A ANNA FREUD ANNA FREUD Die jüngste Tochter Sigmund Freuds arbeitete mit ihm zusammen und führte sein Werk weiter. Nach der Emigration konzentrierte sie sich in London vor allem auf den Bereich der Kinderanalyse, zu deren Pionier/innen sie zählt. Anna Freud (1895–1992) interessierte sich früh für die Arbeiten ihres Vaters. Zwischen 1918 und 1920 sowie * zwischen 1922 und 1924 unterzog sie sich einer Psychoanalyse bei ihm. Ab der 1923 diagnostizierten Krebserkrankung Sigmund Freuds wurde sie seine engste Vertraute und unentbehrliche Hilfe in organisatorischen und gesundheitlichen Belangen: Sigmund Freud selbst bezeichnete seine Tochter in einem 1 am 2. Mai 1935 verfassten Brief an den Schriftsteller Arnold Zweig als „[s]eine treue Anna-Antigone“. Nach dem Tod von Sigmund war Anna Freud in London an der Herausgabe der Gesammelten Werke (1940–1952) Sigmund Freuds wie auch an der englischsprachigen Standard Edition (1953–1974) beteiligt. Im Unterschied zu Sigmund Freud, der Kinder nur gelegentlich behandelte, konzentrierte sich Anna Freud auf die systematische Entwicklung der Kinderanalyse. 1927 veröffentlichte sie ihre Schrift Einführung in die Technik der Kinderanalyse, in der sie die Unterschiede zwischen Kinderanalyse und Erwachsenenanalyse aufzeigte. Die ausgebildete Volksschullehrerin schuf außerdem die Voraussetzungen für eine psychoanalytisch inspirierte Pädagogik. Lernen begriff Anna Freud stets als ein doppeltes: der Lehrer/die Lehrerin lehrt nicht nur, sondern lernt von den Schüler/innen, der Analytiker/die Analytikerin von den Patient/innen. Anna Freuds wichtigstes theoretisches Werk ist Das Ich* und die Abwehrmechanismen (1936). Sie zieht darin klinische Beispiele heran, womit die theoretischen Behauptungen anschaulich und nachvollziehbar gemacht werden. ‚Theorie‘ entspricht hier auch dem ursprünglich altgriechischen Sinne: Anschauung, Betrachtung. Die Zusammenführung von theoretischer und praktischer Arbeit charakterisiert ebenfalls die von Anna Freud gemeinsam mit ihrer amerikanischen Freundin und Kollegin Dorothy Burlingham (1891–1979) gegründeten Kindergruppen: In Wien* eröffneten die beiden Kinderpsychoanalytikerinnen und Pädagoginnen 1937 die ‚Jackson-Krippe‘ am Rudolfsplatz, in der Kleinkinder aus sozial schwachen Familien betreut, aber auch Psychoanalytiker/innen ausgebildet wurden. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde die Einrichtung im März 1938 geschlossen. In London richtete Anna Freud ein Kriegskinderheim für Kinder von alleinstehenden Eltern ein, nach Kriegsende betreute sie sechs deutsch-jüdische Waisenkinder, die allesamt ihre frühen Kinderjahre in der Abteilung für mutterlose Kinder des Konzentrationslagers Theresienstadt verbracht hatten. 1952 eröffnete sie die ‚Hampstead Child Therapy Courses‘, einen Ausbildungslehrgang für Kinderpsychoanalytiker/innen, der fünf Jahre später um eine Klinik ergänzt und nach Anna Freuds Tod am 3. Oktober 1982 in ‚Anna Freud Centre‘ umbenannt wurde. Jene von Sigmund Freud entwickelten Konzepte, die Zielscheibe der feministischen Kritik wurden – Penisneid, Kastrationskomplex, Phaseneinteilung der kindlichen Sexualität* – wurden auch von Anna Freud übernommen. Dies erklärt auch, wieso ihr Werk keinen Einfluss auf die feministische Theoriebildung ausübte. Gleichwohl zeichnen sich Anna Freuds Schriften durch einen multikausalen Zugang aus; ihre Arbeit mit Kindern erfolgte stets auf einer sehr breiten Basis, die dem jeweiligen familiären, sozialen und kulturellen Kontext große Bedeutung zugesteht. Anna Freud war für die Gründung des Sigmund Freud Museums eine Schlüsselfigur. Ihrem Engagement ist es zu verdanken, dass in den Räumlichkeiten der Berggasse 19* seit über vierzig Jahren das Werk und Leben Sigmund Freuds interessierten Besucher/innen aus aller Welt vermittelt wird. 1 Freud, Sigmund/Zweig, Arnold: Briefwechsel. Hg. v. Ernst L. Freud, Frankfurt/Main: Fischer 1968, S. 116-117, S. 116. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 1 B BERGGASSE 19 ANNA FREUD FREUD Ein Erinnerungsort in mehrfacher Hinsicht, der Folgendes barg: die Praxis von Victor Adler im einstöckigen Vorgängerbau; die Privatwohnung der Familie Freud von 1891 bis 1938 auf Top 5 im Mezzanin; die Praxis von Sigmund Freud auf Top 4 im Hochparterre von 1891 bis 1908 und auf Top 5 im Mezzanin von 1908 bis 1938. Zwischen Frühjahr 1939 und Ende 1941 wurden Top 5 und Top 6 als „Juden-Sammelwohnungen“ und ab 1942 als Mietwohnungen eingesetzt. 1971 wurde in den Räumlichkeiten der ehemaligen Praxis das Sigmund Freud Museum eröffnet. Seit 2006 ist das Haus im Besitz der Sigmund Freud Privatstiftung. In einem Brief an seine Verlobte Martha Bernays (1861–1951) beschrieb Sigmund Freud am 18.8.1881 seine Vorstellung von einer „kleine[n] Welt von Glück*“. Ab 1891 wurde diese von den beiden in ihrer Wohnung in der Berggasse 19 verwirklicht. „[…] O mein teures Marthchen, wie arm wir sind! Wen wir mitteilen sollten, wir wollen miteinander leben, und sie fragen uns: Was bringt ihr dazu mit? Nichts als daß wir einander liebhaben. Und sonst nichts? Wir brauchen doch zwei oder drei Zimmerchen, um darin zu wohnen und zu essen und einen Gast zu empfangen und einen Herd, auf dem das Feuer für die Mahlzeiten nicht ausgeht. Und was da alles drinnen sein soll. Tische und Stühle, Betten, Spiegel, eine Uhr, die die Glücklichen an den Lauf der Zeit erinnert, ein Lehnstuhl für eine Stunde behaglicher Träumerei, Teppiche, damit die Hausfrau leicht den Boden rein halten kann, Wäsche mit zierlichen Bändern gebunden im Kasten und Kleidchen von neuem Schnitt und Hüte mit künstlichen Blumen, Bilder an der Wand, Gläser für alltägliches Wasser und festlichen Wein, Teller und Schüsseln, eine kleine Vorratskammer, wenn uns plötzlich der Hunger oder ein Gast überfällt, ein großer Schlüsselbund, der hörbar klirren muß, und es gibt so viel, woran man sich freuen kann, die Bücherei und das Nähtischchen und die vertrauliche Kampe, und alles muß in gutem Stand gehalten werden, sonst sträubt sich die Hausfrau, die ihr Herz in kleine Stückchen geteilt hat, für jedes Gerät eines. Und dies Ding muß von der ernsten Arbeit zeugen, die das Haus zusammenhält, dies andere von Kunstsinn, von teuren Freunden, an die man sich gerne erinnert, von Städten, die man gesehen, von Stunden, die man gerne zurückrufen möchte. Dies alles, eine kleine Welt von Glück, von stummen Freunden und Zeugen edler Menschlichkeit, es muß alles erst kommen, es ist noch das Fundament des Hauses nicht gelegt, nur zwei arme Menschenkinder sind da, die sich so unsagbar 2 liebhaben.“ => Arbeitsauftrag: Wir wissen lediglich, wie die Aufteilung der Wohnräume der Familie Freud vor der Emigration nach London im Jahr 1938 ausgesehen hat (siehe Plan A nächste Seite). Diskutiert in Kleingruppen eine mögliche Raumaufteilung der Berggasse 19 im Jahr 1908 und zeichnet diese in Plan B ein. Ab diesem Zeitpunkt bewohnte die Familie Freud beide Wohnungen im Mezzanin. Insgesamt gehörten zumindest drei erwachsene Familienmitglieder (Sigmund Freud, seine Frau Martha und seine Schwägerin Minna) sowie sechs Kinder zwischen 13 und 21 Jahren (Mathilde: Jg. 1887; Martin: Jg. 1889; Oliver: Jg. 1891; Ernst: Jg. 1892; Sophie: Jg. 1893; Anna*: Jg. 1895) zum Haushalt. Freud, Sigmund: Brautbriefe. Briefe an Martha Bernays aus den Jahren 1882 –1886. Hg. v. Ernst L. Freud, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 1960, S. 26. 2 NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 2 Plan A: Wohn- und Arbeitsräume der Familie Freud im Mai 1938 NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 3 Plan B: So könnte es im Jahr 1908 gewesen sein… NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 4 C COUCH ANNA FREUD Wie kaum eine andere Denkschule ist die Psychoanalyse mit einem Möbel verbunden: die Couch. Sie wurde zum Emblem der Psychoanalyse schlechthin. Freud nannte sie mitunter Ruhebett und bedeckte sie mit orientalischen Teppichen und Kissen. Er nahm hinter dem Kopfende Platz, von wo er aus den Erzählungen seiner Patient/innen folgte. Sigmund Freud bat seine Patient/innen, auf der Couch Platz zu nehmen und sich hinzulegen. Sie sollten dort der Grundregel der ‚freien Assoziation‘ folgen und all das berichten, was ihnen in den Sinn kam. Die Liegeposition sollte unterdessen das Berichten von unbewusstem Material fördern. Ein weiterer Vorteil für dieses Behandlungssetting ist der Umstand, dass es zwischen Patient/in und Analytiker/in keinen direkten Augenkontakt gibt: der Patient/die Patientin kann so unbefangener seinen Blick nach innen richten und all seine/ihre Einfälle mitteilen, ohne von den Reaktionen des Analytikers/der Analytikerin beeinflusst zu werden. Freilich ist die Couch ein von vornherein sexualisiertes Möbel. Sigmund Freuds Couch, die heute im Freud Museum London ausgestellt ist, wurde ihm um 1890 von einer dankbaren Patientin geschenkt. In dem Text ‚Zur Einleitung der Behandlung‘ aus dem Jahr 1913 beschrieb Sigmund Freud das „Zeremoniell“ der therapeutischen Behandlung: „[…] ein Wort über ein gewisses Zeremoniell der Situation, in welcher die Kur ausgeführt wird. Ich halte an dem Rate fest, den Kranken auf einem Ruhebett lagern zu lassen, während man hinter ihm, von ihm ungesehen, Platz nimmt. Diese Veranstaltung hat einen historischen Sinn, sie ist der Rest der hypnotischen Behandlung, aus welcher sich die Psychoanalyse entwickelt hat. Sie verdient aber aus mehrfachen Gründen festgehalten zu werden. Zunächst wegen eines persönlichen Motivs, das aber andere mit mir teilen mögen. Ich vertrage es nicht, acht Stunden täglich (oder länger) von anderen angestarrt zu werden. Da ich mich während des Zuhörens selbst dem Ablauf meiner unbewußten Gedanken überlasse, will ich nicht, daß meine Mienen dem Patienten Stoff zu Deutungen geben oder ihn in seinen Mitteilungen beeinflussen. Der Patient faßt die ihm aufgezwungene Situation gewöhnlich als Entbehrung auf und sträubt sich gegen sie, besonders wenn der Schautrieb (das Voyeurtum) in seiner Neurose eine bedeutende Rolle spielt. Ich beharre aber auf dieser Maßregel, welche die Absicht und den Erfolgt hat, die unmerkliche Vermengung der Übertragung mit den Einfällen des Patienten zu verhüten, die Übertragung zu isolieren und sie zur Zeit als Widerstand scharf umschrieben hervortreten zu lassen. Ich weiß, daß viele Analytiker es anders machen, aber ich weiß nicht, ob die Sucht, es anders zu machen, oder ob ein Vorteil, den sie dabei 3 gefunden haben, mehr Anteil an ihrer Abweichung hat. => Arbeitsauftrag: Erzähle einem Freud oder einer Freundin von etwas, das dich gerade beschäftigt – z.B. einem Traum* oder einer Erinnerung* – im Liegen. Danach tauscht die Rollen. Anschließend diskutiert eure Erfahrungen, im Liegen zu erzählen bzw. einem/einer Liegenden zuzuhören. 3 Freud, Sigmund: ‚Zur Einleitung der Behandlung‘, in: Gesammelte Werke VIII. Werke aus den Jahren 1909 1913. London 1943, S. 453-478, S. 467. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 5 D DROGEN ANNA FREUD „Ich brauche viel Kokain. Auch das Rauchen habe ich seit 2-3 Wochen […] wieder in bescheidenem Maß aufgenommen. […] Ich habe es wieder begonnen, weil es mir immer gefehlt hat (nach 14monatlicher Abstinenz) und weil ich den psychischen Kerl gut behandeln muss, sonst arbeitet er mir nichts. Ich verlange sehr viel von ihm. Die Plage ist meist übermenschlich.“ (Sigmund Freud an Wilhelm Fließ, 12.6.1895) Sigmund Freud experimentierte im Jahr 1883 mit Kokain und veröffentlichte zwischen 1884 und 1887 fünf Aufsätze darüber. Am bekanntesten ist die im Juli 1884 erschienene Schrift ‚Über Coca‘, in der Freud 4 zukünftige „Anwendungen, die auf der anästhetisierenden Eigenschaft des Cocains beruhen“, in Aussicht stellte. Für die Entdeckung der lokalanästhetischen Wirkung des Kokains am Auge wurde jedoch sein Kollege, der Wiener Augenarzt Carl Koller berühmt. Durch Sigmund Freuds Studie auf das Kokain aufmerksam gemacht, veröffentlichte dieser im September 1884 seine bahnbrechenden Ergebnisse. In den Briefen an seine Verlobte Martha Bernays berichtet er mehrfach vom eigenen Kokain-Konsum. Zum damaligen Zeitpunkt waren die suchterzeugenden Potenzen des Kokains noch nicht eindeutig erkannt. Was wiederum den Alkohol angeht, so erkannte Sigmund Freud dessen Qualität, Stimmungslagen zu verändern. „Unter dem Einfluß des Alkohols“, schrieb er in seiner Studie Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905), „wird der Erwachsene wieder zum Kinde, dem die freie Verfügung über seinen Gedankenablauf ohne 5 Einhaltung des logischen Zwangs Lust bereitet.“ Auf die Wirkungen von Rauschmittel kam Sigmund Freud auch in seinem Spätwerk in Das Unbehagen in der Kultur (1930) zu sprechen. Er untersuchte darin die Möglichkeiten des Menschen, Glück* und Unglück zu erfahren. Das Leiden drohe von drei Seiten: vom eigenen Körper, von der Außenwelt und schließlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen. Der „Druck dieser Leidensmöglichkeiten“, so Sigmund Freud, ist also enorm, und es sei nur verständlich, dass die Menschen unterschiedliche Methoden ausprobieren, Leid zu verhüten. Eine davon ist die Intoxikation: „[…] die Intoxikation. Ich glaube nicht, daß irgendwer ihren Mechanismus durchschaut, aber es ist Tatsache, daß es körperfremde Stoffe gibt, deren Anwesenheit in Blut und Geweben uns unmittelbare Lustempfindungen verschafft, aber auch die Bedingungen unsres Empfindungslebens so verändert, daß wir zur Aufnahme von Unlustregungen untauglich werden. Beide Wirkungen erfolgen nicht nur gleichzeitig, sie scheinen auch innig miteinander verknüpft. Es muß aber auch in unserem eigenen Chemismus Stoffe geben, die ähnliches leisten, denn wir kennen wenigstens einen krankhaften Zustand, die Manie, in dem dies rauschähnliche Verhalten zustande kommt, ohne daß ein Rauschgift eingeführt worden wäre. Überdies zeigt unser normales Seelenleben Schwankungen von erleichterter oder erschwerter Lustentbindung, mit denen eine verringerte oder vergrößerte Empfänglichkeit für Unlust parallel geht. Es ist sehr zu bedauern, daß diese toxische Seite der seelischen Vorgänge sich der wissenschaftlichen Erforschung bisher entzogen hat. Die Leistung der Rauschmittel im Kampf um das Glück* und zur Fernhaltung des Elends wird so sehr als Wohltat geschätzt, daß Individuen wie Völker ihnen eine feste Stellung in ihrer Libidoökonomie eingeräumt haben. Man dankt ihnen nicht nur den unmittelbaren Lustgewinn, sondern auch ein heiß ersehntes Stück Unabhängigkeit von der Außenwelt. Man weiß doch, daß man mit Hilfe des ‚Sorgenbrechers‘ sich jederzeit dem Druck der Realität entziehen und in einer eigenen Welt mit besseren Empfindungsbedingungen Zuflucht finden kann. Es ist bekannt, daß gerade diese Eigenschaft der Rauschmittel auch ihre Gefahr und Schädlichkeit bedingt. Sie tragen unter Umständen die Schuld daran, daß große Energiebeträge, die zur Verbesserung des menschlichen Loses verwendet werden könnten, 6 nutzlos verlorengehen.“ 4 Freud, Sigmund: Schriften über Kokain [1884-1887]. Hg. u. eingel. v. Albrecht Hirschmüller, 2., korr. Aufl. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1999, S. 83. 5 Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten [1905]. Gesammelte Werke VI, London 1940, S. 142. 6 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur [1930], in: Gesammelte Werke IV. Werke aus den Jahren 1925 1931, London: Imago Publishing Co. 1948, S. 436f. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 6 E ERINNERUNG ANNA FREUD Bei Erinnerungen handelt es sich nicht um objektive Abbilder vergangener Realität, sondern immer um selektive und standortgebundene Versionen und Konstruktionen von Vergangenheit. Im Unterschied zu Gedächtnisinhalten können Erinnerungen sich selbst nicht „beigebracht“ werden. In der psychoanalytischen Sitzung spielen Erinnerungen eine zentrale Rolle und können durch das Überwinden von Verdrängungswiderständen freigelegt werden. Sigmund Freud hat keine systematische psychoanalytische Gedächtnistheorie ausgearbeitet. Nichtsdestotrotz * kann die Psychoanalyse als Erinnerungsverfahren, das die Überwindung von Verdrängungswiderständen zum Ziel hat, begriffen werden. Nach Freud sind alle Erinnerungen, auch aus der frühesten Kindheit, erhalten und in verschiedenen ‚mnestischen Systemen‘ [‚mnestisch‘ bedeutet: die Erinnerung, das Gedächtnis betreffend] niedergeschrieben. Wenn wir uns an Ereignisse nicht erinnern können, so weil sie verdrängt wurden. Schon in seinen frühen Schriften vor der Traumdeutung wird deutlich, dass Sigmund Freuds Erinnerungsbegriff von den damals gängigen Abbild- und Speichertheorien des Gedächtnisses abweicht. Sigmund Freud erkannte, dass weniger ein Ereignis als solches, als vielmehr dessen anschließenden Verarbeitung in der Erinnerung Bedeutung zukommt. Diese Einsicht wird in seinem Konzept der ‚Nachträglichkeit‘ gefasst: Erfahrungen, Eindrücke, Erinnerungsspuren werden zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund neuer Erfahrungen und mit dem Erreichen anderer Entwicklungsstufen umgearbeitet. Sie erhalten so einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirksamkeit. => Arbeitsauftrag: Diskutiert vor dem Hintergrund des angeführten Zitats aus dem Text ‚Über Deckerinnerungen‘ (1899) eigene frühe Kindheitserinnerungen in Kleingruppen! „Vielleicht ist es überhaupt zweifelhaft, ob wir bewußte Erinnerungen aus der Kindheit haben, oder nicht vielmehr bloß an die Kindheit. Unsere Kindheitserinnerungen zeigen uns die ersten Lebensjahre, nicht wie sie waren, sondern wie sie späteren Erweckungszeiten erschienen sind. Zu diesen Zeiten der Erweckung sind die Kindheitserinnerungen nicht, wie man zu sagen gewohnt ist, aufgetaucht, sondern sie sind damals gebildet worden, und eine Reihe von Motiven, denen die Absicht historischer Treue fern liegt, hat diese 7 Bildung sowie die Auswahl der Erinnerungen beeinflußt.“ 7 Freud, Sigmund: ‚Über Deckerinnerungen‘ [1899], in: Gesammelte Werke I. Werke aus den Jahren 1892 1899, S. 529 554, S. 553f. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 7 F FINGERÄGELBEIßEN ANNA FREUD Fingernägelbeißen wie auch Ritzen gehören zum so genannten autoaggressiven oder selbstverletzenden Verhalten (SVV), das beim Menschen u.a. durch Stress, Nervosität oder Verhaltensstörungen ausgelöst werden kann. Da die Aggression auf sich selbst und nicht die/den Aggressor/in gerichtet wird, gleicht es auch einer Art von „Selbstkastration“. Bei Schafen hingegen stellt das Auffressen der Klauen eine Form des Kannibalismus dar. In Sigmund Freuds Gesammelten Werken gibt es keinen Eintrag zu ‚Fingernägelbeißen‘, wohl aber Beobachtungen zu Phänomenen der Selbstschädigung und Selbstzerstörung. Freud sprach in diesem 8 Zusammenhang von einer Verkehrung des Selbsterhaltungstriebes. In seinem ‚Abriss der Psychoanalyse*‘ (1938) hielt Sigmund Freud außerdem fest: „Zurückhaltung von Aggression ist überhaupt ungesund, wirkt krankmachend (Kränkung). Den Übergang von verhinderter Aggression in Selbstzerstörung durch Wendung der Aggression gegen die eigene Person demonstriert oft eine Person im Wutanfall, wenn sie sich die Haare rauft, mit den Fäusten ihr Gesicht 9 bearbeitet, wobei sie offenbar diese Behandlung lieber einem anderen zugedacht hätte.“ Bis Ende der 1980er Jahre wurden die typischen Symptome von SVV – insbesondere die offene Selbstbeschädigung der Haut zählt hierzu – nur vereinzelt diagnostiziert. Seit den 1990er Jahren kommt SVV breite öffentliche und mediale Aufmerksamkeit zu. Die psychodynamischen Funktionen von SVV sind äußerst komplex. Die Selbstverletzung wird als eine Art Ventil bei starken inneren Spannungszuständen verstanden. Der Wunsch, den eigenen Körper (wieder) zu spüren, oder das Bedürfnis, sich bei starken Schuldgefühlen selbst zu bestrafen, können weitere Motive von SVV darstellen. 8 Freud, Sigmund: ‚Abriss der Psychoanalyse‘ [1938], in: Gesammelte Werke XVII. Schriften aus dem Nachlass, London: Imago Publishing Co. 1941, S. 63-138, S. 106. 9 Ebenda, S. 72. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 8 G GLÜCK ANNA FREUD Freud widmete sich neben der Erkundung von psychopathologischen Phänomenen auch alltäglichen Fragestellungen aus einer lebensnahen Perspektive. Im Streben nach und Erleben von Glück erkannte er Zweck und Absicht des Lebens der Menschen. Im Zentrum von Sigmund Freuds Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930) stehen die Grundlagen und die Entwicklung des Kulturprozesses: Der Gewinn von Kultur basiert nach Sigmund Freud auf Triebverzicht und Triebeinschränkungen, wiewohl der Mensch vom „Programm des Lustprinzips“ geleitet wird: „Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt. Dies Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparats vom Anfang an; an seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt, mit dem Makrokosmos ebensowohl wie mit dem Mikrokosmos. Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch ‚glücklich‘ sei, ist im Plan der ‚Schöpfung‘ nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv 10 genießen können, den Zustand nur sehr wenig.“ Nichtsdestotrotz, so ermutigt uns Sigmund Freud, dürfe man doch in seinem Streben nach Glück nicht aufgeben. Eine Art Universalrezept‘, das für alle Menschen gleichermaßen anwendbar wäre, konnte er freilich nicht ausstellen: „Es gibt hier keinen Rat, der für alle taugt; ein jeder muß selbst versuchen, auf welche besondere Fasson er selig werden kann. Die mannigfachsten Faktoren werden sich geltend machen, um seiner Wahl die Wege zu weisen. Es kommt darauf an, wieviel reale Befriedigung er von der Außenwelt zu erwarten hat und inwieweit er veranlaßt ist, sich von ihr unabhängig zu machen; zuletzt auch, wieviel Kraft er sich zutraut, diese nach seinen Wünschen abzuändern. Schon dabei wird außer den äußeren Verhältnissen die psychische Konstitution des Individuums entscheidend werden. Der vorwiegend erotische Mensch wird die Gefühlsbeziehungen zu anderen Personen voranstellen, der eher selbstgenügsame Narzißtische die wesentlichen Befriedigungen in seinen inneren seelischen Vorgängen suchen, der Tatenmensch von der Außenwelt nicht ablassen, an der er seine Kraft erproben kann. Für den mittleren dieser Typen wird die Art seiner Begabung und das Ausmaß der ihm möglichen Triebsublimierung dafür bestimmend werden, wohin er seine Interessen verlegen soll. Jede extreme Entscheidung wird sich dadurch strafen, daß sie das Individuum den Gefahren aussetzt, die die Unzulänglichkeit der ausschließend gewählten Lebenstechnik mit sich bringt. Wie der vorsichtige Kaufmann es vermeidet, sein ganzes Kapital an einer Stelle festzulegen, so wird vielleicht auch die Lebensweisheit raten, nicht alle Befriedigung von einer einzigen Strebung zu erwarten. Der Erfolg ist niemals sicher, er hängt vom Zusammentreffen vieler Momente ab, von keinem vielleicht mehr als von der Fähigkeit der psychischen Konstitution, ihre Funktion 11 der Umwelt anzupassen und diese für Lustgewinn auszunützen.“ 10 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur [1930], in: Gesammelte Werke XIV. Werke aus den Jahren 1925 1931, London: Imago Publishing Co. 1948, S. 434. 11 Ebenda, S. 442. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 9 H HYSTERIE ANNA FREUD Sigmund Freuds Weg zur Psychoanalyse führte über die Hysterie (von altgriech. ὑστἐρα hystera: „Gebärmutter“), die als älteste aller beobachteten psychischen Störungen gilt. In den antiken Beschreibungen ging man davon aus, dass die Gebärmutter im Körper suchend herumschweife, wenn sie nicht genügend mit Sperma gefüttert werde. Sehr lange wurde Hysterie als eine ausschließlich bei Frauen auftretende Erkrankung verstanden, wogegen Freud Einspruch erhob. Im Wien* des ausgehenden 19. Jahrhunderts war das Phänomen der ‚Hysterikerinnen‘ weit verbreitet. Dabei handelte es sich meist um junge und gebildete Frauen aus gut situierten Familien, die an körperlichen und psychischen Symptomen litten, für die keine neurologischen Ursachen gefunden werden konnten: Atembehinderung, nervöser Husten, Verlust der Stimme, Migräne, Verstimmungen etc. Sigmund Freud verstand die hysterische Störung als Ausdruck des Konflikts zwischen einem Wunsch, der nicht akzeptiert werden kann, und der Abwehr dieser Wunschvorstellung. Eine zentrale Rolle spielt dabei laut Sigmund Freud die Sexualität*. Rückblickend betrachtend ist Sigmund Freuds Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbild von Hysterie und den dafür verantwortlichen psychischen Prozessen und Dynamiken insofern von großer Bedeutung, als daraus die Entwicklung der Psychoanalyse resultierte: Dass es so etwas wie ein Unbewusstes* sowie den Abwehrmechanismus der Verdrängung gibt, diese Einsicht verdankte Sigmund Freud der Behandlung von Hysterikerinnen. In seinen 1909 an der Clark University gehaltenen Vorlesungen fasste er Ursache und Heilung von hysterisch Kranken wie folgt zusammen: „Um es jetzt direkter zu sagen. Wir kommen durch die Untersuchung der hysterisch Kranken und anderer Neurotiker zur Überzeugung, daß ihnen die Verdrängung der Idee, an welcher der unerträgliche Wunsch hängt, mißlungen ist. Sie haben sie zwar aus dem Bewußtsein und aus der Erinnerung* getrieben und sich anscheinend eine große Summe Unlust erspäart, aber im Unbewußten besteht die verdrängte Wunschregung weiter, lauert auf eine Gelegenheit, aktiviert zu werden, und versteht es dann, eine entstellte und unkenntlich gemachte Ersatzbildung für das Verdrängte ins Bewußtsein zu schicken, an welche sich bald dieselben Unlustempfindungen knüpfen, die man durch die Verdrängung erspart glaubte. Diese Ersatzbildung für die verdrängte Idee das Symptom ist gegen weitere Angriffe von seiten des abwehrenden Ichs gefeit, und an Stelle des kurzen Konflikts tritt jetzt ein in der Zeit nicht endendes Leiden. An dem Symptom ist neben den Anzeichen der Entstellung ein Rest von irgendwie vermittelter Ähnlichkeit mit der ursprünglich verdrängten Idee zu konstatieren; die Wege, auf denen sich die Ersatzbildung vollzog, lassen sich während der psychoanalytischen Behandlung aufdecken, und zu seiner Heilung ist es notwendig, daß das Symptom auf diesen nämlichen Wegen wieder in die verdrängte Idee übergeführt werde. Ist das Verdrängte wieder der bewußten Seelentätigkeit zugeführt, was die Überwindung beträchtlicher Widerstände voraussetzt, so kann der so entstandene psychische Konflikt, den der Kranke vermeiden wollte, unter der Leitung des Arztes einen besseren Ausgang finden, als ihn die Verdrängung bot. Es gibt mehrere solcher zweckmäßigen Erledigungen, welche Konflikt und Neurose zum glücklichen Ende führen, und die im einzelnen Falle auch miteinander kombiniert werden können. Entweder wird die Persönlichkeit des Kranken überzeugt, daß sie den pathogenen Wunsch mit Unrecht abgewiesen hat und veranlaßt, ihn ganz oder teileweise zu akzeptieren, oder dieser Wunsch wird selbst auf ein höheres und darum einwandfreies Ziel geleitet (was man seine Sublimierung heißt), oder man erkennt seine Verwerfung als zu Recht bestehend an, ersetzt aber den automatischen und darum unzureichenden Mechanismus der Verdrängung durch eine Verurteilung mit Hilfe der höchsten geistigen Leistungen des Menschen; man 12 erreicht seine bewußte Beherrschung.“ 12 Freud, Sigmund: ‚Über Psychoanalyse‘ [1909], in: Gesammelte Werke VIII. Werke aus den Jahren 1909 1913, S. 1-60, S. 24-26. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 10 I ICH, ES UND ÜBER-ICH ANNA FREUD Biedermann, Hans: Die Drillinge des Sigmund Freud. Cartoons und kleines Einmaleins der Psychoanalyse, Heidelberg: Verlag Jungjohann 1982, S. 14. Sigmund Freud unterschied in seiner zweiten Theorie des psychischen Apparates bzw. zweiten topischen Modell (1920-1939) drei verschiedene Instanzen: das Ich, das Es und das Über-Ich. ICH: Das Ich steht im Dienste des ‚Realitätsprinzips‘. Aufgabe des Ichs ist es, zwischen den Ansprüchen des Es, des Über-Ichs und der Umwelt zu vermitteln – was, wie Sigmund Freud denn auch ausführt, wahrlich keine einfache Angelegenheit ist: „Ein Sprichwort warnt davor, gleichzeitig zwei Herren zu dienen. Das arme Ich hat es noch schwerer, es dient drei gestrengen Herren, ist bemüht, deren Ansprüche und Forderungen in Einklang miteinander zu bringen. Diese Ansprüche gehen immer auseinander, scheinen oft unvereinbar zu sein; kein Wunder, wenn das Ich so oft an seiner Aufgabe scheitert. Die drei Zwingherren sind die Außenwelt, das Über-Ich und das Es. […] So vom Es getrieben, vom Über-Ich eingeengt, von der Realität zurückgestoßen, ringt das Ich um die Bewältigung seiner ökonomischen Aufgabe, die Harmonie unter den Kräften und Einflüssen herzustellen, die in ihm und auf es wirken, und wir verstehen, warum wir so oft den Ausruf nicht unterdrücken können: Das Leben ist nicht leicht! Wenn das Ich seine Schwäche einbekennen muß, bricht es in Angst aus, Realangst vor der Außenwelt, Gewissensangst vor dem Über-Ich, neurotische Angst vor der Stärke der 13 Leidenschaften im Es. 13 Freud, Sigmund: ‚ I. Vorlesung. Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit‘, in: Gesammelte Werke V. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, London: Imago Publishing Co. 1940, S. 62-86, S. 84f. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 11 ES: Die Inhalte des Es, das den Triebpol des Menschen bildet, sind unbewusst: diese unbewussten Inhalte können sowohl erblich und angeboren (‚konstitutionell‘) als auch verdrängt und erworben (‚akzidentiell‘) sein. Das Es operiert nach dem ‚Lustprinzip‘ und fordert sofortige Bedürfnisbefriedigung. „Es ist der dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit; das wenige, was wir von ihm wissen, haben wir durch das Studium der Traumarbeit und der neurotischen Symptombildung erfahren und das meiste davon hat negativen Charakter, lässt sich nur als Gegensatz zum Ich beschreiben. Wir nähern uns dem Es mit Vergleichen, nennen es ein Chaos, einen Kessel voll brodelnder Erregungen. […] Für die Vorgänge im Es gelten die logischen Denkgesetzte nicht, vor allem nicht der Satz des Widerspruchs. Gegensätzliche Regungen bestehen nebeneinander, ohne einander aufzuheben oder sich voneinander abzuziehen […]. Im Es findet sich nichts, was der Zeitvorstellung entspricht, keine Anerkennung eines zeitlichen Ablaufs und, was höchst merkwürdig ist und seiner Würdigung im philosophischen Denken wartet, keine 14 Veränderung des seelischen Vorgangs durch den Zeitablauf.“ ÜBER-ICH: „Was soll ich tun?“; „Das darf ich nicht tun!“; „Das sollte man tun.“, „Das ist gut!“ – solche inneren Stimmen werden in einer psychischen Instanz verortet, die Freud als Über-Ich bezeichnet hat. Bildlich gesprochen spielt das Über-Ich die Rolle eines Richters und Zensors, und leistet dabei den Anforderungen des ‚Moralitätsprinzips‘ Folge. Eine der Funktionen des Über-Ichs ist das, wir ‚Gewissen‘ nennen. Das Schuldgefühl wiederum entspringt der Angst vor der Autorität sowie der Angst vor dem Über-Ich. Die Inhalte des Über-Ichs werden vor allem durch den Einfluss der primären Bezugspersonen, aber auch durch gesellschaftliche Faktoren beeinflusst: „Die Einzelheiten der Beziehung zwischen Ich und Überich werden durchwegs aus der Zurückführung auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern verständlich. Im Elterneinfluss wirkt natürlich nicht nur das persönliche Wesen der Eltern, sondern auch der durch sie fortgepflanzte Einfluss von Familien-, Rassenund Volkstradition sowie die von ihnen vertretenen Anforderungen des jeweiligen sozialen Milieus. Ebenso nimmt das Überich im Laufe der individuellen Entwicklung Beiträge von Seiten späterer Fortsetzer und 15 Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher, öffentlicher Vorbilder, in der Gesellschaft verehrter Ideale.“ 14 Ebenda, S. 80. 15 Freud, Sigmund: ‚Abriss der Psychoanalyse‘ [1938], in: Gesammelte Werke XVII. Schriften aus dem Nachlass, London: Imago Publishing Co. 1941, S. 63-138, S. 69. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 12 J JUNG, C.G. ANNA FREUD Im Umkreis von Sigmund Freud organisierten sich weitere bedeutende Psychotherapeuten, die einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der Tiefenpsychologie leisteten. Wichtige Vertreter sind Alfred Adler und Carl Gustav Jung, die jeweils ihre eigene psychotherapeutische Denkrichtung und Therapiemethode gründeten: Alfred Adler die Individualpsychologie und C. G. Jung die Analytische Psychologie. Bereits in der Traumdeutung (1900) verwies Sigmund Freud auf den Umstand, dass ihm „[e]in intimer Freund und ein gehaßter Feind immer notwendige Erfordernisse [s]eines Gefühlslebens“ waren, er wusste beide sich „immer von neuem zu verschaffen, und nicht selten stellte sich das Kindheitsideal so weit her, daß Freund und Feind in dieselbe Person zusammenfielen, natürlich nicht mehr gleichzeitig oder in mehrfach wiederholter 16 Abwechslung, wie es in den ersten Kinderjahren der Fall gewesen sein mag.“ Der Berliner Hals- und Nasenspezialist Wilhelm Fließ (1858–1928), mit dem Sigmund Freud in den Jahren zwischen 1887 und 1904 einen regen Briefwechsel führte, und der ihn bei seiner Selbstanalyse als scharfsinniger Korrespondenzpartner zur Verfügung stand, kann zu solchen ‚Freund-Feinden‘ gezählt werden. Ein weiterer wichtiger ‚Freund-Feind‘ war der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875–1961). C. G. Jung war zwischen 1907 und 1913 Sigmund Freuds Freund und Schüler, anfangs gar der ‚Kronprinz‘ der psychoanalytischen Bewegung. So wurde er 1910 in Nürnberg zum ersten Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) gewählt. Nachdem 1912 die Kluft zwischen den beiden bereits deutlich wurde, vollzog Sigmund Freud im Jahr 1913 den endgültigen Bruch: Dass C. G. Jung die Psychoanalyse* entsexualisieren wollte, war für Sigmund Freud nicht tragbar. C.G. Jung hinterlässt ein sehr umfangreiches Werk und gilt als Begründer der Analytischen Psychologie, einer weiteren tiefenpsychologischen Richtung neben der klassischen Psychoanalyse. Er entwickelte die Lehre vom kollektiven Unbewussten*; besonders bekannt sind der von ihm 1919 geprägte Begriff des ‚Archetypus‘ und die drei Hauptarchetypen ‚Animus‘ (das Bild des Männlichen), ‚Anima‘ (das Bild des Weiblichen) sowie das ‚Selbst‘ (das ‚wahre‘ Zentrum der Persönlichkeit). Außerdem führte er den Begriff des ‚Komplexes‘ (Mutter-, Vater-, Ichkomplex) ein, bei welchem es sich um Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen und Erinnerungen* handelt, die um ein bestimmtes Thema angeordnet sind und den Menschen stark beeinflussen. In der 1925 verfassten Selbstdarstellung kann Sigmund Freuds Schilderung der Trennung von C. G. Jung sowie von Alfred Adler (1870 1937) nachgelesen werden. Der Wiener Arzt Adler war der erste Dissident in der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung und gilt als Begründer der Schule der Individualpsychologie, die ihm Unterschied zur klassischen Psychoanalyse nicht nach dem Grund, sondern dem Zweck von Symptomen sowie den Lebensäußerungen insgesamt fragt. „In Europa vollzogen sich in den Jahren 1911–1913 zwei Abfallsbewegungen von der Psychoanalyse, eingeleitet von Personen, die bisher eine ansehnliche Rolle in der jungen Wissenschaft gespielt hatten, die von Alfred Adler und von C. G. Jung. Beide sahen recht gefährlich aus und gewannen rasch eine große Anhängerschaft. Ihre Stärke dankten sie aber nicht dem eigenen Gehalt, sondern der Verlockung, von den anstößig empfundenen Resultaten der Psychoanalyse frei zu kommen, auch wenn man ihr tatsächliches Material nicht mehr verleugnete. Jung versuchte eine Umdeutung der analytischen Tatsachen ins Abstrakte, Unpersönliche und Unhistorische, wodurch er sich die Würdigung der infantilen Sexualität* und des ÖdipusKomplexes* sowie die Notwendigkeit der Kindheitsanalyse zu ersparen hoffte. Adler schien sich noch weiter von der Psychoanalyse zu entfernen, er verwarf die Bedeutung der Sexualität überhaupt, führte Charakterwie Neurosenbildung ausschließlich auf das Machtstreben der Menschen und ihr Bedürfnis nach Kompensation ihrer konstitutionellen Minderwertigkeiten zurück und schlug alle psychologischen 17 Neuerwerbungen der Psychoanalyse in den Wind.“ 16 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung [1900], in: Gesammelte Werke II III. Die Traumdeutung. Über den Traum, London: Imago Publishing Co. 1942, S. 1 642, S. 487. 17 Freud, Sigmund: Selbstdarstellung [1925], in: Gesammelte Werke Imago Publishing Co. 1948, S. 31-96, S. 79. IV. Werke aus den Jahren 1925 1931, London: NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 13 K KRANKHEIT ANNA FREUD Psychische Krankheiten wurden lange Zeit stigmatisiert. Sigmund Freud und die Psychoanalyse zeigten, dass zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit kein krasser Gegensatz besteht, sondern ein fließender Übergang. Ein zentrales Anliegen von Sigmund Freud war die Behandlung und Heilung von psychischen Erkrankungen. Darunter werden unter anderem Nervenkrankheiten bezeichnet, die Persönlichkeitsstörungen nach sich ziehen. Sigmund Freud sah in der Neurose eine Erkrankung, deren Symptome Ausdruck eines verdrängten psychischen Konfliktes sind, dessen Ursprünge in der Kindheit liegen. Im Unterschied zu den neurotischen Erkrankungen, die dem Konflikt zwischen Ich* und Es (‚Übertragungsneurose‘) bzw. zwischen Ich und ÜberIch (‚narzisstische Neurose‘) entsprechen, erkannte Sigmund Freud in der ‚Psychose‘ einen Widerstreit 18 zwischen Ich und Außenwelt. So wie Sigmund Freud mit Bezug auf das Sexualleben eine scharfe Grenze zwischen ‚normalem‘ und ‚perversem‘ Verhalten ablehnte, sondern vielmehr auf den graduellen – und nicht qualitativen – Unterschied verwies, unterstrich er auch im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Neurosen den fließenden Übergang zwischen ‚Krankheit‘ und ‚Gesundheit‘ bzw. ‚Normalität‘: „Die Neurosen haben nicht wie z.B. die Infektionskrankheiten spezifische Krankheitsursachen. Es wäre müßig, bei ihnen nach Krankheitserregern zu suchen. Sie sind durch fließende Übergänge mit der sogenannten Norm verbunden und anderseits gibt es kaum einen als normal anerkannten Zustand, in dem nicht Andeutungen neurotischer Züge nachweisbar wären. Die Neurotiker bringen ungefähr die gleichen Anlagen mit wie andere Menschen, sie erleben das nämliche, sie haben keine anderen Aufgaben zu erledigen. Warum also leben sie um soviel schlechter und schwieriger und leiden dabei an mehr 19 Unlustempfindungen, Angst und Schmerzen?“ Ziel der psychoanalytischen Therapie ist es nun, aus neurotischem Elend gewissermaßen ‚gemeines‘ [‚gemein‘ im Sinne von ‚durchschnittlich‘ bzw. ‚normal‘] Unglück zu machen, wie Sigmund Freud dies in folgendem Zitat aus den Studien über Hysterie* (1895) erwähnt: „Ich habe wiederholt von meinen Kranken, wenn ich ihnen Hilfe oder Erleichterung durch eine kathartische Kur versprach, den Einwand hören müssen: Sie sagen ja selbst, daß mein Leiden wahrscheinlich mit meinen Verhältnissen und Schicksalen zusammenhängt: daran können Sie ja nichts ändern; auf welche Weise wollen Sie mir denn helfen? Darauf habe ich antworten können: – Ich zweifle ja nicht, daß es dem Schicksale leichter fallen müßte als mir, Ihr Leiden zu beheben: aber Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen das letztere werden Sie sich mit einem wiedergenesenen Seelenleben besser zur Wehre setzen 20 können.“ 18 Vgl. Freud, Sigmund: ‚Neurose und Psychose‘ [1924], in: Gesammelte Werke III. Jenseits des Lustprinzips und andere Arbeiten aus den Jahren 1920 1942, London 1940, S.385-392. 19 Freud, Sigmund: ‚Abriss der Psychoanalyse‘ [1938], in: Gesammelte Werke XVII. Schriften aus dem Nachlass, London 1941, S. 63-138, S. 109. 20 Freud, Sigmund: Studien über Hysterie [1895], in: Gesammelte Werke I. Werke aus den Jahren 1892 1899, S. 75-312, S. 311f. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 14 L LIBIDO ANNA FREUD Biedermann, Hans: Die Drillinge des Sigmund Freud. Cartoons und kleines Einmaleins der Psychoanalyse, Heidelberg: Verlag Jungjohann 1982, S. 33. ‚Libido‘ bedeutet im Lateinischen ‚Lust‘, ‚Wunsch‘. Der Begriff wurde bereits vor Sigmund Freud von den so genannten Begründern der Sexualwissenschaft, Richard Krafft-Ebing (1840–1902) und Albert Moll (1862– 1939), als Ausdruck für die sexuelle Energie (libido sexualis) verwendet. Sigmund Freud übernahm den Begriff, der zum zentralen Konzept der Freudschen Triebtheorie wurde, um die Äußerungen des Sexualtriebes in der menschlichen Psyche zu bezeichnen und im weiteren Sinne die menschliche Sexualität* überhaupt. Dabei ist Sigmund Freuds Verständnis von ‚Sexualität‘ ein erweitertes und umfasst neben den genitalen Regungen auch die freundschaftlichen und zärtlichen. In Sigmund Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) – übrigens sein einziger Text mit soziologischem Gegenstand – heißt es zusammenfassend: „Libido ist ein Ausdruck aus der Affektivitätslehre. Wir heißen so die als quantitative Größe betrachtete — wenn auch derzeit nicht meßbare — Energie solcher Triebe, welche mit all dem zu tun haben, was man als Liebe zusammenfassen kann. Den Kern des von uns Liebe Geheißenen bildet natürlich, was man gemeinhin Liebe nennt und was die Dichter besingen, die Geschlechtsliebe mit dem Ziel der geschlechtlichen Vereinigung. Aber wir trennen davon nicht ab, was auch sonst an dem Namen Liebe Anteil hat, einerseits die Selbstliebe, anderseits die Eltern- und Kindesliebe, die Freundschaft und die allgemeine 21 Menschenliebe, auch nicht die Hingebung an konkrete Gegenstände und an abstrakte Ideen.“ 21 Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921], in: Gesammelte Werke und andere Arbeiten aus den Jahren 1920 1942, London 1940, S. 71-161, S. 98. III. Jenseits des Lustprinzips NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 15 M MUTTER ANNA FREUD Wie die Psychologie und Psychotherapie der letzten Jahrzehnte zeigte, stellt die Beziehung des Kindes zu seiner Mutter bzw. zu seiner primären Bezugsperson eine fundamentale und prägende Erfahrung für das spätere Leben dar. In Freuds Frühwerk steht vor allem die Beziehung zum Vater im Mittelpunkt der Betrachtung – erst in seinem Spätwerk sowie in der Weiterentwicklung der Psychoanalyse rückt auch die zentrale Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Interaktion in das Feld der Aufmerksamkeit. Sigmund Freud erkannte in der Mutter das erste Liebesobjekt sowohl des Jungen als auch des Mädchens, behandelt jedoch das Thema der Mutterschaft in seinem Werk nie ausführlich. Den Kinderwunsch verstand Sigmund Freud in seinem Aufsatz ‚Der Untergang des Ödipuskomplexes‘ (1924) als Ersatz für den mangelnden Penis (‚Penisneid‘), womit Mutterschaft von Anfang an eine ödipale Färbung erhält und autonome Selbstentfaltung bestritten wird. Tatsächlich werden Sigmund Freuds Werk und insbesondere seine Schriften über die weibliche Sexualentwicklung von widersprüchlichen Gedankengängen durchzogen: Auf der einen Seite stellte er bestimmte Grundpfeiler der patriarchalischen Gesellschaftsordnung radikal in Frage; auf der anderen Seite übernahm er biologische Wissenschaftskategorien seiner Epoche – die Psychoanalyse* ist nicht nur die Analyse der patriarchalischen Gesellschaft, sondern gleichfalls ihr Produkt. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der weibliche Sexualität* und Sozialisation, die er in seinem Spätwerk unternahm, hielt Sigmund Freud fest, dass die Mutter-Tochter-Beziehung nicht symmetrisch zur Mutter-Sohn-Beziehung sei. Während das heterosexuelle Begehren des kleinen Mannes im ödipalen Verlangen der Mutter gründe, müsse die kleine Frau, um – wie Sigmund Freud es postulierte – den Vater begehren zu können, zunächst das „Liebesobjekt“ wechseln. In seinem Aufsatz ‚Über die weibliche Sexualität‘ (1931) hob Sigmund Freud die Intensität und lange Dauer der präödipalen Mutterbindung hervor. Bereits in den 1920er und 1930er Jahren setzte eine lebhafte Diskussion um Sigmund Freuds Thesen bezüglich der weiblichen Sexualentwicklung ein, zu deren wichtigsten Stimmen Karen Horney, Melanie Klein und Ernest Jones zählten. Die frühe Mutter-Kind-Beziehung wurde bereits zu Freuds Zeiten von Sándor Ferenczi hervorgehoben und steht im Zentrum der sich später entwickelnden so genannten Objektbeziehungstheorie, zu deren Vertreter/innen u.a. Melanie Klein und Donald W. Winnicott zählen. „In der Phase des normalen Ödipuskomplexes finden wir das Kind an den gegengeschlechtlichen Elternteil zärtlich gebunden, während im Verhältnis zum gleichgeschlechtlichen die Feindseligkeit überwiegt. Es macht uns keine Schwierigkeiten, dieses Ereignis für den Knaben abzuleiten. Die Mutter war sein erstes Liebesobjekt; sie bleibt es, mit der Verstärkung seiner verliebten Strebungen und der tieferen Einsicht in die Beziehung zwischen Vater und Mutter muß der Vater zum Rivalen werden. Anders für das kleine Mädchen. Ihr erstes Objekt war doch auch die Mutter; wie findet sie den Weg zum Vater? Wie, wann und warum macht sie sich von der Mutter los? Wir haben längst verstanden, die Entwicklung der weiblichen Sexualität werde durch die Aufgabe kompliziert, die ursprünglich leitende genitale Zone, die Klitoris, gegen eine neue, die Vagina, aufzugeben. Nun erscheint uns eine zweite solche Wandlung, der Umtausch des ursprünglichen Mutterobjekts gegen den Vater, nicht weniger charakteristisch und bedeutungsvoll für die Entwicklung des Weibes. In welcher Art die beiden Aufgaben miteinander verknüpft sind, können wir noch 22 nicht erkennen.“ 22 Freud, Sigmund: ‚Über die weibliche Sexualität‘ [1931], in: Gesammelte Werke IV. Werke aus den Jahren 1925 1931, London: Imago Publishing Co. 1948, S. 515-537, S. 517. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 16 N NARZISSMUS ANNA FREUD Beim Konzept des Narzissmus bezieht sich Freud auf die Figur des Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. So wie Freuds Verständnis des Begriffes variierte, entwickelte sich auch die psychoanalytische Narzissmustheorie in ihrem hundertjährigen Bestehen weiter. In der griechischen Mythologie ist Narziss der Sohn des Flussgottes Kephissos und der Nymphe Leiriope, der bei dem Versuch, sich mit seinem Ebenbild zu vereinigen, ertrank. In Anlehnung an den griechischen Mythos verwendete bereits der britische Sexualforscher Havelock Ellis 1889 den Begriff, um eine sexuelle Perversion zu bezeichnen, bei der das Liebesobjekt der eigene Körper ist. Sigmund Freud dagegen, der sich erstmals in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Phänomen des Narzissmus beschäftigte, erkannte im ‚primären Narzissmus‘ eine normale Entwicklungsstufe, die jedes Kind durchläuft, bevor es seine Beziehung zur Außenwelt stärkt und sich anderen Liebesobjekten zuwendet. Narzissmus spielt außerdem eine maßgebliche Rolle beim Aufbau eines positiven Selbstwertgefühls. In Sigmund Freuds Text ‚Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse*‘ (1917) wird diese Entwicklung zusammengefasst: „Wir mußten annehmen, daß zu Beginn der individuellen Entwicklung alle Libido* (alles erotische Streben, * alles Liebesfähigkeit) an die eigene Person geknüpft ist, wie wir sagen, das eigene Ich besetzt. Erst später geschieht es in Anlehnung an die Befriedigung der großen Lebensbedürfnisse, daß die Libido vom Ich auf die äußeren Objekte überfließt, wodurch wir erst in die Lage kommen, die libidinösen Typen als solche zu erkennen und von den Ich-Trieben zu unterscheiden. Von diesen Objekten kann die Libido wieder abgelöst und ins Ich zurückgezogen werden. Den Zustand, in dem das Ich die Libido bei sich behält, heißen wir Narzißmus, in Erinnerung* der griechischen Sage vom Jüngling Narzissus, der in sein eigenes Spiegelbild verliebt blieb. Wir schreiben also dem Individuum einen Fortschritt zu vom Narzißmus zur Objektliebe. Aber wir glauben nicht, daß jemals die gesamte Libido des Ichs auf die Objekte übergeht. Ein gewisser Betrag von Libido verbleibt immer beim Ich, ein gewisses Maß von Narzißmus bleibt trotz hochentwickelter Objektliebe fortbestehen. Das Ich ist ein großes Reservoir, aus dem die für die Objekte bestimmte Libido ausströmt, und dem sie von den Objekten her wieder zufließt. Die Objektlibido war zuerst Ich-Libido und kann sich wieder in Ich-Libido umsetzen. Es ihr für die volle Gesundheit der Person wesentlich, daß ihre Libido die 23 volle Beweglichkeit nicht verliere.“ Im Zuge der Erarbeitung des zweiten Strukturmodells der Psyche (=> Ich*, Es, Über-Ich) kam Sigmund Freud erneut auf sein Narzissmus-Konzept zurück und überarbeitete es. Trotz seines letztendlich mehrdeutigen Status wurde es Ausgangspunkt zahlreicher postfreudianischer theoretischer Entwicklungen. => Arbeitsauftrag: Lest Ovids Fassung des Narziss-Mythos (im dritten Buch seiner Metamorphosen) und entwickelt anschließend in Kleingruppen ein kurzes Treatment für einen Film oder einen Entwurf für einen Roman, in dem die groben Handlungszüge in das Jahr 2013 versetzt sind. 23 Freud, Sigmund: „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“ [1917], in: Gesammelte Werke II. Werke aus den Jahren 1917–1920, London: Imago Publishing Co. 1947, S. 3-12, S. 5f. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 17 Ö ÖDIPUSKOMPLEX ANNA FREUD Der Ödipuskomplex ist das zentrale – und nicht unumstrittene – Konzept in der Freudianischen Psychoanalyse und bezeichnet die Gesamtheit von feindseligen Regungen und Liebeswünschen, die das drei- bis fünfjährige Kind seinen Eltern gegenüber empfindet. Ausgehend von Sophokles‘ Tragödie König Ödipus, in der Ödipus seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet, modelliert Freud dieses Drama als seelische Schlüsselerfahrung des Menschen. In Sigmund Freuds Denken und Theoriebildung nimmt der Ödipuskomplex – wohl das bekannteste Konzept der Psychoanalyse* – einen zentralen Platz ein. Seine Einsichten aus der Ontogenese [d.i. die Entwicklung des einzelnen Lebewesens] übertrug Sigmund Freud in seinen kultur- und religionskritischen Schriften (Totem und Tabu, 1913; Die Zukunft einer Illusion, 1927; Das Unbehagen in der Kultur, 1930; Der Mann Moses und die monotheistische Religion, 1939) auch auf die Phylogenese [d.i. die stammesgeschichtliche Entwicklung der Gesamtheit aller Lebewesen]. Die erste ‚Entdeckung‘ des Ödipuskomplexes lässt sich auf die Phase der Selbstanalyse zurückführen, der Sigmund Freud sich in den Jahren vor der Jahrhundertwende unterzog. In einem Brief an Wilhelm Fließ schrieb er am 15. Oktober 1897: „Ich habe die Verliebtheit* in die Mutter* und die Eifersucht gegen den Vater 24 auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit […].“ Sigmund Freud entwickelte das Konzept des Ödipuskomplexes exemplarisch am Beispiel eines Jungen: Dieser begehre die Mutter und sehe im Vater einen übermächtigen Rivalen, der im Unterschied zu ihm über einen machtvollen Penis verfüge. Beim Anblick des weiblichen Genitales erlebe der kleine Knabe Kastrationsangst: d.i. die Furcht, als Antwort auf die eigene sexuelle Aktivität und das Begehren der Mutter vom Vater kastriert zu werden. Die Kastrationsdrohung leistet laut Sigmund Freud gleich zwei Aufgaben: den Verzicht auf den inzestuösen Wunsch (die sexuellen Fantasien mit der Mutter) und die Einsetzung des Vaters, mit dem sich der Junge identifizieren wird, im Individuationsprozess. Damit erfolgt der Aufbau des Über-Ichs. In ‚Der Untergang des Ödipuskomplexes‘ (1924) wird diese Entwicklung wie folgt geschildert: „Die Objektbesetzungen werden aufgegeben und durch Identifizierung ersetzt. Die ins Ich introjizierte Vateroder Elternautorität bildet dort den Kern des Über-Ichs, welches vom Vater die Strenge entlehnt, sein Inzestverbot perpetuiert und so das Ich gegen die Wiederkehr der libidinösen Objektbesetzung versichert. Die dem Ödipuskomplex zugehörigen libidinösen Strebungen werden zum Teil desexualisiert und sublimiert, was wahrscheinlich bei jeder Umsetzung in Identifizierung geschieht, zum Teil zielgehemmt und 25 in zärtliche Regungen verwandelt.“ Während für den Jungen der Ödipuskomplex durch die Kastrationsdrohung überwunden wird, kann dieses Entwicklungsmodell nicht eins zu eins auf das Mädchen umgelegt werden: Schließlich weiß es betreffend die eigene ‚Kastration‘ Bescheid – und entwickle deshalb nach Sigmund Freud auch Phänomene wie ‚Penisneid‘. Auf der Folie des männlichen Ödipuskomplexes entwarf Sigmund Freud ein Modell der weiblichen Sexualentwicklung mit drei möglichen ‚Ausgängen‘, die in seinem Text ‚Über die weibliche Sexualität*‘ (1931) wie folgt dargestellt werden: 24 Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ 1887 1904. Ungekürzte Ausgabe. Hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson. Bearb. d. dt. Fass. v. Michael Schröter. Transkription v. Gerhard Fichtner, Frankfurt/Main: S. Fischer 1986, S. 293. 25 Freud, Sigmund: ‚Der Untergang des Ödipuskomplexes‘ [1924], in: Gesammelte Werke III. Jenseits des Lustprinzips Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es, London: Imago Publishing Co. 1940, S. 393 402, S. 399. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 18 „Das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und damit auch die Überlegenheit des Mannes und seine eigene Minderwertigkeit. Aus dieser zwiespältigen Einstellung leiten sich drei Entwicklungslinien ab. Die erste führt zur allgemeinen Abwendung von der Sexualität. Das kleine Weib, durch den Vergleich mit dem Knaben geschreckt, wird mit seiner Klitoris unzufrieden, verzichtet auf seine phallische Betätigung und damit auf die Sexualität überhaupt wie auf ein gutes Stück seiner Männlichkeit auf anderen Gebieten. Die zweite Richtung hält in trotziger Selbstbehauptung an der bedrohten Männlichkeit fest; die Hoffnung, noch einmal einen Penis zu bekommen, bleibt bis in unglaublich späte Zeiten aufrecht, wird zum Lebenszweck erhoben, und die Phantasie, trotz alledem ein Mann zu sein, bleibt oft gestaltend für lange Lebensperioden. Auch dieser ‚Männlichkeitskomplex’ des Weibes kann in manifest homosexuelle Objektwahl ausgehen. Erst eine dritte, recht umwegige Entwicklung mündet in die normal weibliche Endgestaltung aus, die den Vater als Objekt nimmt und so die weibliche Form des Ödipuskomplexes findet. Der Ödipuskomplex ist also beim Weib das Endergebnis einer längeren Entwicklung, er wird durch den Einfluß der Kastration nicht gestört, sondern durch ihn geschaffen, er entgeht den starken feindlichen Einflüssen, die beim Mann zerstörend auf ihn einwirken, ja er wird allzuhäufig vom Weib überhaupt nicht überwunden. Darum sind auch die kulturellen Ergebnisse seines Zerfalls geringfügiger und weniger belangreich.“ Sigmund Freuds Grundannahmen eines kastrierten weiblichen Geschlechts, des daran anschließenden Penisneids sowie der vermeintlichen mangelhaften Sublimierungsfähigkeit der Frau haben bereits zu seiner Zeit zu Kritik und Protest insbesondere von Psychoanalytikerinnen geführt. Eine kritische Rezeption der Freudschen Ansichten setzte verstärkt im Feminismus der 1960er und 1970er Jahre ein. Innerhalb der zeitgenössischen Theoriebildung der Psychoanalyse* erfolgt seit geraumer Zeit keine systematische Auseinandersetzung mit dem Ödipuskomplex mehr. Gesichert gilt, dass der zwischen dem dritten und fünften Jahr anberaumte Ödipuskomplex zu einem Zeitpunkt stattfindet, der in entwicklungspsychologischer Hinsicht von großer Bedeutung ist: In diesen Jahren erkennt das Kind, dass es sich bei seinen wichtigsten Bezugspersonen um freie Individuen handelt, die sich – man denke an die Eltern in Hänsel und Gretel – jederzeit von ihm abwenden können. Auch erlangen Kinder im vierten und fünften Lebensjahr die Fähigkeit, sich durch Selbstdistanzierung in die Welt des/der Anderen hineinzuversetzen. Des Weiteren kommt es in diesem Alter zu einer ersten Verinnerlichung kindlicher Moralvorstellungen: Nichts anderes bezeichnete Sigmund Freud mit dem Aufbau des Über-Ichs. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 19 P PSYCHOANALYSE ANNA FREUD Ψ α Der Begriff ‚Psychoanalyse‘ wurde 1896 erstmals von Sigmund Freud eingeführt, um eine neue Untersuchungs- und Heilmethode zu bezeichnen. Er verwendete die griechischen Buchstaben Ψ (Psi) und (Alpha) als Abkürzung dafür. In etymologischer Hinsicht lässt sich ‚Psychoanalyse‘ vom altgriechischen ψυχη (psyche: ‚Seele‘, ‚Gemüt‘) und dem griechischen ανάλυση (analysis: ‚Auflösung‘, ‚Untersuchung‘) ableiten, was ‚Untersuchung der Seele‘ ergäbe. Sigmund Freud selbst jedoch sprach weniger von der ‚Seele‘ als vielmehr von der Psyche als einem Apparat voller Spannungen und Konflikte. Die psychoanalytische Therapie gründet auf der Erforschung des Unbewussten, ihr Medium ist die Sprache und ihre „Absicht ist ja, das Ich* zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden. Es 26 ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee.“ In einem weiteren Sinne bezeichnet ‚Psychoanalyse‘ auch die von Sigmund Freud begründete Disziplin sowie die psychoanalytische Bewegung. Sigmund Freud interessierte sich von Anfang an für unterschiedliche Wissenschaftszweige und integrierte diese in seine Theorie. Ausgehend von einem therapeutischen Ansatz formulierte er maßgebliche Thesen zu Religion, Kultur, Literatur und Kunst. Vor allem in den Geisteswissenschaften war der Einfluss der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert bahnbrechend. In seinem Aufsatz ‚„Psychoanalyse“ und „Libidotheorie“‘ aus dem Jahr 1923 schlüsselte Sigmund Freud folgendermaßen auf: „PSYCHOANALYSE ist der Name 1) eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; 2) einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet; 3) einer Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, 27 die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen.“ […] „Die Würdigung der Psychoanalyse würde unvollständig sein, wenn man versäumte mitzuteilen, daß sie als die einzige unter den medizinischen Disziplinen die breiteten Beziehungen zu den Geisteswissenschaften hat und im Begriffe ist, für Religions- und Kulturgeschichte, Mythologie und Literaturwissenschaft eine ähnliche Bedeutung zu gewinnen wie für die Psychiatrie. Dies könnte Wunder nehmen, wenn man erwägt, daß sie ursprünglich kein anderes Ziel hatte als das Verständnis und die Beeinflussung neurotischer Symptome. Allein es ist leicht anzugeben, an welcher Stelle die Brücke zu den Geisteswissenschaften geschlagen wurde. Als die Analyse der Träume Einsicht in die unbewußten seelischen Vorgänge gab und zeigte, daß die Mechanismen, welche die pathologischen Symptome schaffen, auch im normalen Seelenleben tätig sind, wurde die Psychoanalyse zur Tiefenpsychologie und als solche der Anwendung auf die Geisteswissenschaften fähig, konnte eine gute Anzahl von Fragen lösen, von denen die schulgemäße Bewußtseinspsychologie ratlos Halt machen mußte. Frühzeitig schon stellten sich die Beziehungen zur 28 menschlichen Phylogenese her.“ 26 Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Gesammelte Werke XV. London: Imago Publishing Co. 1940, S. 86. 27 Freud, Sigmund: ‚„Psychoanalyse“ und „Libidotheorie“‘ [1923], in: Gesammelte Werke III. Jenseits des Lustprinzips Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es, London: Imago Publishing Co. 1940, S. 209-233, S. 212. 28 Ebenda, S. 228. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 20 Q QUEER Das Adjektiv „queer“ bedeutet im amerikanischen Englisch ‚seltsam, sonderbar, leicht verrückt‘, aber auch ‚gefälscht, fragwürdig‘; „to queer“ bedeutet ‚jemanden irreführen, etwas verderben oder verpfuschen‘. Mittlerweile hat sich der Begriff „queer“ zu einem Sammelbegriff für Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transgender etc. entwickelt. Die Queer-Theorie geht davon aus, dass geschlechtliche und sexuelle Identität zunächst in sozialen und kulturellen Prozessen konstruiert werden. Bereits Freud unterschied Geschlecht und Geschlechterrolle. Manche Einsichten der Freudschen Sexualtheorie und seiner 1905 erstveröffentlichten Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie wurden auch von den Gender und Queer Studies aufgegriffen. Diese gehen davon aus, dass sexuelle und geschlechtliche Identität nicht ‚naturgegeben‘ sind. Bereits Sigmund Freud sprach sich in den Drei Abhandlungen gegen ein herkömmliches Verständnis von Sexualität* als einem instinkthaften Verhalten oder biologischen Programm aus. In einem Zusatz aus dem Jahr 1915 wiederum schreibt er, dass „das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und 29 keine Selbstverständlichkeit“ sei. Gegen die Kriminalisierung und die Beurteilung von Homosexualität als ‚Degeneration‘ nahm er dezidiert Stellung, und beharrte darauf, dass Homosexualität „eine häufige Erscheinung, fast eine mit wichtigen Funktionen betraute Institution bei den alten Völkern auf der Höhe ihrer 30 Kultur war“. Sigmund Freuds offene Auffassung bezüglich Homosexualität belegt auch der folgende Brief aus dem Jahr 1935, den er im Original auf Englisch verfasste: „Wien* IX, Berggasse 19*, 9. April 1934 Ich entnehme Ihrem Brief, dass Ihr Sohn ein Homosexueller ist. Den stärksten Eindruck machte mir die Tatsache, dass Sie dieses Wort in Ihrem Bericht über ihn überhaupt nicht gebrauchen. Darf ich Sie fragen, warum Sie es vermeiden? Homosexualität ist gewiss kein Vorzug, aber es ist nicht etwas, dessen man sich schämen muss, kein Laster, keine Erniedrigung und kann nicht als Krankheit* bezeichnet werden; wir betrachten sie als eine Abweichung der sexuellen Funktionen, hervorgerufen durch eine gewisse Stockung der sexuellen Entwicklung. Viele hochachtbare Personen in alten und neuern Zeiten sind Homosexuelle gewesen, unter ihnen viele der größten Männer (Plato, Michelangelo, Leonardo da Vinci, et cetera). Es ist eine große Ungerechtigkeit, Homosexualität als ein Verbrechen zu verfolgen und auch eine Grausamkeit. Wenn sie mir nicht glauben, lesen Sie die Bücher von Havelock Ellis. Mit ihrer Frage, ob ich helfen kann, meinen Sie wohl, ob ich Homosexualität abschaffen kann und normale Heterosexualität an ihre Stelle setzen. Die Antwort ist, allgemein gesagt, daß wir dies nicht versprechen können. In einer gewissen Anzahl von Fällen gelingt es uns, die verkümmerten Keime der heterosexuellen Tendenzen, die ja in allen Homosexuellen vorhanden sind, zu entwickeln, in der Mehrzahl der Fälle ist dies nicht mehr möglich. Es ist eine Frage der Charakterbeschaffenheit und des Alters der betreffenden Person. Der Erfolg der Behandlung kann nicht vorausgesagt werden. Was eine Analyse für Ihren Sohn erreichen kann, ist eine andere Frage. Wenn er unglücklich ist, neurotisch, von Zweifeln zerrissen, gehemmt in seinen persönlichen Beziehungen, dann mag eine Analyse ihm Harmonie, Seelenfrieden und volle Leistungsfähigkeit bringen, unabhängig davon, ob er homosexuell bleibt oder sich ändert. Falls Sie sich dazu entschließen, daß er von mir analysiert werden soll, – und ich erwarte dies nicht – müßte er nach Wien kommen. Ich habe nicht die Absicht, von hier wegzugehen. Immerhin, unterlassen Sie es nicht, mir zu antworten. Mit besten Wünschen Ihr ergebener Freud“ 29 Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie [1905], in: Gesammelte Werke V. Werke aus den Jahren 1904 1905, London: Imago Publishing Co. 1942, S. 44. 30 Ebenda, S. 37. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 21 R REDEKUR ANNA FREUD Biedermann, Hans: Die Drillinge des Sigmund Freud. Cartoons und kleines Einmaleins der Psychoanalyse, Heidelberg: Verlag Jungjohann 1982, S. 88. Dem Reden und Erzählen kommt in der psychoanalytischen Behandlung eine maßgebliche Bedeutung zu, weshalb sie auch ‚talking cure‘ genannt wird. Dieser Begriff wurde von Bertha Pappenheim geprägt. Sie war von 1890 bis 1892 Patientin Joseph Breuers, mit dem Sigmund Freud die Studien über Hysterie* (1895) veröffentlichte. In der Fallgeschichte trägt sie den Namen Anna O. Bertha Pappenheim erkannte, dass das Aussprechen von peinigenden Erinnerungen* und Schreckbildern befreiend wirkt. Aber auch außerhalb der Psychoanalyse* ist das Erzählen ein zentraler Vorgang für das Individuum – es ermöglicht uns, eine einheitliche und nachvollziehbare Geschichte des eigenen Lebens und des eigenen Ich* zu konstruieren. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 22 Als eines der Hauptinstrumente dient in der psychoanalytischen Sitzung die ‚freie Assoziation‘, bei welcher der/die Analysand/in völlig frei seinen/ihren Gedanken folgt und alles ausspricht, was ihm/ihr in den Sinn kommt: „Sagen Sie also alles, was Ihnen durch den Sinn geht“, so beschrieb Sigmund Freud die Aufforderung an seine Patient/innen, und: „Benehmen Sie sich so, wie zum Beispiel ein Reisender, der am Fensterplatze des Eisenbahnwagens sitzt und dem im 31 Inneren Untergebrachten beschreibt, wie sich vor seinen Blicken die Aussicht verändert.“ Dieses ungesteuerte Erzählen soll dabei helfen, Zusammenhänge sichtbar zu machen und unbewusste Konflikte ins Bewusstsein zu bringen. Dafür ist die ‚technische Grundregel‘ erforderlich, die zu Beginn der Psychoanalyse zwischen Analytiker/in und Analysand/in vereinbart wird. Sie besagt, dass der/die Analysand/in seine/ihre Assoziationen vorbehaltlos mitteilt, dass er/sie keinen Einfall unerwähnt lässt, dass er sie alles mitteilt, „auch wenn man 1) ihn allzu unangenehm empfinden sollte, oder wenn man 2) urteilen 32 müßte, er sei unsinnig, 3) allzu unwichtig, 4) gehöre nicht zu dem, was man suche.“ 31 Freud, Sigmund: ‚Zur Einleitung der Behandlung‘ [1913], in: Gesammelte Werke VIII. Werke aus den Jahren 1909 1913, London: Imago Publishing Co. 1943, S. 453-478, S. 468. 32 Freud, Sigmund: ‚„Psychoanalyse“ und „Libidotheorie“‘ [1923], in : Gesammelte Werke III. Jenseits des Lustprinzips Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es, London: Imago Publishing Co. 1940, S. 209-233, S. 214f. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 23 S SEXUALITÄT ANNA FREUD Freud verstieß mit seinem Postulat einer kindlichen Sexualität zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen moralische Konventionen, Tabus und Normen. Sexualität ist demnach nicht etwas, was uns in der Pubertät plötzlich überfällt, sondern entwickelt sich als libidinöses Erleben von früher Kindheit an. Außerdem erkannte Freud, dass die Verdrängung der kindlichen Sexualität zu neurotischen oder perversen Symptomen führen kann. Die zentrale Bedeutung der Theorie der Sexualität in Freuds Denken führte zu der weit verbreiteten, doch verkürzten Auffassung, dass die Psychoanalyse alles auf die Sexualität zurückführe. Ein Anliegen Sigmund Freuds war es, „dem Märchen von der asexuellen Kindheit ein Ende“ zu machen: die Psychoanalyse* Freuds zeigte auf, „daß sexuelle Interessen und Bestätigung bei den kleinen Kindern vom Anfang des Lebens an bestehen, zeigte, welche Umwandlungen sie erfahren, wie sie etwa mit dem fünften Jahr einer Hemmung unterliegen und dann von der Pubertät an in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion 33 treten“. Sigmund Freud widersetzte sich vehement einer Auffassung von Sexualität als „etwas die menschliche Natur 34 Beschämendes und Erniedrigendes“. Als Triebfeder aller menschlichen Äußerungen schrieb er ihr maßgebliche Bedeutung zu: im Triebleben wurzeln selbst die größten kulturellen Errungenschaften. Aber auch im Leben eines jeden Menschen spielt Sexualität eine nicht zu vernachlässigende Rolle – und wird sie eingeschränkt, muss dies mit „alle[n] Schädigungen eines Raubbaus“ einhergehen. Darauf verwies Sigmund Freud in seiner 1909 an der Clark University gehaltenen Vorlesungen in Form einer Parabel: Ein gewisser Anteil der verdrängten libidinösen Regungen hat ein Anrecht auf direkte Befriedigung und soll sie im Leben finden. Unsere Kulturansprüche machen es für die meisten der menschlichen Organisationen das Leben zu schwer, fördern dadurch die Abwendung von der Realität und die Entstehung der Neurosen, ohne einen Überschuß von kulturellem Gewinn durch dies Übermaß von Sexualverdrängung zu erzielen. Wir sollten uns nicht so weit überheben, daß wir das ursprünglich Animalische unserer Natur völlig vernachlässigen, dürfen auch nicht daran vergessen, daß die Glücksbefriedigung des einzelnen nicht aus den Zielen unserer Natur gestrichen werden kann. […] Aber so wenig wir damit rechnen, bei unseren Maschinen mehr als einen gewissen Bruchteil der aufgewendeten Wärme in nutzbare mechanische Arbeit zu verwandeln, so wenig sollten wir es anstreben, den Sexualtrieb in seinem ganzen Energieausmaß seinen eigentlichen Zwecken zu entfremden. Es kann nicht gelingen, und wenn die Einschränkung der Sexualität so weit getrieben werden soll, muß es alle Schädigungen eines Raubbaus mit sich bringen. Ich weiß nicht, ob Sie nicht Ihrerseits die Mahnung, mit welcher ich schließe, als eine Überhebung auffassen werden. Ich getraue mich nur der indirekten Darstellung meiner Überzeugung, indem ich Ihnen einen alten Schwank erzähle, von dem Sie die Nutzanwendung machen sollen. Die deutsche Literatur kennt ein Städtchen Schilda, dessen Einwohnern alle möglichen klugen Streiche nachgesagt werden. Die Schildbürger, so wird erzählt, besaßen auch ein Pferd, mit dessen Kraftleistungen sie sehr zufrieden waren, an dem sie nur eines auszusetzen hatten, daß es soviel teuren Hafer verzehrte. Sie beschlossen, ihm diese Unart schonend abzugewöhnen, indem sie seine Ration täglich um mehrere Halme verringerten, bis sie es an die völlige Enthaltsamkeit gewöhnt hätten. Es ging eine Weile vortrefflich, das Pferd war bis auf einen Halm im Tag entwöhnt, am nächsten Tage sollte es endlich haferfrei arbeiten. Am Morgen dieses Tages wurde das tückische Tier tot aufgefunden; die Bürger von Schilda konnten sich nicht erklären, woran es gestorben war. Wir werden geneigt sein zu glauben, das Pferd sei verhungert, und ohne eine gewisse Ration Hafer sei von 35 einem Tier überhaupt keine Arbeitsleistung zu erwarten.“ 33 Freud, Sigmund: ‚Die Widerstände gegen die Psychoanalyse‘ [1925], in: Gesammelte Werke Jahren 1925 1931, London: Imago Publishing Co. 1948, S. 97-110, S. 107f. IV. Werke aus den 34 Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921], in: Gesammelte Werke XIII. Jenseits des Lustprinzips und andere Arbeiten aus den Jahren 1920 1942, London 1940, S. 71-161, S. 99f. 35 Freud, Sigmund: ‚Über Psychoanalyse‘ [1909], in: Gesammelte Werke VIII. Werke aus den Jahren 1909 1913, S. 1-60, S. 59f. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 24 T TRAUM ANNA FREUD Alle Menschen träumen – bereits im Mutterleib. Nach Freud ist der Traum die (verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches. Seine Inhalte sind der Kontrolle des Bewussten entzogen und werden von unbewussten Motiven gesteuert. Mittels der von Freud elaborierten Traumdeutung können diese erschlossen werden. „Die Traumdeutung aber ist die Via regia [Königsweg] zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben.“ (Sigmund Freud: Die Traumdeutung, 1900) Mit dem Phänomen des Traums und der Deutung der eigenen Träume hatte Sigmund Freud sich ab 1895 befasst, ab 1897 schrieb er an dem Buch Die Traumdeutung (1900), heute sein wohl bekanntestes Werk. Das Besondere und Faszinierende daran ist dessen subjektive Dimension: Sigmund Freud entwickelt seine wissenschaftlichen Erkenntnisse anhand eines psychoanalytischen Selbstversuches: von den ca. 200 Träumen, die in der Traumdeutung analysiert werden, sind fünfzig davon eigene. Freud, der sich selbst als Wissenschaftler und als Empiriker – nicht als Philosoph oder Poet – verstand, war klar, dass er sich mit diesem Rückgriff auf die eigenen Träume und Innenwelten in wissenschaftlicher Hinsicht angreifbar machte. Die Traumdeutung stellt gleichsam eine Art ‚Gründungsdokument‘ der Psychoanalyse* und ihr methodologisches Fundament dar. Tatsächlich zählt der Traum und dessen Deutung zu den grundlegenden Bestandteilen der Tiefenpsychologie; neben der freien Assoziation ist er ein wichtiges therapeutisches Instrument. Die Mechanismen, die den Traum bilden und gestalten, sind die Mechanismen des Unbewussten*. In der Medizin des 19. Jahrhunderts galt der Traum als sinnloses, rein körperliches Produkt. Sigmund Freud hingegen leitete das erste Kapitel seiner Schrift mit folgenden Sätzen ein: „Auf den folgenden Blättern werde ich den Nachweis erbringen, daß es eine psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten, und daß bei Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt, welches an angebbarer Stelle in das seelische Treiben des Wachens einzureihen ist. Ich werde ferner versuchen, die Vorgänge klarzulegen, von denen die Fremdartigkeit und Unkenntlichkeit des Traumes herrührt, und aus ihnen einen Rückschluß auf die Natur der psychischen Kräfte ziehen, aus deren Zusammen- oder Gegeneinanderwirken der Traum 36 hervorgeht.“ Sigmund Freuds Verdienst ist es, die Gesetzmäßigkeiten des Traumes bzw. Mechanismen der ‚Traumarbeit‘ (‚Verschiebung‘, ‚Verdichtung‘, ‚Symbolisierung‘) systematisch erschlossen und ihn damit auch entmystifiziert zu haben: „Der Traum ist im Grunde nichts anderes als eine besondere Form unseres Denkens, die durch die 37 Bedingungen des Schlafzustandes ermöglicht wird.“ Dieses Denken ist dabei „nicht etwa nachlässiger, inkorrekter, vergeßlicher, unvollständiger als das wache Denken; sie ist etwas davon qualitativ völlig Verschiedenes und darum zunächst nicht mit ihm vergleichbar. Sie denkt, rechnet, urteil überhaupt nicht, 38 sondern sie beschränkt sich darauf umzuformen.“ Mittels der ‚Traumarbeit‘ werden also die latenten Traumgedanken in ein schwer wiedererkennbares manifestes Produkt umgewandelt. Die ‚Traumdeutung‘ dagegen geht diesen Weg zurück und entdeckt im manifesten Traum den ursprünglichen latenten Traum. => Arbeitsauftrag: Jede/r von euch führt über einen Zeitraum von drei Wochen ein Traumtagebuch: Ihr notiert morgens nach dem Aufwachen eure Träume; in einem separaten Heft hält ihr eure Deutungsversuche weg. Nach drei Wochen wählt ihr einen dieser selbst geträunten Träume aus, den ihr – anonym – der Klasse zur Verfügung stellt. Nach dem Losverfahren erhält jede/r einen ‚fremden‘ Traum und deutet diesen. Vergleicht anschließend diese Deutung mit eurer eigenen. 36 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung [1900], in: Gesammelte Werke II III. Die Traumdeutung. Über den Traum, London: Imago Publishing Co. 1942, S. 1 642, S.1. 37 38 Ebenda, S. 510, Fn. 2. Ebenda, S. 511. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 25 U DAS UNBEWUSSTE ANNA FREUD Das Unbewusste bezeichnet die Gesamtheit der psychischen Inhalte, die dem Bewussten nicht oder nur teilweise zugänglich sind. In Freuds zweitem topischen Modell umfasst das Unbewusste das Es, Teile des Ich und des Über-Ich. Das Erleben und die Handlungen von Menschen werden hauptsächlich von unbewussten Motiven gesteuert, die ihren Ursprung in der frühen Kindheit haben. Wollte man die Entdeckung Sigmund Freuds in einem Wort zusammenfassen, so wäre es die des ‚Unbewussten‘: Laut Freud gibt es einen Teil des psychischen Apparats, dessen Inhalte (‚Vorstellungen‘) unbewusst sind und trotz ihrer großen Intensität und Bedeutsamkeit nicht ins Bewusstsein kommen. Allerdings können sie sich, so zeigte Sigmund Freud auf, u.a. in Versprechern, im Verschreiben, im Vergessen, und nicht zuletzt auch im Traum* manifestieren. Sigmund Freud hat diesen Befund der Entdeckung des Unbewussten als eine „Kränkung“ der Menschheit bezeichnet: „daß [das Ich] nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten 39 angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht.“ In der Alltagssprache zirkuliert auch der Begriff des Unterbewussten – so hört man mitunter jemanden sagen, * er/sie habe etwas unterbewusst getan. Im Werk von Sigmund Freud und in der Psychoanalyse überhaupt wird jedoch durchgängig der Begriff des Unbewussten und nicht jener des Unterbewussten verwendet. In der Schrift Zur Frage der Laienanalyse (1926) meinte Sigmund Freud dazu: „Wenn jemand vom Unterbewußtsein spricht, weiß ich nicht, meint er es topisch, etwas, was in der Seele unterhalb des Bewußtseins liegt, oder qualitativ, ein anderes Bewußtsein, ein unterirdisches gleichsam. Wahrscheinlich macht er sich überhaupt nichts klar. Der einzig zulässige Gegensatz ist der zwischen bewußt und unbewußt. Aber es wäre ein folgenschwerer Irrtum zu glauben, dieser Gegensatz fiele mit der Scheidung von Ich* und Es zusammen. Allerdings, es wäre wunderschön, wenn es so einfach wäre, unsere Theorie hätte dann ein leichtes Spiel, aber es ist nicht so einfach. Richtig ist nur, daß alles, was im Es vorgeht, unbewußt ist und bleibt, und daß die Vorgänge im Ich bewußt werden können, sie allein. Aber sie sind es nicht alle, nicht immer, nicht notwendig und große Anteile des Ichs können dauernd unbewußt 40 bleiben.“ Den Begriff als solchen hat Sigmund Freud übrigens nicht selbst ‚erfunden‘ – im deutschen Sprachraum formulierten bereits die Philosophen Arthur Schopenhauer (1788–1869) und Friedrich Nietzsche (1844–1900) ähnliche Gedanken. Sigmund Freud hat allerdings das Unbewusste systematisiert und seiner Theorie als zentrales Element zugrunde gelegt – wobei sich sein Verständnis vom Unbewussten im Laufe der Jahre weiterentwickelte. So können zum psychischen Apparat zwei ‚topische‘ Modelle bzw. ‚Topiken‘ [vom griechischen ‚tópos‘: Ort, Stelle] Modelle Freuds unterschieden werden: 1 Das erste topische Modell (1900–1920), in dem das Unbewusste als ein System (Ubw) definiert wird, das sich aus verdrängten Inhalten zusammensetzt, die sich dem Vorbewussten und dem Bewussten (Vbw-Bw) entziehen. 2 Das zweite topische Modell (1920–1939), das drei Instanzen unterscheidet: das Es, das Ich*, das Über-Ich. ‚Unbewusst‘ wird hier vor allem adjektivisch gebraucht, und umfasst das Es sowie auch die unbewussten Teile des Ichs und des Über-Ichs. 39 I. 40 IV. Werke aus den Jahren 1925 1931, Freud, Sigmund: ‚ VIII. Vorlesung. Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte‘ [1917], in: Gesammelte Werke Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, London: Imago Publishing Co. 1940, S. 282-295, S. 295. Freud, Sigmund: Zur Frage der Laienanalyse [1926], in: Gesammelte Werke London: Imago Publishing Co. 1948, S. 207-296, S. 225. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 26 V VERLIEBTHEIT ANNA FREUD Die Verliebtheit ist ein intensives Zuneigungsgefühl. Der/die Andere wird als total gut und schön erlebt. Seine/ihre Schwächen und Fehler können übersehen werden. In der Phase der Verliebtheit wird der/die Andere nicht der Realität entsprechend wahrgenommen. Erst wenn er/sie in seinen/ihren Stärken und Schwächen erkannt und akzeptiert wird, kann sich Liebe entwickeln. ‚Liebe macht blind‘ – diese Redensart ist allseits bekannt. Auch Sigmund Freud ist dem Phänomen der Liebe bzw. der Verliebtheit nachgegangen. Dabei konstatierte er eine große Nähe zwischen Verliebtheit und „Hypnose. Die Übereinstimmungen beider sind augenfällig. Dieselbe demütige Unterwerfung, Gefügigkeit, 41 Kritiklosigkeit gegen den Hypnotiseur wie gegen das geliebte Objekt.“ Was aber passiert genau, wenn wir die/den Geliebte/n ganz anders wahrnehmen, als er ‚eigentlich‘ ist? Psychoanalytisch gesprochen, haben wir es hierbei mit ‚Idealisierung‘ zu tun. Bereits das Kleinkind idealisiert seine Eltern; und insbesondere im Liebesleben ist dieser Vorgang von großer Wirksamkeit und geht mit „Sexualüberschätzung“ einher. Außerdem weist Idealisierung auch eine narzisstische Komponente auf. In seiner Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) ging Sigmund Freud darauf – sowie auf die negativen Folgen maßloser Verliebtheit – ein: „Im Rahmen dieser Verliebtheit ist uns von Anfang an das Phänomen der Sexualüberschätzung aufgefallen, die Tatsache, daß das geliebte Objekt eine gewisse Freiheit von der Kritik genießt, daß alle seine Eigenschaften höher eingeschätzt werden als die ungeliebter Personen oder als zu einer Zeit, da es nicht geliebt wurde. Bei einigermaßen wirksamer Verdrängung oder Zurücksetzung der sinnlichen Strebungen kommt die Täuschung zustande, daß das Objekt seiner seelischen Vorzüge wegen auch sinnlich geliebt wird, während umgekehrt erst das sinnliche Wohlgefallen ihm diese Vorzüge verliehen haben mag. Das Bestreben, welches hier das Urteil fälscht, ist das der Idealisierung. Damit ist uns aber die Orientierung erleichtert; wir erkennen, daß das Objekt so behandelt wird wie das eigene Ich*, daß also in der Verliebtheit ein größeres Maß narzißtischer Libido* auf das Objekt überfließt. Bei manchen Formen der Liebeswahl wird es selbst augenfällig, daß das Objekt dazu dient, ein eigenes, nicht erreichtes Ichideal zu ersetzen. Man liebt es wegen der Vollkommenheiten, die man fürs eigene Ich angestrebt hat und die man sich nun auf diesem Umweg zur Befriedigung seines Narzißmus verschaffen möchte. Nehmen Sexualüberschätzung und Verliebtheit noch weiter zu, so wird die Deutung des Bildes immer unverkennbarer. Die auf direkte Sexualbefriedigung drängenden Strebungen können nun ganz zurückgedrängt werden, wie es zum Beispiel regelmäßig bei der schwärmerischen Liebe des Jünglings geschieht; das Ich wird immer anspruchsloser, bescheidener, das Objekt immer großartiger, wertvoller; es gelangt schließlich in den Besitz der gesamten Selbstliebe des Ichs, so daß dessen Selbstaufopferung zur natürlichen Konsequenz wird. Das Objekt hat das Ich sozusagen aufgezehrt. Züge von Demut, Einschränkung des Narzißmus, Selbstschädigung sind in jedem Falle von Verliebtheit vorhanden; im extremen Falle werden sie nur gesteigert, und durch das Zurücktreten der sinnlichen Ansprüche bleiben sie 42 allein herrschend.“ => Arbeitsauftrag: Beschreibe eine Person aus dem öffentlichen Leben oder aus deinem Umfeld: Aussehen, Vorlieben, Interessen, Stärken, Schwächen etc. Versetze dich anschließend in die Position jemandes, der/die in diese Person verliebt ist, und verfasse die Personenbeschreibung erneut. Anschließend diskutiert in Kleingruppen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Texte. 41 Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921], in: Gesammelte Werke und andere Arbeiten aus den Jahren 1920 1942, London 1940, S. 71-161, S.126. 42 III. Jenseits des Lustprinzips Ebenda, S. 123f. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 27 W WIEN ANNA FREUD Sigmund Freud kam in jungen Jahren nach Wien und entwickelte ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Stadt, das sein ganzes Leben lang währte. Die weit verbreitete Annahme, die Psychoanalyse hätte nur in Wien entstehen können, wies Freud von sich. Von Beginn an legte Freud die Entwicklung der Psychoanalyse international an, wovon die von ihm gegründeten Organisationen (WPV: Wiener Psychoanalytische Vereinigung, 1908; IPV: Internationale Psychoanalytische Vereinigung, 1910) und Kontakte zeugen. Mentalitätsgeschichtlich werden der Stadt Wien und ihren Bewohner/innen bestimmte Merkmale wie beispielsweise Gemütlichkeit oder der Hang zur ‚Raunzerei‘ zugeschrieben. Sigmund Freud hat sich von allem, was als ‚typisch wienerisch‘ etikettiert werden könnte, stets distanziert. Nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland am 13. März 1938 sah er sich gezwungen, mit seiner Familie zu emigrieren. In einem am 7. Juni 1938, kurz nach seiner Ankunft im Londoner Exil verfassten Brief an den Psychoanalytiker Max Eitingon bezeichnete Sigmund Freud Wien – jene Stadt, in der er fast acht Jahrzehnte gelebt hatte – als ‚geliebtes Gefängnis‘: „Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark mit der Trauerarbeit, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, immer noch sehr geliebt, in das Entzücken über die neue Umgebung, das einem zum Ausruf ‚Heil Hitler‘ drängen möchte, mengt sich störend das Unbehagen über kleine Eigentümlichkeiten der fremden Umwelt ein, die frohen Erwartungen eines neuen Lebens werden durch die Unsicherheiten gehemmt, wie lange ein müdes Herz noch Arbeit wird leisten wollen […] – 43 wechselt der Herzschmerz ab mit deutlicher Depression.“ Der gängigen Auffassung, die Psychoanalyse* hätte nur in Wien entstehen können, widersprach Sigmund Freud dezidiert, so beispielsweise in seinem Text ‚Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung‘ (1914). In diesem Zusammenhang äußerte er sich zudem über ‚das‘ Wiener Geschlechtsleben: „Das Aperçu lautet, die Psychoanalyse, respektive die Behauptung, die Neurosen führen sich auf Störungen des Sexuallebens zurück, könne nur in einer Stadt wie Wien entstanden sein, in einer Atmosphäre von Sinnlichkeit und Unsittlichkeit, wie sie anderen Städten fremd sei, und stelle einfach das Abbild, sozusagen die theoretische Projektion dieser besondere Wiener Verhältnisse dar. Nun, ich bin wahrhaftig kein Lokalpatriot, aber diese Theorie ist mir immer ganz besonders unsinnig erschienen, so unsinnig, daß ich manchmal geneigt war, anzunehmen, der Vorwurf des Wienertums sei nur eine euphemistische Vertretung für einen anderen, den man nicht gern öffentlich vorbringen wolle. Wenn die Voraussetzungen die gegensätzlichen wären, dann ließe sich die Sache hören. Angenommen, es gäbe eine Stadt, deren Bewohner sich besondere Einschränkungen in der sexuellen Befriedigung auferlegten und gleichzeitig eine besondere Neigung zu schweren neurotischen Erkrankungen zeigten, dann wäre diese Stadt allerdings der Boden, auf dem ein Beobachter den Einfall bekommen könnte, diese beiden Tatsachen miteinander zu verknüpfen und die eine aus der anderen abzuleiten. Nun trifft keine der beiden Voraussetzungen für Wien zu. Die Wiener sind weder abstinenter noch nervöser als andere Großstädter. Die Geschlechtsbeziehungen sind etwas unbefangener, die Prüderie ist geringer als in den auf ihre Keuschheit stolzen Städten des Westens und Nordens. Diese wienerischen Eigentümlichkeiten müßten den 44 angenommenen Betrachter eher in die Irre führen als ihn über die Verursachung der Neurosen aufklären.“ 43 Freud, Sigmund Eitingon, Max: Briefwechsel 1906 1939. Band 2. Hg. v. Michael Schröter, Tübingen: edition discord 2004, S. 903. 44 Freud, Sigmund: ‚Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung‘ [1914], in: Gesammelte Werke . Werke aus den Jahren 1913 1917, London: Imago Publishing Co. 1946, S. 43-113, S. 80f. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 28 X X-MAL ANNA FREUD Heute können drei Formen von psychoanalytischer Psychotherapie beschrieben werden: Psychoanalyse mit einer wöchentlichen Frequenz von vier bis fünf Mal wöchentlich, die im Liegen stattfindet, psychoanalytisch orientierte Psychotherapie mit einer Frequenz von zwei bis drei Mal wöchentlich, bei welcher sich Analysand/in und Analytiker/in gegenüber sitzen und stützende psychoanalytische Psychotherapie. Andere tiefenpsychologische Psychotherapierichtungen arbeiten mit einer maximalen Frequenz von zwei bis drei Mal wöchentlich. * Ein typisches Merkmal der Psychoanalyse ist ihre hohe Stundenfrequenz. Dadurch wird ein Prozess gefördert, der sich ‚Übertragung‘ nennt und darin besteht, dass sich alte Beziehungsmuster, die meist im Zusammenhang mit den frühkindlichen Beziehungserfahrungen stehen, aktualisieren. Da die Übertragung auch außerhalb des therapeutischen Settings die Beziehungen des Patienten/der Patientin färbt und sein/ihr Erleben und Verhalten zu einem großen Teil steuert, wird durch die psychoanalytische Therapie die Möglichkeit geschaffen, diese Übertragungsprozesse bewusst – und damit auch veränderbar – zu machen. Eine klassische Psychoanalyse erstreckt sich meist über einen längeren Zeitraum (oft auch mehrere Jahre) und hat das ‚Nachreifen‘ der Persönlichkeit zum Ziel, was auch zu einer Reduzierung der Symptomatik einer psychischen Erkrankung führt. Heutzutage findet die Psychoanalyse neben dem Einzelsetting (Therapeut/in und Patient/in) auch Anwendung auf Gruppen, die aus fünf bis zwölf Teilnehmer/innen bestehen und sich ein bis zwei Mal wöchentlich treffen. Auch Kinder und Jugendliche können psychoanalytisch behandelt werden. Darüber hinaus ist die Psychoanalyse nicht nur auf die Behandlung von pathologischen Fällen zu reduzieren, sondern eignet sich für jeden Menschen, der seine Persönlichkeit weiter entwickeln möchte. In seinem Text ‚Zur Einleitung der Behandlung‘ (1913), der sich als eine Art Leitfaden „zum Gebrauche des 45 praktischen Analytikers“ versteht, kommt Sigmund Freud sowohl auf die Frage der Frequenz wie jener der Dauer einer psychoanalytischen Behandlung zu sprechen: „Ich arbeite mit meinen Patienten täglich mit Ausnahme der Sonntage und der großen Festtage, also für gewöhnlich sechsmal in der Woche. Für leichte Fälle oder Fortsetzungen von weit gediehenen Behandlungen reichen auch drei Stunden wöchentlich aus. Sonst bringen Einschränkungen an Zeit weder dem Arzte noch dem Patienten Vorteil; für den Anfang sind sie ganz zu verwerfen. Schon durch kurze Unterbrechungen wird die Arbeit immer ein wenig verschüttet; wir pflegten scherzhaft von einer ‚Montagskruste‘ u sprechen, wenn wir nach der Sonntagsruhe von neuem begannen; bei seltener Arbeit besteht die Gefahr, daß man mit dem realen Erleben des Patienten nicht Schritt halten kann, daß die Kur den Kontakt mit der Gegenwart verliert und auf Seitenwege gedrängt wird. Gelegentlich trifft man auch auf Kranke, denen man mehr Zeit als das mittlere Maß von einer Stunde widmen muß, weil sie den größeren Teil einer Stunde verbrauchen, um aufzutauen, überhaupt mitteilsam zu werden. Eine dem Arzte unliebsame Frage, die der Kranke zu allem Anfange an ihn richtet, lautet: Wie lange Zeit wird die Behandlung dauern? Welche Zeit brauchen Sie, um mich von meinem Leiden zu befreien? Wenn man eine Probebehandlung von einigen Wochen vorgeschlagen hat, entzieht man sich der direkten Beantwortung dieser Frage, indem man verspricht, nach Ablauf der Probezeit eine zuverlässigere Aussage abgeben zu können. Man antwortet gleichsam wie der Äsop der Fabel dem Wanderer, der nach der Länge des Weges fragt, mit der Aufforderung: Geh, und erläutert den Bescheid durch die Begründung, man müsse zuerst den Schritt des Wanderers kennen lernen, ehe man die Dauer seiner Wanderung berechnen könne. Mit dieser Auskunft hilft man sich über die ersten Schwierigkeiten hinweg, aber der Vergleich ist nicht gut, denn der Neurotiker kann leicht sein Tempo verändern und zu Zeiten nur sehr langsame Fortschritte machen. Die Frage nach der voraussichtlichen Dauer der Behandlung ist in Wahrheit kaum zu 46 beantworten“ 45 Freud, Sigmund: ‚Zur Einleitung der Behandlung‘ [1913], in: Gesammelte Werke VIII. Werke aus den Jahren 1909 1913. London 1943, S. 453-478, S. 454. 46 Ebenda, S. 459f. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 29 Y YOUTH ANNA FREUD Nachdem in der so genannten Latenzphase, die den verschiedenen Stufen der kindlichen Sexualität (orale, anale, phallische bzw. ödipale Phase) folgt, die Sexualentwicklung zu einem vorläufigen Stillstand kommt, erwacht diese in der Pubertät (genitale Phase) erneut, was mit einem zunehmenden Begehren des oder der Anderen verbunden ist. „Wenn man einen seiner jugendlichen Patienten befragt, ob er sich je mit der Masturbation befasst habe, würde man gewiss keine andere Antwort hören als: O na, nie.“ (Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, 1905) Nach Sigmund Freud durchläuft das Kind in seinem Entwicklungsprozess verschiedene so genannte psychosexuelle Entwicklungsstufen (orale, anale, genitale Phase und Latenzphase), die durch die Konzentration der Libido* auf bestimmte erogene Zonen charakterisiert sind: orale (Bereich des Mundes), anale (Afterregion) und genitale Zone (Geschlechtsorgane). Jede dieser Phasen geht Hand in Hand mit der Entwicklung von Charaktermerkmalen und der Herausbildung der Persönlichkeit. Der Lustgewinn des Kindes besteht während dieser Phasen in der Reizung der jeweiligen erogenen Zone, wobei die sexuellen Triebkräfte mit dem Eintritt in die Latenzperiode (fünftes bis elftes Lebensjahr) teilweise eine Einschränkung und Desexualisierung erfahren. Das Kind lernt nun, Lustbefriedigung auf nicht-sexuelle Aktivitäten zu verschieben. Diese Verschiebung wird in der psychoanalytischen Theorie als ‚Sublimierung‘ bezeichnet. Mit dem Beginn der Pubertät erwacht die Sexualität* erneut. Sie steht nun nicht mehr nur im Dienste der Lustbefriedigung, sondern auch der Fortpflanzung und der zwischenmenschlichen Partnerschaft. Die dritte der Freudschen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) trägt den Titel „Die Umgestaltungen der Pubertät“, und setzt wie folgt an: „Mit dem Eintritt der Pubertät setzen die Wandlungen ein, welche das infantile Sexualleben in seine endgültige normale Gestaltung überführen sollen. Der Sexualtrieb war bisher vorwiegend autoerotisch, er findet nun das Sexualobjekt. Er betätigte sich bisher von einzelnen Trieben und erogenen Zonen aus, die unabhängig voneinander eine gewisse Lust als einziges Sexualziel suchten. Nun wird ein neues Sexualziel gegeben, zu dessen Erreichung alle Partialtriebe zusammenwirken, während die erogenen Zonen sich dem 47 Primat der Genitalzone unterordnen.“ 47 Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie [1905], in: Gesammelte Werke V. Werke aus den Jahren 1904 1905, London: Imago Publishing C. 1942, S. 108. NUR FÜR DEN SCHULISCHEN GEBRAUCH BESTIMMT © Sigmund Freud Privatstiftung, 1090 Wien, 2013 30 Z ZORN UND ZÄRTLICHKEIT ANNA FREUD Zorn und Zärtlichkeit. Liebe und Hass. Lebenstrieb und Todestrieb. Eros und Thanatos: Ein und dasselbe Objekt (Mensch, Tier, Institution, Ding etc.) kann entgegengesetzte Strebungen, Haltungen und Gefühle, z. B. Liebe und Hass, hervorrufen. Diese beiden Triebe gehen in Freuds Lehre eine Legierung ein und sind einer ständigen Vermischung, einem sich wandelnden Mengenverhältnis unterworfen. Die meisten menschlichen Beziehungen sind durch diese Ambivalenz gekennzeichnet. Sigmund Freud hielt lange Zeit die Selbsterhaltungstriebe und die Sexualtriebe für die beiden Kräfte, welche die menschlichen Verhaltensweisen beherrschen. Im Laufe der weiteren Theorieentwicklung stellte er ab 1920 den Lebenstrieben die Todestriebe gegenüber: Beide Triebe gehen eine Triebmischung ein, es kommt zu einer Vermengung beider Komponenten. Im 1932 geführten Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud, der 1933 zugleich in deutscher, französischer und englischer Sprache erschien, meinte Letzterer dazu: „Wir nehmen an, daß die Triebe des Menschen nur von zweierlei Art sind, entweder solche, die erhalten und vereinigen wollen, – wir heißen sie erotische, ganz im Sinne des Eros im Symposion Platos, oder sexuelle mit bewußter Überdehnung des populären Begriffs von Sexualität*, – und andere, die zerstören und töten wollen; wir fassen diese als Aggressionstrieb oder Destruktionstrieb zusammen. Sie sehen, das ist eigentlich nur die theoretische Verklärung des weltbekannten Gegensatzes von Lieben und Hassen […]. Der eine dieser Triebe ist ebenso unerläßlich wie der andere, aus dem Zusammen- und 48 Gegeneinanderwirken der Beiden gehen die Erscheinungen des Lebens hervor.“ Sigmund Freuds Begriff des Todestriebs stieß bei manchen seiner Schüler/innen und Nachfolger/innen durchaus auch auf Unverständnis und Kritik; er blieb ein höchstumstrittener Begriff. Freuds Auffassung, dass „der Todestrieb zum Destruktionstrieb [wird], indem er mit Hilfe besonderer Organe nach außen, gegen die Objekte, gewendet wird“, und seine Äußerung, dass „[d]as Lebewesen sozusagen sein eigenes Leben 49 dadurch [bewahrt], daß es fremdes zerstört“, birgt die Gefahr, menschliches destruktives Verhalten als angeboren zu interpretieren und somit Konflikte und Kriege als unabänderlich zu legitimieren. 48 Freud, Sigmund: ‚Warum Krieg?‘ [1933], in: Gesammelte Werke XVI. Werke aus den Jahren 1932 1939, London: Imago Publishing Co. 1950, S. 11-27, S. 20. 49 Ebenda, S. 22. 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