G. E. SCHÄFER BEZIEHUNG UND BILDUNG VON ANFANG AN ERFAHRUNGSBILDUNG IN EINER KULTUR DES LERNENS GERD E. SCHÄFER1 ÜBERLEGUNGEN VON DENEN ICH AUSGEHE GRENZEN DES KOMPETENZMODELLS Frühkindliche Bildungsprozesse werden zumeist mit Hilfe des Kompetenzmodells beschrieben.2 Ohne auf seine Möglichkeiten und Hintergründe einzugehen, will ich kurz andeuten, warum ich dieses Modell meinen Überlegungen nicht zugrunde lege. Es scheint mir nämlich viel zu begrenzt, als dass mit ihm die Probleme frühkindlicher Bildung ausreichend erfasst werden könnten. Der Kompetenzbegriff ist ungenau. Ein klares Bild, was Kompetenzen in der frühen Kindheit sind, gibt es nicht. Inwiefern gehören dazu, außer den Komponenten des formalen Denkens, die des Handelns, der Bewegung, der ästhetischen Erfahrung, der Emotionen, der soziale Beziehungen? Sind das alles einzelne Kompetenzen? Wenn ja, wie lassen sie sich bei Kindern ab der Geburt voneinander trennen? Wenn nein, bilden sie zusammen so etwas wie einer Superkompetenz? Auch wird in den frühpädagogischen Diskussionen nicht geklärt, wie sich Kompetenzen von Fähigkeiten unterscheiden. 1 Langform des gleichnamigen Artikels in Müller-Using (Hersg.) Bildung braucht Beziehung (nifbe) 2011 2 Grundlegend hierzu Weinert 1999 G. E. SCHÄFER Bisher werden die Kompetenzen, die kleine Kinder zu erwerben haben, unhinterfragt aus der Perspektive des Erwachsenenlebens und den (scheinbaren) Notwendigkeiten der Gesellschaft als normative Ziele formuliert. Sie lenken den Blick nicht auf das, was Kinder können, sondern auf das, was sie können sollen. Ein normativer Ansatz in der Pädagogik – wenn man ihn denn vertreten möchte – bedarf aber einer intensiven Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, die Kinder haben und von denen sie ausgehen, wenn sie Erfahrungen über die Welt, in der sie leben, sammeln. Es ist allenfalls das Bild eines entwicklungspsychologischen Allgemeinkinds, das in die Formulierungen von den Voraussetzungen (nicht vom tatsächlichen Können) der Kinder eingeht. Eine Anpassung an die individuellen und lebensgeschichtlichen Voraussetzungen wird allenfalls gefordert, ansonsten aber der individuellen Improvisationskunst der Pädagoginnen und Pädagogen überlassen; denn auch Beobachtungsraster und individuelle Tests erfassen nur, was man durchschnittlich von Kindern in einer Altersstufe erwarten kann und nicht, wie Lisa und Peter mit ihrem Können und Wissen in aktuellen Situationen umgehen. Das Kompetenzlernen fasst nur gezielte und bewusst angelegte Lernangebote ins Auge und bietet keine Grundlage, das Lernen zu verstehen, das in den Alltag eingebettet ist und weitgehend implizit erfolgt. Der größte Teil frühkindlichen Lernens ist aber ein implizites, ungezieltes, Lernen in Alltagskontexten. Wir benötigen theoretische Modelle, die es gestatten, dieses alltägliche Erfahrungslernen zu beschreiben um auch diskutieren zu können, wie dieses Alltagslernen mit den bewusst gesteuerten Lernprozessen expliziter pädagogischer Angebote zusammenpasst und zusammenwirkt. Desweiteren gibt das Kompetenzmodel keine Antwort auf die Frage nach seinen eigenen Voraussetzungen. Vor einem kognitionswissenschaftlichen Hintergrund frühkindlicher Lern- und G. E. SCHÄFER Bildungsprozesse lässt sich jedoch zeigen, dass Menschen eine Menge von strukturierten Alltagserfahrungen benötigen, um überhaupt in der Lage zu sein, nach dem Kompetenzmodell zu lernen. Das ist für spätere Lebensjahre vielleicht weniger wichtig, in den frühesten Lebensjahren jedoch von grundlegender Bedeutung. Es geht nämlich dann um die Frage, wieviele und welche Alltagserfahrungen brauchen junge Kinder um erfolgreich nach dem Kompetenzmodell hinzu lernen zu können. Trotz der Möglichkeit, dass es auch um den Erwerb sozialer Kompetenzen gehen kann, ist das Kompetenzmodell selbst ein Modell individuellen Lernens. Es ist das Individuum, das Kompetenzen erwirbt. Die pädagogischen Bemühungen zielen auf die individuelle Leistung, auch wenn sie durch sozialen Bedingungen unterstützt werden kann. Das wird deutlich, wenn es um das Endziel geht: Wenn ein Kind eine Kompetenz nicht erworben hat, dann wird das stets als sein individuelles Problem verstanden und nicht als ein soziales. Es ist das einzelne Kind, das ein Können oder Wissen nicht erwerben konnte. Es wird nicht die Frage gestellt, inwiefern die soziale Gemeinschaft nicht die Mittel und Wege gefunden hat, dem Kind einen bestimmten Lernprozess zu ermöglichen. Schließlich gründet das Kompetenzmodell auf einem ökonomischen Lernverständnis: Können und Wissen werden erworben. Natürlich braucht man auch zum Erwerb von Gütern die eigenständige Tätigkeit des Individuums. Man muss sich aktiv um sie bemühen. Aber der Erwerb vorgegebener Kompetenzvorstellung erfordert andere aktive Strategien, als die Lösung eines Alltagsproblems, vor das man sich unversehens gestellt sieht. An die Stelle des Kompetenzlernens setze ich deshalb als grundlegendes Lernmodell für die frühe Kindheit das alltägliche Erfahrungslernen. Das bedeutet, bevor junge Kinder gezielt Wissen erwerben können, müssen sie Erfahrungen sammeln. Was aber G. E. SCHÄFER heißt es, erste Erfahrungen zu machen, Erfahrungen deren sich junge Kinder zunächst auch nicht bewusst sind? Wie entsteht aus solchen Erfahrungen ein Wissen, über das sie dann auch bewusst verfügen, das sie vermehren und verbreitern können. Das sind grundlegenden Probleme frühkindlicher Bildung. EXKURS ÜBER DAS LERNEN LERNEN3 Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet also der Gedanke, dass man in der frühen Kindheit vor allem lernt, wie man aus den unbewussten, impliziten Erfahrungen des Säuglings- und Kleinkinddaseins ein Können und Wissen macht, das als individuelles Weltbild den späteren Entwicklungen des Lernens und Denkens als Ausgangsmodell zugrunde liegt. Aus dieser Perspektive ist es ungenau, wenn behauptet wird, dass Kinder das Lernen lernen. Sie müssen das Lernen nicht lernen, denn sie sind bereits, bevor sie auf die Welt kommen, umfassende Lerner. Sie sind geborene Erfahrungslerner. Wenn sie da etwas dazu lernen müssen, dann sind es die Wege und Gepflogenheiten, wie in einer bestimmten Kultur gelernt wird. Sie müssen die Erkenntnistheorien erwerben, die in die Kultur „eingebaut“ sind.4 Diese können unterschiedlich sein, je nachdem, in welchen kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen ein Kind aufwächst. Vom Lernen des Lernens zu sprechen gilt also nur im Rahmen eines kulturell vorherrschenden Lern- und Denkverständnisses, das übernommen werden muss. Es im Rahmen einer Welt, die aus kultureller Vielfalt besteht, so auszudrücken, ist aber auch Demonstration eines Verständnisses vom Vorrang eines westlich ökonomischen und technologischen Denkens, das – angesichts von Problemen, die dieses Denken sozial, gesellschaftlich, ökonomisch 3 Weinert 1994, Weinert/Schrader 1997 4 Vgl. Schäfer 2002 a, 2002 b G. E. SCHÄFER und ökologisch auch mit sich bringt – in dieser ungebrochenen Form nicht mehr angemessen ist. Es scheint an der Zeit, über verschiedene kulturelle Formen von Weltverständnissen nachzudenken, einerseits um die Bedingtheit und die Grenzen des eigenen kulturellen Denkens der letzten fünf Jahrhunderte besser zu erfassen, andererseits um der Multikulturalität unserer eigenen Gesellschaft gerecht zu werden. Ein Ausgangspunkt dafür könnte sein, unterschiedliche Lernkulturen im Rahmen unseres eigenen kulturellen Selbstverständnisses aufzuspüren und sie nicht im Sinne eines Defizits gegenüber der wissenschaftlichen Leitkultur zu beschreiben, sondern im Sinne eigener originärer Leistungen, die möglicherweise innerhalb der Leitkultur unbeachtete Beiträge erbringen und deren Einschränkungen genauer hervortreten lässt.5 In diesem Sinne könnte auch die Untersuchung frühkindlicher, möglicherweise impliziter „Lernkultur“ einen Beitrag leisten, „Fremdes“ in der eigenen Kultur ausfindig zu machen. Für die fachliche Unterstützung frühkindlicher Bildungsprozesse stellt die Untersuchung kindlicher Lernkulturen6 darüber hinaus einen unverzichtbaren Weg dar, wenn man unter Pädagogik nicht einfach die Übertragung tradierten Könnens und Wissens an die junge Generation verstehen will. ERFAHRUNGSBEGRIFF Dieser Beitrag geht von einem sehr elementaren, alltagsnahen Erfahrungsbegriff aus: Man macht Erfahrungen dadurch, dass man etwas tut. Erfahrungen sind immer mit irgendwelchen Handlungen verbunden und sind oftmals implizit. Damit man weiß, welche Erfahrungen man gemacht hat, müssen Erfahrungen bewusst gemacht werden. 5 Vgl. Schäfer 2010 a 6 Zur Differenzierung des Begriffs „kindliche Lernkulturen“ vgl. Schäfer 2010 b G. E. SCHÄFER DIE THESE DIESES BEITRAGS Neugeborene kommen mit einer elementaren biologischen Grundausstattung auf die Welt. Kulturen stellen darüber hinaus bestimmte Weisen des Denkens zur Verfügung, die diese Grundausstattung differenzieren und bestimmte Erkenntnistheorien entwickeln und unterstützen. Man muss über die Erkenntnistheorien verfügen, die in einer Gesellschaft gelten, wenn man ein erfolgreicher und produktiver Teil dieser Gesellschaft sein will. Sie werden in den ersten Lebensjahren ausgebildet. Die jüngsten Kinder habe dabei keine Wahl. In ihrem Alltag erwerben sie über das tägliche Handeln und Denken implizit die notwendigen Weisen wahrzunehmen und ihre Wahrnehmungen zu denken, also die erkenntnistheoretischen Grundlagen, die in dieser Gesellschaft angebracht sind. Ausgangspunkt dafür sind elementare Weisen des Erfahrungslernens, die Kinder teilweise mit höheren Säugetieren gemeinsam haben. Wenn auch in weit geringerem Ausmaß als Menschen sind nämlich auch diese darauf angewiesen, die spezifischen Kriterien ihrer Umwelt, die nicht genetisch vorprogrammiert sein können, durch Erfahrung kennen zu lernen. Es sind die kulturellen Modifikationen dieses elementaren Erfahrungslernens, die das spezifische menschliche Denken ermöglichen. Das Denken, das in einer Kultur angemessen und üblich ist, lernt man nur im soziokulturellen Alltagskontext dieser Kultur. Eine erziehungswissenschaftliche Betrachtung früher Kindheit innerhalb unserer eigenen Gesellschaft hat die Aufgabe, zu untersuchen, zu klären und zu unterstützen, wie Kinder aus diesen elementaren Anfängen ein Repertoire des Denkens entwickeln, welches möglichst weitgehend die gegebenen biologischen, sowie die vielfältigen kulturellen Möglichkeiten nutzt. Diese These hat wenigstens zwei kritische Aspekte: Der erste G. E. SCHÄFER besteht darin, dass sie nachvollziehbar macht, dass Kulturen bestimmte Erlebens- und Denkformen hervorheben und andere dabei zurückdrängen, ignorieren oder gar verbieten. Es könnte sein, dass auf dem Weg dieser Einübungen in eine kulturelle Erkenntnistheorie Aspekte verloren gehen, die nicht nur wertvoll sind, sondern möglicherweise wesentlich für das Überleben und die sinnvolle Weiterentwicklung einer Kultur.7 Konkret besteht bei der derzeitigen Bildungsdiskussion in der frühen Kindheit die Tendenz, das frühkindliche Erfahrungslernen zu übergehen und seine Möglichkeiten möglichst schnell durch eine „wissenschaftliches Denken“ zu ersetzen. Dadurch gehen möglicherweise Erfahrungsund Denkformen verloren, die für sinnvolle Weiterentwicklungen auch innerhalb unserer eigenen Kultur notwendig wären. Der zweite kritische Teil dieser These besteht darin, dass sie darauf aufmerksam macht, dass es die konkreten, alltäglichen soziokulturellen Begegnungs- und Umgangsformen sind, innerhalb derer junge Kinder ihr Denken entwickeln und diese sind unterschiedlich, je nach der sozialen Lage, in der ein Kind aufwächst und den kulturellen Hintergründen, in die es hineinwächst. Dabei sollte man nicht nur an Benachteiligungen denken, die durch prekäre soziale Lagen oder Migrationszusammenhänge entstehen. Es gibt auch kulturelle Benachteiligungen durch scheinbar privilegierte Aufwuchsbedingungen, wie Überbehütung, mangelnde sachliche Herausforderung oder frühzeitige Verwissenschaftlichung frühkindlicher Bildung bei gleichzeitig eingeschränkten konkreten, sachlichen und sozialen Erlebens- wie Erfahrungsmöglichkeiten. Wir können solche Unterschiede nur dadurch überbrücken, dass wir 7 Bateson, 1981, hat in diesem Sinne soziale und ökologische Krisenszenarien als Anfragen an die Eignung unserer traditionellen wissenschaftlichen Erkenntnistheorien für die Lösung dieser Probleme verstanden. Das meint, zur Lösung dieser Probleme könnte es notwendig sein, dass wir die Erkenntnistheorien ändern, mit welchen wir nach solche Lösungen suchen. G. E. SCHÄFER ausreichend Gelegenheit schaffen, dass Kinder – unabhängig von ihrer Herkunft – die Möglichkeit haben, zu einem wesentlichen Teil ihres Alltagslebens in einem Umfeld aufzuwachsen, das den Ansprüchen und Möglichkeiten unserer Kultur entspricht. Das ist eine zentrale Herausforderung frühkindlicher Bildung. Sie ist nicht mit individueller Förderung zu erreichen, sondern bedarf einer Kultur des Lernens in der frühen Kindheit. DIE ENTWICKLUNG DES KINDLICHEN ANFÄNGERGEISTES – GRUNDLAGEN DES ERFAHRUNGSLERNENS ANFÄNGERGEIST Die frühkindliche Bildungssituation wird in hohem Maße dadurch bestimmt, dass kleine Kinder zunächst in allen Bereichen der Weltund Lebenserfahrung Neulinge sind. Sie können zunächst weder auf individuelle und erst recht nicht auf sozial übliche kulturelle Muster der Erfahrung zurückgreifen. Sie sind in der Situation, dass sie Erfahrungsmuster erst entwickeln und dies können sie dadurch, dass sie immer wieder Erfahrungen machen, die sie mit Hilfe ihrer Beziehungspersonen und des weiteren, kulturellen Umfeldes strukturieren. Diese Erfahrungen sind dem Kind nicht bewusst, sondern einverleibt. Sie stehen auf Anforderung von außen zur Verfügung, werden durch Situationen abgerufen, die so ähnlich sind, wie diejenigen, in welchen sie entstanden sind. Auf die Situation des Neulings, des Novizen, der viele Erfahrungen zum ersten mal macht und sich ein Repertoire von Erfahrungen anlegt, die in einem soziokulturellen Umfeld notwendig sind, sind sie vorbereitet. Sie bringen eine Basisausstattung mit auf die Welt, die ihnen ermöglicht, unmittelbar aus all ihren Erfahrungen zu lernen. Und so lange sie im Bereich der Sprache noch nicht vollständig G. E. SCHÄFER zuhause sind, haben sie auch keine andere Möglichkeit, als durch Erfahrung zu lernen. Zu dieser Grundausstattung gehören: die Möglichkeiten der körperlichen Bewegung, des Handelns und der sinnlichen Erfahrung; die Möglichkeit, die emotionale Bedeutung der täglichen Lebensereignisse zu erfassen und zu differenzieren; eine elementare Kommunikationsfähigkeit von Anfang an; die Speicherung ihrer Lebenserfahrungen in Mustern, die wiedererkannt und typisiert werden können; ein ständiges Bedürfnis, Neues und Unbekanntes kennen zu lernen. Die Möglichkeiten dieser elementaren Grundausstattung erweitern sich in dem Maße als sie in einem gegebenen sachlichen Umfeld und seinen sozialen Beziehungen gebraucht werden.Auf der Basis dieser Grundausstattung und ihrer biographischen Erweiterungen dienen die ersten Lebensjahre dazu, das unmittelbar bedeutsame, soziale und sachliche Lebensumfeld, in dem sich das Kind bewegt, in all seinen Eigenschaften und Möglichkeiten kennen zu lernen. Lernen im Geist des Neulings ist in erster Linie Erfahrungslernen in einem Bereich, der bisher unvertraut war. Je älter die Kinder werden, desto mehr mischt sich das Novizenlernen mit dem Lernen durch Übernahme dessen, was andere schon vorgedacht haben. FRÜHES LERNEN, EIN KOMPLEXER PROZESS Das menschliche Gehirn ist der wahrscheinlich komplexeste Einzelorganismus, den wir kennen. Komplex bedeutet hier, dass zahllose Prozesse gleichzeitig und parallel ablaufen, sowie Veränderungen des Gesamtzustands nicht einer einzelnen Ursache oder einem Ursachenbündel zugewiesen werden können. Das Gehirn arbeitet nicht nur in linearen Abläufen, indem es die zu G. E. SCHÄFER verarbeitenden Informationen nacheinander zur Bearbeitung von Zentrum zu Zentrum leitet, sondern es verarbeitet unterschiedliche Aspekte an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit parallel. Diese Vorgänge sind durch Wechselwirkungen aufeinander abgestimmt. Es ist zur Zeit noch nicht geklärt, wie dieses Miteinander tatsächlich funktioniert8. Eines scheint jedoch klar zu sein, dass diese Prozesse komplizierte zeitliche Muster in den globalen Kartierungen des Gehirns bilden.9 Die wissenschaftliche Herausforderung besteht darin, besser zu begreifen, wie solche Muster zustande kommen und reguliert werden. Wenn wir Lernprozesse in alltäglichen Zusammenhängen beobachten, dann lässt sich ebenfalls feststellen, dass vielfältige Aspekte gleichzeitig daran beteiligt sind. Beim Erlernen der ersten Wörter eines kleinen Kindes müssen die augenblickliche Aufmerksamkeit auf eine Sache, die emotionalen Bezüge zu ihr und zu einer vertrauten Person Bewegung, motorische Handlungen, Erfahrungsmuster aus der Vergangenheit, sowie geeignete Rahmenbedingungen sowie vieles mehr günstig zusammenwirken10. Später wird man versuchen, die Lernprozesse durch das Bewusstsein so zu steuern, dass möglichst nur noch das zu Lernende in den Blick kommt. Was aber, wenn dieses Bewusstsein so (noch) nicht existiert, wie bei ganz kleinen Kindern, oder nicht immer klar vorhanden ist, wie in Alltagssituationen, in welchen die spezifische Bedeutsamkeiten erst gesucht werden müssen oder nicht klar ausgemacht werden können, in welchen auch eine ganze Menge gelernt werden kann, ohne dass das immer vom Bewusstsein reflektiert wird? Ganz kleine Kindern lernen zum größten Teil in 8 Singer, 2002, S. 31-32 und S. 65 – 70, 2003, S 43, S. 75. 9 Edelman, 1993, insbes. S. 160 ff. 10 Rahmenformate, Bruner, 1987, S. 33 – 35. G. E. SCHÄFER Alltagszusammenhängen, also in Situationen, die nicht unmittelbar auf einen bestimmten Lernprozess ausgerichtet sind;. Sie lernen sehr vieles, ohne ein Bewusstsein davon zu haben. Ja man könnte bei ihnen sagen, ihr Lernen besteht zu einem wesentlichen Teil auch darin, allmählich ein Bewusstsein von den Lernprozessen zu erlangen, die stattfinden. Und, wenn man genauer darauf blickt, dann ist jedes „Lernen aus Erfahrung“ mit einem Prozess verbunden, in dem die gemachten Erfahrungen vor das Bewusstsein treten, damit man darüber nachdenken kann, was man erfahren hat. Dass bedeutet, dass, dass das Bewusstsein aus einer Situation mit vielerlei Abhängigkeiten und Bedeutsamkeiten erst Perspektiven herausfiltert,, die im Sinne strukturierter Lernzusammenhänge organisiert werden können. Das bedeutet aber auch, dass wir nicht weiter so tun können, als ob Lernen vornehmlich systematisch in hierarchisch aufeinander folgenden, bewussten Schritten stattfinden würde. Auch hier besteht die gegenwärtige Herausforderung darin, die Gleichzeitigkeit und Komplexität aufeinander abgestimmter Prozesse zu begreifen und zu unterstützen. Das nötigt, das Zusammenwirken dieser zirkulär und vielfach vernetzt verlaufenden Prozesse nicht dadurch außer Kraft zu setzen, dass wir nur das zulassen, was verstandesmäßig in einzelnen logischen Schritte aufgeteilt werden kann. Es ist weniger der analytische Verstand, der dieser Komplexität Herr wird als ein ästhetisches Wahrnehmungs- und Denkvermögen. Ästhetik – sagt Bateson11 – ist die Aufmerksamkeit für das Muster das verbindet. Vielleicht werden wir uns daran gewöhnen müssen, ästhetisches Denken nicht als ein Denken zweiten Grades zu verstehen, sondern als eine Denkform, die dem rationalen Denken ebenbürtig ist, eine Denkform, die wir benötigen, wenn wir in komplex vernetzten Zusammenhängen denken wollen. Der 11 Bateson 1982, S. 16 G. E. SCHÄFER analytische Verstand hätte dann die andere Aufgabe, durch genaue Untersuchung isolierter Aspekte mögliche Fehler zu vermeiden oder aus ihnen zu lernen. Das ästhetische Denken spielte den Gegenpart, aus diesen einzelnen Elementen wieder einen größeren Zusammenhang zu stiften. In diese Richtung weisen auch die Beobachtungen kleiner Kinder in alltäglichen Zusammenhängen12: Bevor sie ihren Verstand bewusst einsetzen (können), denken sie bereits mit ästhetischen Mitteln. Hat man das einmal erfasst, dann wird auch klarer, dass wir auch später nie aufhören werden, mit sinnlich-ästhetischen Mitteln zu denken und dass kreatives Problemelösen zu einem guten Teil vom Fortbestand dieser Fähigkeit abhängt. GRUNDLAGEN EINES (KINDLICHEN) ERFAHRUNGSLERNENS FRÜHKINDLICHES WISSEN IST (IMPLIZITES) HANDLUNGSWISSEN Frühkindliches Wissen ist in allererster Linie Handlungswissen, Wissen, welches daraus hervorgeht, dass das Kind sich in der Welt orientiert und orientieren muss, in der es lebt. Man schränkt den Wissensbegriff zu sehr ein, wenn man unter Wissen nur das Wissen versteht und in Erwägung zieht, welches von einer Generation auf die andere übertragen wird. Dabei wird das alltägliche Hintergrundwissen übersehen, welches notwendig ist, damit dieses kulturelle Wissen überhaupt verstanden werden kann. Die Bedeutung dieses Alltags- und Hintergrundwissens, sowie seine Entstehung, sind die Herausforderung, vor welche die Frühpädagogik die Erforschung kindlicher Lern- und Bildungsprozesse stellt. Denn es entsteht – als Erfahrungswissen – 12 Schäfer 2009 G. E. SCHÄFER weitgehend durch das Handeln der Kinder in der ihnen gegebenen Umwelt und wird in der Regel nicht intentional durch Erwachsene vermittelt. Die Erwachsenenwelt schafft allerdings die Rahmenbedingungen, unter welchen dieses Handeln stattfindet. In der Folge dieses Grundgedankens stellen sich weitere Fragen, insbesondere: Wie werden aus diesem – vorwiegend impliziten und vom Kind selbst gesteuerten – Handlungswissen Gedanken, die gedacht und weiter gesagt werden können? Wie spielt es mit den Gedanken anderer – also dem kulturellen Erbe – zusammen? Wie können Erwachsene den Rahmen so gestalten, dass Kinder vielfältige, sinnvolle Hintergrunderfahrungen machen können? FRÜHKINDLICHES WISSEN IST (IMPLIZITES) ALLTAGSWISSEN In Alltagszusammenhängen lernen heißt in Situationen zu lernen, die nicht unmittelbar auf einen Lernprozess ausgerichtet sind. Dabei wird sehr vieles gelernt, ohne ein unmittelbares Bewusstsein davon zu haben. Beim Alltagslernen junger Kinder kann man darüber hinaus sagen, das dieses Lernen zu einem wesentlichen Teil auch darin besteht, allmählich ein Bewusstsein von den Lernprozessen zu gewinnen, die stattfinden. Jedes „Lernen aus Erfahrung“muss mit einem Prozess verbunden werden, in dem die gemachten Erfahrungen vor das Bewusstsein treten, damit man darüber nachdenken kann, was man erfahren hat. Es ist dieser Prozess des Bewusstmachens und Bewusstwerdens, der einen wesentlichen Teil frühkindlicher Lernprozesse ausmacht. Das bedeutet nun, dass wir nicht weiter so tun können, als ob Lernen vornehmlich bewusst, systematisch in hierarchisch aufeinander folgenden Schritten stattfinden würde und systematische vermittelt werden könnte. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, die Gleichzeitigkeit und Komplexität aufeinander abgestimmter Prozesse G. E. SCHÄFER einerseits zu begreifen und zu unterstützen um aus ihnen, andererseits, systematisierbare Bewusstseinsvorgänge hervorgehen zu lassen. ZWEI FRÜHE MECHANISMEN DES ERFAHRUNGSLERNENS Erfahrungslernen in Alltagserfahrungen ist zu aller erst ist es aisthetisches Lernen13. Es geht von den körperlich-sinnlichen Empfindungen und Wahrnehmungen der Kinder in ihrem Umfeld aus. Emotionen sind ein wesentlicher Teil davon. Erfahrungen sind ohne Emotionen nicht zu haben, denn sie geben den Handlungsprozessen eine Orientierung 14. Ab dem zweiten Lebensjahr erfolgt Erfahrungslernen zusätzlich über Imitation / Mimesis als Erfassen der Perspektive eines Anderen (Erwachsenen oder Gleichaltrigen)15. Hierbei wird Können und Wissen auf der Basis eines eigenen, nachvollziehenden Handelns übernommen und damit im Rahmen eigener Erfahrungen. Dass es dabei nicht um ein reproduktives Nachmachen geht, sondern um ein Stück Erfahrung aus einer anderen Perspektive als der, die man selbst gefunden hat, soll durch den Begriff der Mimesis ausgedrückt werden. Erfahrungswissen bildet sich in vielen Handlungsschleifen. Es geht von globalen Erfahrungen aus, die sich durch rekursive, vergleichbare Erfahrungen immer weiter differenzieren. Im Wesentlichen stützt es sich auf zwei Mechanismen: Die Erweiterung eines vorhandenen Könnens und Wissens entlang neuen Aufgabenstellungen; z.B. das Laufen lernen. 13 Mit aisthetischem Denken meine ich die Ordnung der Wirklichkeit mit sinnlichen Mitteln. Das ist eine Aufgabe, die sich in jeder Situation einer sinnlichen Orientierung stellt, weit entfernt davon, etwas mit künstlerischen Prozessen zu tun zu haben. 14 Damasio 1994, insbes. 78 – 85 15 vgl. Tomasello, 2003, insbes. S. 74 – 95. G. E. SCHÄFER Die mimetische Übernahme von Handlungs- oder Könnensschemata, z.B. beim Gebrauch der alltäglichen Werkzeuge, wie Messer, Gabel und Löffel oder der Übernahme sozialer Verhaltensweisen. In den meisten Fällen jedoch wirken beide Möglichkeiten zusammen. Z.B. wird ein Grundmuster – einen Ball rollen – vielleicht auf der Basis von Mimesis übernommen. Durch den ständigen variierenden Gebrauch entlang neuer Möglichkeiten oder Herausforderungen wird es zunehmend individuell verändert und erweitert. Das gilt natürlich für den Werkzeuggebrauch auch. DIE SINNPERSPEKTIVE DES ERFAHRUNGSLERNENS Im Erfahrungslernen ist es der Handlungszusammenhang, der dem Kind die Sinnperspektive eines Ereignisses oder einer Sache erschließt. Handlungen, die ins Alltagsgeschehen eingebettet sind, eröffnen den Kindern die Bedeutung, die Dinge oder Ereignisse im soziokulturellen Umfeld ihres Alltags haben. Da dieses Alltagsgeschehen Teil kultureller Praktiken ist, sind Alltagserfahrungen und kulturelles Lernen nicht von einander zu trennen. KULTURELLES LERNEN UND INDIVIDUELLE WELTKONSTRUKTION Die frühe Kindheit ist vor allem die Zeit, in der Kinder das grundlegende Erfahrungswissen sammeln, das sie für das Leben in einer Kultur benötigen. Indem Erfahrungslernen in gegebenen Handlungszusammenhängen stattfindet, erfährt es eine soziale und kulturelle Prägung. Insofern kann man nie von einem natürlichen Lernen sprechen. Das Kind handelt sich gleichsam von Anfang an in die kulturellen Formen hinein. Es sind diese Formen, an die sein zunächst ungezieltes Handeln stößt, die Handlungen zulassen oder abweisen. Durch immer wieder Handeln entstehen Handlungsmuster, die das bewegungsmäßige Negativ der kulturellen G. E. SCHÄFER Form bilden. Man darf sich jedoch diesen Prozess des handlungsmäßigen Abtastens nicht im Sinne eines Abbildens vorstellen, sondern eher als zureichende Konstruktion. Verinnerlichung und Repräsentation der jeweiligen Handlungsmuster ermöglicht Freiheitsgrade des Handelns. Sie können in neuen Handlungen variiert und differenziert werden. Sie können mit anderen Handlungsformen kombiniert werden. Umgekehrt lassen sie sich auch geeigneten Umwelten einschreiben. Auf diese Weise prägen sich nicht nur Lernwelten in subjektive Handlungsmuster ein, sondern werden Umwelten auch durch individuelle Gestaltungsprozesse sukzessiv verändert. Das kumulative Erfahrungswissen wird individuell strukturiert und führt zu individuell variierenden Weltkonstruktionen. Diese werden aber intersubjektiv dadurch aufeinander abgestimmt, dass kulturelle Vorgaben zu personenübergreifenden, vergleichbaren Mustern führen (geteilte Erfahrungsbereiche, die kulturell synchronisiert werden); dass interindividuelle Unterschied über kommunikative Prozesse, insbesondere durch Sprache, verglichen und aufeinander bezogen/abgebildet werden können. Über Kommunikation wird Erfahrungen sozial und kulturell synchronisiert. EINE ANDERE LOGIK DES ERFAHRUNGSWISSENS GEHT NICHT VON EINZELNEN ELEMENTEN AUS Kleine Kinder setzen ihr Bild von der Welt nicht aus einzelnen Elementen zusammen. Sie fügen nicht die Brust, den Mund und den Arm der Mutter zusammen um daraus eine Fütterungssituation zu „konstruieren“. Vielmehr erleben sie die Stillsituation als ein integriertes Ereignissen, das – wenn es sich öfter gleichartig G. E. SCHÄFER wiederholt – wiedererkannt werden kann. Es bekommt dann allmählich typische Züge, die erwartet werden. Das Baby ist möglicherweise verwirrt, wenn sich die Situation nicht so abspielt, wie sie sich gewöhnlich abspielt. Nur wenn solche stabile Ereignismuster gewonnen werden, können sich im Laufe der Zeit daraus einzelne Elemente herausheben. Das Erfahrungsmuster differenziert sich. KEINE MECHANISCHEN URSACHEWIRKUNGSZUSAMMENHÄNGE In der Stillsituation hängen die Ereignisse so zusammen, wie sie in den Stillhandlungen zusammen gehören. Da ruft zwar auch eine Geste die nächste hervor. Aber die haltende Hand der Mutter ist nicht die Ursache dafür, dass das Baby beruhigt saugt, auch wenn es da eine plausible Verbindung gibt. Genauso wenig ist das Saugen des Babys die kausale Ursache dafür, dass die Mutter zufrieden ist – auch wenn auch hier ein Zusammenhang nicht verleugnet werden muss. Vielmehr ist es wohl so, dass eine Geste des Babys von der Mutter in einer bestimmten Weise „verstanden“ wird und sie dann aus diesem Verständnis heraus in Abstimmung mit ihrem Selbsterleben reagiert. Und umgekehrt gilt es natürlich auch, dass das Baby die Gesten der Mutter – im Rahmen seiner Erfahrungsmöglichkeit - „versteht“ und in seiner Weise darauf antwortet. Aus den Kreisläufen einer solchen Verständigung können dann sehr stabile Verbindungen hervorgehen, die so wirken, wie wenn sie kausal wären. ERFAHRUNGSMUSTER BILDEN SICH DURCH EINSCHRÄNKUNG Ein Fluss, der durch verschiedene Landschaften fließt, wird durch diese unterschiedlich eingeschränkt., durch ein steiles Gefälle anders als durch eine Ebene, durch Felsen anders als durch einen sich stauenden See, durch sich verteilende Flussarme wiederum anders als durch einen Canyon. Der Fluss hat in der jeweiligen Landschaft G. E. SCHÄFER ein typisches Bild. So ist auch mit menschlichem Verhalten. Die zunächst unendlichen und ungezielten Möglichkeiten werden durch die Bewegungsmöglichkeiten des Körpers, durch die Interaktionen mit bestimmten anderen Menschen, durch Gegenstände, die nur bestimmten Handlungsweisen zulassen, eingeschränkt. Bei lebenden Wesen, die zu aktiven Veränderungen fähig sind, schränken gegebene Bedingungen zwar ein, können aber auch eine konstruktive Tätigkeit auslösen, die das Verhalten gegenüber diesen Einschränkungen verändert. Es entstehen Spielräume des Verhaltens Im Rahmen dieser Spielräume differenziert es sich entlang den gegebenen Möglichkeiten. So entstehen Handlungsund Verhaltensmuster, die auf den Kontext einer gegebenen (einschränkenden) Situation abgestimmt sind. Man muss schon zu Formen von Zwang greifen, um auch diese Spielräume zu verschließen. Aber selbst unter Androhung von Gewalt, kann man im zwischenmenschlichen Bereich nicht sicher sein, dass der Betroffene nicht doch noch eine Abweichung findet, mit der er sich einen – vielleicht sehr kleinen – Spielraum ergattert. Zwischen Erwachsenen und Kindern oder auch von Kindern untereinander kann man oftmals ein Aushandeln dieser Einschränkungen und Spielräume erleben. VARIATION UND SELEKTION Wenn Kinder vor neuen Situationen stehen, besinnen sie sich auf Erfahrungen, die in ähnlichen Situationen bereits einmal irgendwie wirksam waren und versuchen sie auf die neue Situation zu übertragen. Passen sie nicht, erzeugen sie Variationen davon oder kombinieren sie neu in der Hoffnung, dass dabei etwas herauskommt, was eine geeignetere Lösung sein könnte. Durch das Ausprobieren, wird dann das aussortiert, was sich ungeeignet erweist. Das Spiel von Variation und Passung oder Aussortieren gelingt umso besser, je größer und differenzierter der Vorrat an Erfahrungsmustern ist, die für den Prozess des Auswählens, Variierens oder Neukombinierens zur Verfügung stehen. G. E. SCHÄFER BILDUNG DES ERFAHRUNGSLERNENS ALS EVOLUTION Der Prozess der Erfahrungsbildung aus vorhandenen Erfahrungsmustern, die durch neue Anforderungen herausgefordert, neu kombiniert und den gegebenen Rahmenbedingungen angepasst, beziehungsweise heraussortiert werden, gleicht einem Evolutionsprozess. Seine Merkmale sind: Er geht von vorhandenen Erfahrungsmustern aus, variierte diese, sortiert dabei weniger geeignete Variationen durch Ausprobieren aus und setzt den Prozess so lange fort, bis eine befriedigende Lösung gefunden wurde. Der Prozess wird zwar durch vorhandenen Erfahrungsmuster und die einschränkenden situativen Bedingungen „determiniert“, ist aber prinzipiell offen hinsichtlich der neuen Lösungen,die dabei herauskommen können. Es hat jeweils unterschiedliche Freiheitsgrade des Spiels. KREATIVITÄT DES ERFAHRUNGSLERNENS Wenn Kinder (das Gleiche gilt aber auch für Erwachsene) neue Erfahrungen machen, greifen sie zunächst auf Handlungs- und Denkmuster zurück, die sie schon haben. Wenn keine unmittelbar passenden zur Verfügung stehen, dann suchen sie nach vergleichbaren, die dann so lange abgewandelt oder auch neu zusammengesetzt werden, bis sie passen. Ein Bastler, der keinen Hammer zu Hand hat, nimmt einen Stein oder einen anderen geeigneten Gegenstand. Ein Tisch, der zusammengebrochen ist, wird mit Stühlen, Balken oder anderen Versatzstücken, die zur Verfügung stehen, unterstützt. Ein Kind, das sich nicht erklären kann, wie die Babys sich im Mutterbauch ernähren, nimmt die ihm bekannte Vorstellung von den Krümeln, die vom Tisch fallen, und verlegt sie in den Mutterleib: Das Baby isst die Krümel. Die Kreativität junger Kinder besteht darin, die ihnen bekannten Erfahrungsmuster auf neue Zusammenhänge anzuwenden und dementsprechend zu variieren. Je mehr Muster an Erfahrung sie gesammelt habn, desto mehr Vorräte haben sie, aus welchen sie G. E. SCHÄFER neue, mögliche Handlungs- und Denkweisen zusammensetzen. Dieser Prozess des Vergleichens, Mischens und Neukonstruierens spielt sich in der Vorstellung ab. Deshalb sind Vorstellen, Spielen, Gestalten, Planen wichtige Prozesse, in welchen die Erfahrungsmuster flexibel gemacht und für neue Situationen zurecht gedacht werden können. TRANSFORMATIONEN DES ERFAHRUNGSWISSENS Frühkindliche Bildung besteht also im wesentlichen aus Erfahrungslernen durch Beteiligung an den Möglichkeiten des soziokulturellen Umfeldes: Bildung aus erster Hand. Erst mit der Sprache gibt es ein Wissen aus zweiter Hand, also ein Wissen, das bereits symbolisch strukturiert zur Übernahme vorliegt. Erfahrungswissen muss strukturiert werden, bis es auch in Sprache gefasst, sprachlich gedacht und als „Theorie“ formuliert werden kann. Theoretisches Wissen muss hingegen mit vorangegangenen oder darauf folgenden Erfahrungen verknüpft werden, damit es sinnvoll verstanden und verwendet werden kann. EIN WEG INS ERFAHRUNGSWISSEN Jede Erfahrung, die kleine Kinder neu machen, geht von einem konkreten Handeln innerhalb einer gegebenen Situation ausgeht. Diese „Handlungsmuster“ können weiter gedacht werden. 16 Den Weg der Kinder ins Weltwissen könnte man daher knapp und abstrakt als einen Weg beschreiben, der von den Alltagsfahrungen zu Beschreibungen dieser Erfahrungen mit Hilfe abstrakt theoretischer Symbolsysteme führt, wenn sie entsprechend sozial, kulturell und institutionell unterstützt werden: Handlungs- und Sinneserfahrungen sind der Ausgangspunkt von Erfahrungswissen. 16 Ausführlicher in: Schäfer 2009 G. E. SCHÄFER Sie werden in bedeutungsvollen Bildern und Szenen gelebten Lebens arrangiert, gespeichert und gedacht. In der Erinnerungen verbinden sie sich zu neuen Szenen. Die Sprache hebt sie vollends ins Bewusstsein und macht sie der bewussten Bearbeitung zugänglich. Sie ist aber auch das wichtigste Einfallstor für die Gedanken anderer, die nun, ebenfalls bewusster als vorher, in die eigenen Vorstellungs- und Denkwelten eingebaut werden können. Mit den versprachlichten Szenen und Bildern entstehen erste Theorien über die Welt, die sich aus subjektiven Überzeugungen speisen. Verknüpft mit dem Wissen aus den kulturellen Speichern können sie an dem überprüft werden, was sich im Laufe der Geschichte an Überzeugungen angesammelt hat. Dadurch gewinnen sie soziale Verbindlichkeit. Dazu ist es notwendig, dass den Kindern alternative Denkmodelle zur Verfügung stehen. Im Verlauf des Wandels vom konkreten zum theoretischen Denken findet ein Kontextwechsel statt: vom Handlungskontext zum Theoriekontext. Das so gewonnene Erfahrungswissen von der lebenden, und der unbelebten materiellen Welt, der kulturellen und der sozialen Welt, bildet die Grundlage allen späteren Wissens bis hin zum wissenschaftlichen Wissen. G. E. SCHÄFER DIE SOZIALEN GRUNDLAGEN FRÜHER BILDUNG DEM ANFÄNGERGEIST RAUM GEBEN Erfahrungen muss man immer da machen, wo ein Bereich neu und gedanklich unerschlossen ist, also in den Bereichen, in welchen man ein Neuling – Novize – ist (s.o.). Neugeborene sind ausgestattet, von Anfang an durch Erfahrungen zu lernen. Mit diesem Erfahrungslernen erschließen sie sich immer mehr Lebensbereiche und erweitern ihr Wissen dabei ständig. Sie übernehmen auch die Erkenntnisformen und Erkenntnistheorien, die in einer Kultur üblicherweise gebraucht werden und verwenden sie als Denkwerkzeuge. Von daher machen sie Erfahrungen, die auf ihre soziokulturelle Umwelt abgestimmt sind. Deshalb wirken sich alle Einschränkungen, welche die Kinder in dieser Zeit betreffen – seien es sinnlich-körperliche, seien es erschwerte oder beeinträchtigte familiäre Beziehungen, soziale Benachteiligungen, Armut kultureller Anregungen oder unzureichende materielle Verhältnisse – auf die Erfahrungen und die Erfahrungsfähigkeit der Kinder aus. Indem die frühen Erfahrungen die Basis ihres Bildes von der Welt begründen und sie mit den Grundwerkzeugen des Lebens in einer sozialen Gemeinschaft und Kultur ausstatten, bilden sie den Ausgangspunkt eines durch die gegebenen Erfahrungsräume mehr oder weniger eingeschränkten oder differenzierten subjektiven Bildungspotenzials. Auch wenn solche Erfahrungen durch das spätere Leben positiv oder negativ überholt werden können, so bilden sie doch eine Matrix an Grundstrukturierungen des individuellen Geistes, die nicht einfach rückgängig gemacht werden kann. Individuelle Begabungen geben dabei lediglich die Grenzen möglicher Entwicklungen vor, nicht ihre Spielräume. Letztere ergeben sich innerhalb und bezogen auf das jeweilige soziale und kulturelle Umfeld. G. E. SCHÄFER Es hängt auch vom Zusammenspiel von Individuum und soziokultureller Umwelt ab, inwieweit im Verlauf des Lebens immer wieder neue Erfahrungen zugelassen und erschlossen werden können. Von daher sind die Werkzeuge des Novizenwissens die Werkzeuge, die dafür auch ein Leben lang immer wieder gebraucht werden. BETEILIGUNG ALS GRUNDLAGE DES BILDUNGSGEDANKENS Kinder werden – wie w. o. dargestellt – mit einer Grundausstattung geboren, aus Erfahrungen zu lernen. D.h., sie bilden sich dadurch, dass sie in die Lage versetzt werden, sich an dem zu beteiligen, was ihnen ihre soziokulturelle Umwelt an Möglichkeiten zur Verfügung stellt. Bildungsprozesse sind also Beziehungsprozesse zwischen einem Kind, wichtigen Personen und dem soziokulturellen Umfeld. Daher ist es eine Grundfrage von Bildungsprozessen, in wie weit sich das Kind mit seinen eigenen Möglichkeiten an diesem Beziehungsgeschehen beteiligt. Wenn ich von Beteiligung der Kinder spreche, dann gehe ich über die Sozialformen der Beteiligung hinaus und betrachte jede pädagogische Situation als eine Beziehungssituation, die dem Kind mehr oder weniger Beteiligung ermöglicht. Die Selbstbeteiligung der Kinder am sozialen Leben und an der Kultur ist – so gesehen – die Grundlage des Bildungsgedankens. Die Frage frühkindlicher Bildung ist nämlich nicht dadurch zu entscheiden, ob und auf welche Weise bei Kindern ein mehr oder weniger großer Kompetenzzuwachs erreicht wird. Bei dieser Fragestellung würde der soziale Aspekt ihres Lernens auf die Leistungen eines expliziten sozialen Handelns in Gruppen eingegrenzt. Dem steht im Bildungsgedanken gegenüber, dass jeder Bildungsprozess selbst eine soziales Geschehen ist und in seinen – mehr oder weniger offenen – sozialen Dimensionen jeweils mit gedacht werden muss. Und wenn man dies tut, dann G. E. SCHÄFER muss man sich von Anfang an entscheiden, in welche soziale Position man das Kind in seinem Bildungsprozess versetzt: in eine des Empfängers oder in eine des gleichwertig an seinem Bildungsprozess mit beteiligten Kindes. Wenn man 20 Kindern ein „Angebot“ vorsetzt, dann ist das eine Form der sozialen Beziehung nach dem Modell ich zeige dir und du sollst es möglichst gut nachvollziehen. Sozial gesehen ist das ein mehr oder weniger ausgeprägtes, gegebenenfalls abgemildertes Gebot, dessen Qualität der Ausführung in der Regel bewertet wird. Parallel zu einem solchen Angebot werden möglicherweise – z.B. in der Kinderversammlung – demokratische Strukturen geübt. Zusammen betrachtet bedeutet dies, dass der Prozess der Vermittlung einer Sache in seiner sozialen Strukturierung dem sozialen Lernprozess, der in der Kinderversammlung zum Tragen kommt, widerspricht. Die „Vermittlung“ von Sach- und Sozialkompetenz kann zwar analytisch, aber nicht im pädagogischen Handeln voneinander getrennt werden. Jede pädagogische Gestaltung von Bildungsprozessen ist ein sozialer Prozess und wirkt als ein solcher. Auf der einen Seite von Partizipation zu sprechen und auf der anderen eine Angebots- oder Kompetenzvermittlungspädagogik zu betreiben, widerspricht sich. Die fachliche Aufgabe besteht also darin, die informellen und formellen Bildungssituationen der Kinder so zu gestalten, dass sie sich mit allen Möglichkeiten ihrer eigenen Kräfte daran beteiligen können. Daraus ergibt sich eine Schwierigkeit. Die Kommunikationsstruktur zwischen Erwachsenen und Kindern ist nicht von vornherein auf beiden Seiten gleich gewichtig oder symmetrisch, denn die Erwachsenen wissen ja in der Regel mehr von der Welt und neigen dazu, den Kindern dieses Mehr zu vermitteln. Damit Kinder sich beteiligen können, müssen ihnen die Erwachsenen entgegenkommen. Die pädagogische Aufgabe besteht dann darin, für Kinder Situationen zu schaffen, die ihnen den Zugang so weit G. E. SCHÄFER erleichtern, dass sie das ihnen mögliche Ausmaß ihrer Kräfte sinnvoll und erfolgreich einsetzen können. Das heißt nicht, dass Erwachsene die Ungleichheit durch das Angebot besseren Wissens ausgleichen sollen, sondern, dass sie ihr professionelles Können gebrauchen, um die für die Bildungssituationen erforderlichen Beteiligungsbedingungen zu schaffen. Im Falle des Scheiterns von Bildungsprozessen stellt sich dann nicht die Frage: „Warum kannst du das nicht?“, sondern: „Was hätten wir besser machen können, damit dein Bildungsgeschehen befriedigender und erfolgreicher hätte ablaufen können?“ Damit wäre die Verantwortung für den Bildungsprozess da, wo sie hingehört, nämlich beim sozialen Umfeld und würde nicht als persönliches Versagen dem Kind aufgeladen. Nur wenn Erwachsene in der Lage sind, die Handlungs-, Gestaltungs- oder Spielprozesse auch ohne Sprache in ihren eigenen Strukturen und Logiken zu verstehen, können sie das Maß an Beteiligung erspüren, das für die Kinder jeweils möglich ist. Mütter fühlen sich in der Regel in ihre Kinder ein. Professionelle Pädagoginnen und Pädagogen sollten darüber hinaus auch eine professionell geschulte Aufmerksamkeit dafür entwickeln. VERSTÄNDIGUNG Eine Aussage über einen anderen Menschen, also auch über das Kind vor mir ist – selbst wenn ich es gut kenne - prinzipiell eine mehr oder weniger plausible Vermutung. Oft genug wird dabei – gemäß den Erwartungen der Erwachsenen – nur der rationale Anteil erfasst. Man kann in den Kopf eines Kindes nicht hinein sehen, sondern eigentlich nur unterstellen, wie man sich selbst an der gleichen Stelle verhalten hätte und dies auf die Perspektive des Kindes beziehen. Geht es um die Beteiligung des Kindes, dann sollten diese Annahmen vom Kind bestätigt oder auch abgewiesen werden können. Von daher bedarf jedes pädagogische Handeln, das auf Beteiligung aus ist, einer Form der Verständigung mit dem Kind. G. E. SCHÄFER Verständigung meint, dass die Handlungen des Kindes als ein Kommentar auf meine Vermutungen hin verstanden werden und Anlass geben, meine Annahmen und Vermutungen dementsprechend immer wieder neu abzugleichen. Die Grundlage von Bildung als Ermöglichung von individueller Beteiligung am sozialen und kulturellen Geschehen ist daher ein Prozess der expliziten oder impliziten Verständigung zwischen den Beteiligten an dieser Beziehung. Diese Verständigung enthält eine Asymmetrie. Man kann ja nicht davon ausgehen, das sich Kinder zwischen Null und Drei in gleicher Weise explizit verständigen können, wie Erwachsene. Vielmehr müssen die impliziten, nichtsprachlichen Fähigkeiten der Kinder zum Dialog unterstellt werden um einen Rahmen zu schaffen, in dem sie sich dann zeigen und schließlich auch weiterentwickeln können. Das bedingt, dass der Kommunikationsanteil des Kindes als gleichwertig akzeptiert wird, dass seinem Beitrag ein Spielraum gesichert wird, in dem er zur Geltung kommen kann. Konkret bedeutet dies, dass die Erwachsenen nicht vorschnell glauben, schon zu wissen, was das kleine Wesen da will, sondern eine Haltung des umfassenden „Zuhörens“ auf der Ebene aller Sinne pflegen, der Zurückhaltung des Eingreifens, wodurch verhindert werden kann, dass man die vorschnellen Einsichten sofort in Handlungen umsetzt. Zudem gehört Geduld dazu, die Handlungen der Kinder entstehen zu lassen. Zusammen nenne ich das das eine Pädagogik des Innehaltens. Sie gibt dem Kind den Raum vor, in den es sich mit seinen Handlungsund Verständigungsmöglichkeiten hinein entwickeln kann. GEMEINSAM GETEILTE ERFAHRUNG Um zu begreifen, wie Kinder sich an den Möglichkeiten, die das soziokulturelle Umfeld gibt, beteiligen, müssen Erwachsene dabei sein, wenn Kinder Erfahrungen machen. Da Kindern im Alter zwischen Null und Drei die Sprache als Verständigungssystem nur G. E. SCHÄFER ansatzweise zugänglich ist, heißt das: man kann von ihren Erfahrungen nur wissen, wenn man dabei ist, während sie sie machen. Man braucht also einen Bereich gemeinsam geteilter Erfahrungen. Die Erfahrung mit den Kindern teilen heißt, versuchen nachzuvollziehen, was sie bei ihren Tätigkeiten erleben und denken könnten. Dazu reicht es nicht nur anwesend zu sein. Sich einfühlend in das situationsbezogenes Handeln, entstehen bei den Erwachsenen Vorstellungen darüber, was sich im Kopf des Kindes abspielen könnte. Doch nicht die spontane, einfühlend erworbene Deutung ist der Zielpunkt der gemeinsam geteilten Erfahrung, sondern die sprachliche oder nichtsprachliche Verständigung über das, was dem Kind dabei wichtig gewesen sein könnte. Über diesen Prozess der Verständigung, der aus der gemeinsam geteilten Erfahrung hervorgeht, gibt der Erwachsene auch dem Kind die Gelegenheit, seine Erfahrungen mit denen der Erwachsenen zu teilen. Gemeinsam geteilte Erfahrung erfordert also zweierlei: Zum einen einfühlende Bezugnahme auf eine Handlungssituation des Kindes und einen wechselseitigen Verständigungsprozess in dem sowohl der Erwachsene die Erfahrung des Kindes zu verstehen versucht, andererseits das Kind an den Erfahrungen des Erwachsenen, der dabei ist, über den Verständigungsprozess teilnimmt. AUS GESCHICHTEN GESCHICHTE MACHEN Vom ersten Lebenstag an sammeln Kinder Muster gelebter Szenen, die ihnen, in späteren, ähnlichen Situationen wieder in den Sinn kommen. Sie benutzen sie als Modelle für neue Erfahrungen, probieren aus, ob ihre alten Erfahrungen passen und bauen sie um, entlang den Notwendigkeiten der neuen Situation. Diese Erfahrungen sind weitgehend implizit. Wenn sie bewusst G. E. SCHÄFER gebraucht werden sollen, dann müssen sie bewusst gemacht werden. Aus Handlungen müssen Vorstellungen oder sprachlich formulierbare Gedanken werden. Kinder erwerben die Werkzeuge und Mittel, mit welchen sie ihre impliziten Erfahrungen denken und dem Bewusstsein näher bringen können, im Austausch mit Erwachsenen, die sich als Dolmetscher dieser kindlichen Erfahrungswelt daran beteiligen. Tun sie dies nämlich nicht, dann bleiben die Erfahrungen der Kinder im Dunklen. Menschen, die mit den Kindern in Beziehung stehen, die an deren Erfahrungswelt anteilnehmen und sie an der soziokulturellen Erfahrungswelt teilnehmen lassen, die sich mit ihnen verständigen und zur Sprache bringen, was sie verstanden haben, sind wichtige Vermittler. Sie machen aus geteilter Geschichte Geschichten, die erinnert werden können. Sie stellen sich als das externe Gedächtnis zur Verfügung, das ihre Geschichten nicht nur als erlebte Geschichte, sondern auch als erinnerte möglich machen, in der sich die Kontinuität des Kindes spiegelt. Wo sich keine solchen Dolmetscher zur Verfügung stellen, kann man die Leistungen der Kinder an ihrem Bildungsprozess auch nicht erkennen und sie erscheinen als Wesen, die man kompetent machen muss. Das Bild vom Kind als einem Erforscher seiner gegebenen Umwelten stimmt also nur dann, wenn es sich auf dieses Erfahrungslernen bezieht und wenn es Menschen gibt, die es zulassen, unterstützen, herausfordern. Professionelles pädagogisches Handeln darf dabei nicht passiv verstanden werden. Es schafft nicht nur Raum und Zeit für kindliches Tun, geteilte Erfahrungswelten und ein vielfältiges Hören, sondern auch ein Antworten, einen Prozess der Verständigung über das, was Erwachsenen und Kindern bedeutsam ist, sowie der Antworten, der Anregungen und Herausforderungen, die an die gemeinsam geteilte Erfahrungswelt anknüpfen. Um ein Wort von des englischen Kindertherapeuten Winnicott abzuwandeln, der davon sprach, dass es in einem übertragenen G. E. SCHÄFER Sinne das Baby ohne die Mutter nicht gäbe, möchte ich behaupten: Das – forschende, eigenständige, phantasievolle Kind – gibt es nicht ohne die (dazu passenden) Erwachsenen. KULTUR DES LERNENS Das kindliche Erfahrungswissen entsteht also immer in einem Resonanzverhältnis mit einem sozialen Umfeld. Es gestaltet sich unterschiedlich, je nach dem Ausmaß, in dem Kinder sich an der gegebenen Umwelt beteiligen können. Es verändert seine Qualität, wenn Andere – Erwachsene und Kinder – die Erfahrungen mit den Kindern teilen oder sich uninteressiert abwenden. Unterschiedliche soziale Resonanz beeinflusst, was Kinder aus ihren Erfahrungen machen und wie sie dies tun bis in die Frage, was nehme ich wahr und soll oder darf ich nicht wahrnehmen. Prozesse der Verständigung (oder Nichtverständigung) treiben das Erfahrungslernen voran oder behindern es. Und, Erfahrungen brauchen Weisen des Denkens, mit welchen sie bewusst werden und bewusst überdacht werden können. Eine Alltagskultur, eine Kultur der Geschichten und Bilder, des Gesprächs, des Erzählens und Gestaltens sind der elementare Resonanzboden, auf dem die Erfahrungen in den sozialen und kulturellen Austausch treten und Teil eines expliziten Erfahrungswissens werden. Es sollte deutlich geworden sein, dass dieser Austausch und diese Wechselwirkung mit dem Modell des Kompetenzerwerbs nicht annähernd beschrieben werden kann. Vielmehr baut sich das kindliche Erfahrungslernen aus den biographischen Möglichkeiten, den Weisen der sozialen und kulturellen Resonanz, den gegebenen sachlichen Herausforderungen, sowie den sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gleichermaßen auf. Frühkindliche Bildung, die diesem Erfahrungslernen der Kinder Raum gibt, bedarf einer Kultur des Lernens. G. E. SCHÄFER Bateson, G. (1981): Ökologie des Geistes. Frankfurt/Main Bateson, G. (1982): Geist und Natur. Frankfurt/Main Bruner, Jerome (1987): Wie das Kind sprechen lernt. 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