Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität Michael N. Forster Wilhelm von Humboldt wird oft als der Gründer nicht nur der Berliner Universität, sondern auch der modernen deutschen Universität im allgemeinen und sogar der modernen Universität überhaupt gefeiert. Andererseits lassen sich besonders seit kurzem Stimmen vernehmen, die sein Modell der Universität als untauglich,1 institutionell einflusslos2 oder wenigstens kurzlebig3 charakterisieren. Welche dieser beiden Ansichten trifft zu? Ich neige eher zur ersteren, positiven als zur letzteren, negativen. Humboldt hat zwar nur 15 Monate lang während der Jahre 1809-10 bei der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts die Erziehungsreformen Preußens im allgemeinen und die Gründung der Universität Berlin im besonderen betreut, nur zwei kurze Schriften bezüglich dieser Gründung verfasst – die sogar erst um 1900 im normalen Sinne des Wortes veröffentlicht wurden (Antrag auf Errichtung der Universität Berlin [Mai/Juli 1809] und Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin [1810]) – und erst nach 1900 einen weitverbreiteten Ruf als Gründer eines neuen Universitätsmodells erhalten.4 Aber seine leitenden Prinzipien zur Universität haben trotzdem m.E. das kulturelle Bewußtsein und die Institutionen Deutschlands tatsächlich tief und nachhaltig geprägt sowie 1 Siehe bspw. Bernd Henningsen, Einsamkeit und Freiheit, in: Bernd Henningsen (Hrsg.), Humboldts Zukunft. Das Projekt Reformuniversität, Berlin 2007, S. 103-31. 2 Siehe bspw. Mitchell G. Ash, Bachelor of What, Master of Whom? The Humboldt Myth and Historical Transformations of Higher Education in German-Speaking Europe and the US, in: European Journal of Education, 41(2)/2006, S. 245-67; Sylvia Paletschek, The Invention of Humboldt and the Impact of National Socialism: The German University Idea in the First Half of the Twentieth Century, in: Margit Szöllösi-Janze (Hrsg.), Science in the Third Reich, Oxford 2001, S. 37-58. 3 Siehe bspw. Clemens Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover 1975. 4 Vgl. Ash, Bachelor of What, Master of Whom?, bes. S. 246. 1 Entwicklungen im Ausland stark beeinflusst, und zwar beides in einer sehr vorteilhaften Weise.5 Um dies aber klar einzusehen, muß man m.E. gewisse unauffällige Seiten seines Modells mit in Betracht ziehen, die von ihm selbst eher unterbetont oder sogar verschwiegen worden sind – teilweise aus politisch-diplomatischen Gründen, insbesondere dem Bedürfnis, die zur Durchsetzung des Modells unabdingbare Gunst des Königs und seiner Minister in einer damals außergewöhnlich schwierigen politischen Lage zu sichern, nämlich der Niederlage und Besetzung Preußens ab 1806 durch Napoleon und die Franzosen nebst Territoriumsverlusten und Kürzung der Armee. Nur wenn man diese weniger offensichtlichen Seiten seines Modells mit erwägt, kann man dessen Attraktivität und Einfluss in ihrem wahren Ausmaß erkennen. Das Modell stellt sich dann als in der Tat äußerst attraktiv heraus. Und sein Einfluss entpuppt sich als so stark, dass man sogar eine Art “genealogische” Zurückführung zentraler Aspekte der modernen Universität auf Humboldts Prinzipien (und teilweise auch auf seine Charakterzüge) unternehmen könnte, die – in der etwas gespenstischen Weise, die für Genealogien charakteristisch ist – die betreffenden Aspekte als Nachhalle von seinen Prinzipien (und Charakterzügen) erscheinen ließe. Ich möchte demgemäß in diesem Vortrag einige Kernprinzipien von Humboldts Modell, einschließlich weniger offensichtlicher, identifizieren, um sowohl die Attraktivität als auch den Einfluss des Modells klarer an den Tag zu legen. (Ich werde aber dabei dessen Einfluss in Deutschland und im Ausland nicht im Detail zu verfolgen versuchen.6) 5 Die einzige Einschränkung dieses Urteils, die ich hier gleich am Anfange verzeichnen möchte, ist die folgende: Humboldts Leistung in diesem Bereich wurde durch die Vorarbeit mehrerer wichtiger Vorgänger und Zeitgenossen vorbereitet und unterstützt, besonders Kants, Fichtes, Schellings und vor allem Schleiermachers. Ich werde im folgenden dieser “Konstellation” einige Rechnung zu tragen versuchen aber sie wird nicht der Schwerpunkt dieses Artikels sein. 6 Was dessen Einfluss in Deutschland angeht, siehe u.a. Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Was dessen Einfluss im Ausland angeht, haben u.a. die folgenden Schriften schon Wichtiges geleistet: Edward Shils und John Roberts, Die Übernahme europäischer Universitätsmodelle, in: Walter Rüegg (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa, München 2004, Bd. 3, S. 145-96, hier S. 149-54, vgl. S. 24-6; William Clark, Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago 2 Individuelle Bildung Fangen wir mit dem wohl auffallendsten und bekanntesten Ideal von Humboldts Erziehungsreform im allgemeinen und seinem Modell der Universität im besonderen an: individuelle Bildung.7 Humboldt entwickelte dieses Ideal schon in den frühen 90er Jahren des 18. Jahrhunderts. Er konzipierte Bildung schon damals als im wesentlichen die freie, eigentümliche, auf Sprache basierende Selbstentwicklung des menschlichen Individuums in einheitlich-ausgewogenen theoretischen, praktischen und ästhetischen Hinsichten, als etwas im Grunde genommen Natürliches aber erst über Kultur und Erziehung Verwirklichtes und als den höchsten Zweck des Menschen, der Erziehung und des Staates insgesamt. Er drückt dieses Ideal von Bildung schon in seiner berühmten Frühschrift Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (geschrieben 1791/2, veröffentlicht 1851) etwa folgendermaßen aus: “Der wahre Zweck des Menschen . . . ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung . . . Diese Kraft [der Individuen] und diese mannigfaltige Verschiedenheit vereinen sich in der Originalität, und das also, worauf die ganze Grösse des Menschen zuletzt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig ringen muss, und was der, welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, ist Eigenthümlichkeit der Kraft und der Bildung . . . Ganz und gar . . . hört es auf, heilsam zu sein, wenn der Mensch dem Bürger geopfert wird. Denn . . . so verliert auch der Mensch dasjenige, welches er gerade durch die Vereinigung in einen 2006, bes. S. 461-4; John W. Boyer, “We are all islanders to begin with”: The University of Chicago and the World in the Late Nineteenth and Twentieth Centuries = Occasional Papers on Higher Education XVII, Chicago 2007. 7 Zwei in vielen Hinsichten entgegengesetzte Darstellungen von Humboldts Erziehungsreform und Modell der Universität, die aber in der Betonung der zentralen Rolle dieses Ideals übereinstimmen, sind Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Tübingen 1960, und Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. 3 Staat zu sichern bemüht war. Daher müßte, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müßte dann in den Staat treten und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation mit Gewißheit hoffen.”8 Humboldt fing schon kurz nach dieser Schrift, im Jahre 1793 an, der Sprache eine grundlegende Rolle in der Bildung zuzuschreiben, die hinfort immer stärker von ihm betont wurde.9 In einer späteren Schrift, die Humboldt unmittelbar vor seiner Übernahme der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts verfasste, Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807-8), bestätigt er dieses Ideal von individueller Bildung.10 Und er vertieft es sogar in einigen erwähnenswerten Hinsichten: Erstens bemerkt er, dass Bildung kein Sein sondern ein Trieb ist, und zwar nicht im Sinne eines Strebens nach einem vorgegebenen Ziel, sondern im Sinne einer Sehnsucht nach einem unbekannten Ziel.11 Zweitens impliziert er, dass der einzelne sich so bildet, wie ein Künstler sein Kunstwerk.12 Drittens steigert er das Ideal individueller Bildung zum höchsten Zweck nicht nur des Menschen, der Erziehung und des Staates, sondern gar des Weltalls überhaupt: es ist “der letzte Zweck des Weltalls.”13 Humboldts 1809-10 entwickelte Erziehungsreform im allgemeinen und sein Modell der Universität im besonderen zielen vor allem auf individuelle Bildung in gerade diesem Sinne ab. Demgemäß schreibt er bezüglich der Universität in seiner Organisationsschrift (1810), dass die höheren wissenschaftlichen Anstalten bestimmt sind, “die Wissenschaft 8 Wilhelm von Humboldts Werke [hinfort: HW], Albert Leitzmann (Hrsg.), Berlin 1903, 1:106-7, 143-4. 9 Siehe schon Über das Studium des Altertums, und des griechischen insbesondere (1793), HW 1:264-6. 10 Siehe bes. HW 3:197-9, 203, 210. 11 HW 3:199, 205-7, 213, usw. Dementsprechend charakterisiert Humboldt ein Paar Jahre später die an der Universität zu erlangende Wissenschaft als “SelbstActus” [sic] und “Selbstthätigkeit” (Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden [hinfort: W], Andreas Flitner und Klaus Giel (Hrsg.), Stuttgart 1982, 4:191, 261). Man vergleiche seine spätere Auffassung von Sprache als kein ergon sondern energeia. 12 HW 3:198. 13 HW 3:207. 4 im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes zu bearbeiten, und als einen nicht absichtlich, aber von selbst zweckmässig vorbereiteten Stoff der geistigen und sittlichen Bildung zu seiner Benutzung hinzugeben.”14 Dieses Ideal kommt mir seinem Wesen nach äußerst attraktiv und wertvoll vor (auch wenn bestimmte Züge davon kritisiert und revidiert zu werden verdienen; z.B. ist individuelle Bildung wirklich “der letzte Zweck des Weltalls”?). Dessen Attraktivität wird m.E. vor allem deshalb oft geleugnet oder übersehen, weil es bei Humboldt den Eindruck einer Einseitigkeit erwecken kann, die andere wertvolle Zwecke, z.B. moralisch-politische Zwecke und beruflich-utilitaristische Zwecke ausschließt (als ob Humboldt schon wie vielleicht später Nietzsche individuelle Übermenschen gänzlich auf Kosten solcher anderen Zwecke verfechten würde). Es stimmt zwar, dass Humboldt manchmal von solchen weiteren Zwecken abzusehen scheint, aber dies ist m.E. eher ein Versuch der üblichen exklusiven Betonung derselben entgegenzuarbeiten als ein Versuch sie wirklich auszuschalten. Mit anderen Worten, es stellt keine wirkliche Einseitigkeit, sondern vielmehr einen Versuch eine Einseitigkeit zu bekämpfen dar. Dies scheint mir wenigstens Humboldts überlegte und beste Position zu sein. Das dem so ist, lässt sich aus mehreren Aspekten seines Modells der Universität in der Organisationsschrift (1810) entnehmen. Man erwäge in diesem Bezug zuerst seinen Anspruch in dem Text, dass der Staat “im Ganzen . . . von den Universitäten nichts fordern [muß], was sich unmittelbar und geradezu auf ihn bezieht, sondern die innere Ueberzeugung hegen, dass, wenn sie ihren Endzweck erreichen, sie auch seine Zwecke und zwar von einem viel höheren Gesichtspunkte aus erfüllen.”15 Man könnte versucht sein, dies bloß als eine Anspielung auf die Tatsache zu deuten, dass nicht nur die 14 W 4:255. Im Gegensatz zur deutschsprachigen Literatur (z.B. Spranger und Menze) hat der stärkste Kritiker des angeblichen “Humboldt Mythos,” nämlich Ash in seinem schon zitierten Artikel dieses humboldtsche Ideal gänzlich mißverstanden, indem er es in ein einseitiges Ideal von reiner “Wissenschaft” verkehrt und dann aufgrund dieses Mißverständnisses ein Ideal wie Humboldts eigentliches Ideal den amerikanischen Universitäten als selbständige Leistung anrechnet (Ash, Bachelor of What, Master of Whom?, S. 249-50). 15 W 4:260. 5 Universität sondern auch der Staat individuelle Bildung als seinen höchsten Zweck hat.16 Das ist zwar sicherlich ein wichtiger Teil von Humboldts Bedeutung, aber er denkt augenscheinlich auch an mehr als nur das, denn er fährt unmittelbar nachher fort zu schreiben, dass von diesem höheren Gesichtspunkt “sich viel mehr zusammenfassen lässt und ganz andere Kräfte und Hebel angebracht werden können, als [der Staat] in Bewegung zu setzen vermag.”17 Zweitens impliziert Humboldt insbesondere im allerersten Satz der Organisationsschrift, dass die Universitäten und die dadurch beförderte individuelle Bildung moralisch-politischen Zwecken dienen: solche wissenschaftlichen Anstalten seien ein Gipfel, “in dem alles, was unmittelbar für die moralische Cultur der Nation geschieht, zusammenkommt.”18 Drittens impliziert er, dass sie auch beruflich-utilitaristischen Zwecken dienen, indem er technische Hochschulen als Ergänzungen zur Universität unterstützt.19 Viertens identifiziert er auch solche zusätzlichen Zwecke als die differentia der Universität im Vergleich zur Akademie: “Die Universität . . . steht immer in engerer Beziehung auf das praktische Leben und die Bedürfnisse des Staates [als die Akademie], da sie sich immer praktischen Geschäften für ihn, der Leitung der Jugend, unterzieht.”20 Kurzum, Humboldt will zwar der Einseitigkeit entgegenarbeiten, die individuelle Bildung moralisch-politischen und beruflichutilitaristischen Zwecken aufopfert, aber er vertritt nicht die entgegengesetzte Einseitigkeit. Vielmehr will er mittels der Universität all diese Ideale bzw. Zwecke erfüllt wissen. Diese Position ist durchaus konsequent. Es wäre insbesondere ein Fehler dagegen einzuwenden, dass eine Institution nur einen Selbstzweck haben kann. Die Tatsache, dass eine Institution Selbstzweck x hat, schließt gar nicht aus, dass sie auch Selbstzwecke y und z hat. Gute Institutionen dienen sogar wohl typischerweise jeweils mehreren Selbstzwecken. Dies tut der Güte einer Institution insbesondere dann keinen Eintrag, wenn die betreffenden Selbstzwecke, statt einander zu vereiteln, einander unter normalen Umständen unterstützen (es ist wiederum durchaus konsequent zu sagen, dass eine 16 Vgl. Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, S. 322. W 4:260. 18 W 4:255. 19 W 4:266. 20 W 4:263. 17 6 Institution etwas als Selbstzweck leistet, das nicht nur Selbstzweck sondern auch Mittel zu weiteren Selbstzwecken der Institution ist). Ein solches Modell war eigentlich im Gefolge Herders und Kants schon ziemlich bekannt. Herder hatte z.B. in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) geschrieben: “Aber kein Ding im ganzen Reiche Gottes kann ich mich doch überreden! ist allein Mittel – alles Mittel und Zweck zugleich.”21 Und Kant hatte in der Kritik der Urteilskraft (1790) Organismen als Systeme gedeutet, deren Teile einander sowohl als Mittel als auch als Zwecke dienen. Dementsprechend vertrat Humboldt selber ein solches Modell (in Bezug auf einzelne Menschen) unmittelbar vor seiner Universitätsreform in Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807-8), wo er behauptet und belobt, dass die Griechen “Achtung und Freude an Ebenmass und Gleichgewicht, auch das Edelste und Erhabenste nur da aufnehmen zu wollen, wo es mit einem Ganzen zusammenstimmt,” als “vorherrschenden Zug” hatten und dass sie “auf das höchste Leben” drangen, “das nur aus der Übereinstimmung quillt, die nichts ausschließt, und aus dem tiefen Gefühl der Natur, die durchgängiger Organismus ist.”22 Denn Humboldt verficht hier das Ideal einer Vielfalt von Selbstzwecken im Individuum, die, statt einander zu vereiteln, einander als Mittel unterstützen (wie in Kants Modell des Organismus). Dass Humboldt die Universität im Hinblick auf den Selbstzweck individueller Bildung, moralisch-politische Selbstzwecke und beruflich-utilitaristische Selbstzwecke ungefähr so versteht, lässt sich besonders klar anhand seiner Einstellung zum Selbstzweck individueller Bildung und zum moralisch-politischen Selbstzweck der Freiheit darstellen. Beide gehören als zentrale Bestandteile zu seinem Modell der Universität. Aber wenn man seinen Begriff ihrer Beziehung zueinander in den Ideen (1791/2) genau erforscht, findet man, dass, obwohl er vor allem die Tatsache betont, dass individuelle Bildung Freiheit als ein (sowohl konstitutives als auch bloß kausales) Mittel verlangt und erst dadurch ermöglicht wird (man erinnere sich an die oben zitierte Passage 21 Johann Gottfried Herder Werke, Bd. 4, Jürgen Brummack und Martin Bollacher (Hrsg.), Frankfurt am Main 1994, S. 54. 22 HW 3:197-8. 7 von den Ideen),23 er auch das Umgekehrte behauptet: “Nun . . . erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen Grad der Bildung, und das geringere Bedürfnis, gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln, eine größere Stärke und einen mannigfaltigeren Reichtum der handelnden Individuen. Besitzt daher das gegenwärtige Zeitalter einen Vorzug an dieser Bildung, dieser Stärke und diesem Reichtum, so muß man ihm auch die Freiheit gewähren, auf welche derselbe mit Recht Anspruch macht.”24 Im Rahmen der Universität ist demgemäß nicht nur Freiheit eine unabdingbare Unterstützung individueller Bildung, sondern auch umgekehrt und die Universität leistet beide auf eine solche wechselbedingte Weise für den Staat. Humboldts Begriff dieser Leistung für den Staat ist wohl klar genug in Bezug auf individuelle Bildung, aber er ist erheblich verschwommener in Bezug auf Freiheit, wo Humboldt nur vage von einer “moralischen,” “sittlichen” oder “praktischen” Leistung für den Staat zu schreiben neigt. Diese Seite seiner Position verdient deshalb etwas näher exponiert zu werden. Ich teile hier im Grunde genommen Ernst Müllers zwar knapp geäußerte aber m.E. einsichtsvolle Meinung, dass Humboldts Universitätsreform im Geiste seiner Sympathie mit den Idealen der französischen Revolution konzipiert worden ist, insbesondere mit deren Liberalismus und Republikanismus.25 Man soll diesbezüglich in Erinnerung behalten, dass Humboldts Universitätsreform erst als Bestandteil der weitaus breiteren Stein-Hardenbergschen Reformen zustandekam, die im Gefolge der Niederlage von 1806 teilweise auf Anlaß der Franzosen und teilweise in Konkurrenz mit ihnen eine Erneuerung Preußens nach französischem Muster anstrebten. Aber Humboldts persönliche Überzeugungen waren auch seit langem im Einklang mit einem solchen Projekt gewesen. Humboldt hatte Frankreich schon im schicksalshaften Jahre 1789 23 Vgl. auch später HW 3:203. HW 1:101. Man vergleiche hier Herders These einer ähnlichen Wechselwirkung in Vom Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften, und der Wissenschaften auf die Regierung (1780) (dessen Titel schon seine These einer solchen Wechselwirkung andeutet). Es ist durchaus möglich, dass Humboldts betreffende Position durch Herders beeinflusst worden ist. 25 Ernst Müller, Vom Nachteil des Nutzens der Universität. Über die äußeren Bedingungen ihrer inneren Organisation, in: Humboldts Zukunft, S. 77-101, hier bes. S. 81-3, 94. 24 8 besucht und sofort eine Begeisterung für die Ideale der Revolution entwickelt (wie sein Tagebuch aus dieser Zeit zeigt), die die schwierigen 90er Jahre unversehrt überstehen würde.26 Demgemäß schreibt er 1792 in einem Brief an Brinkmann (unter strenger Ablehnung der antirevoltionären Einstellung von Burke und Gentz): “Die Wahrheiten der französischen Revolution bleiben ewig Wahrheiten, wenn auch 1200 Narren sie entweihen.”27 Seine Begeisterung für den Liberalismus der französischen Revolution schlägt sich in seinem radikalen Plädoyer für Liberalismus in den Ideen von 1791/2 nieder. Und seine Sympathie mit deren Republikanismus ist auch nicht zu unterschätzen. Frederick Beiser hat z.B. als Beleg für Humboldts angebliche Präferenz für Monarchie die folgende Passage aus einem Brief an Schiller von 1792 zitiert: “An sich scheinen mir freie Konstitutionen und ihre Vorteile ganz und gar nicht so wichtig und wohltätig. Eine gemäßigte Monarchie legt vielmehr der Ausbildung des einzelnen meist weniger einengende Fesseln an.”28 Das klingt nach einem guten Beleg, bis man Humboldts unmittelbar darauffolgenden, von Beiser unterschlagenen Satz hinzufügt, der den Spieß umdreht und Republikanismus letzten Endes doch befürwortet: “Aber sie [d.h. freie Konstitutionen] spannen die Kräfte zu einem so hohen Grade und erheben den ganzen Menschen und wirken doch so im eigentlichsten Verstande das einzige wahre Gute.”29 Noch wichtiger für unser Thema, Humboldt drückt seine starke Sympathie mit dem Liberalismus und Republikanismus noch unmittelbar vor seiner Universitätsreform in Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807-8) aus. Dort behauptet er z.B. den Vorzug der Griechen vor “uns” modernen Deutschen, der seines Erachtens offensichtlich wird, “wenn wir unsere beschränkte, engherzige, durch tausend Fesseln der Willkühr . . . gedrückte . . . Lage mit ihrer freien . . . Tätigkeit, . . . unser dumpfes Hinbrüten in klösterlicher Einsamkeit, oder gedankenloses Umtreiben in 26 Siehe Frederick C. Beiser, Enlightenment, Revolution, and Romanticism, Cambridge MA 1992, S. 114-21. Beiser unterschätzt aber m.E. Humboldts Sympathie mit dem Republikanismus (siehe unten). 27 Wilhelm von Humboldts Briefe an Karl Gustav von Brinkmann = Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 288, Albert Leitzmann (Hrsg.), Leipzig 1939, S. 41. 28 Beiser, Enlightenment, Revolution, and Romanticism, S. 131; vgl. 111. 29 Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt, Siegfried Seidel (Hrsg.), Berlin 1962, 1:53. (Es stimmt aber, dass Humboldt Demokratismus eher ablehnt. Siehe z.B. ibid., 1:205.) 9 lose verknüpfter Geselligkeit mit dem heiteren Frohsinn ihrer, durch jede heiligste Bande befestigten Bürgergemeinschaft vergleichen.”30 Humboldt ist zwar recht unklar über diese Seite seines Universitätsmodells in den Schriften von 1809-10, aber das lässt sich m.E. befriedigend aus seiner damaligen Rolle als Vertreter und Berater des Königs erklären: explizit gemachte liberal-republikanische Absichten wären nicht gerade von dem König und seinen Ministern bewillkommnet worden, umsoweniger da solche Absichten ursprünglich aus dem Lager des Feindes stammten, und hätten wohl Humboldts ganze Reform zum Scheitern verdammt. Zur bescheidenen Bestätigung dieser Interpretation von Humboldts impliziten Absichten in seinen Schriften, lässt sich hinzufügen, dass Schleiermachers kurz zuvor veröffentlichte Schrift über die Universität im allgemeinen und die Gründung einer neuen Universität in Berlin im besonderen, Gelegentliche Gedanken über die Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende (1808), die Humboldts eigene Schriften offensichtlich inspiriert hat und mit ihnen als weiteres Gründungsdokument der Universität Berlin angesehen zu werden verdient, sowohl die Freiheit als auch das gar demokratische Wesen der Universität stark vertreten hatte.31 Wenn diese Interpretation von Humboldts impliziten Absichten richtig ist, so kann man wohl seinen Begriff der Leistung der Universität an Freiheit für den Staat etwa folgendermaßen explizieren: Die Universität liefert nicht nur selbst ein musterhaftes Beispiel von freiem, d.h. liberal-republikanischem Umgang, sondern sie entwickelt auch über die individuelle Bildung, die sie befördert, die individuelle Urteilskraft und 30 HW 3:189. Es ist übrigens bemerkenswert, dass diese Schrift aus 1807-8 offensichtlich zum großen Teil einen Versuch darstellt, Lektionen aus der Niederlage der Griechen durch die Römer in der Antike für die Niederlage Preußens durch die Franzosen im Jahre 1806 zu entnehmen. 31 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über die Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende, Berlin 1808, bes. S. 104-31. (Indem Schleiermacher nicht nur Republikanismus sondern sogar Demokratismus vertritt, ist er noch ein Stück radikaler als Humboldt [vgl. meine vorletzte Fußnote]. Schleiermachers stärkere Radikalität kommt auch in einigen weiteren Aspekten seiner Schrift zum Vorschein.) 10 Selbständigkeit, die erst politischer Unterdrückung widerstehen und erfolgreiche republikanische Politik ermöglichen können.32 Soweit über Humboldts implizite Einstellung zum Verhältnis zwischen dem Selbstzweck individueller Bildung und moralisch-politischen Selbstzwecken. Ähnliches gilt wohl für seine Einstellung zum Verhältnis zwischen dem Selbstzweck individueller Bildung und beruflich-utilitaristischen Selbstzwecken. Auch hier will er beiden von der Universität gedient wissen. Und auch hier ist eine solche Kombination durchaus konsequent, besonders da die zwei Seiten einander nicht vereiteln, sondern unterstützen. Humboldt selber betont in dieser Hinsicht die Unterstützung des BeruflichUtilitaristischen durch die von der Universität zu leistende individuelle Bildung (man erinnere sich z.B. an seine vorhin zitierten Bemerkungen über die Wichtigkeit der Universität für “das praktische Leben und die Bedürfnisse des Staates”). Und diese Auffassung scheint durchaus sachlich überzeugend, indem z.B. individuelle Bildung die für ein erfolgreiches Berufsleben erforderlichen Grundwissen, Neugierde, Weitsichtigkeit, Flexibilität, Selbständigkeit, Originalität, Kontaktfähigkeit, usw. befördert. Aber das Umgekehrte (d.h. die Unterstützung der individuellen Bildung durch das von der Universität beförderte Beruflich-Utilitaristische) trifft wohl auch nach Humboldts impliziter Auffassung zu, indem z.B. ein gewisser beruflich-utilitaristischer Erfolg zur individuellen Bildung als ein konstitutiver Bestandteil beiträgt, das jenseits der Universität angestrebte und geführte Berufsleben eine Wirtschaft gedeihen lässt, auf die letztendlich die Universität und deren Beförderung von individueller Bildung angewiesen sind, und die Berufe Individuen als Nachwuchs erhalten, die der Universität und ihrem Bildungsideal freundlich gesinnt sind und sie auf praktische Weisen unterstützen. Und auch diese Auffassung ist sachlich plausible. Kurzum, Humboldts Verfechtung von individueller Bildung als Ziel der Universität ist bei weitem nicht so einseitig, wie sie beim ersten Anblick erscheinen mag. Seine 32 Man vergleiche hier Moses Finleys These, dass ein beträchtliches Niveau an Erziehung für erfolgreiche liberal-demokratische Regierung unabdingbar ist (Moses I. Finley, Democracy Ancient and Modern, New Brunswick N.J. 1973). Die Vereinigten Staaten haben übrigens neulich, besonders während der Jahre 2000-8 ein ziemlich schauderhaftes Beispiel davon gegeben, wie schief liberal-demokratische Systeme gehen können, wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist: eine Erwählung von Idioten und Gaunern, die das Land sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch fast zugrunde richteten. 11 Betonung von individueller Bildung als Ziel der Universität schließt deren Anstrebung von anderen wichtigen Selbstzwecken, insbesondere moralisch-politischen und beruflichutilitaristischen nicht aus. Im Gegenteil, er will all diese Ziele von der Universität befördert wissen und zwar auf eine gegenseitig unterstützende Weise, die auch sachlich plausibel ist.33 Wenn man Humboldts Bildungsideal so kontextualisiert, ist es nicht einseitig, sondern im Gegenteil vielseitig und sehr attraktiv. Ich schlage hier schließlich auch vor, dass Humboldts Ideal von individueller Bildung (bei allen Entstellungen und Mißbräuchen, denen es in der Praxis gelegentlich unterzogen wird) noch heute eine zentrale Rolle in unserer Auffassung des Zwecks der Universität spielt. Dies trifft nicht nur auf Deutschland zu, wo das Wort Bildung noch häufig in Humboldts Sinne verwendet wird und eine solche Kontinuität offensichtlich macht, sondern auch auf andere Länder, wie z.B. die Vereinigten Staaten, wo es durch äquivalente Ausdrücke wie “individual self-development,” “individual self-realization” usw. ersetzt wird.34 Man denke hier beispielsweise an das Doktorat, das erst ab 1809-10 in Berlin zu einem wichtigen Grad gedieh, mit den Werten geistiger Bildung und insbesondere Originalität eng verbunden wurde und sich seitdem mit demselben Charakter nicht nur in Deutschland sondern auch in anderen Ländern verfestigt hat.35 Oder man denke an die (teilweise miteinander konkurrierenden) Bestrebungen heutiger amerikanischer und anderer Universitäten, Studenten durch “course requirements” eine gewisse Vielseitigkeit zu sichern aber auch möglichst viel Spielraum und Flexibilität in der Gestaltung des eigenen Studiengangs zu erlauben. Auch Humboldts nüchterne Kontextualisierung dieses Ideals, d.h. seine Mitbeachtung von moralisch-politischen und beruflich-utilitaristischen Selbstzwecken prägt noch bis heute die moderne Universität. 33 Auch wenn er individuelle Bildung als den höchsten Zweck des Staates oder gar des Weltalls beschreibt, muß das nicht bedeuten, dass sie deren einziger Selbstzweck ist. Es bedeutet wohl vielmehr nur, dass sie deren wichtigster Selbstzweck ist, weil sie z.B. die anderen Selbstzwecke als konstitutive Bestandteile mit einschliesst. (Es ist wiederum nicht widersprüchlich eine Rangordnung unter Selbstzwecken zu behaupten.) 34 Vgl. Peter Watson, The German Genius, New York 2010, S. 741-2, der die Einführung dieses Ideals in die Vereinigten Staaten durch deutsche émigrés und dessen Weiterleben dort in solchen Ausdrücken behauptet. 35 Vgl. Clark, American Charisma, S. 3-4, 237, 432. 12 Die Freiheit der Universität vom Staat Ein weiteres wesentliches Prinzip in Humboldts Modell der Universität ist das Prinzip der Freiheit der Universität vom Staat, einschließlich ihrer finanziellen Unabhängigkeit vom Staat. Diese Freiheit ist seines Erachtens nicht nur an und für sich wertvoll, sondern auch eine notwendige Bedingung für die Entwicklung von individueller Bildung in ihrer Vielfalt. Humboldt hatte schon 1791/2 in den Ideen für ein solches Prinzip plädiert, und zwar in Bezug auf das ganze Bildungswesen. Die Sekundärliteratur zu Humboldt hat manchmal einen Widerspruch zwischen diesem frühen Prinzip und seiner späteren Gründung der Universität Berlin gewittert.36 Aber es gibt in Wirklichkeit keinen Widerspruch:37 auch der spätere Humboldt strebte eine vom Staat möglichst freie Universität an, besonders indem er sie durch eine einmalige Verleihung von königlichen Domänen-Gütern finanziell unabhängig vom Staat zu machen versuchte. Demgemäß schreibt er in der Organisationsschrift (1810) im Hinblick auf die Freiheit der Universität vom Staat im allgemeinen, dass der Staat “immer hinderlich ist, sobald er sich einmischt,” und dass der Staat deshalb, wenn er vernünftig ist, “immer bescheidener eingreifen wird.”38 Und er schreibt in dem Antrag (1809) in Bezug auf die Finanzen im besonderen, dass er bemüht ist, “dass das gesamte Schul- und Erziehungswesen nicht mehr Ew. Königlichen Majestät [d.h. des Königs] Cassen zur Last fallen, sondern sich durch eigenes Vermögen und durch die Beyträge der Nation erhalte . . . Es würde deshalb am zweckmässigsten seyn, wenn die neue Universität ihr jährliches Einkommen durch Verleihung von DomänenGütern erhielte,” wobei er hinzufügt, dass “diese Güter auf ewige Zeiten hinaus, Eigentum der Universität . . . bleiben sollen.”39 Wie Humboldts Wortauswahl “zur Last” 36 S. zu diesem Thema David Sorkin, The Theory and Practice of Self-formation (Bildung), 1791-1810, in: Journal of the History of Ideas, 44(1)/1983, S. 55-73. 37 Vgl. Friedrich Meinecke, Das Zeitalter der Deutschen Erhebung, Bielefeld und Leipzig 1906, S. 54; Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, S. 133-5. 38 W 4:257. 39 W 4:33-4. In demselben Geist versuchte der spätere Humboldt in seiner Erziehungsreform auch die Elementarschulen und Gymnasien möglichst unabhängig vom Staat zu machen, besonders hinsichtlich ihrer Finanzierung. 13 hier vielleicht besonders verrät, spricht er in dieser Passage als erfahrener Diplomat, der seine Argumente im Hinblick auf die Empfindlichkeiten und Interessen seines Adressaten, hier insbesondere des Königs, entwickelt. Und die weiteren Gründe, die er in anderen Passagen anführt, z.B. die Befreiung des Erziehungswesens von finanziellen Engpässen in unruhigen Zeiten und die besseren Chancen, dass eine Besatzungsmacht eine vom Staat unabhängige als eine davon abhängige Institution respektieren wird,40 verfolgen dieselbe Diplomatie (was natürlich nicht bedeutet, dass diese Gründe verlogen sind). Aber Humboldts eigener, taktvoll verschwiegener Hauptgrund bleibt hier sicherlich derselbe wie früher: die Freiheit der Universität ist sowohl an und für sich wertvoll als auch wichtig für die Gedeihung von individueller Bildung in ihrer Vielfalt.41 Dieses Prinzip der Freiheit der Universität vom Staat sowie auch seine Begründung sind wenigstens ihrer allgemeinen Tendenz nach sehr attraktiv und wichtig. Man bemerke insbesondere, dass die bestimmte Art und Weise, in der Humboldt die Universität finanziell unabhängig vom Staat machen will, sie jedoch nicht nötigt, auf andere freiheitsbedrohende Quellen angewiesen zu sein, wie z.B. die Industrie, Banken oder reiche Individuen. Humboldts Prinzip übt wohl noch bis heute einen beträchtlichen Einfluss auf die Universität aus. Dessen späteres Schicksal ist zwar zum beträchtlichen Teil negativ ausgefallen:42 in Deutschland ist es bald nach Humboldts Rücktritt sowohl in finanzieller als auch in anderen Hinsichten gescheitert; es bleibt dort bis heute besonders auf finanzieller Ebene unerfüllt; und dasselbe gilt auch teilweise für andere Länder wie Großbritannien und sogar die U.S.A. Aber andererseits hat Deutschland bis heute ein wichtiges Prinzip der “Lehrfreiheit” beibehalten; ein allgemeineres und vageres Prinzip der Nichteinmischung des Staates in die Arbeit der Universitäten bleibt sowohl dort als auch in den U.S.A. und teilweise in Großbritannien verhältnismäßig stark; und die beiden letztgenannten Länder sind zudem Deutschland in Bezug auf die Freiheit der Universität 40 W 4:33. Es gibt nur eine mögliche Ausnahme zu Humboldts späterer Beibehaltung des Prinzips der Freiheit der Universität vom Staat: er macht den Staat zuständig für die Berufung von Professoren (W 4:264-5). Aber dies war schon eine Selbstverständlichkeit des deutschen Erziehungswesens seit mindestens dem 18. Jahrhundert und Humboldts Ideen hatten diese Frage eher verschwiegen als anders beantwortet. 42 Vgl. Geschichte der Universität in Europa, 3:83-8, 96. 41 14 vom Staat insofern voraus, als die privaten Universitäten der U.S.A. und Oxbridge in Großbritannien erhebliche finanzielle Unabhängigkeit besitzen und in beiden Ländern der Staat nicht für die Berufung von Professoren zuständig ist.43 Diese überlebende moderne Tendenz zu einem Prinzip der Freiheit der Universität vom Staat ist zwar zum Teil auf die korporative Unabhängigkeit der mittelalterlichen Universitäten zurückzuführen,44 aber auch zum beträchtlichen Teil auf Humboldts Einfluss.45 Kosmopolitismus Humboldts Erziehungsreform und seine Gründung der Universität Berlin 1809-10 fanden wie eingangs erwähnt unter außerordentlich schwierigen und peinlichen politischen Umständen statt, nämlich der Niederlage Preußens und der Besetzung großer Teile durch Napoleon und die Franzosen nebst Territoriumsverlusten und Armeekürzung. Humboldts Schriften zur Gründung der neuen Universität, die den König und seine Minister dafür begeistern sollten, betonen demgemäß in einem patriotischen Geist den Einfluss und den Stolz, die die Gründung einer Universität in der Hauptstadt Berlin dem Land im Ausland erwerben wird. Humboldt schreibt beispielsweise, “Nur Universitäten können [dem Land] Einfluss auch über die Gränzen hinaus zusichern”; er impliziert, dass sie “einen bedeutenden Einfluss auf das Ausland gewinnen” sollen; und er strebt “eine glänzende, auch Ausländer anziehende Universität” an.46 43 In letzterer Hinsicht sind die U.S.A. und Großbritannien sogar Humboldt selbst voraus, der noch die Zuständigkeit des Staates für die Berufung von Professoren als althergebrachtes deutsches Prinzip befürwortete. 44 Siehe Paletschek, The Invention of Humboldt and the Impact of National Socialism, S. 38. 45 Vgl. Geschichte der Universität in Europa, 3:26, 150. Man bemerke hier insbesondere, dass die deutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts keine korporative Unabhängigkeit vom Staat hatten, sondern vielmehr vom jeweiligen Monarchen abhängig waren, so dass Paletscheks alternative Erklärung einer tradierten korporativen Unabhängigkeit der mittelalterlichen Universitäten (Paletschek, The Invention of Humboldt and the Impact of National Socialism, S. 38) wenigstens auf deutsche Universitäten kaum zutrifft. 46 W 4:30-1. 15 Humboldts Vertretung dieser patriotischen Einstellung war sicherlich aufrichtig.47 Aber man soll hier nicht übersehen, dass seine vorhin zitierte Bezugnahme auf das Ausland auch eine andere, implizite Seite hat. Denn Humboldt war zeitlebens ein überzeugter Kosmopolit. Seine explizite Hervorkehrung in den Schriften von 1809-10 des von der neuen Universität zu erwartenden nationalen Einflusses und Stolzes statt einer kosmopolitischen Leistung der Universität stellt deshalb mit ziemlicher Sicherheit nur eine oberflächliche, unter den damals bestenden Umständen nationaler Demütigung diplomatisch ratsame Einseitigkeit dar (während patriotische Argumente unter solchen Umständen dem König und seinen Ministern einleuchten und dementsprechend die Gründung der neuen Universität voranbringen würden, wären kosmopolitische Argumente für sie eher unerwünscht und abstoßend gewesen, besonders da Kosmopolitismus bekanntlich von dem französischen Feind selbst vertreten wurde, und sie hätten deswegen die Gründung der neuen Universität gefährdet). Eine kosmopolitische Rolle der Universität gehört durchaus zum Subtext von Humboldts Schriften.48 Ähnliches gilt übrigens auch für Humboldts Berliner Kollegen Schleiermacher, dessen Gelegentliche Gedanken (1808) als ein weiteres Gründungsdokument der Universität Berlin nebst Humboldts eigenen Schriften angesehen zu werden verdient und ähnlich einseitig patriotisch klingt. Auch Schleiermacher war zeitlebens ein überzeugter Kosmopolit und auch er meinte sein Modell der Universität implizit durchaus in diesem Geist. Diese implizite kosmopolitische Seite von Humboldts (und Schleiermachers) Modell der Universität ist äußerst attraktiv. Dass Universitäten als kosmopolitische Zentren fungieren sollen, stellt nicht nur ein wichtiges moralisch-politisches Prinzip dar, sondern verspricht auch erhebliche wissenschaftliche Vorteile. 47 Man vergleiche z.B. seine kurz zuvor geäußerte positive Einstellung zum Patriotismus im allgemeinen in Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807-8). Man bemerke auch, dass unter den damals bestehenden Umständen nationaler Demütigung ein defensiver Patriotismus auch für einen Kosmopolit wie Humboldt ganz natürlich und angemessen war. 48 Contra Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, bes. S. 6, 68, 206, der Humboldts oberflächlichen Nationalismus allzu naiv und wörtlich interpretiert. 16 Diese implizite kosmopolitische Seite von Humboldts Modell der Universität konstituiert einen weiteren geschichtlichen Beitrag Humboldts zum heutigen Begriff der Universität. Denn fast jede Universität arbeitet heutzutage in gerade diesem kosmopolitischen Geist.49 Säkularismus Eine Reihe von Philosophen hatten schon vor Humboldts Schriften aus den Jahren 180910 das Ideal einer Universität aufgestellt, die die anderen Fakultäten (Jura, Medizin und Theologie) der philosophischen Fakultät im allgemeinen und der Philosophie als Fach im besonderen subordinieren und eine Einheit von Wissen unter der Philosophie anstreben würde. Insbesondere hatten Kant, Fichte, Schelling und Schleiermacher schon Varianten dieses Ideals entwickelt. Humboldt schließt sich im wesentlichen diesem Ideal an, mit der einzigen, eher bescheidenen Abweichung, dass er nebst der Philosophie auch der Kunst eine führende Rolle zuschreibt.50 Das Ziel einer Vereinheitlichung von allem Wissen unter der Philosophie (und Kunst) ist zwar heutzutage aufgegeben worden und schwerlich mehr vertretbar – teilweise wegen der zunehmenden Spezialisierung der Fächer (besonders der Naturwissenschaften, die mit Alexander von Humboldts Rückkehr aus Paris nach Berlin im Jahre 1827 einen steilen Aufstieg antraten), teilweise wegen des Verfalls der damals weitverbreiteten Annahme, dass sich die Philosophie einer einheitlichen und endgültigen Form nähere. Aber eine andere Seite dieses Ideals ist heutzutage immer noch in Kraft und durchaus sachlich vertretbar und soll nicht übersehen werden, nämlich die Herabsetzung der Siehe z.B. Boyer, “We are all islanders to begin with,” bes. S. 54-5, 124 ff. für eine aufschlußreiche Darstellung sowohl der Einführung dieses kosmopolitischen Ideals an der University of Chicago um 1900 durch deren stark deutschorientierten damaligen Präsidenten William Rainey Harper als auch der Aufrechterhaltung desselben Ideals an der Universität unter seinen Nachfolgern. 50 W 4:114-15, 258-9. 49 17 Theologie, die seit dem Mittelalter die Rolle der führenden Fakultät an den Universitäten gespielt hatte, zugunsten eines Säkularismus.51 Eine Säkularisation und insbesondere eine Entmächtigung der katholischen Kirche gehörten zu den Hauptbestandteilen der Stein-Hardenbergschen Reformen insgesamt. Aber Humboldt war auch hier schon vorher in vollem Einklang mit diesem neuen Zeitgeist. Denn er war seit langem skeptisch über die Religion im allgemeinen und das Christentum im besonderen.52 Und er hatte auch seit den frühen 90er Jahren eine scharfe Trennung zwischen Staat und Religion verfochten. Seine Anstrebung einer säkularen Universität 1809-10 war durchaus im Geiste dieser Skepsis und Trennung gemeint. Aus leicht verständlichen diplomatischen Gründen, trug er dieses Ziel des Säkularismus und dessen Gründe in seinen damaligen Schriften nicht zur Schau. Aber sie bilden trotzdem einen wesentlichen Bestandteil des darin entworfenen Universitätsmodells. (Es ist ein kleiner aber köstlicher Ausdruck dieser Einstellung, dass er damals die für die Universität Berlin vorgesehene Verleihung von königlichen Domänen-Gütern auf Kosten der katholischen Kirche unternehmen wollte, die dem König einen entsprechenden Schadenersatz opfern sollte.53) Humboldts Prinzip des Säkularismus der Universität und dessen Gründe sind sehr attraktiv und wichtig. Es wäre u.a. kaum übertrieben zu sagen, dass sie eine Überwindung der Religion und Aberglauben zugunsten der Einsichten und Werte der Aufklärung nicht nur an der Universität selber, sondern auch in einem ganzen Land darstellen. Dieses Prinzip war auch sehr einflussreich. Bis 1800 waren die meisten Universitäten religiöse Anstalten. Sie wurden aber im Laufe des 19. Jahrhunderts vorwiegend säkular,54 so dass bis heute dieser Säkularismus fast zu einer Selbstverständlichkeit der modernen Universität geworden ist (mit verhältnismäßig geringen Ausnahmen, z.B. die 51 Dies kann z.T. als eine Fortführung und Verstärkung einer Säkularisation angesehen werden, die schon im 18. Jahrhundert in Göttingen durch Münchhausen eingeführt wurde (vgl. Watson, The German Genius, S. 51-2). 52 Diese Einstellung schloss zwar bei ihm eine gewisse Neigung zu einem vagen Heidentum nicht aus. 53 W 4:118, vgl. 120. Ein funktionales Äquivalent der Herabsetzung der Theologie zugunsten der Philosophie und Kunst auf universitärer Ebene war Humboldts gleichzeitige Herabsetzung der Religion und des Pfarrers zugunsten der klassischen Philologie und des Philologen auf gymnasialer Ebene. 54 Vgl. Geschichte der Universität in Europa, 3:20. 18 katholischen und manche protestantische Universitäten). Dieser moderne Säkularismus ist wohl zum beträchtlichen Teil auf Humboldts Einfluss zurückzuführen. Die Ausblendung von Standesunterschieden Humboldts Reform des Bildungswesens im allgemeinen und sein Modell der Universität im besonderen sind auch deswegen bemerkenswert, weil sie ein einheitliches Bildungswesen für alle Stände vorsehen. Dies war wiederum im Geiste der Stein-Hardenbergschen Reformen, die den Abbau von starken, verderblichen Standesunterschieden anstrebten (nicht nur z.B. im Bildungswesen sondern auch im Landrecht und beim Militär). Aber Humboldt war auch hier als treuer Erbe der Ideale der französischen Revolution und deren antiken Muster schon vorher demselben Ziel gewogen. Demgemäß belobt er noch kurz vor seiner Universitätsreform in Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807-8) die griechische “Liebe zur Unabhängigkeit,” denn sie “ebnete, bis zur Vernichtung, die Ungleichheiten der Stände.”55 Humboldt vertritt zwar in dieser Hinsicht vielmehr den Abbau von strukturellen Hindernissen an einem egalitären Erziehungssystem – insbesondere den Abbau von der tradierten standesgebundenen Verzweigung des Erziehungssystems zugunsten eines einheitlichen, gradlinigen Systems, das allen Ständen ein Minimum an gemeinsamer Erziehung sichert und im Prinzip alle Erziehungsebenen, einschließlich der Universitäten, allen Ständen eröffnet – als irgendeine positive finanzielle Ermöglichung der Teilnahme von ärmeren Schülern und Studenten an Gymnasien und Universitäten. Aber auch das war damals ein wichtiger Fortschritt. Und Humboldt wurde von dem weiteren, positiveren Schritt wohl nicht durch Gleichgültigkeit über die Chancen der Armen abgehalten, sondern vielmehr teilweise durch die Kenntnis, dass ärmere Schüler und Studenten in Deutschland schon bis zu einem gewissen Grad aus öffentlichen Mitteln finanziell unterstützt wurden (letztere insbesondere seit der Reformation durch 55 HW 3:200. 19 protestantische convictoria und pedagogica),56 und teilweise durch seinen Wunsch, den Staat zugunsten der Freiheit des Bildungswesens möglichst aus der Finanzierung der Erziehung herauszuhalten.57 Schleiermachers Position in Gelegentliche Gedanken (1808) war etwas radikaler, indem er sich nicht nur für den ersten,58 sondern auch für den zweiten Schritt einsetzte.59 Dieses von Humboldt und Schleiermacher vertretene Prinzip einer Ausblendung von Standesunterschieden ist sehr anziehend und wichtig. Es empfiehlt sich natürlich vor allem aus moralisch-politischen Gründen sozialer Gerechtigkeit. Aber man soll nicht übersehen, dass auch wirtschaftliche und utilitaristische Gründe stark dafür sprechen, da ohne dieses Prinzip eine Menge kostbares Talent in einem Land verlorengeht, statt fruchtbar gemacht zu werden. Dieses Prinzip ist heutzutage sowohl in Deutschland als auch in den anderen Industrieländern fast zu einer Selbstverständlichkeit der Universität geworden (auch wenn es manchmal zu einem bloßen Lippenbekenntnis zu verkümmern droht, wie zurzeit in England). Es ist mindestens fraglich, ob diese Selbstverständlichkeit ohne Humboldts und Schleiermachers Vertretung des Prinzips zustandegekommen wäre. Eine unendliche Suche nach neuem Wissen Humboldts Modell der Universität schließt auch das Ideal einer unendlichen Suche nach neuem Wissen ein. Dieses Ideal hängt für ihn sehr nahe mit dem Ideal individueller Bildung zusammen. Aber es wäre wohl ein Fehler sie als seines Erachtens schlichtweg identisch zu deuten. Man soll sie vielmehr wiederum als für ihn zwei Ideale betrachten, die einander wechselseitig (teilweise als konstitutive und teilweise als bloß kausale Mittel) unterstützen – wie bei den Beziehungen zwischen dem Selbstzweck individueller 56 Vgl. Clark, Academic Charisma, S. 148-50. Vgl. Humboldts Verpönung in den Ideen von staatlicher Hilfe für die Armen auch im Notfall wegen der voraussichtlichen freiheitsbeeinträchtigenden Folgen solcher Hilfe. 58 Gelegentliche Gedanken, S. 164-5. 59 Ibid., S. 157 ff. 57 20 Bildung, moralisch-politischen Selbstzwecken und beruflich-utilitaristischen Selbstzwecken.60 Dass eine Universität irgendwie nach Wissen streben soll, wird wohl kaum überraschen. Aber Humboldts Ideal ist erheblich spezifischer und weniger selbstverständlich (sie gehörte z.B. nicht zum Selbstbild der Universität im Mittelalter): dass die Universität zu einer unendlichen Suche nach neuem Wissen verpflichtet ist. Demgemäß schreibt er: “Es ist eine Eigentümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben”; “Alles beruht darauf, das Prinzip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig sie als solche zu suchen.”61 Dieses Ideal basiert auf Humboldts philosophischer Einstellung und sogar z.T. auf seinem Charakter. Auf philosophischer Ebene entstammt es teilweise seinem Prinzip, dass Bildung kein Sein sondern ein Trieb ist62 und teilweise einem prominenten Prinzip in der Philosophie von Lessing, Kant, Fichte, den Romantikern und Humboldt selbst, wonach vollendetes Wissen zwar unerreichbar, aber die unendliche Suche danach und Annäherung daran trotzdem sehr wertvoll ist (Lessings berühmte Behauptung, dass wenn er wählen dürfte, ob er die Wahrheit erreiche oder bloß danach suche, er letzteres vorziehen würde, ist ein frühes und emphatisches Beispiel dieses Prinzips). Auf persönlicher Ebene enstammt das Ideal nicht nur Humboldts Annahme dieser philosophischen Prinzipien, sondern auch einem entsprechenden Charakterzug, der sich z.B. in seiner späteren unendlichen Erforschung unzähliger Sprachen verrät. Diese ganze Seite von Humboldts Modell der Universität ist sachlich sehr attraktiv (wie die obige Liste ihrer philosophischen Unterstützer vielleicht schon nahelegt). Sie stellt insbesondere einen anziehenden Mittelweg zwischen Skepsis und Dogmatismus dar, der sich auch immer wieder in der Praxis der Universitäten bewährt hat. 60 Ähnliches gilt übrigens wohl auch für Humboldts Begriff der Beziehungen zwischen dem Ideal einer unendlichen Suche nach neuem Wissen einerseits und diesen weiteren Selbstzwecken andererseits: auch diese unterstützen einander jeweils wechselseitig als (teilweise konstitutive und teilweise bloß kausale) Mittel. 61 W 4:256-7; vgl. 170-1 und HW 3:213. 62 Vgl. zu diesem Thema O. Vossler, Humboldts Idee der Universität, in: Historische Zeitschrift, 178/1954, S. 251-68, hier bes. S. 263. 21 Diese Seite von Humboldts Modell ist auch sehr einflussreich gewesen. Die moderne Universität verkörpert das Prinzip, dass die Universität zu einer unendlichen Suche nach neuem Wissen verpflichtet ist, auf eine sehr auffallende Weise. Dieses Prinzip wird sogar heute fast als eine Selbstverständlichkeit der Universität betrachtet, obwohl es eigentlich nichts weniger als selbstverständlich oder immer dagewesen ist (wie vorhin erwähnt, gehörte es z.B. nicht zum Selbstbild der Universität im Mittelalter). Dieses Prinzip ist wohl letzten Endes vor allem auf den Einfluss Humboldts und seiner Zeitgenossen zurückzuführen. Die wesentliche Rolle der Sprache, insbesondere der mündlichen Sowohl Schleiermacher als auch Humboldt bestehen auf einer fundamentalen Rolle der Sprache in der Erziehung im allgemeinen und in der universitären Erziehung im besonderen. Insbesondere bei Humboldt ist dies ein roter Faden, der sich durch seine ganze pädagogische Theorie hindurchzieht – er unterstützte z.B. schon Pestalozzis Betonung der Rolle der Sprache in der Elementarschule im Jahre 1804, noch bevor er dessen Elementarschulpädagogik im allgemeinen akzeptierte, er machte die klassische Philologie in ihrer Beschäftigung mit der Sprache als solcher zur zentralen Disziplin des Gymnasiums, und er setzt dementsprechend eine grundlegende Rolle der Sprache auch in seinem Modell der Universität voraus. Noch auffallender bestehen sowohl Schleiermacher als auch Humboldt auf dem Vorrang der mündlichen Sprache vor der schriftlichen in der (universitären) Erziehung.63 (Sie unterscheiden sich aber insofern, als Schleiermacher für die Universität dem Vortrag, Humboldt hingegen dem Gespräch den Vorzug gibt.) Diese Betonung der Sprache im allgemeinen und der mündlichen Sprache im besonderen basiert auf Schleiermachers und Humboldts zum großen Teil gemeinsamer Philosophie der Sprache, die eine wesentliche Abhängigkeit des Denkens von der 63 Diese Bevorzugung der mündlichen Sprache widerspricht teilweise der Meinung von William Clark, dass die deutsche Universität des 19. Jahrhunderts einen Übergang von der mündlichen Sprache zur Schrift aufweist (siehe Clark, Academic Charisma, S. 29-30, 91-2, 297-8, 333). 22 Sprache (oder sogar deren Identität) behauptet und der mündlichen Sprache einen nicht nur chronologischen sondern auch expressiven Vorrang vor der Schriftsprache zuschreibt.64 Schleiermachers und Humboldts auf ihrer Philosophie der Sprache basierendes Prinzip, dass die Sprache im allgemeinen und die mündliche Sprache im besonderen grundlegende Mittel der universitären Erziehung sind, ist wohl im großen und ganzen richtig (obwohl ihre Betonung der mündlichen Sprache vor der schriftlichen vielleicht etwas übertrieben ist; auch die Schriftsprache hat ihre Vorteile). Dieses Prinzip ist auch sehr einflussreich gewesen. Es übte schon in den Jahren unmittelbar nach der Gründung der Universität Berlin einen starken Einfluss auf die Gestaltung der universitären Erziehung aus. Es ist z.B. bemerkenswert, wie viele der wichtigsten Leistungen der damaligen Forschung in der Form von mündlichen Vorträgen (statt Bücher oder Vorlesungen im strengen Sinne) zustandekamen. Man denke beispielsweise an Schleiermachers und Hegels berühmte Vorträge an der Universität Berlin aus dieser Zeit.65 Beträchtliche Spuren eines solchen Prinzips lassen sich auch noch heute an unseren Universitäten identifizieren. Die grundlegende Rolle der Sprache im allgemeinen ist natürlich dort weitgehend anerkannt. Aber auch die Idee eines Vorrangs der mündlichen Sprache vor der schriftlichen kommt noch öfters zum Vorschein. Man bedenke z.B. sowohl die zentrale Rolle des Vortrags an fast allen heutigen Universitäten als auch die Rolle des Gesprächs im Seminar, im Workshop, in der Lesegruppe, im “common core” an den Universitäten Chicago und Columbia und in dem “tutorial” an den Universitäten 64 Siehe zu diesen Prinzipien Michael N. Forster, After Herder: Philosophy of Language in the German Tradition, Oxford 2010, und German Philosophy of Language: From Schlegel to Hegel and Beyond, Oxford 2011. Dementsprechend begründet Humboldt z.B. in einem Brief an seine Frau aus dem Jahre 1809 seine Betonung des Sprachunterrichts in der Erziehung seines eigenen Sohnes durch die Bemerkung: “Das ganze Feld der Gedanken, alles was den Menschen zunächst und zuerst angeht, selbst das, worauf Schönheit und Kunst beruht, kommt nur in die Seele durch das Studium der Sprache, aus der Quelle aller Gedanken und Empfindungen” (Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Anna von Sydow (Hrsg.), Berlin 1909, 3:260). 65 Hegel teilte übrigens Schleiermachers und Humboldts Voraussetzungen der Abhängigkeit des Denkens von der Sprache und des Vorrangs der mündlichen vor der schriftlichen Sprache (siehe Forster, German Philosophy of Language: From Schlegel to Hegel and Beyond, Kap. 5). 23 Oxford und Cambridge. Diese heutigen Spuren eines solchen Prinzips lassen sich wohl zum erheblichen Teil auf Schleiermachers und Humboldts Einfluss zurückführen. “Einsamkeit und Freiheit” Ein bekannteres humboldtsches Prinzip, das besonders in der Organisationsschrift (1810) vorkommt, ist das Prinzip von “Einsamkeit und Freiheit.”66 Dieses Prinzip hängt sehr nahe mit seinem Ideal von individueller bzw. eigentümlicher Bildung zusammen.67 Es basiert nämlich auf der Einsicht, dass eigentümliche Einstellungen und Einsichten nur mittels einer Sphäre der Freiheit des Individuums von sozialem Druck erzielt werden können. Es hängt übrigens auch sehr nahe mit einem persönlichen Charakterzug Humboldts zusammen: einem Hang zur Einsamkeit, den er selber in seinem Bruchstück einer Selbstbiographie (1816) thematisiert68 und der in seiner Zurückziehung in den 20er und 30er Jahren auf Schloß Tegel und einsame Sprachforschung seinen Höhepunkt erreichte. Dieses Prinzip ist wichtig und wohlbegründet. Denn es gibt wohl kaum ein verderblicheres Hindernis an der Entwicklung von geistiger Individualität als einen übertriebenen Zwang zur Geselligkeit und Konformität. Dieses Prinzip bildet heute einen wesentlichen Bestandteil von allen erfolgreichen Universitäten. Es gerät zwar manchmal unter Druck, wenn z.B. ein bestimmtes Seminar bzw. Institut die soziale Seite der Forschung übertreibt oder (um ein gravierenderes Beispiel zu erwähnen) die britischen Regierungen der letzten 20 oder mehr Jahre versuchen, Universitätsprofessoren wie unartige Schuljungen zu überwachen und kontrollieren (durch das sogennante “Research Assessment Exercise”). Aber wie 66 W 4:255, vgl. 191. Vgl. HW 3:207. 68 W 5:5-6: er sei ein “durchaus innerlicher Mensch,” dessen “ganzes Streben” nur dahingehe, “die Welt in ihren mannigfaltigsten Gestalten in seine Einsamkeit zu verwandeln”; “Ich habe . . . von jeher einen Abscheu davor gehabt, mich in die Welt zu mischen, und einen Trieb, frei von ihr, als ihr Beschauer, und Prüfer, zu stehen, und habe natürlich gefühlt, dass nur die unbedingteste Selbstbeherrschung mir den Punkt ausser der Welt schaffen könnte, dessen ich bedurfte.” 67 24 Humboldt schon erkannt hat, lehrt die Erfahrung, dass solches Verhalten mit innovativer Forschung unverträglich ist und sie erstickt.69 Und diese Einsicht gehört zum Selbstverständnis von fast allen heutigen Universitäten. Dies ist wohl nochmals ein Prinzip, das die moderne Universität zum großen Teil Humboldt verdankt. Die freie gesellige Zusammenarbeit von Professoren und Studenten “Einsamkeit” ist aber nur eine Seite von Humboldts Ideal des Lebens an der Universität; eine freie gesellige Zusammenarbeit von Professoren und Studenten ist ihm gleich wichtig. Demgemäß schränkt er in der Organisationsschrift (1810) das Prinzip von “Einsamkeit und Freiheit” sofort folgendermaßen ein: “Da aber das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloss, damit Einer ersetze, was dem Anderen mangelt, sondern damit die gelingende Thätigkeit des Einen den Anderen begeistere und Allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muss die innere Organisation dieser Anstalten [d.h. der Universitäten] ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten.”70 Diese Seite von Humboldts Ideal steht in naher Verbindung mit einem bestimmten Gedankengang Schleiermachers über die Rolle des Gesprächs.71 (Im Gegensatz zu Was das britische “Research Assessment Exercise” angeht, sei mir hier eine Anekdote erlaubt, die ich kürzlich von einer zuverlässigen Quelle zu hören bekam: Ein weltberühmter britischer Literaturwissenschaftler (dessen Namen ich nicht verraten will), der an einer epochemachenden dreibändigen Biographie eines wichtigen Autors seit vielen Jahren gearbeitet und schon zwei Bände davon veröffentlicht hatte, wurde kürzlich von seinem Vorsitzenden förmlich zur Rede gestellt, weil er während der von dem “Research Assessment Exercise” vorgeschriebenen Periode die von demselben vorgeschriebene Anzahl und Art von Veröffentlichungen nicht geleistet hatte. Es soll jetzt zweifelhaft sein, ob er den dritten, kulminierenden Band seines Werkes fertigschreiben wird. 70 W 4:255-6, vgl. 191. 71 Vgl. die detaillierte und aufschlußreiche Behandlung dieses Themas in Jürgen Fohrmann, Der Intellektuelle, die Zirkulation, die Wissenschaft und die 69 25 Humboldt hat Schleiermacher aber selbst seinen Gedankengang wegen seiner vorhin erwähnten Präferenz für den Vortrag vor dem Gespräch als universitäre Unterrichtsform nicht direkt auf die Universität angewandt.) Wie das obige Zitat zeigt, betrachtet Humboldt eine freie gesellige Zusammenarbeit von Professoren und Studenten, in der sie nicht nur Gemeinsames sondern auch und zwar besonders ihre geistige Individualität einander vorstellen und dadurch einander Ermunterung und Hilfe zu deren Weiterentwicklung geben, als einen unerläßlichen Bestandteil der Universität, ohne welchen deren Hauptziel einer Entfaltung von individueller Bildung nicht erreicht werden könnte. Diese Idee basiert auf einem Gedankengang, den Schleiermacher in seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) dargestellt hatte, wonach eine Art freies intellektuelles Gespräch, in dem Gesprächspartner einander nicht nur Gemeinsames sondern auch und zwar besonders ihre Individualität zeigen, eine wesentliche Rolle in der Entwicklung von individueller Bildung spielen kann und soll (Schleiermachers Theorie wurde offensichtlich zum großen Teil durch seine positive Erfahrung der Berliner Salons inspiriert – eine positive Erfahrung, die auch Humboldt zuteil wurde). Schleiermachers Schrift kann sogar als eine detailliertere Darstellung des Kerns von Humboldts Idee angesehen werden. Humboldt schränkt diese Idee aber im Geiste seines Liberalismus insofern ein, als er auch auf der Gültigkeit einer Vielfalt von Umgangsformen an der Universität besteht. Diese schließen nicht nur die vorhin erwähnte Umgangsform sondern auch andere, davon abweichende Umgangsformen mit ein – z.B., um zwei einander diametral entgegengesetzte Abweichungen zu erwähnen, einerseits rein einsame Forschung und andererseits Professoren, die eine Gruppe von Jüngern unterhalten.72 Humboldts Idee einer Entwicklung von individueller Bildung mittels eines nicht nur Gemeinsames sondern auch Individuelles darstellenden Gesprächs (als einer unter anderen legitimen Umgangsformen) ist sehr anziehend. Sie bewährt sich z.B. immer wieder an meiner eigenen Universität, der University of Chicago durch die Selbstentwicklung von Studenten und Doktoranden über solche Gespräche in dem Monumentalisierung, in: Jürgen Fohrmann (Hrsg.), Gelehrte Kommunikation, Wien, Köln, Weimar 2005, S. 325-479, hier S. 336-42. 72 W 4:256, 262. 26 “common core,” Seminaren, Workshops und Lesegruppen. Ihre Flexibilität spielt auch eine wichtige Rolle, indem sie z.B. weniger extravertierte Studenten und Doktoranden vor Ausgrenzung schützt. Obwohl die von Schleiermacher vertretene Bevorzugung des Vortrags vor dem Gespräch für die Universität sich zum großen Teil schon zu dessen und Humboldts Lebzeiten durchgesetzt hat (teilweise aus rein praktischen Gründen, nämlich weil es zu viele Studenten gab, um Gespräche als das Hauptlehrmittel zu benutzen) und dies den Einfluss von Humboldts Idee in der Praxis eingeschränkt hat, spielen solche sowohl Gemeinsames als auch Individuelles darstellenden Gespräche und ähnliche Lehrtätigkeiten – wie z.B. das “common core,” Seminare, Workshops und Lesegruppen – doch noch bis heute eine wichtige Rolle an den Universitäten. Dass dem so ist, lässt sich wohl wenigstens teilweise auf Humboldts Einfluss zurückführen. Man bemerke z.B. in diesem Bezug, dass das Seminar als Lehrmethode, obwohl es schon im 18. Jahrhundert in Deutschland entstand, wohl erst später die spezifischere Form eines Individualität darstellenden Gesprächs angenommen hat73 und dass es dann im späten 19. Jahrhundert aus Deutschland in die Vereinigten Staaten eingeführt wurde.74 Die Verbindung von Forschung und Lehre Eines der bekanntesten Prinzipien von Humboldts Modell der Universität besagt, dass Forschung und Lehre in derselben Anstalt und von denselben Individuen betrieben werden sollen. (Humboldt hat zwar rein forschende Anstalten wie die Akademie zu Berlin nicht abgelehnt, aber er hat deren Rolle erheblich eingeschränkt und abhängiger von der Universität gemacht.75) Humboldt hatte mehrere Gründe für dieses Prinzip einer Verbindung von Forschung und Lehre. Sicherlich glaubte er, dass eine solche Einrichtung Studenten besser lehren und zur eigenen Forschung vorbereiten und begeistern würde. Aber interessanterweise 73 Vgl. Clark, Academic Charisma, S. 175-9, 422. Vgl. ibid., S. 181; Geschichte der Universität in Europa, 3:151-2. 75 W 4:261-6. 74 27 betonte er noch stärker das Umgekehrte: dass die Forschung des Lehrers von dessen Lehrtätigkeit profitieren würde.76 Diese Einsicht basiert zum erheblichen Teil auf der bloßen Erfahrung, dass dem so ist, dass das Lehren den Lehrer zu neuen Ideen stimuliert und ihm zu klarerer Entwicklung seiner Ideen verhilft. Aber sie basiert implizit auch auf Prinzipien, die aus Humboldts Philosophie der Sprache stammen: insbesondere, auf dem vorhin erwähnten Prinzip, dass Sprache im allgemeinen und mündliche Sprache im besonderen eine grundlegende Rolle für das Denken spielen nebst einem weiteren humboldtschen Prinzip, dass Sprache von Hause aus eine gesellschaftliche Leistung ist.77 Dieses Prinzip einer Verbindung von Forschung und Lehre ist sehr attraktiv. Es hat sich immer wieder in der Praxis als günstig sowohl für Lehre als auch für Forschung bewährt. Es bleibt noch heute ein Kernprinzip der modernen Universität. Es ist zum großen Teil auf Humboldt zurückzuführen.78 Schlußbemerkung Zum Schluß: Ich habe in dieser Skizze von Humboldts Modell der Universität zu zeigen versucht, dass besonders wenn man manche weniger offensichtliche und leicht zu übersehende Seiten des Modells mit in Betracht zieht, es sich als sehr attraktiv und als heute noch sehr einflussreich herausstellt. Was dessen Einfluss betrifft, hoffe ich u.a. meine eingangs erwähnte These plausibilisiert zu haben, dass man sogar eine Art Genealogie der modernen Universität entwickeln könnte, die deren Geist und 76 W 4:256, 262. Für einige weitere Details zu diesen Prinzipien siehe Forster, German Philosophy of Language: From Schlegel to Hegel and Beyond. Schleiermacher verfolgt einen ähnlichen Gedankengang in Gelegentliche Gedanken: es kann “nur ein leerer Schein sein, als ob irgend ein wissenschaftlicher Mensch abgeschlossen für sich in einsamen Arbeiten und Unternehmungen lebe. Vielmehr ist das erste Gesetz jedes auf Erkenntniß gerichteten Bestrebens, Mittheilung; und in der Unmöglichkeit wissenschaftlich irgend etwas auch nur für sich allein ohne Sprache hervorzubringen, hat die Natur selbst dieses Gesetz ganz deutlich ausgesprochen” (S. 3). 78 Zur Übertragung dieses Prinzips von Deutschland auf Großbritannien und die Vereinigten Staaten im späten 19. Jahrhundert, siehe Geschichte der Universität in Europa, 3:24-6, 150-1. 77 28 Wirklichkeit zum großen Teil auf Humboldts Modell zurückführen würde – und zwar eine positive, d.h. rechtfertigende Genealogie. 29