© Neue Zürcher Zeitung; 9. Juni 2010; Zürich und Region (zh) Stark bleiben trotz häuslicher Gewalt Wenn Kinder in der Familie Gewalt erleben, sind zuverlässige Bezugspersonen besonders wichtig Gewalt in Partnerschaften ist ein verbreitetes Problem. Auch Kinder sind davon betroffen. Nur wenn Lehrer und andere Bezugspersonen sich damit auseinandersetzen, können sie bei Verdacht richtig reagieren. Bettina Ambühl Das Frauenhaus Luzern hat ein eindrückliches filmisches Porträt dreier junger Männer und einer jungen Frau geschaffen, die trotz einschneidenden Erfahrungen von häuslicher Gewalt heute gut mit dem Leben zurechtkommen. Der Film ist für Informationsanlässe zum Thema der häuslichen Gewalt bestimmt und kann ausgeliehen werden. Im Rahmen einer Veranstaltung der Fachstelle für Gleichstellung unter dem Titel «Bleibe stark, egal was passiert – was stärkt Kinder, die häusliche Gewalt erleben?» wurde er im Mai auch in Zürich gezeigt. Kinder sind mitbetroffen Es sind zwei Themen, auf welche die Fachstelle für Gleichstellung in Zusammenarbeit mit den Frauenhäusern Zürich und Luzern damit verwiesen hat: Zum einen wurde das Augenmerk in den letzten Jahren zunehmend auf von häuslicher Gewalt mitbetroffene Kinder und Jugendliche gerichtet. In diesem Sinne verweist der Gleichstellungsplan der Stadt Zürich von diesem April darauf, dass «Gewalt in Paarbeziehungen der Eltern die kindliche Entwicklung längerfristig einschneidend beeinträchtigen» könne, und räumt den Schulen und familienergänzenden Betreuungseinrichtungen eine wichtige Rolle bei der Früherkennung und Prävention häuslicher Gewalt ein. Zum anderen rückt zunehmend das Phänomen der Resilienz ins Blickfeld der psychologischen Forschung und Praxis. Das «Gedeihen trotz widrigen Umständen», wie Resilienz in einem einschlägigen, von Rosmarie Welter-Enderlin und Bruno Hildebrand 2006 herausgegebenen Fachbuch umschrieben wird, meint die Tatsache, dass nicht alle, die unter belastenden Umständen aufwachsen, später darunter leiden. Ein Ziel der Resilienzforschung ist es daher, diejenigen Faktoren zu finden, die zu einer positiven Entwicklung beitragen, um diese bei betroffenen Kindern gezielt stärken zu können. Verlässliche Beziehungen Wenn man den vier Jugendlichen im Film des Luzerner Frauenhauses zuhört, scheint ein Aspekt für alle ganz besonders wichtig gewesen zu sein. Sie hatten – zumindest zeitweise – eine nahe Bezugsperson, bei der sie sich wohl fühlten und auch einmal einen ruhigen Nachmittag ohne Angst vor Gewalteskalationen erleben konnten. Der Fachpsychologe für Kinder und Jugendpsychologie an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich, Andrea Lanfranchi, bestätigt die zentrale Rolle einer zuverlässigen Bezugsperson. Auch die Schule könne daher bei häuslicher Gewalt von grosser Bedeutung sein, sagt Lanfranchi. Neben dem Aspekt einer stabilisierenden Struktur im Schulalltag seien Lehrpersonen wichtig, die sich auf psychosozial gefährdete Kinder emotional einlassen können. Sie ermöglichen den Kindern im Idealfall, die Sicherheit einer verlässlichen Beziehung zu erleben, und können auf Anzeichen von häuslicher Gewalt reagieren und Hilfsangebote vermitteln. Auch Kindertagesstätten und andere ergänzende Betreuungsangebote können laut Lanfranchi eine wichtige Schutzfunktion darstellen; sie bieten idealerweise neben Stabilität und Struktur auch Rückzugsmöglichkeiten und Ruhe. Hilferuf-Signale erkennen Wenn allerdings die Hilferuf-Signale von Kindern, wie Stimmungsschwankungen, irritierende Reaktionen oder andere Verhaltensauffälligkeiten, von Lehr- oder Betreuungspersonen nicht als solche erkannt, sondern nur bestraft werden, verschlimmert dies die Situation der Kinder wesentlich, wie Lanfranchi weiter ausführt. Entsprechend wichtig ist es, dass Lehr- und Betreuungspersonen über das Problem der häuslichen Gewalt und ihre Auswirkungen auf die Kinder sowie über zuständige Hilfsstellen Bescheid wissen. Um die involvierten Institutionen und Fachpersonen für das Problem der häuslichen Gewalt zu sensibilisieren und ihnen Hintergrundwissen und konkrete Anleitungen zu vermitteln, hat die Fachstelle für Gleichstellung in Zusammenarbeit mit der Frauenklinik Maternité Triemli und dem Verein Inselhof Triemli 2007 einen Ratgeber herausgegeben, der dieses Jahr zum zweiten Mal aufgelegt worden ist. Zentral für das Entstehen des fundierten Handbuches waren die Kenntnisse, welche zwischen 2002 und 2006 dank dem Projekt «Häusliche Gewalt – wahrnehmen – intervenieren» in der Frauenklinik Maternité gewonnen werden konnten. Verbreitetes Problem Patientinnenbefragungen zeigten damals eine erschreckend hohe Verbreitung von häuslicher Gewalt auf. 10 Prozent der befragten Frauen gaben an, in den letzten 12 Monaten körperliche Gewalt oder Drohung erlebt zu haben. Auf ihr ganzes Erwachsenenleben hin befragt waren es gar 43 Prozent. 28 Prozent hatten seit ihrem 16. Lebensjahr häusliche Gewalt in stärkerem Ausmasse erlebt. Dazu gehören nicht nur Körperverletzungen. Psychische Gewalt, wie Beschimpfung, Erniedrigung, Drohung oder soziale Isolation oft über längere Zeit hinweg, ist für die Betroffenen mindestens so belastend, wie dem Handbuch zu entnehmen ist. Die Mitbetroffenheit von Kindern wurde in dieser Studie nicht berücksichtigt. Der Ratgeber widmet diesem lange wenig beachteten Aspekt der häuslichen Gewalt jedoch ein ganzes Kapitel. Zudem sind im Anhang neben anderen nützlichen Adressen auch Opferhilfe-Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche aufgelistet. Probleme ansprechen Seit dem Projekt zur häuslichen Gewalt werden in der Frauenklinik Maternité die Patientinnen routinemässig nach Gewalt in ihrer Paarbeziehung befragt. Diese Massnahme hat sich bewährt, da betroffene Frauen aus Scham oder Angst vor Konsequenzen oft nicht wagen, das Thema anzusprechen. Ausserdem erfahren sie auf diesem Weg, dass häusliche Gewalt ein weitverbreitetes Problem ist und entsprechende Hilfsangebote existieren. Auch Lanfranchi ist überzeugt, dass Lehrer, Ärzte oder Verwandte bei Verdacht die Kinder, Mütter und Väter direkt ansprechen sollten: «Häusliche Gewalt ist nur dann zu überwinden, wenn über sie gesprochen wird.» Häusliche Gewalt erkennen und richtig reagieren. Handbuch für Medizin, Pflege und Beratung. 2007/2010 Huber-Verlag, Bern.