Interdisziplinäres Anorexiekonzept Medizinische Universitätsklinik KSA 1. Einleitung 1.1 Ziel der Behandlung am KSA 2. Definition 3. Eintritt, Behandlungsziel und Vertrag 3.1 Allgemeine Regeln bei Eintritt 3.2 Behandlungsziel und Individueller Behandlungsvertrag 3.3 Erläuterungen zum Vertrag 4. Anamnese, Untersuchungen 4.1 Anamnese 4.2 Somatische Komplikationen und Differentialdiagnosen 4.3 Somatisches Risiko 5. Aspekte der Behandlung 5.1 Allgemein 5.2 Ernährungstherapie 5.3 Psychotherapie/Rolle des EPD 5.4 Ergotherapie 5.5 Medikamentöse Therapie 5.6 Refeeding-Syndrom 5.7 Vertragsbruch/Entlassung/Zwangsbehandlung 6. Ablauf auf der Station und pflegerische Aspekte 6.1 Umgang auf Station und im Behandlungsteam 6.2 Tagesplan 6.3 Essensregeln 6.4 Interdisziplinäre Zusammenarbeit Arztdienst – Pflegdienst – EPD 6.5 Tipps zur Kommunikation 7. Literatur/Links 8. Adressen von Kliniken 1 Einleitung Die Anorexia nervosa ist ein komplexes Krankheitsbild mit schweren, mitunter lebensbedrohlichen Komplikationen. Sie manifestiert sich meist in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter und betrifft zu 90% Frauen. Je jünger die Patientinnen sind und je kürzer die Krankheitsdauer, desto besser sind die Erfolgsaussichten einer Therapie (im pädiatrischen Kollektiv sinkt die Prognose allerdings wieder bei Manifestation vor der Adoleszenz). Über einen Zeitraum von 20 Jahren werden etwa 30% der PatientInnen geheilt, bei 35% tritt eine Verbesserung ein, 20% weisen einen chronischen Verlauf auf und 10% versterben (zitiert in [1]). Patientinnen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr werden aus formalen Gründen in der Kinderklinik resp. Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt. AG: Susanne Delmenico, OÄ Medizin, Barbara Schoch, SL 721, Sabrina Biedermann PFF 701, Melanie Gutherz, PFF 701, Annette Mori, PE Medizin, Andrea Pfister PE Medizin, Simone Bürgler, Ernährungsberatung, August 2011, revidiert Jan 2012. Leitung: Prof. Dr. med. Beat Müller 1.1 Ziel der Behandlung am KSA Meist führt eine somatisch bedrohliche Situation zu einer Einweisung ins Kantonsspital Aarau. Als Akutspital ist unsere Aufgabe die somatische Behandlung. Wir therapieren die lebensbedrohliche Situation mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln, streben eine Gewichtszunahme an und planen eine weitere, angepasste Behandlung an einem Therapieplatz in einer entsprechend spezialisierten Institution oder in einem ambulanten Setting. Es ist nicht das Ziel, eine längerdauernde Behandlung im KSA durchzuführen. Das vorliegende Konzept soll praxisorientiert die Behandlung der Patientinnen und Patienten mit einer Anorexia nervosa an der Klinik für Innere Medizin KSA wiedergeben. Es beinhaltet ärztliche, pflegerische und organisatorische Aspekte des Spitalaufenthalts sowie Empfehlungen und Überlegungsansätze für das Therapievorgehen. 2 Definition Die Anorexia nervosa ist gemäss WHO-Klassifikation ICD-10 wie folgt definiert: Anorexia nervosa (International Classification of Diseases (WHO) ICD-10: F50.0) 1. Untergewicht mit einem BMI von 17,5kg/m2 oder weniger (bei Kindern/Jugendlichen mit einem BMI < 10. BMI-Perzentile) 2. Gewichtsverlust ist selbstverursacht 3. Körperschemastörung (Störung der eigenen Körperwahrnehmung), starke Angst vor Gewichtszunahme oder davor dick zu werden trotz bestehendem Untergewicht 4. Endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse (bei Frauen und Mädchen Amenorrhoe, bei Männern Libido- und Potenzverlust) Es gibt 2 Subtypen der Anorexia nervosa: - Der Restriktive Typ (Asketische Form), ICD-10: F50.00 Keine Essanfälle, keine aktiven Massnahmen zur Gewichtsabnahme, reine Nahrungseinschränkung - Der Bulimische Typ (Binge-/Purging-Typ), ICD-10: F50.01 Massnahmen zur Gewichtsreduktion wie selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Medikamenten (z.B. Laxantien), evtl. Heisshungeranfälle Der bulimische Subtyp der Anorexia nervosa ist von der Bulimia nervosa1 abzugrenzen, bei der die Patientinnen normalgewichtig sind. 1 Bulimia nervosa (ICD-10:F50.2): 1. Essattacken mit Kontrollverlust, andauernde Beschäftigung mit Essen, unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln. 2. Selbstinduziertes Erbrechen u./o. andere kompensatorische Massnahmen (Laxantien, Diuretika, Emetika, zwanghafte körperliche Aktivität oder Fasten) um einen Gewichtsanstieg zu verhindern. 3. Übermässige Sorge um Körperfigur und Gewicht mit starkem Einfluss auf das Selbstwertgefühl. 4. Häufig Anorexia nervosa in der Vorgeschichte. 2 3 Eintritt, Behandlungsziel und Vertrag Der Eintritt erfolgt über die Notfallstation oder als reguläre Zuweisung. In der Regel ist es nicht möglich, am Eintrittstag die gesamte Vorgeschichte mit früheren Hospitalisationen und ambulanten Therapien zu erfassen, eine Standortbestimmung durchzuführen und das Behandlungsziel am KSA festzulegen. In den ersten Tagen gilt es, die bedrohliche somatische Situation zu behandeln (z.B. Kaliumsubstitution, Telemetrieüberwachung) und Informationen einzuholen. Anschliessend wird mit der Patientin (und ihren Angehörigen) ein Behandlungsziel definiert, das Therapievorgehen am KSA festgelegt und (meist) ein Behandlungsvertrag abgeschlossen. Dieser Vertrag regelt die Art und Weise der Nahrungsaufnahme, das Ausmass der Mobilität, die wöchentlich geforderte Gewichtszunahme sowie die Massnahmen bei deren Nichterreichen und ein allfälliges Verlegungs-/Entlassungsgewicht. In der Zeit bis zum Inkrafttreten dieses Vertrags (erste ca. 3 Tage) gelten allgemeine Regeln: 3.1 Allgemeine Regeln bei Eintritt Allgemeine Regeln bei Eintritt bis zum Abschluss eines individuellen Vertrags mit der Patientin besprechen: Ernährung: Die Essensbestellung erfolgt zusammen mit der Pflege. Es wird die ½ Portion eines kompletten Menus bestellt (inkl. Dessert und Salat) zusätzlich zwei Zwischenmahlzeiten in Form von Crèmes, Frappées oder Brot mit Käsli (Quark, Hüttenkäse) (=1600kcal). Das Essen bleibt ca. 30 Minuten im Zimmer. Patientin soll ½ Stunde liegen nach dem Essen, es bleiben keine Esswaren im Zimmer. Zwischenmahlzeiten werden zu den vorgegebenen Zeiten gebracht. Mobilität: Aufenthalt im Zimmer und auf der Abteilung für eine Woche, während dieser Zeit auch nicht in Begleitung ins Freie oder auf andere Abteilungen. Gewichtskontrollen: Täglich vor dem Frühstück in Unterwäsche. Auf Verordnung unangekündigte (Zusatz-)Messung im Verlauf des Tages, namentlich bei morgendlicher Potomanie. Überwachung: Blutdruck und Puls werden 2xtäglich kontrolliert. 3.2 Behandlungsziel und Individueller Behandlungsvertrag Blutentnahmen: Ist kein Behandlungsauftrag von den zuweisenden Ärzten und Therapeuten im Gemässspezifischer separater Verordnung. Vorfeld definiert worden, ist das primäre Ziel die somatische Behandlung mit Verbesserung des körperlichen Allgemeinzustandes mit Korrektur spezifischer Mangelzustände, Gewichtszunahme und Behandlung somatischer Komorbiditäten und Komplikationen. Das sekundäre Ziel besteht im Etablieren eines psychotherapeutischen Settings, in welchem die weitere Therapie erfolgen kann. Bei stark untergewichtigen Patientinnen oder erheblicher psychiatrischer Komorbidität ist eine stationäre Therapie indiziert. Im Kanton Aargau sind hierfür die Kliniken Barmelweid und Schützen spezialisiert. Wichtig ist, das Behandlungsziel und Therapievorgehen dem individuellen Krankheitsverlauf und der individuellen Patientin anzupassen. Bei erst kurzer Krankheitsdauer und jungen Patientinnen muss aus prognostischen Gründen alles daran gesetzt werden, eine Gewichtszunahme zu erreichen und eine angepasste (stationäre) Psychotherapie durchzuführen. Hingegen ist bei chronischem Verlauf einer Anorexia nervosa mit bereits langjähriger Krankheitsdauer im Sinne einer palliativen Situation als Behandlungsziel unter Umständen auch nur eine gewisse somatische Stabilisierung und Verbesserung der Lebensqualität festzulegen [2]. Für eine stationäre Therapie verlegen wir die Patientinnen primär in die Klinik Barmelweid. Die Patientin muss dort für ein Vorgespräch angemeldet werden: 3 Anmeldung Vorgespräch Klinik Barmelweid: Abteilung Psychosomatik, Klinik Barmelweid AG, 5017 Barmelweid Leitung: Dr. Esther Hindermann, Chefärztin, Dr. Thomas Kieser, Co-Chefarzt Kontakt: Sekretariat (Heidi Braunschweiler), Tel. 062 857 22 51, Fax 062 857 27 41 Telefonisch ist via das Sekretariat ein Termin zu vereinbaren und per Fax ein Einweisungszeugnis mit den wesentlichen Informationen zu übermitteln. In besonderen Situationen, bei Fragen oder Dringlichkeit empfiehlt es sich auch, direkt mit Dr. Thomas Kieser Kontakt aufzunehmen. Zum Vorgespräch sollten auch die Eltern resp. Bezugspersonen mitgehen. Normalerweise wird für einen Eintritt in die Klinik Barmelweid kein Mindestgewicht gefordert und ein Übertritt ist innerhalb von 3-4 Wochen möglich. Ist eine Verlegung in die Klinik Barmelweid nicht möglich – von der Patientin abgelehnt und/oder von der Klinik Barmelweid abgelehnt – ist die Verlegung in eine andere Klinik/Institution zu prüfen (Adressen siehe unter Punkt 8). Bei ausserkantonalen Therapieplätzen muss eine Kostengutsprache beim Kantonsarzt eingeholt werden. Nur in Ausnahmefällen sollte eine längerdauernde Therapie im KSA durchgeführt werden. Während des Aufenthalts im KSA ist frühzeitig (d.h. am Eintrittstag) und angepasst an das Behandlungsziel ein individueller Vertrag mit der Patientin abzuschliessen: 4 Behandlungsvertrag für Patientinnen/Patienten mit Anorexia nervosa auf der Medizinischen Bettenstation KSA Patientin/Patient: ……………………………………………………………… Stationsärztin/-arzt: ……………………………… Bezugsperson Pflege:…………………………….. Eintrittsgewicht*: …………… kg am ……………………… * =1. Nüchterngewicht während Hospitalisation Grösse: …………... cm BMI: ……………….. kg/m2 Vertrag erstellt am: ……………………………… Gesamtziel Spitalaufenthalt (Behandlungsziel): ………………………………………………………………………………………………………………. . ………………………………………………………………………………………………………………. . Geforderte wöchentliche Gewichtszunahme: □ wöchentliche Gewichtszunahme im Bandbereich, durchschnittlich mind. 500g pro Woche □ anderes: …………………………………………………………………………………………………. Gewichtskontrollen: □ 2x wöchentlich am Montag und Donnerstag, regulärer Stichtag ist der Donnerstag □ anderes: …………………………………………………………………………………………………. In Unterwäsche (Unterhose, Unterleibchen, ohne Schmuck, ohne Uhr, ohne Schuhe) vor dem Frühstück und mit geleerter Blase. Versuchen Sie nicht, zum Beispiel mit Trinken von grossen Wassermengen frühmorgens, Ihr Gewicht kurzfristig anzuheben. Es können an jeden Tag zusätzliche Gewichtskontrollen zu unterschiedlichen Zeiten ohne Vorankündigung erfolgen. Falls wir glauben dass im Verlauf der Gewichtsanstieg bzw. das nahe Erreichen unseres Zielgewichtes (bzw. Ihre Angst dieses zu überschiessen) sie belastet, so werden wir Ihnen das aktuelle Gewicht nicht nennen. Ernährung: Die Ernährung ist ein zentraler Bestandteil Ihrer Behandlung. Das Essen ist für Sie wie ein Medikament, das Sie für die Behandlung Ihrer Krankheit benötigen und damit Ihr Körper wieder normal funktionieren kann. Die verordnete Menge erlaubt Ihnen eine Gewichtszunahme von mind. 500g pro Woche und die Zusammensetzung mit allen Komponenten ergibt eine ausgewogene Ernährung. Sie verpflichten Sich, die Mahlzeiten resp. Sondenkost einzunehmen und weder zu erbrechen noch auf irgendwelche Art zu entsorgen. ½ Portion eines Menu bestehend aus drei Hauptmahlzeiten inklusive Dessert und Salat, zusätzlich zwei Zwischenmahlzeiten in Form von Crèmes, Frappées oder Brot mit Käsli (Quark, Hüttenkäse) Sie können zwischen den Kostformen „classique“, „léger“, „mediterranée“ und „vegetarisch“ wählen. Das Essen bleibt ca. 30 Min. im Zimmer, ½ Stunde Liegen nach dem Essen. Es 5 sollen keine Esswaren im Zimmer bleiben. Zwischenmahlzeiten werden zu den vorgegebenen Zeiten gebracht, innert 30 Minuten gegessen (auf Verordnung unter Beobachtung) und dann weggeräumt. Nach dem Essen kann eine überwachte Nachkontrolle verordnet werden (zB 60Min) um erbrechen vorzubeugen. Sondenkost: Liegt das Gewicht zweimal unterhalb des vorgegebenen Gewichtsbandes oder bei Gewichtsabnahme von mehr als 1kg/Woche erfolgt eine Ernährung über Magensonde bis das Gewicht wieder zweimal innerhalb des vorgegebenen Gewichtsbandes liegt □ anderes: …………………………………………………………………………………………………. ………………………………………………………………………………………………………………. . ………………………………………………………………………………………………………………. . Mobilität: Das Ausmass der Mobilität wird aufgrund der Schwere Ihrer Erkrankung festgelegt. Bei fehlender Gewichtszunahme und/oder starken psychischen Symptomen wird Ihre Mobilität eingeschränkt. Dies dient zu Ihrem Schutz. Bei positivem Verlauf werden Ihnen wieder mehr Freiheiten erlaubt. In der 1. Woche „abteilungsmobil“ (Datum bis:……………), das heisst Sie dürfen sich im Zimmer und auf der Abteilung aufhalten, nicht jedoch auf anderen Abteilungen oder im Freien (auch nicht in Begleitung). Wird die geforderte wöchentliche Gewichtszunahme erreicht, kann die eingeschränkte Mobilität erweitert werden, z. B. 30 Minuten Park oder Cafeteria in Begleitung. Bei Vertragsbeginn: ….………………………………………………………………………………….… ………………………………………………………………………………………………………………. Psycho-somatische bzw. psychiatrische Begleittherapie: Es ist uns ein grosses Anliegen, dass Sie neben der somatischen Betreuung während der Hospitalisation im KSA auch psychiatrisch-psychotherapeutisch fachärztlich begleitet werden. Deshalb findet bei Eintritt auch eine konsiliarische Untersuchung durch einen Facharzt (Psychiater) des extern psychiatrischen Dienstes statt. Das psychiatrische Gespräch wird bedarfsgesteuert im Verlauf ein- bis mehrfach pro Woche während ihrer Zeit am KSA wiederholt. Läuft bereits eine ambulante Behandlung können wir auf Ihren Wunsch diesen KollegIn über den Verlauf informieren bzw. miteinbeziehen. Name eines zu informierenden Psychiaters / Psychologen aus der ambulanten Therapie: ….………………………………………………………………………………….… Ich akzeptiere die festgehaltenen Punkte vollumfänglich und erkläre mich mit den getroffenen Vereinbarungen einverstanden. Vertragsänderungen werden nur während der gemeinsamen Visite mit dem Pflege- und Arztdienst von Montag – Freitag besprochen und schriftlich festgehalten. Datum: Patientin/Patient: Ärztin/Arzt: Pflege: …………………………………………………………………………….………………………….. 6 Zusatzvertrag im Verlauf der Hospitalisation Patientin/Patient: ……………………………………………………………… Stationsärztin/-arzt: …………………………… Bezugsperson Pflege:……………………………... Erstellt am: ……………………………… Zusätzlich zum Behandlungsvertrag gelten die folgenden neuen Vereinbarungen (nur Änderungen vermerken): Behandlungsziel: ………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………………………. Gewichtszunahme: ……………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………………………. Ernährung: ……………………………………..………………………………………………………….. ………………………………………………………………………………………………………………. ………………………………………………………………………………………………………………. Mobilität: ......................................................................................................................................... ………………………………………………………………………………………………………………. . Ich erkläre mich mit diesen zusätzlichen/neuen Vereinbarungen einverstanden. Vertragsänderungen werden nur während der gemeinsamen Visite mit dem Pflege- und Arztdienst von Montag – Freitag besprochen und schriftlich festgehalten. Datum: Patientin/Patient: Ärztin/Arzt: Pflege: …………...………………………………………………………………..………………………….. 7 3.3 Erläuterungen zum Vertrag für das Behandlungsteam Gesamtziel Spitalaufenthalt (Behandlungsziel): Eine Verlegung in die Klinik Barmelweid erfolgt in der Regel ohne untere Gewichtslimite. Wird ein Mindestgewicht gefordert, ist dieses hier zu vermerken, ebenso wie lange es gehalten werden muss bis zur Verlegung. Wird im Anschluss an die Hospitalisation im KSA eine ambulante Therapie durchgeführt, ist ein Austrittsgewicht zu formulieren. Dieses ist interdisziplinär abzusprechen unter Einbezug des Therapieverlaufs, der psychosozialen Situation und des Allgemeinzustandes der Patientin sowie des nachfolgenden therapeutischen Settings. Als Faustregel kann ein BMI von mindestens 16kg/m2 als Zwischenziel genannt werden, das Endziel ist immer die Normalisierung des Gewichts mit einem BMI von 18,5kg/m2. Geforderte Gewichtszunahme: Eine durchschnittliche Gewichtszunahme von mind. 500g (bis maximal 1kg) pro Woche ist realistisch und sinnvoll. Das wöchentliche Zielgewicht wird in einem Bandbereich festgelegt (Gewichtsverlauf in der Gewichtskurve eintragen). Bei Unterschreiten des Bandes sind Massnahmen zur Erhöhung der Energiezufuhr zu treffen (s. unter Ernährung). Bei dauerhafter Überschreitung resp. anhaltend steilem Kurvenanstieg kann eine Verminderung der Energiezufuhr individuell evaluiert werden. Gewichtskontrollen: Wichtig ist die Verwendung der stets gleichen Waage, um nicht Anlass zu unnötigen Diskussionen zu geben. Diese ist auf jeder Abteilung speziell zu kennzeichnen. Es werden Gewichtskontrollen am Montag und Donnerstag durchgeführt mit Donnerstag als Stichtag (genügend Zeit für Vertragsanpassung vor dem Wochenende). Auf Verordnung unangekündigte (Zusatz-)Messung im Verlauf des Tages, namentlich bei morgendlicher Potomanie. Gewichtskontrollen am Wochenende sind nach Möglichkeit zu vermeiden um nicht Diskussionen zu provozieren mit einem in der Behandlung der Patientin unvertrauten Team. Ernährung: Der benötigte Energiebedarf für eine Gewichtszunahme von 500g pro Woche kann mit der folgenden Formel abgeschätzt werden: Energiebedarfsabschätzung [3]: Grundumsatz [kcal/d]: Körpergewicht [kg] x 24 Aktivitätsfaktor: x 1,3 (sitzende Tätigkeit) Gewichtszunahme von 500g/Woche: + 500kcal Bsp.: Frau mit 36kg -> Grundumsatz von 864kcal x 1,3 + 500kcal = 1623kcal Im KSA können nur entweder ganze oder halbe Portionen eines vollwertigen Menus bestellt werden (ganze Portion = ca. 2000-2400 kcal, halbe Portion = ca. 1000-1200kcal). Für alle Patientinnen wird zu Beginn der Hospitalisation ½ Portion des kompletten Menus, bestehend aus drei Hauptmahlzeiten inklusive Dessert und Salat bestellt, zusätzlich zwei Zwischenmahlzeiten in Form von Crèmes, Frappées oder Brot und Käsli (Quark, Hüttenkäse), was zusammen ca. 1600kcal ergibt. Die Patientinnen können zwischen den Kostformen „classique“, „léger“, „mediterranée“ und „vegetarisch“ wählen. Von der Pflege ist die gegessene Menge zu dokumentieren. Sollte sich im Verlauf darunter eine ungenügende Gewichtszunahme zeigen, kann auf eine ganze Portion umgestellt werden, dies auch bei Wunsch der Patientin nur drei Mahlzeiten einzunehmen. Es ist wichtig, dass ein komplettes Menu mit allen drei Komponenten (Proteinlieferant, Kohlenhydratlieferant, Gemüse/Salat) bestellt wird (die Suppe kann weggelassen werden). Der Proteinlieferant ist immer ein schwieriger Punkt, da die meisten Anorektikerinnen vegetarisch essen. Trinknahrungen können hier eine Hilfe sein um Kalorien- und Proteinzufuhr gezielt zu erhöhen. Eine Übersicht über die vorhandenen Präparate 8 und Geschmacksrichtungen findet sich im Pocket-Guide auf Seite 14. Häufig gründet aber die ungenügende Protein- und Kalorienzufuhr im Weglassen von entsprechend dichten Nahrungsmitteln aus Angst vor Gewichtszunahme. Die Essensdokumentation der Pflege ist hier in der Beurteilung sehr wichtig. Die Essensbestellung erfolgt durch die Pflege und die Patientinnen haben sich an die oben erwähnten Richtlinien zu halten (komplettes Menu mit drei Komponenten, nur Kostform „classique“, „léger“, „mediterranée“ oder „vegetarisch“, zwei Zwischenmahlzeiten zusätzlich). Eine grössere Auswahl würde die Patientinnen überfordern. Da Essen für die Patientinnen mit Angst und Kontrollverlust verbunden ist, werden Diskussionen in der Essensauswahl unvermeidlich auftreten. Um diesen nicht Vorschub zu leisten soll die Ernährungsberatung nicht für die Essensbestellung beigezogen werden. Die Ernährungsberatung ist für die Essensbestellung nur bei Allergien und/oder Unverträglichkeiten (z.B. Lactoseintoleranz) beizuziehen oder wenn im Verlauf andere spezifische Fragen oder Probleme auftreten. Ansonsten arbeitet sie im Hintergrund beratend. Kann mit normalem Essen keine Gewichtszunahme erreicht werden, muss eine Sondenernährung erfolgen. Hier ist mit der Patientin zu besprechen, ob die Sondenernährung zusätzlich zum normalen Essen erfolgen soll oder dieses ganz ersetzen soll. Für die Patientinnen kann es mitunter entlastend sein, vorübergehend nicht mehr essen zu müssen. Als Sondennahrung wird in der Regel Novasource verwendet (1ml = 1,5kcal). Bei alleiniger Sondenkost gilt folgendes Schema: 1. Tag: 5x100ml, 2. Tag: 5x150ml, 3. Tag: 5x200ml, ab 4. Tag: 5x250ml. Bei ergänzender Sondenkost ist mit 5x100ml zu starten und je nach Gewichtsverlauf weiter zu steigern. Bei einem bei Eintritt bereits bedrohlichen körperlichen Zustand kann der direkte Beginn mit einer Sondenernährung indiziert sein. Ergänzende Informationen zur Zusammensetzung finden sich im Pocket Guide Seite 14. Kalorien berechnen: Ist die genaue tägliche Kalorienzufuhr gewünscht, soll die Ernährungsberatung mit entsprechendem Auftrag beigezogen werden. Die Pflege führt Essprotokoll (auf Logimen-Ausdruck) und notiert darauf die Menge der gegessenen Nahrungsmittel. Dieses Protokoll wird 2x/Woche (i.d.R. am Montag und Donnerstag; in Absprache auch werktäglich) durch die Ernährungsberatung berechnet und im KISIM dokumentiert. Auf Wunsch kann das berechnete Essprotokoll auch an die Station / Assistenzarzt gesendet werden. Mobilität: Häufig braucht es zu Beginn eine Einschränkung der körperlichen Aktivität für eine Gewichtszunahme [7]. Die Patientinnen sind in der 1. Woche ‚abteilungsmobil‘, das heisst, sie dürfen sich im Zimmer und auf der Abteilung aufhalten, nicht jedoch auf anderen Abteilungen oder im Freien (auch nicht in Begleitung). Wird die geforderte wöchentliche Gewichtszunahme erreicht und je nach psychischer Verfassung, können den Patientinnen zunehmend mehr Freiheiten erlaubt werden, z.B.: - Aufenthalt im Park oder Cafeteria in Begleitung (1x30 Min. -> 2x30 Min.) - Aufenthalt im Park ohne Begleitung (1x15 Min. -> 2x15 Min.) - 1 Tag Urlaub am Wochenende - etc. Wird die geforderte Gewichtszunahme nicht erreicht kann eine Einschränkung der Mobilität sinnvoll sein. Das Ausmass der Mobilität wird im Team festgelegt und bei Änderungen im Zusatzvertrag festgehalten. Zusatzvertrag: Ergibt sich eine Änderung einzelner Punkte im Vertrag im Verlauf der Hospitalisation, sind diese in einem Zusatzvertrag neu festzulegen. 4 Anamnese, Untersuchungen 4.1 Anamnese Neben den bisher erfolgten ambulanten und stationären Therapien sollen der Gewichtsverlauf und dessen Eckdaten erfragt werden, Gewicht zu Beginn der Erkrankung, minimales Gewicht, maximales Gewicht und die aktuelle Dynamik der Gewichtsabnahme. Eine Ernährungsanamnese beinhaltet die Schilderung der derzeitigen Essensaufnahme (feste Nahrung und Flüssigkeiten). Es ist nach Essanfällen und Erbrechen (selbstinduziert oder 9 ‚spontan‘) zu fragen sowie nach dem Gebrauch von Laxantien, Diuretika oder anderen Medikamenten (Appetitzügler, Ritalin, Amphetamine, Schilddrüsenhormone, etc.) und nach der körperlichen Aktivität/Sport (wie viele Stunden am Tag und was). Zur spezifisch psychiatrischen Anamnese gehören das Fragen nach vorherrschenden Gefühlen, Gedanken, Stimmungslage, Suizidalität und selbstverletzendem Verhalten (z.B. sich schneiden, sich brennen, Haare ausziehen, etc.), wobei es für die Patientinnen oft nicht einfach ist darüber zu reden, sowie nach den aktuellen körperlichen Symptomen, Zufriedenheit mit dem Körper und Vorstellungen eines Zielgewichts. Ausserdem ist die Motivation für die aktuelle Hospitalisation zu ergründen sowie die Vorstellungen über deren Ablauf. Wichtig insbesondere auch für eine nachfolgende ambulante Therapie oder bei Vertragsbruch und Entlassung ist die Kenntnis des sozialen Umfelds, in dem die Patientinnen leben und die Arbeits- (Schule, Lehre) situation. 4.2 Somatische Komplikationen und Differentialdiagnosen Bei den meisten magersüchtigen Patientinnen die ins KSA eintreten ist die Diagnose einer Anorexia nervosa bereits bekannt. Eine sorgfältige Anamnese dient der Untermauerung der Diagnose resp. Neudiagnose und dem Ausschluss von Differentialdiagnosen des Untergewichts und der gastrointestinalen Symptomatik (viele magersüchtige Patientinnen leiden an Verdauungsproblemen wie Übelkeit, Verlangsamung der Magenentleerung und Darmperistaltik). Bei Verdacht oder unklarer Situation sollten weiterführende Abklärungen erfolgen. Differentialdiagnosen der Anorexia nervosa (nach [1] und [4]): Chronische Infekte (z.B. Tuberkulose, HIV) Gastrointestinale Krankheiten (z.B. Zöliakie, M. Crohn, Colitis ulcerosa, Laktoseintoleranz, Achalasie) Endokrine Krankheiten (z.B. Diabetes mellitus, Hyperthyreose, Nebenniereninsuffizenz, Hypophysendysfunktion) Malignome Einzelne neuromuskuläre Krankheiten Das Untergewicht, die Mangelernährung, das Erbrechen und die Einnahme von Medikamenten können zu erheblichen körperlichen Störungen führen, die mitunter lebensbedrohlich sein können. Das Erbrechen führt zu Zahnschäden (Zerstörung Zahnschmelz durch Säure und nachfolgendes Zähneputzen), eine Parotishypertrophie und Hyperkeratosen im Bereich der Fingerknöchel können ein Hinweis sein. Mangelernährung und Gewichtsverlust führen zu Hautveränderungen (trockene Haut, Haarausfall, Lanugobehaarung, Akrozyanose), kardiovaskulären Symptomen (arterielle Hypotonie, Bradykardie, Long-QT, Herzrhythmusstörungen, Herzmuskelatrophie), Elektrolytstörungen, Anämie und Leukopenie, endokrinen Störungen (Amenorrhoe, Low-T3-Syndrom) und zu Osteopenie und Osteoporose mit dem Risiko von pathologischen Frakturen. Nieren- und Leberversagen können auftreten und bei schwerem Untergewicht entwickelt sich eine Hirnatrophie, die in der Regel nach Erreichen eines physiologischen Gewichts reversibel ist. [5] Zur Objektivierung des Schweregrades der körperlichen Folgeerscheinungen gehören neben dem Status mit Augenmerk auf die erwähnten Befunde folgende Abklärungen: Untersuchungen bei Eintritt: Labor: Differentialblutbild, Na, K, Ca, Phosphat, Mg, Cl, Glc, Albumin, Harnstoff, Kreatinin, Bili, ASAT, ALAT, alk. P, GGT, CRP, Ferritin, Vit. B1, B12, Folsäure, 25-OH-Vitamin D, TSH EKG Blutdruck/Puls liegend und nach 5 Min. Stehen 10 Eine Knochendichtemessung (DEXA-Osteodensitometrie) ist indiziert bei Patientinnen, die länger als ein Jahr einen BMI unter 18kg/m2 hatten [5]. Hormonmessungen der HypophysenGonaden-Achse sind routinemässig nicht zu empfehlen und für einen positiven Effekt einer Hormonsubstitution auf die Frakturraten bzw. Osteoporose besteht bislang keine klare Evidenz [2]. 11 4.3 Somatisches Risiko Aufgrund der erhobenen Befunde kann das somatische Risiko abgeschätzt werden: Beurteilungskriterien für das somatische Risiko bei Essstörungen (in [5] und [6]): Ernährungszustand BMI [kg/m2] Gewichtsverlust [kg/Wo] Purpura/Petechien Zirkulation BD [mmHg] Posturaler BD-Abfall [mmHg] Puls [Schläge/min.] Sauerstoffsättigung [%] Zyanose der Extremitäten Muskuloskelettal Unfähigkeit, aus der Hockstellung aufzustehen, ohne mit den Armen zu balancieren Unfähigkeit, aus der Hockstellung, ohne sich mit den Armen aufzustützen Körpertemperatur [°C] Labor EKG Mittleres Risiko Hohes Risiko <15 >0,5 <13 >1,0 + <90/60 >10 <50 <90 <80/50 >20 <40 <85 + + <35 Bei Abweichungen von der Norm + <34,5 Kalium <2,5mmol/l Natrium <130mmol/l Phosphat <0,5mmol/l QT-Verlängerung (v.a. bei gleichzeitigem Kalium-Mangel) 5 Aspekte der Behandlung 5.1 Allgemein Bei längerdauernder Unterernährung sind die Patientinnen in ihren psychischen Funktionen eingeschränkt, sie haben ständigen Hunger und ihre Gedanken sind auf Inhalte rund ums Essen fixiert, sie sind verlangsamt, überfordert und unruhig. Durch die Gewichtszunahme kommt es zu einer Verbesserung dieser Symptome, wodurch eine Psychotherapie im engeren Sinne erst möglich wird, auch Ängste, Zwänge und Störungen der Körperwahrnehmung verbessern sich. Eine fehlende Krankheitseinsicht erschwert oft die Therapie. Die Betroffenen und ihre Angehörigen müssen über die Krankheit und deren Folgen informiert werden um so das Bewusstsein der Behandlungsbedürftigkeit zu wecken und eine Therapiemotivation entstehen zu lassen. Aber selbst bei guter Motivation erschwert eine hohe Ambivalenz mit der grossen Angst vor Gewichtszunahme, hohen Autonomiebedürfnissen und Scham die Therapie [2,5]. 5.2 Ernährungstherapie Das Ziel der Ernährungstherapie ist die Normalisierung des Essverhaltens. Während dem Essen sind die Patientinnen belastenden Gefühlen und körperlichen Symptomen ausgesetzt. Diese auszuhalten ist nicht einfach. Die Auseinandersetzung mit ihnen und deren Überwindung ist ein Bestandteil der Therapie der Anorexia nervosa. Auch sind die realen Schwierigkeiten wenn der Organismus wieder regelmässig ernährt wird nicht zu unterschätzen (Verstopfung, Blähungen, Völlegefühl). Die geäusserten Beschwerden und Gefühle sollen mit den Patientinnen besprochen und sie nach Möglichkeit darin unterstützt werden, einen Weg zur 12 Überwindung resp. Umgang mit ihnen zu finden. Eine tiefere Auseinandersetzung ist der Psychotherapie vorbehalten. 5.3 Psychotherapie/Rolle des EPD (Externer Psychiatrischer Dienst) Eine Psychotherapie im eigentlichen Sinn kann im Kantonsspital Aarau nicht durchgeführt werden. Der Externe Psychiatrische Dienst soll konsiliarisch in jedem Fall bei Eintritt und danach individuell begleitend im Verlauf (mindestens wöchtentlich, besser 2-3x wöchtentlich) unter anderem für folgende Situationen beigezogen werden: stützende Gespräche mit den Patientinnen, Exploration einer psychischen Komorbidität, Indikationsstellung für eine Psychopharmakotherapie, Team-Supervision vor allem bei längerer Hospitalisationsdauer, interdisziplinäre Festlegung eines Behandlungsziels insbesondere in komplexen Situationen, Beurteilung bei Vertragsbruch/Behandlungsabbruch/Entlassung im Hinblick auf eine Selbstgefährdung mit Anordnung einer Zwangsbehandlung (FFE). Zuständig sind primär die Oberärztinnen und Oberärzte des EPD. In schwierigen Fällen kann auch PD Dr. med. Urs Hepp, Chefarzt EPD, konsultiert werden. Insbesondere falls ein Nachbetreuung in der psychosomatischen Klinik Barmelweid vorgesehen ist oder die Betreuung durch den EPD im Verlauf behindert ist, soll frühzeitg Kontakt bzw. eine Konsilanforderung an Dr. Esther Hindermann, Chefärztin oder Dr. Thomas Kieser, Co-Chefarzt (Tel. 062 857 22 51, Fax 062 857 27 41) gemacht werden. 5.4 Ergotherapie Kontaktpersonen: Denise Hemauer, Dipl. Ergotherapeutin; Astrid Tanner, Dipl. Ergotherapeutin Tel: 4945 Anmeldung: Laufend durch den behandelnden Arzt oder die Pflege direkt an die ErgotherapieKinderklinik mittels schriftlicher Verordnung. Termine werden durch die behandelnde Ergotherapeutin koordiniert. Rahmenbedingungen: Teilnahme am Rapport, respektive mindestens 1 x wöchentlich Rückmeldung und Austausch seitens der Pflege an die Ergotherapeutin. Ort: Einzelzimmer oder Untersuchungsraum auf Station bei Patientinnen die die Station nicht verlassen dürfen. 1. Achtsamkeitstraining (Nicht wertend sondern beschreibend) Ziel: Förderung der Selbstwahrnehmung Kennen lernen eines achtsamen Umgangs mit dem eigenen Körper. Zielgruppe: BMI > 13kg/m2; nicht akut suizidal Setting: 2 – 4x 30min Einzeltherapie in der Woche Material: Igelbälle, Noppenbälle, Goshball, Bürsten, Pinsel, Lufaschwamm, Gesichtspinsel, Watte, Duftöle, Parfum-Probefläschchen 2. Körperbildtherapie Ziel: Erarbeiten eines gesunden Körperbildes Zielgruppe: BMI > 15 kg/m2, nicht akut suizidale bzw. selbstverletzend Setting: Einzelergotherapie auf Station, 2-4x wöchentlich. Bei entsprechendem Ausgang auch außerhalb der Station möglich. 2x wöchentlich 50 min Therapie im Haus 9 nur bei somatisch und emotional stabilen Patientinnen/ Patienten (keine Kreislaufprobleme, kein Selbstverletzendes Verhalten, keine akute Psychose) Befund: Fragebogen und Figurenscala, 4 Komponenten des Körperbildes, Entwicklung meines Körperbildes, Aufrechterhaltende Bedingungen, Körperzentriertes Vermeidung und Kotrollverhalten Körperumriss legen). Je nach Dauer des Klinikaufenthaltes und Verordnung können andere Schwerpunkte gesetzt werden. Materialbedarf: 2 Matten (z.B. Airexmatten), 5 Seile (Sprungseile), Bleistifte, (Fotokarton), (Klebstift), (Scheren), Deponiert im Haus 7, Station 731, angeschriebener Kasten in Angehörigengarderobe der Iso. 13 5.5 Medikamentöse Therapie Es gibt keine essstörungsspezifischen Medikamente. Der Einsatz von Psychopharmaka ist vor allem bei psychischer Komorbidität in Absprache mit dem EPD sinnvoll und richtet sich nach den Symptomen [5]. Wenn solche Medikamente verordnet werden, sollte das insbesondere kardiale Nebenwirkungspotential bei den stark mangelernährten Patientinnen mit Vorsicht beachtet werden [6]. Für die Prävention und Behandlung der Osteoporose besteht bisher nur für die Kalzium- und Vitamin D-Supplementation eine Evidenz. Jede Patientin sollte mindestens 1000mg Kalzium und 800 IE Vitamin D erhalten [2]. Bisphosphonate sind nicht empfohlen [4]. Ebenfalls kann eine Supplementation von Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen nicht generell empfohlen werden [2, 8]. Eine unzureichende Vitaminzufuhr wird in der Regel durch eine ausgewogene und ausreichende Kost ausgeglichen [8]. Die Supplementation von Thiamin zur Verhinderung einer Wernicke-Encephalopathie ist bei intensiver Wiederernährung (Sondenkost) prophylaktisch einzusetzen [8]. Ansonsten richtet sich die Substitution nach den spezifischen Mangelzuständen (z.B. Vitamin B12, Folsäure, Eisen, Kalium) [2]. 5.6 Refeeding-Syndrom Das Refeeding-Syndrom ist ein potentiell lebensbedrohliches Zustandsbild, das bei mangelernährten Patienten nach Wiederbeginn einer adäquaten Nährstoffzufuhr in den ersten 1-3 Wochen entstehen kann. Durch die Nährstoffzufuhr kommt es zur Reaktivierung des Glucosestoffwechsels und durch die Insulinausschüttung zu einer gesteigerten Proteinsynthese mit Aufnahme von Glucose, Wasser, Kalium, Magnesium und Phosphat in die Zellen. Es können schwere Elektrolytentgleisungen (Hypophosphatämie, Hypokaliämie, Hypomagnesiämie, Hypokalzämie), Vitaminmangelzustände (Thiamin) und Natrium- und Wasserretention resultieren mit potentiell lebensbedrohlichen Organfunktionsstörungen. Zur Verhinderung eines Refeeding-Syndroms wird die (Sonden-)Ernährung in der ersten Woche nur schrittweise gesteigert (siehe unter 3.3 Ernährung). Zu beachten ist, dass es auch mit einer peroralen Nahrungszufuhr zu einem Refeeding-Syndrom kommen kann, insbesondere wenn die Patientinnen von Beginn an die ganzen Portionen essen. Die Patientinnen müssen hinsichtlich des Auftretens eines Refeeding-Syndroms überwacht und therapiert werden: Refeeding-Syndrom (siehe auch Pocket Guide Seite 14) Überwachung - Dokumentation der aufgenommenen Menge Nahrung durch die Pflege (Essprotokoll) - Kontrolle der Vitalparameter - Klinische Beurteilung hinsichtlich dem Auftreten von Ödemen - Elektrolytkontrolle (Na, K, Ca, Mg, Phosphat) alle 1 (Sondenkost) – 2 Tage in der ersten Woche, danach gemäss Verlauf (Gewicht/Nahrungsaufnahme gemäss Essprotokoll), mindestens 1x wöchentlich Therapie - Elektrolytsubstitution gemäss Labor: Kalium: KCl ret. Drg. à 10mmol: 40-80mmol/d Magnesium: Magnesium 5 Granoral (=12mmol) 1-2tgl. Phosphat: Phosphatsirup KSA 3x15ml (0,67mmol Phosphat/ml) bei schweren Elektrolytentgleisungen ist unter Umständen eine intravenöse Therapie notwendig: Kalium: gemäss Richtlinien, Magnesiumsulfat: 16mmol/24h, Phosphat: Phosphat-Puffer à 10mmol 3x tgl. als KI - evtl. Reduktion der Nahrungsmenge resp. langsamere Steigerung - evtl. Flüssigkeitsrestriktion - Thiamin bei Sondenkost prophylaktisch: Benerva 300mg tgl. 5.7 Vertragsbruch/Entlassung/Zwangsbehandlung Werden die im Behandlungsvertrag getroffenen Vereinbarungen nicht eingehalten resp. im Zusatzvertrag festgehaltene Änderungen nicht akzeptiert, muss die Situation mit der Patientin in 14 einem ausführlichen Gespräch geklärt und eine Änderung des Behandlungsziels und auch die Möglichkeit einer Entlassung diskutiert werden. Befehlsmässige Ultimaten sind nach Möglichkeit zu vermeiden, hingegen sollen die festgelegten Regeln und Vereinbarungen konsequent gefordert werden. Ein gewisser fürsorglicher Druck und Beharrlichkeit vor dem Hintergrund der lebensbedrohlichen Situation und in Anbetracht der grossen Ambivalenz trotz guter Motivation sind notwendig. Wenn immer möglich sollte die Behandlung freiwillig erfolgen und die Patientin an der Entscheidung mitwirken können. Änderungen des Behandlungsziels und Entlassung müssen immer auch mit den Bezugspersonen (Eltern, Partner) besprochen werden. Liegt keine somatisch bedrohliche Situation vor (siehe 4.3) vor, kann eine Entlassung und ambulante Weiterbehandlung auch durchaus vertreten werden. Besteht hingegen ein somatisch vitales Risiko („Gefahr im Verzug“) muss vor dem Hintergrund der lebensbedrohlichen Situation mit Selbstgefährdung bei Behandlungsabbruch und Entlassung eine Zwangsbehandlung mit damit verbundener Fürsorgerischen Unterbringung (FU) evaluiert werden. Wenn immer möglich sollte eine solche Behandlung gegen den Willen der Patientin vermieden werden aber im Bedarfsfall konsequent durchgeführt werden. Bei der Beurteilung sind die eingeschränkten kognitiven Funktionen bei extremem Untergewicht sowie die beeinträchtigte freie Willensbildung bei starker Ausprägung der Angst vor Gewichtszunahme zu beachten. Somit kann eine Zwangsbehandlung medizinisch und ethisch notwendig sein. Die Fürsorgerische Unterbringung (FU) kann von jedem (auch nichtpsychiatrischen!) Facharzt angeordnet werden (Formular auf Intranet unter Stichwort „FU“). Er ist für 6 Wochen gültig und an den Kantonsarzt gemeldet bzw. die involvierten Kollegen und mit der Pflege abgesprochen werden. Wird für eine Zwangsbehandlung im Rahmen eines FU entschieden, muss individuell die geeignete Institution/Abteilung und Modalitäten gesucht und besprochen werden (z.B. 24hSitzwache, Überwachungsstation). Ist die Patienten nicht mehr auf der Abteilung der Bettenstation kontrollierbar, so sind frühzeitig (besser „vorzeitig“, dh schon VOR dem Verlegungstag, wenn sie eine Verschärfung abzeichnet!) Dr. Marcus Batschwaroff (SIC) bzw. Dr. Marc Michot (IPS) bei Verlegungsbedarf miteinzubeziehen. 15 6 Ablauf auf der Station und pflegerische Aspekte 6.1 Umgang auf Station und im Behandlungsteam Definition Rolle Pflegende: Die Pflege übernimmt die tägliche Betreuung der Patientinnen. Dazu gehört die Umsetzung des Vertrages, Gewichtskontrollen, Essensbegleitung sowie allfällige Medikamenten- und gegebenenfalls Sondenkostgabe. Unterstützung bei der Körperpflege und beim Wahrnehmen von Terminen. Bei Fragen innerhalb des Teams oder Problemen wenden sie sich an die Bezugsperson. Definition Rolle Bezugsperson: Wichtig im Umgang mit den Patientinnen ist die Kontinuität. Von Seiten der Pflege sollten der Patientin zwei Bezugspersonen zur Seite gestellt werden. Eine der beiden Bezugspersonen sollte nach Möglichkeit 80% auf der Abteilung sein. Sie sind die Hauptansprechpersonen der Patientin. Sie kümmern sich um die Anliegen und Probleme der Patientin und planen mit ihr die kommende Woche. Sie sind gleichzeitig die Ansprechpersonen fürs Team und andere involvierte Dienste, bei Fragen oder Problemen. Bei Fragen bezüglich des Vertrags ist der Arztdienst Ansprechperson. Nach Möglichkeit werden die Bezugspersonen in der Schicht jeweils der Anorexie-Patientin zugeteilt. Die Bezugsperson ist dafür verantwortlich, dass die Ergotherapeutin, falls involviert, an Fallbesprechungen oder Austauschrunden teilnehmen kann. Mindestens 1 x wöchentlich wird mit der Ergotherapeutin Kontakt aufgenommen für einen interdisziplinären Austausch. Verhalten des Teams: - Die Bezugsperson bespricht Anliegen der Patientin, die im Vertrag nicht abgedeckt sind, und notiert getroffene Abmachungen nach vorheriger Besprechung mit dem Arztdienst für alle ersichtlich im Kardex. Damit wird ein Ausspielen der Pflegenden und anderen Diensten verhindert. - Die Regeln des Vertrags und die Abmachungen mit der Bezugsperson werden strikt durchgesetzt. - Alle Mitarbeiter (alle Dienste) die involviert sind, sind dazu angehalten lückenlos zu dokumentieren. - Bei Auftreten von Uneinigkeiten bezüglich Behandlung und Betreuung im Team ist es wichtig, diese Uneinigkeiten nicht vor der Patientin zu besprechen sondern im Team (Austausch ist wichtig, siehe auch 6.4). Die getroffenen Teamentscheide sind für alle ersichtlich zu notieren und auch der Patientin mittzuteilen. - Destruktives Verhalten oder Täuschungsmanöver seitens der Patientin ist von der Bezugsperson und dem Arztdienst mit der Patientin zu besprechen und zu klären und Lösungen zu finden. Je nach Situation kann dies z.B. Bettruhe, Abschliessen der Toilette, Ausgangssperre oder Behandlungsabbruch und Entlassung sein (siehe auch 5.5). Die zu treffenden Lösungen sind vorgängig interdisziplinär abzusprechen. Evtl. Einbezug des EPD. - Projektionen/Spaltungen: Informationen von der Patientin werden an verschiedenen Orten deponiert und lösen im Behandlungsteam Reaktionen und Diskussionen aus – das Problem „wird nach aussen projiziert, scheint das Team in Aufruhr zu bringen und zu spalten“ [7]. Wichtig für das Behandlungsteam ist es, diese Mechanismen zu erkennen und ihnen durch eine offene Kommunikation im Team, gegebenenfalls auch im Beisein der Patientin, entgegenzuwirken. Hierfür ist auch eine vom EPD angebotene Supervision hilfreich. - Die Gefühlswelt der Patientinnen ist meist sehr labil. Sie sind häufig nervös, schüchtern und gehemmt. Dies muss im Stationsalltag berücksichtigt werden. Austausch mit EPD und gemeinsame Lösungsfindung bei Verhaltens- oder Gefühlsproblemen. Je nach Situation männliche Pflegende nicht einplanen. 16 - Patientinnen versuchen häufig, von Tag zu Tag den Therapieplan selbst zu ändern und zu bestimmen. Striktes Durchsetzen der Therapien und Vereinbarungen im Vertrag können mit der Zeit zu einer Beruhigung der Situation führen. Ausspielungen werden so unterbunden. - Auf Aussagen der Patientin über andere Dienste oder andere Pflegende nicht eingehen, aber zuhören und ins Team weiterleiten. 6.2 Tagesplan Eine Tagesstruktur im eigentlichen Sinn kann nicht angeboten werden. Der Patientin muss vermittelt werden, dass die körperliche Behandlung im Vordergrund steht. Bei entsprechender somatischer Indikation kann Physiotherapie angemeldet werden (z.B. Massage, Wickel) und Ergotherapie (mit dem Ziel der Förderung der Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz). Je nach Situation finden Sitzungen mit dem EPD statt. Die Pflege erstellt mit der Patientin zusammen einen Tagesplan. - 6.3 Essensregeln Essen bleibt ca. 30 Min. im Zimmer, ½ Stunde Liegen nach dem Essen Es sollen keine Esswaren bei der Patientin bleiben Zwischenmahlzeiten werden zu den vorgegebenen Zeiten gebracht, gegessen und dann weggeräumt Pflege dokumentiert die gegessene Menge auf dem Logimen-Ausdruck, z.B. Wochenplan (Kalorien berechnen siehe Punkt 3.3) Einmalige Essbegleitung zu Beginn, später bei Bedarf 6.4 Interdisziplinäre Zusammenarbeit Arztdienst – Pflegdienst – EPD Der primäre Informationsaustausch zwischen dem Arztdienst und dem Pflegdienst erfolgt anlässlich der täglichen Visiten (inklusive Kardex-Visiten) mit dem Ziel, beide Seiten à jour zu halten. Wichtige Informationen werden schriftlich festgehalten. Entscheide die getroffen werden sind klar zu dokumentieren und dem restlichen Team zu kommunizieren. Weiterreichende Entscheide wie Vertragsänderungen und Massnahmen bei Vertragsbruch sind mit dem Oberarzt/der Oberärztin und gegebenenfalls auch mit dem EPD abzusprechen. Ein regelmässiger Informationsaustausch (1x wöchentlich) des gesamten Teams sowie KonsensEntscheide betreffend das weitere Vorgehen sind wo immer möglich anzustreben. 6.5 Tipps zur Kommunikation Nicht auf das Körperbild eingehen. Nie Worte wie „dick, dünn …“ verwenden eher: ich beobachte, dass es Ihnen Angst macht davon zu essen. ich versichere Ihnen, dass Sie mit dieser Portion Essen nicht mehr zunehmen werden als ihr abgemachtes Zielgewicht. Patientin sagt: Ich habe die Salatsauce nicht gern Pflege: Sie müssen die Salatsauce nicht gern haben, sie sollten diese essen und ich garantiere Ihnen, dass Sie damit nicht schnell zunehmen werden. Patientin isst Mahlzeit nicht auf, sie lässt das Brot immer stehen – wie soll beim Abräumen reagiert werden? Ich beobachte, dass Sie das Brot stehen lassen – ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie im Vertrag unterschrieben haben täglich 3 halbe Hauptmahlzeiten und Zwischenmahlzeiten einzunehmen. Patientin beginnt zu weinen und sagt, dass sie Mühe habe mit so vielen Regeln und Einschränkungen im Spital. Verständnis signalisieren Gefühlsäusserungen aushalten 17 7 Literatur/Links [1] Isenschmid B. Anorexie. Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Hausarzt Praxis. 2010;78:23-26. [2] Empfehlungen des Experten-Netzwerks Essstörungen Schweiz: Behandlung von Menschen mit Essstörungen (März 2006). www.netzwerk-essstoerungen.ch (Experten-Netzwerk Essstörungen Schweiz ENES). [3] Suter PM. Checkliste Ernährung. Thieme-Verlag. 3. Auflage 2008. [4] Kamber V. Essstörungen – nicht nur ein psychiatrisches Problem. Schweiz Med Forum. 2005;5:1195-1202. [5] Hepp U, Milos G. Essstörungen. Eine Einführung. Schweiz Med Forum. 2010;10(48):834840. [6] NICE Guideline. Eating disorders. NHS National Institute for Clinical Excellence. Clinical Guideline 9. January 2004. Developed by the National Collaborating Centre for Mental Health. [7] Münger D, Loppacher D. Stationäre Therapie von Patientinnen mit Anorexia nervosa in der Kinderklinik des Kantonsspitals Aarau. 2008. [8] Diagnostik und Therapie von Essstörungen. 2010. http://www.awmf.org/leitlinien/leitliniensuche.html (AMWF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fakultäten – Institut für Medizinisches Wissensmanagement) www.aes.ch (Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES) 18 8 Adressen von Kliniken Abteilung Psychosomatik, Klinik Barmelweid AG, 5017 Barmelweid Leitung: Dr. Esther Hindermann, Chefärztin, Dr. Thomas Kieser, Co-Chefarzt Kontakt: Sekretariat (Heidi Braunschweiler), Tel. 062 857 22 51, Fax 062 857 27 41 Klinik Schützen, Kliniksekretariat, Bahnhofstrasse 19, 4310 Rheinfelden Ärztliche Leitung: Dr. med. Hanspeter Flury, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, Chefarzt Telefon 061 836 26 25, Fax 061 836 26 20 www.klinikschuetzen.ch [email protected] Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des USZ, Culmannstrasse 8, 8091 Zürich Leitung: PD Dr. med. Gabriella Milos Telefon 044 255 52 80, Fax 044 255 44 08 Weitere Adressen und Ambulante Therapie-Angebote unter www.netzwerk-essstoerungen.ch -> Adressen 19 9 Gewichtsverlaufs-Monitoring Beispiel 20