Beziehungsstörungen In den letzten Jahren gibt es jedoch zunehmend Konsens darüber, daß PD im Kern als Beziehungsoder Interaktionsstörungen aufgefaßt werden können. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 150 Beziehungsstörungen D.h., es setzt sich die Annahme durch, daß der zentrale psychologische Aspekt von PD auf der Beziehungsebene liegt. Persönlichkeitsstörungen werden damit zunehmend als Beziehungsstörungen definiert (Benjamin, 1986, 1987, 1992, 1995; Fiedler, 1998; Derksen, 1995; Sachse, 1997). © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 151 Beziehungsstörungen Das DSM IV macht in den Kurzdefinitionen der einzelnen Persönlichkeitsstörungen deutlich, daß Beziehungs- oder Interaktionsaspekte von zentraler Bedeutung sind. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 152 Beziehungsstörungen So definiert das DSM IV z.B.: - bei der schizoiden PD „Distanziertheit in sozialen Beziehungen“ - bei der Borderline-Störung „Instabilität in sozialen Beziehungen“ - bei der histrionischen PD „Heischen nach Aufmerksamkeit“ - bei der narzisstischen PD „Bedürfnis nach Bewunderung“, usw. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 153 Beziehungsstörungen Fiedler (1998, S. 149f) vertritt stark den Ansatz, Persönlichkeitsstörungen als Beziehungsstörungen aufzufassen. Er meint, daß PD insbesondere dort als diagnostische Kategorie in Betracht gezogen werden, wo die zwischenmenschliche Interaktion der Betroffenen mit allgemeinen, kontextuellen oder rechtlichen Normvorstellungen in Konflikt gerät. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 154 Beziehungsstörungen Seines Erachtens sollte die Diagnose PD erst dann erwogen und gestellt werden, wenn zwischenmenschliche Beziehungskonflikte in einer Weise so extremisieren, daß die private und berufliche Leistungsfähigkeit Lebensqualität eingeschränkt der ist, und/oder Betroffenen und/oder, wenn die erheblich diese Beeinträchtigung bei den Beteiligten zu erheblichen subjektiven Beschwernissen führt. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 155 Beziehungsstörungen Dies setzt jedoch voraus, daß bei der Beurteilung einer PD immer auch der interaktionelle Kontext mitbewertet wird, in dem die Interaktionsstörung sich manifestiert (also die Stimulus-Bedingungen, die Schemata auslösen). © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 156 Beziehungsstörungen Denn eine Interaktionsstörung ist nicht nur von den Schemata einer Person, sondern auch von den Auslösebedingungen der personspezifischen Schemata abhängig. D.h. auch, daß ein bestimmtes Verhalten einer Person nicht ausschließlich durch extreme Umweltbedingungen erklärbar werden darf. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 157 Kontext Anders gesagt: Der Kontext, in dem ein bestimmtes Erleben und Verhalten beobachtet wird, muß Schlußfolgerungen auf die Schemata der Person zulassen. So kann man z.B. erst dann davon ausgehen, daß eine Person ein übersteigertes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit hat, wenn sie entsprechendes Verhalten in einer Vielzahl von Situationen und auch dann noch zeigt, wenn sie Aufmerksamkeit erhält. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 158 Kontext Was wesentlich dabei ist: Für Schlußfolgerungen auf Schemata der Person muß ein Diagnostiker den Interaktionskontext mitberücksichtigen und sich Fragen stellen wie - erscheint ein bestimmtes Interaktionsverhalten in einem bestimmten Interaktionskontext angemessen oder übertrieben, auffällig? - tritt das Interaktionsverhalten in verschiedenen Interaktionssituationen immer wieder auf? - Paßt die Person ihr Verhalten verschiedenen Interaktionssituationen kaum an? - Ist das Verhalten „unstillbar“ (im Sinne von Gollwitzer), d.h., bleibt es trotz Zielerreichung unverändert bestehen? © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 159 1.8. Einige Charakteristika 1.8. Einige Charakteristika © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 160 Charakteristika Wie schon deutlich geworden ist, sind PD komplexe Störungen, da sie eine Vielzahl psychologischer Charakteristika aufweisen. Einige dieser Charakteristika sollen kurz dargestellt werden. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 161 Comer Comer (1995) stellt in einer Tabelle eine Reihe psychologischer Charakteristika dar und gibt an, für welche Störungen diese Aspekte zutreffen und für welche nicht. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 162 Comer © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 163 Dimensionen Man kann verschiedene psychologische Dimensionen definieren und PD darauf einordnen. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 164 Nähe – Distanz Eine relevante Dimension ist Nähe – Distanz: - sucht eine Person Nähe, Bindung oder - sucht sie Distanz oder Autonomie? © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 165 Nähe – Distanz Nähe Dependent Histrionisch Selbstunsicher Narzißtisch Antisozial Zwanghaft Schizotypisch Paranoid Distanz © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 Schizoid, passiv-aggressiv 166 Nähe – Distanz Borderline PD Nähe Distanz Klienten mit Borderline-Störungen schwanken extrem zwischen Nähe und Distanz. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 167 Manipulation Ein anderer wesentlicher Aspekt ist das Ausmaß manipulativen Verhaltens: d.h., das Ausmaß, in dem eine Person eigene Ziele in intransparenter Weise verfolgt. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 168 Manipulation hoch histrionisch / antisozial narzißtisch passiv-aggressiv paranoid Borderline schizotypisch schizoid dependent niedrig selbstunsicher © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 169 2. Diagnostik 2. Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 170 2.1. Aufgaben 2.1. Aufgaben der Diagnostik © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 171 Diagnostik Bei der Diagnostik von PD geht es um zwei Aufgaben: 1. Feststellen, ob bei einem Klienten überhaupt eine PD vorliegt. 2. Feststellen, welche PD bei einem Klienten vorliegt. Diese beiden Aufgaben sind manchmal, aber nicht immer getrennt: Manche Verfahren erfassen sofort die Art der Störung und beantworten damit gleichzeitig Frage 1. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 172 Diagnostik Methodisch gibt es vier Zugänge zur Diagnostik von PD: 1. Kategorial-prototypische Diagnostik als Experten-Rating 2. Interview-Verfahren 3. Fragebogen-Verfahren 4. Rating von Interaktions-Prozessen © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 173 2.2. Kategorial-prototypische Diagnostik 2.2. Kategorial-prototypische Diagnostik © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 174 Kategorial-prototypische Diagnostik Kategorial-prototypische Diagnostik bedeutet, dass es Definitionen der Persönlichkeitsstörungen gibt, denen ein Beurteiler bei der Einschätzung eines Klienten folgen soll. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 175 Kategorial-prototypische Diagnostik Es gibt heute zwei große Diagnostik-Systeme, die (u.a.) Definitionen von PD geben, die bei der Einschätzung von Klienten beachtet werden sollen: - das DSM IV - das ICD 10 Hier soll etwas näher auf das DSM eingegangen werden. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 176 DSM-Diagnostik Das DSM IV wählt im Grunde eine kategoriale Art der Diagnostik. Eine Persönlichkeitsstörung wird durch eine Auflistung von Merkmalen definiert. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 177 DSM-Diagnostik Diese Merkmale muß der Diagnostiker mit seinen Beobachtungen eines realen Klienten vergleichen und entscheiden, welche und wie viele der aufgelisteten Merkmale jeweils zutreffen. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 178 DSM-Diagnostik Das DSM definiert für jede einzelne Störung, wie viele der angegebenen Merkmale mindestens zutreffen müssen, damit die entsprechende Diagnose vergeben werden kann. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 179 DSM-Diagnostik So sind z.B. die diagnostischen Kriterien einer histrionischen PD nach DSM IV: 1. Die Person fühlt sich unwohl in Situationen, in denen sie nicht im Mittelpunkt steht. 2. Ihre Interaktion mit anderen ist häufig bestimmt durch ein übertrieben sexuell-verführerisches oder provokantes Verhalten. 3. Die Person zeigt schnell wechselnde und oberflächlich wirkende Emotionen. 4. Die Person nutzt durchgängig die eigene äußere Erscheinung, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 180 DSM-Diagnostik 5. Die Person hat einen übertrieben impressionistischen Sprachstil, der keine Details kennt. 6. Die Person liebt Selbstdarstellung und Theatralik, sowie einen übertriebenen Ausdruck von Gefühlen. 7. Die Person ist suggestibel, d.h. leicht durch andere Personen oder Umstände zu beeinflussen. 8. Die Person hält Beziehungen gewöhnlich für intimer, als sie in Wirklichkeit sind. Mindestens fünf der acht Kriterien müssen erfüllt sein. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 181 DSM-Diagnostik Einige Aspekte der DSM-Diagnostik sollen verdeutlicht werden. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 182 Prototypische Definitionen Das DSM gibt eine Liste von Definitionsmerkmalen an, von denen eine bestimmte Anzahl zutreffen muß (jedoch nicht alle zutreffen müssen). Dies wird als prototypische Definition bezeichnet und von einer streng kategorialen Definition (bei der alle Merkmale zutreffen müssen) unterschieden. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 183 Prototypische Definitionen Der Vorteil dieses Vorgehens ist eine größere Flexibilität der Diagnose: Man trägt der Tatsache Rechnung, dass PD komplexe Störungen sind, und dass nicht alle Aspekte, die bei einer Störung vorkommen können, immer bei jeder individuellen Störungsausprägung vorkommen müssen. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 184 Prototypische Definitionen Das Problem dabei ist, dass die Kriterien arbiträr sind, es also keine empirischen Belege dafür gibt, warum man z.B. gerade beim Vorliegen von fünf Kriterien die Diagnose stellen soll. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 185 Prototypische Definitionen Deutlich wird unterschiedliche damit auch, dass es völlig Kriterien-Kombinationen z.B. innerhalb der histrionischen PD geben kann, d.h. also, völlig unterschiedliche Arten, histrionisch zu sein. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 186 Prototypische Definitionen Dies wird der Realität schon gerecht, in der es wirklich eine riesige Gestaltungsbreite einer einzelnen Störung gibt; das macht aber auch deutlich, dass man es bei einer definierten Störung keineswegs mit einem klar und eng umgrenzten Feld von Erlebens- und Verhaltensweisen zu tun hat. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 187 Prototypische Definitionen Und das wiederum macht bereits klar, dass eine Diagnose in der Praxis weit schwieriger zu stellen sein wird, als ein erster Blick in die Kriterien dies nahe legt. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 188 Kriterien-Ähnlichkeit Im DSM wird deutlich, dass die Definitionskriterien der einzelnen Störungen ähnlich sind. So wird z.B. das Kriterium „hat keine engen Freunde oder Bekannte“ sowohl als Definitionskriterium bei der schizoiden PD, der schizotypischen PD als auch bei der selbstunsicheren PD benutzt. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 189 Kriterien-Ähnlichkeit Und selbst wenn die Kriterien nicht identisch formuliert sind, so sind sie doch oft ähnlich formuliert. So wird z.B. deutlich, dass sowohl Klienten mit histrionischer als auch Klienten mit narzisstischer PD nach Aufmerksamkeit und Bewunderung streben. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 190 Kriterien-Ähnlichkeit Es ist klar, dass solche Kriterienüberlappungen oder Kriterien-Ähnlichkeiten es dem Diagnostiker erschweren, zwei Störungen exakt voneinander zu trennen. Dies macht sich dann auch in einer Senkung der Reliabilität bemerkbar (die Störung X kann einmal eher als histrionisch, einmal eher als narzißtisch erscheinen). © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 191 Kriterien-Ähnlichkeit Man muß jedoch sehen, dass dieses Problem faktisch nicht vermeidbar ist: Wenn ein Kriterium X bei zwei verschiedenen Störungen vorkommt, dann muß es auch als Kriterium aufgeführt werden, völlig unabhängig davon, ob sich Kriterien überlappen oder nicht. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 192 Kriterien-Ähnlichkeit Das Problem liegt auch nicht so sehr in der „Überlappung von Kriterien“, sondern darin, dass die DSM-Diagnostik zu oberflächlich und zu wenig systemorientiert ist. Die DSM-Kriterien definieren isolierte, oberflächliche Kriterien; unklar ist, wie diese Kriterien interagieren, welche Relevanz jedes einzelne Kriterium hat, usw.. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 193 Kriterien-Ähnlichkeit Das ist zugleich ein Vorteil und ein Nachteil des DSM: Man will nur beobachtbare Kriterien anführen, und so „theoriefrei wie möglich sein“. Das belastet zum einen die Indikatoren nicht mit theoretischen Spekulationen und ist insofern sehr gut. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 194 Kriterien-Ähnlichkeit Andererseits lassen sich viele Indikatoren aber erst in ihrer Interaktion mit anderen Indikatoren verstehen, die Herstellung von Zusammenhängen erfordert aber wiederum eine Störungstheorie: Ganz theoriefrei zu diagnostizieren ist eine Illusion. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 195 Kriterien-Ähnlichkeit Beispiel: „Hat keine engen Freunde oder Bekannte“. Die Gründe dafür, warum ein Klient keine engen Freunde oder Bekannte hat, sind z.B. bei schizoiden und selbstunsicheren Klienten deutlich verschieden: - Selbstunsichere Freunde, trauen hätten sich gerne Bekannte aber nicht, und Kontakt herzustellen aus Angst vor Ablehnung. - Schizoide zeigen dagegen gar kein Interesse an Freunden und Bekannten. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 196 Kriterien-Ähnlichkeit Oberflächlich sind die Kriterien ähnlich, tatsächlich sind die Kriterien aber mit ganz unterschiedlichen psychischen Faktoren verbunden. D.h.: Die oberflächlich ähnlichen Kriterien haben in verschiedenen Störungen eine unterschiedliche Bedeutung. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 197 Kriterien-Ähnlichkeit Eine ganz wesentliche Folgerung daraus ist: Zum Diagnostizieren sind die DSM-Kriterien hilfreich; um aber valide und reliabel diagnostizieren zu können, reichen DSM- (genauso: ICD-) Kriterien nicht aus; der Diagnostiker / Therapeut muß vielmehr eine Störungstheorie besitzen, er muß verstehen, was die einzelnen Kriterien im Kontext der Störung bedeuten. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 198 Kriterien-Ähnlichkeit So bedeutet z.B. das „Streben nach Bewunderung“ bei Histrionikern und Narzissten unterschiedliches: - Ein histrionischer Klient möchte wegen des Aussehens bewundert werden, dafür, wie interaktionell kompetent er ist u.a., er will Aufmerksamkeit; das zentrale Motiv ist Wichtigkeit. - Ein narzisstischer Klient will wegen seiner Leistung bewundert werden, will als Person anerkannt werden, das zentrale Motiv ist Anerkennung. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 199 Kriterien-Ähnlichkeit Versteht ein Diagnostiker nicht nur die Oberflächenmerkmale, sondern auch die zentralen Motive, die Schemata und die Zusammenhänge, dann kann er Histrioniker und Narzissten wieder voneinander unterscheiden. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 200 Expertise-System Im Grunde ist das DSM ein Expertise-System: Der Diagnostiker kann das System nur dann anwenden, wenn er seht viel Zusatzwissen (= Expertenwissen) darüber hat, was genau mit den einzelnen Begriffen gemeint sein soll und welche Indikatoren eigentlich auf was hinweisen. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 201 Expertise-System Beispiel: Nehmen wir als Beispiel das erste Kriterium der histrionischen PD: „Die Person fühlt sich unwohl in Situationen, in denen sie nicht im Mittelpunkt steht“. Wie kann ein Diagnostiker wissen, wann und ob dieses Kriterium zutrifft? © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 202 Expertise-System In der Regel teilt ein Klient dem Diagnostiker dies nicht direkt mit. Und wenn der Diagnostiker direkt fragt, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Klient nicht valide, sondern nach sozialer Erwünschtheit antwortet. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 203 Expertise-System Also muß der Diagnostiker indirekte Informationen des Klienten erhalten, Erzählungen auswerten und Schlüsse ziehen. Dazu muß er aber Vorstellungen davon haben, was für einen Klienten denn „unwohl“ heißt, was es heißt, „im Mittelpunkt zu stehen“, usw.. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 204 Expertise-System Alle diese allgemeinen Begriffe muß der Diagnostiker mit den Informationen des Klienten füllen. Dazu muß er eine Reihe, z.B. hoch komplexer Schlussfolgerungen ziehen. Wann hat ein Klient einen „impressionistischen Sprachstil“? Wann zeigt er „eine oberflächlich wirkende Emotion“? © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 205 Expertise-System Um dies überhaupt beurteilen zu können, muß ein Diagnostiker über sehr viel Wissen verfügen, in der Lage sein, sein Wissen und seine Schlussfolgerungen zu reflektieren usw., d.h. der Diagnostiker muß ein klinisch-psychologischer Experte sein. Nicht das DSM stellt Diagnosen: Ein Diagnostiker stellt Diagnosen aufgrund der DSM-Kriterien und aufgrund seines Wissens, mit dem er die Kriterien überhaupt erst anwenden kann! © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 206 Expertise-System PD sind komplexe Störungen; daher werden komplexe Diagnostik-Strategien wohl unumgänglich sein. Komplexe diagnostische Strategien sind aber nur von Personen zu leisten, die über eine hohe Expertise verfügen. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 207 Cluster-Analyse Saß et al. 1995 führten auf der Basis umfangreichen Diagnosematerials hierarchische Clusteranalysen zur Bestimmung von Ähnlichkeitsrelationen zwischen den einzelnen Diagnosen durch. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 208 Cluster-Analyse Dabei ergab sich folgende Cluster-Lösung: schizotypisch paranoid zwanghaft schizoid dependent selbstunsicher narzisstisch histrionisch Borderline antisozial passiv-aggressiv © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 209 Cluster-Analyse Damit wird deutlich, dass die DSM-Einteilungen von PD keine empirischen Einteilungen sind. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 210 Vergleich Vergleicht man die DSM-Gruppen mit den empirischen Clustern, so zeigt sich: I DSM Empirische Cluster - paranoide I - schizotypisch - schizoide - paranoid - schizotypische - zwanghaft - schizoid II - histrionische II - narzißtische - dependent - selbstunsicher - borderline - antisoziale III - narzißtisch - histrionisch III - selbstunsichere IV - borderline - dependente - antisozial - zwanghafte - passiv-aggr. - passiv-aggressive © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 211 2.3. Strukturierte Interviews 2.3. Strukturierte Interviews © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 212 Strukturierte Interviews Strukturierte Interviews sind solche, bei denen ein Interviewer dem Klienten genau vorgeschriebene Fragen in genau vorgeschriebener Reihenfolge stellt. Die Interviews basieren dabei auf dem DSM (wie z.B. das SKID II) oder auf dem ICD. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 213 Beispiel Ein Beispiel für ein strukturiertes Interview ist das IPDE („International Personality Disorder Examination“) von Mombour et al. (1993), das auf dem ICD 10 basiert. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 214 Strukturierte Interviews Diese Art der Diagnostik ist nicht völlig unproblematisch. Zwar garantiert sie, dass der Diagnostiker alle Kriterien tatsächlich erhält, und dass er dies strukturiert und damit standardisiert tut. Dennoch sind die Fragen z.T. leicht durchschaubar und können Klienten leicht veranlassen, nach sozialer Erwünschtheit zu antworten. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 215 Strukturierte Interviews Wenn man ernst nimmt, dass PD Beziehungsstörungen sind, dann hat dies auch eine bedeutende Konsequenz für die Diagnostik. Die Erhebung jeder vertraulichen, unangenehmen, peinlichen oder intimen Information setzt eine vertrauensvolle Beziehung voraus, wenn man valide Daten erhalten will. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 216 Strukturierte Interviews Ohne vertrauensvolle Beziehung muß man mit Antworten nach sozialer Erwünschtheit rechnen: Die Klienten werden, wenn sie es peinlich finden, dem Interviewer nicht sagen: „Klar, ich muß immer im Mittelpunkt stehen, sonst fühle ich mich nicht wohl!“. Was aber schon für Klienten ohne PD zutrifft, trifft für Klienten mit PD noch in höherem Ausmaß zu. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 217 Strukturierte Interviews Daher machen solche Interviews wahrscheinlich nur dann Sinn, wenn zwischen Klient und Diagnostiker bereits eine vertrauensvolle Beziehung besteht. Ist das nicht der Fall, kann man Validität und Reliabilität der Daten trotz der Strukturierung oft bezweifeln. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 218 2.4. Fragebögen 2.4. Fragebögen © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 219 Fragebogen-Verfahren Man kann die DSM-Kriterien (oder andere) auch in Fragebogen-Items umsetzen. Kuhl und XXXXXXXX haben aufgrund einer spezifischen Theorie der Persönlichkeitsstörung von Kuhl (XXX), dem sog. „STAR-Modell“, einen Fragebogen entwickelt: Das „Persönlichkeitsstil-undStörungs-Inventar“ (PSSI). © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 220 PSSI Das Problem von Fragebögen ist prinzipiell das Gleiche wie das von Interviews: Klienten können geneigt sein, nach sozialer Erwünschtheit zu antworten. Diese Tendenz ist beim PSSI meiner Einschätzung nach wegen der meist positiven Frageformulierungen so gering wie bei keinem anderen Instrument (Interview oder Fragebogen). © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 221 PSSI Der PSSI eignet sich in der Praxis für ein erstes Screening, um auf eventuell vorliegende PD aufmerksam zu werden. Es sollte jedoch immer mit einer klinischen Diagnose verstanden werden. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 222 2.5. Rating 2.5. Rating des Interaktionsprozesses © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 223 Rating des Interaktionsprozesses Rating-Verfahren des Interaktionsverhaltens sind nicht-reaktive Messverfahren. Sie werden angewandt auf Material, das nicht explizit zu Diagnose-Zwecken erhoben worden ist. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 224 Rating des Interaktionsprozesses So kann man mit einem Rating-Verfahren z.B. eine Therapiestunde einschätzen, in der Therapeut und Klient über irgendwelche Themen sprechen. Vorteil dieser Verfahren ist vor allem, dass das tatsächliche Interaktionsverhalten des Klienten erfasst werden kann und nicht ihre Einschätzung oder Darstellung ihres Interaktionsverhaltens. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 225 Rating des Interaktionsprozesses Dadurch kann auch die Tendenz, im Sinne sozialer Erwünschtheit zu reagieren, stark reduziert werden. Im Therapieteil der Vorlesung wird ein InteraktionsRating vorgestellt werden. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 226 2.6. Reliabilitäten 2.6. Reliabilitäten © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 227 Reliabilitäten Eine wesentliche Frage für die Beurteilung der Güte der Diagnostik von PD ist die nach der Reliabilität: - Re-Test-Reliabilität - Inter-Rater-Reliabilität © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 228 Reliabilitäten A priori muß man bei PD-Diagnose-Verfahren damit rechnen, dass die Reliabilitäten niedriger ausfallen werden als bei der Diagnose anderer Störungen, und zwar weil - PD ein sehr komplexes und damit schwer zu erfassendes Phänomen ist; - die Störung sich direkt auf die Diagnostik auswirkt. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 229 Reliabilitäten Persönlichkeitsstörungen umfassen sehr viele Bereiche des Denkens, Fühlens und Handelns; wie ausgeführt, genügt es auch im Grunde nicht, Oberflächenmerkmale „abzufragen“. Dies macht die Diagnostik von PD zu einem komplexen Vorgang, der hohe Expertise erfordert. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 230 Reliabilitäten Anders als andere Klienten bringen Klienten mit Interaktionsstörungen ihr Problem unmittelbar in die diagnostische Situation mit ein. Ein Klient, dessen Problem Misstrauen ist, wird auch in der diagnostischen Situation misstrauisch sein; ein Klient, der das Bedürfnis hat, sich als „toll“ darzustellen, wird sich auch dem Diagnostiker als „toll“ darstellen usw.. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 231 Reliabilitäten Wenn der Diagnostiker dieses Verhalten direkt erfassen kann, kann er damit sogar ZusatzInformationen erhalten (er „sieht“ das Misstrauen des Klienten unmittelbar). Wenn das diagnostische Instrument aber nur auf Beantwortung von Fragen vertraut, können die Antworten sehr verzerrt werden. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 232 Reliabilitäten Die Reliabilitäten von DSM- oder ICD-basierter Diagnostik sind wesentlich davon abhängig, ob das diagnostische Vorgehen strukturiert-systematisch oder unstrukturiert erfolgt. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 233 Reliabilitäten Unstrukturierte Inter-Rater Rate-Re-Rate .46 - .61 .54 .78 .55 Interviews Strukturierte Interviews © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 234 Reliabilitäten Test-Retest-Reliabilitäten - Personality Diagnostic .40 - .47 Questionnaire (Hyler et al. 1983) - SCID II : Structural .20 - .28 Clinical Interview for DSM III-R (Spitzer et al., 1987) - Personality Disorder .40 - .47 Examination (Looranger, 1987) - Internationale Checklisten .38 - .52 für Persönlichkeitsstörungen (Bronisch et al., 1992) © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 235 2.7. Prävalenz 2.7. Prävalenz © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 236 Prävalenz Nach Maier et al. (1992) liegt die Prävalenzrate von PD in unbehandelten Bevölkerungsgruppen bei 1012%, also sehr hoch. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 237 2.8. Co-Morbiditäten 2.8. Co-Morbiditäten © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 238 Co-Morbiditäten Für die therapeutische Praxis ist jedoch gar nicht so sehr die Prävalenz-Rate in der unbehandelten Bevölkerung relevant. Relevant ist vor allem die Rate der Co-Morbidität. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 239 Co-Morbiditäten Co-Morbidität bedeutet das gleichzeitige Auftreten von zwei verschiedenen psychischen Störungen. Zwei Arten von Co-Morbiditäten sind relevant: - Co-Morbidität zwischen PD und Achse-I- Störungen - Co-Morbiditäten von PD untereinander. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 240 Co-Morbiditäten Co-Morbiditäten mit PD sind deshalb relevant, weil das Vorliegen einer PD - das Interaktionsverhalten eines Klienten im Therapieprozeß sehr stark verändern kann und damit zu völlig anderen Anforderungen an den Therapeuten führt - die Behandlung einer Achse-I-Störung, z.B. einer Angststörung, stark beeinträchtigen kann. - oft ganz andere therapeutische Vorgehensweisen erfordert als bei Achse-I-Störungen, und zwar von Beginn der Therapie an. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 241 Co-Morbiditäten Aus diesem Grund ist es wesentlich zu wissen, ob neben einer Achse-I-Störung auch noch eine PD vorliegt. Näheres dazu im Abschnitt „Relevanz“. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 242 Co-Morbiditäten Wesentlich ist es auch zu wissen, ob bei einer Person mehrere PD vorliegen, da, wie ausgeführt, unterschiedliche PD z.T. zu sehr unterschiedlichen Erlebensweisen und zu unterschiedlichem Interaktionsverhalten führen, auf die der Therapeut auch sehr unterschiedlich reagieren muß. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 243 Co-Morbidität mit Achse-I In verschiedenen Studien liegt die Co-MorbiditätsRate, d.h. der Prozentsatz von PD bei behandelten Klienten im Mittel bei 52% (Fydrich et al., 1996): - bei ambulant behandelten Klienten zwischen 38 – 81% - bei stationär behandelten Klienten zwischen 26 – 92% © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 244 Co-Morbidität mit Achse-I Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass ein Klient, der wegen einer Achse-I-Störung in Therapie kommt, auch eine PD aufweist. Es lohnt sich daher grundsätzlich zu analysieren, ob bei einem Klienten eine PD vorliegt. Dazu mehr unter dem Aspekt „Interaktions-Rating“. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 245 Co-Morbidität mit Achse-I Co-Morbiditäten von PD bei Klienten mit: - Angststörungen 52% - affektiven Störungen 56% - somatoformen Störungen 26,8% - Essstörungen 43,8% (Fydrich et al., 1996) © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 246 Co-Morbidität mit Achse-I In der „Bad Dürkheimer-Cormorbiditäts-Studie“ ergaben sich bei Patienten mit unterschiedlichen Achse-I-Störungen Störungen, (Angststörungen, somatoforme affektive Störungen und Essstörungen) unterschiedliche Prävalenzraten für die einzelnen PD. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 247 Co-Morbidität mit Achse-I Paranoide 8,2 Schizotypische 2,7 Schizoide 3,8 Histrionische 3,8 Narzisstische 0,5 Borderline 7,1 Antisoziale 0,5 Selbstunsichere 39,0 ! Dependente 20,9 ! Zwanghafte 10,4 Passiv-aggressive 0,5 © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 248 Co-Morbidität mit Achse-I Man muß berücksichtigen, dass die relativen Ausprägungen der einzelnen Störungen in einer Stichprobe sehr stark von der Art der Stichprobe abhängen, z.B. davon, ob es sich um eine ambulante oder eine stationäre Stichprobe handelt. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 249 Co-Morbidität mit Achse-I Fiedler (2000) fasst die Co-Morbiditäten zwischen PD und Achse-I-Störungen aus verschiedenen Studien in einer Graphik zusammen. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 250 Co-Morbidität mit Achse-I Gleichzeitigkeitsdiagramm Graphik einfügen!!! S. 49 © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 251 Co-Morbiditäten von PD In einer Stichprobe von 168 Patienten mit unterschiedlichen Achse-I-Störungen (Saß et al., 1996) wird deutlich, dass viele Patienten mehrere PD-Diagnosen erhalten: © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 252 Co-Morbiditäten von PD Dabei haben 1 Diagnose 19% der Patienten 2 Diagnosen 6% 3 Diagnosen 2% 4 und mehr 2,4% Diagnosen © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 253 Co-Morbiditäten von PD Fiedler (2000) gibt Überschneidungen (Co- Morbiditäten) von verschiedenen PD aus einer Stichprobe von 1116 Personen wieder. Die Tabelle ist in sog. Odds-Ratios standardisiert, mit deren Hilfe Zufalls- und Störeffekte ausgeglichen werden können. Je höher der Wert, desto höher die Co-Morbidität. © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 254 Co-Morbiditäten von PD Co-Morbiditäten von PD Tabelle einfügen! S.53 © Prof. Dr. Rainer Sachse, IPP 2000 255