Integration des Patienten in die medizinethische Diskussion

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T H E M E N
D E R
Z E I T
BERICHTE
mittlung durchaus auch Nebenwirkungen auftreten können, was im Gespräch mit den anwesenden Patienten
deutlich wurde. Dies kann daran liegen, daß trotz medizinisch korrekter
Aufklärung die für den Patienten existentielle Dimension der veränderten
Beziehung zu seiner Lebenswelt nicht
berücksichtigt wird. Die Diagnose
stört die Selbstvergessenheit in der
Gesundheit, es stellen sich Fragen wie
zum Beispiel „wer bin ich (eigentlich)?“, „was soll jetzt werden?“ oder
„warum gerade ich?“. Nach der Diagnosevermittlung kommt es oft zu einer Neuorientierung der Lebensperspektiven.
Abschließend gab Stella ReiterTheil zu bedenken, daß in der Medizin als empirischer Wissenschaft und
deren Anwendung nicht nur Fehler,
sondern auch „ethische Irrtümer“ unvermeidlich sind. Es könne daher
nicht darum gehen, sich in „ethischem
Perfektionismus“ zu versuchen. Anzustreben sei vielmehr eine kontinu-
ierliche Reflexion und Offenheit, die
es gestattet, Fehler und Irrtümer
möglichst früh zu erkennen und Strategien zu entwickeln, mit denen auch
im ethischen Bereich die Patientenversorgung in geduldiger Annäherung an das Wünschenswerte optimiert werden kann.
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Christian Hick, M. A.
Ebernburgweg 9–11
50739 Köln
Integration des Patienten
in die medizinethische Diskussion
D
er Akzeptanzverfall allgemeingültiger Regeln und die
Überforderung der moralischen
Intuitionen
durch
grundsätzlich neue Handlungsmöglichkeiten in der Medizin sind ein
Grund dafür, daß der Bedarf an neuen
Formen ethischen Argumentierens in
den letzten Jahren zunehmend gewachsen ist (4). Als vielversprechender, diskussionswürdiger Ansatz einer
zwar begründenden und normativen,
doch nicht dogmatischen Ethik kann
die sogenannte Diskursethik angesehen werden (2, 3). Dabei geht man davon aus, daß eine Entscheidung oder
Bewertung dann moralisch richtig ist,
wenn alle von ihr Betroffenen in freiem und echtem Austausch (Diskurs)
dieser zustimmen können.
Für die Medizinethik ergibt sich
aus dieser Konzeption die zwingende
Forderung, sowohl den Patienten als
auch alle anderen an der Behandlung
beteiligten Personenkreise (Pflegepersonal, Angehörige) in die Entscheidungsfindung
einzubeziehen.
Unter diesem Aspekt wurde das Modell des Patientenforums Medizinische Ethik konzipiert, das sich primär
um eine Einbeziehung der Patientenperspektive bemüht (5, 6). Die Beteiligung der Patienten ist jedoch außerhalb solcher Pilotprojekte noch auf
Einzelfälle begrenzt. Kommt es dennoch dazu, werden in aller Regel neue
Perspektiven sichtbar: So trägt zum
Beispiel eine betroffene Mutter bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen ei-
ner Psychiatrietagung ihre Einwände
gegen ätiopathogenetische Konzepte
der Schizophrenie vor, die ihrerseits
pathologisierend sind und schädliche
Wirkungen auf die ganze Familie des
Patienten nach sich ziehen können.
Durch diese perspektivische Belebung, durch die Einführung eines authentischen Momentes von der „anderen Seite“ entsteht Spannung. Die Experten reagieren, der Dialog enthält
eine neue Dimension. Vor allem aber
steigt die Wahrscheinlichkeit, im Diskurs in der Erarbeitung von Normen
„mittlerer Reichweite“ Lösungen der
konkreten Problemsituationen zu finden, die tatsächlich von allen Beteiligten frei mitgetragen werden können.
Fragen einer
„Strebensethik“
Gleichzeitig kann im Rahmen
dieser primären Einbeziehung der Patientenperspektive in die ethische Güterabwägung und Entscheidungsfindung die Kommunikation über ethische Fragen eingeübt werden, eine
Kompetenz, die nach Einschätzung
der überwiegenden Mehrzahl (70
Prozent) einer Gruppe von mehr als
400 Ärztinnen und Ärzten im Praktikum in der Praxis benötigt wird, aber
nie erlernt werden konnte (7).
Neben der Verbesserung der medizinethischen Entscheidungsfindung
werden durch die Einbeziehung des
Patienten in die Bewertungsdiskurse
aber auch Fragen einer „Strebensethik“ wieder in die Medizin eingeführt. Fragen, die sich etwa auf den
Sinnzusammenhang von Erkrankung
und Leben, die Stellung bestimmter
Therapieoptionen zum Lebensentwurf des Patienten oder die Vorstellungen von Lebensqualität und Sterbekultur erstrecken können. Schon
die explizite Thematisierung solcher
Fragen stärkt im Patienten die Zuversicht, sich in einer verständlichen,
deutbaren und beherrschbaren Wirklichkeit zu bewegen. Dieses Gefühl
geht nicht nur mit einer subjektiv verbesserten Lebensqualität einher, sondern hat, wie die Salutogenese-Forschung empirisch nachweisen konnte,
auch eine bessere Krankheitsresistenz
zur Folge (1). Von einer Einführung
der Patientenperspektive in die medizinethische Bewertung darf daher
nicht zuletzt auch ein besseres Therapieergebnis erhofft werden.
Literatur bei den Verfassern
Anschrift der Verfasser:
Dr. med. Christian Hick, M. A.
Philosophisches Seminar
Universität Mainz
Prof. Dr. med. Wolfgang Hiddemann
Abt. Hämatologie und Onkologie
Universität Göttingen
Dr. rer. soc. Stella Reiter-Theil
Dipl.-Psych.
Zentrum für Ethik und Recht
in der Medizin
Universitätsklinikum Freiburg
Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 4, 24. Januar 1997 (31)
A-155
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