durch Pharmareferenten, Mitarbeiter oder Telefonate, 쐌 akustische Störungen, z. B. Gespräche auf dem Gang oder im Nebenraum, Lärm von draußen oder laute Geräte oder Instrumente, 쐌 selbst verantwortete Inhalte, z. B. Partnerschaftsprobleme, Finanzprobleme, Sehnsüchte oder auch Trauer und 쐌 visuelle Störungen, z. B. schlechte Beleuchtung (unzureichend, zu grell), grelle Wand- oder Fußbodenfarben, Einrichtungsgegenstände, Blinklicht. Übung: Störblatt » Energie wird Ihnen wesentlich durch Störungen geraubt. Damit Sie konkret darauf reagieren können, empfehle ich Ihnen, ein Störblatt zu führen. Minimal brauchen Sie dafür eine Woche, maximal zwei. Wenn Ihnen danach doch noch wichtige Störfaktoren auffallen, können Sie frei darauf reagieren. Nutzen Sie dafür das Störblatt (Abb. 5-1). Schreiben Sie jede Störung auf, wie lange sie dauert und wann sie stattfand. Wahrscheinlich werden Sie erkennen, dass es Zeiten gibt, während denen Sie eher gestört werden, und Zeiten, in denen Sie eher Ruhe haben. Meistens gibt es vormittags mehr Störungen als nachmittags. Legen Sie in Zukunft wichtige Aufgaben in Zeiträume, bei denen weniger Störungen wahrscheinlich sind. Das ist ein wichtiger Teil Ihrer Prioritätensetzung. Setzen Sie Zeiten fest, in denen Sie sich unter keinen Umständen stören lassen möchten, und teilen Sie Ihren Mitarbeitern mit, dass diese Zeiten notwendig sind, damit Sie konzentriert und ungestört arbeiten können. Schließen Sie dann unbedingt Ihre Tür. Eine offene Tür wirkt extrem einladend. Sie wollen in dieser Zeit aber niemanden einladen. Legen Sie auch Zeiten fest, in denen Sie für Ihre Mitarbeiter zuverlässig da sind. Wenn alles nichts hilft, stellen Sie das Telefon ab und fahren den Computer runter oder verlassen Sie das Ambiente und verziehen sich irgendwohin, wo Sie nie-