Fritz Schuster (1859-1944), Erinnerungen aus meinem Leben

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Fritz Schuster (1859-1944), Erinnerungen aus meinem Leben
Teil IV
Vom Beginn des Weltkrieges bis zur Beförderung
zum Oberforstmeister und zum Ruhestand, 1914-1919
Der Weltkrieg
Mitten in das friedliche und in voller Blüte stehende deutsche Wirtschaftsleben brach im
August 1914 die Kriegsfackel verheerend und zerstörend ein. Der unheilvolle Weltkrieg, der
sich über vier Jahre lang in einer früher unvorstellbaren Weise austobte, hat durch seine
Wirkungen und Folgen so von Grund aus in unser aller Dasein eingegriffen, dass ich es mir
nicht versagen darf, ihm hier ein ausführliches Kapitel zu widmen. Ich werde mich dabei aber
auf meine eigenen Eindrücke und persönlichen Beobachtungen sowie auf die Kriegserlebnisse
unserer beiden Söhne beschränken.
Die ersten Anzeichen
Schon lange vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten warf die Weltkrieg seine schwarzen
Schatten voraus. Die drohenden Wolken des politischen Horizontes verdunkelten sich zu
Beginn des zweiten Jahrzehntes unserer Jahrhunderts immer mehr. Das erste sichtbare
Zeichen, dass die Kriegsgefahr in unmittelbare Nähe gerückt war, gab uns Brombergern der
damals daselbst stationierte Divisionär Generalleutnant zur Linde, welcher in seiner Festrede,
die er am 27. Januar 1913 bei Gelegenheit des Kaisers Geburtstagsessens im deutschen
Kasino in Bromberg hielt, offen und geradeheraus schwere Kriegsbefürchtungen aussprach
und eindringlich mahnte, sich des Ernstes der Lage bewusst zu bleiben. Ich erinnere mich,
dass diese Rede auf mich, wie auf sämtliche Anwesende (es waren mehrere Hundert
teilnehmende höhere Beamte, Offiziere u. hervorragende Vertreter der Wirtschaft und Finanz)
einen sehr tiefen Eindruck gemacht hat.
Die inneren Kriegsgründe
Die inneren Kriegsgründe waren schon damals für jeden einsichtsvollen Deutschen klar und
deutlich sichtbar. Frankreich verzehrte sich im unlöslichen Revanche- und Hassdurst gegen
Deutschland für 1870/71, England erfüllte Konkurrenzneid und Eifersucht auf Deutschlands
Aufstieg in der Weltwirtschaft, der dem britischen Krämergeist ernste Sorgen um seine
Führerschaft bereitete. Russland stand vor innerer Revolution und suchte Ablenkung durch
Krieg nach außen. So bereitete sich seit Jahr und Tag die verhängnisvolle politische
Einkreisung Deutschlands vor. Die Hauptübeltäter dieser Politik waren der engl. König
Edward der VII. und vor allem der franz. Ministerpräsident Poincaré, der sich zur Erreichung
seiner verbrecherischen Ziele seines Komplizen, Clemenceaux, des gefürchteten ‘Tigres’ und
der moskowitischen Handlanger, des russischen Außenministers Ssasanow sowie des
russischen Botschafters in Paris, Iswolski, bediente. Wenn im Versailler Friedensvertrag die
Kriegsschuld allein auf Deutschland abgewälzt wurde, und wenn die Feinde uns Deutsche
unter drohender Gewalt zur schriftlichen Bejahung der Schuldfrage zwangen, so liegt darin
eine über alle Begriffe niederträchtige und verbrecherische Irreleitung der Weltgeschichte, die
förmlich nach Gerechtigkeit schreit. Die Nachwelt wird bestimmt anders urteilen, als es im
Diktat- und Schmachfrieden von Versailles geschah.
Kriegsausbruch und Kriegsvorbereitungen
Am 1. August 1914 wurde abends die Kriegserklärung an Russland bekannt. Ich hatte für den
Nachmittag eine Pirsch auf Rehbock in der Oberförsterei Schulitz vor und fuhr gegen 2 Uhr
Nachmittags mit dem Zuge dahin. Bei der Abfahrt fiel mir schon auf, dass unser
Hauptbahnhof wie ausgestorben da lag. Kaum ein Reisender war zu sehen, nur eine polnische
Familie der besseren Stände Brombergs schleppte sich mit auffallend schwerem Handgepäck,
worin sie anscheinend Gold, Silber und Wertsachen irgendwo auf dem Lande in Sicherheit
bringen wollte. Ich zögerte erst, entschloss mich aber schließlich, die Fahrt anzutreten. In
Schulitz war die Aufregung schon größer, und man munkelte schon von bevorstehendem
Kriegszustand und plötzlicher Eisenbahnsperre. Der Vorsicht halber befragte ich den
Bahnhofvorsteher, ob ich am selbigen Abend noch die Möglichkeit hätte, mit der Bahn nach
Bromberg zurückzufahren. Er zuckte bedenklich die Achseln und sagte, dass bei Eintreffen
einer Kriegsdepesche jeder Personenverkehr schlagartig sofort aufhöre. Ich ließ nun von
meinem Vorhaben ab und wanderte die etwa 17 Km lange Strecke zu Fuß nach Bromberg
zurück, wozu mich ein über alle Massen prächtiger, sonniger und warmer Frühherbsttag
einlud. (Dies Prachtwetter beherrschte übrigens auch die Kriegstage der nächsten Wochen bis
in den Oktober hinein.) Ich durchzog im gemächlichen Schritt das breite, im geologischen
Urstrombette liegende Weichseltal, doch der Genuss an dem herrlichen Wetter und der Natur
kam nur teilweise zur Geltung, denn die inneren Unruhen über die bevorstehenden schweren
Ereignisse nahmen mich doch ganz in ihren Bann. Die nächste Sorge war natürlich, was wird
mit unseren beiden Söhnen werden, die doch sofort in den Krieg ziehen müssen. Dann kamen
wieder andere Gedanken, dass möglicherweise die Russen schon in den allernächsten Tagen
dies schöne, fruchtbare und friedliche Weichseltal in wilden Horden plündernd, raubend und
alles versengend überfallen würden. An einem kleinen Brückenübergang über die BrombergSchulitzer Chaussée sah ich bereits einen kleinen Trupp Pioniersoldaten, die unter Leitung
eines Offiziers geheimnisvolle Arbeiten ausführten. Ich erfuhr, dass man vorsichtshalber die
Sprengung der Brücke für den Fall eines plötzlichen Überfalls der Russen vorbereitete. Kurz
vor Bromberg sauste ein Offizier in rasender Fahrt auf dem Rade an mir vorbei, er rief mir in
aller Eile zu: ‘Weidmannsheil! Wissen Sie schon? Mobil!’ Nun war mir klar, dass die
Entscheidung zum Kriege gefallen war. Als ich Bromberg erreichte, war die Aufregung und
Spannung aufs Höchste gestiegen, ein Offizier in Ordonanzuniform zog mit zwei Trompetern
von Straße zu Straße um den kaiserlichen Erlass über den Eintritt des Kriegszustandes zu
verlesen und zu verkünden. Die nächsten Tage brachten nun eine völlige Umkehr vom
gewohnten Leben. Alle militärpflichtigen Männer eilten zur Fahne, sie mussten in irgendeiner
Weise ersetzt werden. Aber es war eine wahrhaft erhebende Tatsache, wie das ganze Volk in
Deutschland trotz der vielen inneren Zwiespälte wie ein Mann aufstand, um unser geliebtes
Vaterland gegen den äußeren Feind zu schützen. Bewundernswert war es auch, im Einzelnen
zu beobachten, wie die Mobilmachung und Kriegvorbereitung am Schnürchen einem exakten
Uhrwerk vergleichbar, verlief. Hierfür ein kleines selbst erlebtes Beispiel von tausenden.
Bereits wenige Tage nach der Mobilmachung erschienen plötzlich aus allen Richtungen
mehrere Tausend Waldarbeiter mit Säge und Axt in Bromberg, ihnen gesellten sich aus
verschiedenen Regierungsbezirken über 30 Königl. Förster, desgleichen ca. ½ Dutzend.
Königl. Oberförster als Betriebsleiter hinzu. Sie hatten die Aufgabe, die dem nördlichen Teil
der Stadt unmittelbar vorgelagerten bewaldeten dünenartigen Anhöhen, die westlichen
Ausläufer des ostpreußischen Mittelrückens, von den Waldbeständen der Oberförsterei
Jagdschütz zu entblößen. Es geschah das, um eine durch das Gelände begünstigte
Rückzugslinie mit freiem Schussfeld und mit vorbereiteten Schützengräben für dem Notfall
herzurichten. Das erfolgte alles in Blitzeseile, und in kürzester Zeit waren Hunderte von
Hektaren abgetrieben sowie Gräben mit Unterständen ausgebaut. Es war nicht schwer den
Zweck dieser Maßnahmen zu erraten, sie sollten nämlich den Russen in einer ausgebauten
Rückzugslinie den ersten Widerstand bieten, wenn sie von Hohensalza her ins Land
einbrächen. Nun wussten wir, dass in einem solchen Kriegsfalle Bromberg den Russen
preisgegeben war.
In den nächsten Tagen vollzog sich bereits der Aufmarsch des deutschen Heeres an der
russischen Front. Es begannen die Truppen- und Transportzüge auf der Hauptstrecke BerlinPetersburg, in der wir lagen, zu rollen, sie rollten und rollten acht Tage und ebenso viele
Nächte in kürzest zulässigen Abständen hintereinander. Die Augustnächte waren warm, und
wir schliefen bei offenen Fenstern, die nach Osten freien Raum vor sich hatten, sodass wir in
der Nacht jeden Eisenbahnzug hören konnten. Das Rollen des einen Zuges ging fast
unvermittelt in das des folgende über, so war es ein unaufhörliches Rollen in der Nacht, das
sich meinem Gedächtnis so fest eingeprägt hat, dass ich heute noch, nach 22 Jahren,
unwillkürlich mit meinen Gedanken zu jenen ersten Kriegsnächten zurückfliege, wenn in der
Nacht das Brausen eines Zuges an mein Ohr dringt. Nach acht Tagen hörte das Rollen auf, es
musste also einstweilen der Aufmarsch beendet sein. Schon am 3. und 4. August 1914
erschienen die ersten von unseren Grenztruppen gemachten russischen Gefangenen, die in
Bromberg ausgeladen wurden. Es war ein kleiner Trupp von ca. 12 bis 15 Mann, die beim
ersten Einbruch in Ostpreußen gefangen genommen wurden. Es waren sibirische und
mongolischen Soldaten aus dem Inneren Asiens, das war ein deutliches Zeichen dafür, dass
Russland schon lange den Krieg durch Zusammenziehen von Truppen tief aus dem Innern
Russlands vorbereitet hatte, denn der Aufmarsch der Sibirer und Mongolen musste bei den
mangelhaften russischen Verkehrsverhältnissen monatelang in Anspruch genommen haben.
Ich sah die Gefangenengruppe zufällig vor dem Bahnhofsgebäude in Bromberg. Uns
interessierte begreiflicherweise in erste Linie die Ostfront, weil wir bei einem Einfall der
Russen doch in unserer persönlichen Sicherheit bedroht erschienen. Wir atmeten förmlich auf,
als schon am 23/31. August 1914 Hindenburg und Ludendorf die Tannenbergschlacht
siegreich schlugen und nicht weniger als über 90.000 Gefangene machen konnten. Nun rollten
die Züge in rascher Folge in umgekehrter Richtung mit Gefangenen westwärts.
Wie sich herausstellte, war auch meine frühere Oberförsterei Ruda und Umgebung von der
Tannenbergschlacht in Mitleidenschaft gezogen.
Während der Schlacht soll in dem Oberförstereigehöft in Ruda eine Zeit lang ein höherer
russischer Stab gelegen haben. Dem Gute Guttowo – 20 Min. von Ruda entfernt – ist dabei
sehr übel mitgespielt worden. Plündernde Soldateska haben sicherem Vernehmen nach das
Gut nach allen Regeln der Kunst gebrandschatzt und das große Gutshaus mit den
umfangreichen Wirtschaftsgebäuden dem Erdboden gleichgemacht. Mir liegt noch aus der
Kriegszeit ein Zeitungsartikel eines Lokalberichterstatters aus dem Górznower Käseblättchen
vor, der das fürchterliche Hausen der russischen Horden hinreichend illustriert. Es lautet
wörtlich:
Wie die Russen um Gorzno Krieg führten
Es stürmten plötzlich etwa 40 russische Reiter im vollsten Galopp in das Städtchen
Górzno (½ Stunde vom Oberförstergehöft Ruda entfernt) bis auf den Marktplatz. Dort
machten sie halt. Alle Telegraphenstangen wurden umgehauen, dann plünderten sie das
Warenhaus Caspar, die Waren schafften sie auf Górznoer Fuhrwerken über die Grenze.
Post und Zollamt sind aufgelöst. Nachdem all dieses geschehen war, kam das Gros der
Russen, ca. 4000 Mann russ. Kavallerie angesprengt, mit Feldküche und einigen
Kanonen sowie sämtl. Bagage. Sie schlugen den Weg nach Radosk ein, bogen dann zu
dem Weg nach der Oberförsterei Ruda ein, wo ebenfalls die Telegraphenstangen an der
Chaussée abgehauen wurden und begaben sich nach Guttowo Gut. Dort loderten bald
Feuersäulen auf. Unsere Radfahrerkompagnie begegnete dem Feind, wobei der
Leutnant sein Leben verlor. Auf dem Rückwege stürmten etwa 40 Russen zu Pferde
nach der Grenze über Górzno zurück. Das Gros der Russen ist auf Umwegen
weitergezogen und soll sich in dem Forst um Guttowo und Górzno aufhalten.’
Waren wir in den ersten Monaten weit ab vom russischen Kriegschauplatz entfernt und hatten
einen russischen Einfall in Bromberg weniger zu fürchten, so veränderte sich die Situation im
Oktober 1914 für uns in bedenklicher Weise. Der Vormarsch Hindenburgs von Schlesien aus
auf Warschau kam wegen der erdrückenden Masse russischer Truppen nicht recht vorwärts,
so dass sich Hindenburg veranlasst sah, seine Streitkräfte von dort zurückzuziehen, sich
umzugruppieren und den Angriff auf Warschau von Hohensalza aus zu verlegen. Das war
Ende Oktober 1914. Zahlreiche deutsche Truppenmassen sahen wir nun mit allem Kriegsgerät
und Tross, worunter sich merkwürdigerweise auch einige Kamele befanden, durch Bromberg
in Richtung Hohensalza marschieren. Die Umgruppierung ging streng geheimnisvoll vor sich,
doch merkten wir jetzt, dass uns der Kriegsschauplatz ernstlich näher rücken sollte. Wir
wussten, dass sich geradezu erdrückende feindliche Truppenmassen in Polen und um
Warschau befanden und waren darüber nicht in Zweifel, dass, wenn Hindenburg nicht
siegreich vorging, wir in Bromberg vor den Russen nicht sicher blieben. Es brachen nun
einige schwere und beunruhigende Wochen für meine Frau und mich an. Die Regierung hielt
in dieser Zeit vorsorglicherweise für uns Beamte samt Familien am Hauptbahnhof in
Bromberg einen Bergungszug unter Dampf, der uns im Falle der höchsten Not westwärts in
Sicherheit bringen sollte. Es musste immerhin mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass
wir aus irgendeinem Grunde den Anschluss an den Bergungszug verpassten. Es galt für
diesen Fall noch einen andern Fluchtplan vorzusehen, der darin bestand, dass wir jeder einen
Rucksack mit den notwendigsten Kleidungsstücken wochenlang bereitliegen hatten, um
äußerstenfalls mit ihm auszurücken. Über das wohin war kein Zweifel, denn wir wussten, wie
bereits erörtert, dass 20 Min. nördlich von Bromberg eine Rückzugslinie ausgebaut war.
Hatten wir diese Linie erreicht, dann waren wir einstweilen geborgen und konnten uns mit
Hilfe der vielen Forsthäuser meines Dienstbezirks landeinwärts weiter nach Norden retten.
Glücklicherweise wurden wir der Sorge enthoben, denn der Armeeführer Mackensen warf am
10/13. November 1914 in der Schlacht von Wloczlawek (nur 32 Km von der preuß.
Landesgrenze entfernt) die Russen siegreich zurück.
In jenen Tagen lauschte ich ängstlich besorgt im Walde dem fernen Kanonendonner, den man
deutlich nach russischer und deutscher Artillerie unterscheiden konnte, denn die russische
Artillerie zählte in der Batterie mehr Geschütze als die deutsche, so dass man an den
hintereinander abgegebenen Schüssen beurteilen konnte, wer schoss. Der Donner entfernte
sich von Tag zu Tag mehr und mehr, woraus wir jedenfalls mit Genugtuung feststellen
konnten, dass die Russen zum mindestens dem Drucke der Mackenzen’schen Armee weichen
mussten.
Meine persönliche Kriegsnotizen über unsere beiden Söhne Fritz und Rudi
Fritz
Seit dem 18. Juli 1915 hatte Fritz sein Kommando als Feldjäger bei der deutschen Südarmee,
die damals neu aufgestellt wurde, inne. Das Oberkommando befand sich zuerst in Stryi,
wurde jedoch bald darauf für längere Zeit nach Brzezany (Galizien) verlegt. Fritz wurmte es
schon lange, dass seine Bemühungen, in die Kampffront versetzt zu werden, bisher vergeblich
gewesen waren. Eine günstige Gelegenheit sollte ihn endlich zum Ziele führen. Damals trat
ein Mangel an Fliegeroffizieren ein, infolge dessen ordnete das Kriegsministerium in Berlin
an, dass etwaige Einstellungsanträge von Offizieren in die Fliegertruppe in keinem Falle
abgelehnt werden dürften. So gelang es ihm, wenigstens als Flieger in die Kampffront zu
kommen. Er wurde zu einem mehrwöchentlichen Schulungskursus nach Posen kommandiert
und hatte dann das Glück, dass er als Beobachtungsflieger in die Fliegerabteilung des
Oberkommandos der deutschen Südarmee in Brzezany, mit der er schon als Feldjäger die
freundschaftlichen Beziehungen gepflegt hatte, versetzt wurde. Zahlreiche
Kriegserkundungsflüge hat er mit seinem Flugzeugführer Bachem aus Köln ins feindliche
Russland gemacht. Bei einem Fluge wurden sie von der Dunkelheit überrascht, verloren die
Orientierung und irrten in der Luft umher, bis sie endlich am fernen Horizont ein Blinkfeuer
von Lemberg aufblitzen sahen und glücklich landeten zur Beruhigung der ganzen
Fliegerabteilung, die sich schon ernste Sorgen über ihren Verbleib gemacht hatte. Ein anderer
Erkundungsflug sollte einen weitaus gefährlicheren Verlauf nehmen. Fritz hatte den Auftrag,
weit hinter der russischen Front auf den Etappenstraßen, Eisenbahnen und Bahnhöfen den
Nachschub des russischen Heeres festzustellen. Hierbei überraschten ihn zwei französische
Kampfflugzeuge, die die russische Fliegerei unterstützen mussten. Sie suchten ihm den
Rückzug abzuschneiden und nahmen sein Flugzeug unter heftiges Kreuzfeuer. Wie sich nach
der Landung herausstellte, hatte es an die 30 Kugeleinschläge. Fritz selbst erhielt einen
Streifschuss am Kopf, der sich glücklicherweise nicht als lebensgefährlich erwies. Die
Flugkraft seines Flugzeuges verminderte sich zusehends, es gelang ihnen jedoch noch, in
geringer Höhe von etwa 100 m. die russischen Gräben zu überfliegen und hinter einer
Bodenwelle in unseren Linien zu landen. Letzteres bedeutete noch ein besonderes Glück,
denn, wie später bekannt wurde, hatte die russische Artillerie bereits Anstalten getroffen, das
Flugzeug beim Landen mit Granaten zuzudecken, was aber durch die verlorene Einsicht des
Landungsplatzes verhindert wurde. Ein eigentümlicher Zufall fügte es, dass die beiden
französische Flieger nicht lange darauf in deutsche Gefangenschaft gerieten und zunächst bei
der Fliegerabteilung in Brzezany in kameradschaftlicher Weise aufgenommen wurden. (In der
Fliegerei hat im Weltkriege zwischen den gegnerischen Fliegern außerhalb des Kampfes eine
vorbildliche, mustergültige und gegenseitig sich achtende Kameradschaft bestanden.) Die
Wiederherstellung von Fritz ließ nicht lange auf sich warten, doch mit dem Flugdienst war es
vorbei.
In der Folgezeit wurde er wieder als Feldjäger zum Kurierdienst in Berlin beordert. Von
seinen zahlreichen Kurierreisen, welche nun wieder einsetzten, sind zwei erwähnenswert. Die
eine ging nach dem Friedensschluss mit Russland vom 3. März 1918 nach Moskau, wo kurz
nachher der deutsche Botschafter und an seiner Seite ein Feldjäger einem Bombenanschlag
zum Opfer fielen. Die Reise war nicht ungefährlich, denn in Russland und besonders in der
Ukraine wüteten innere Kämpfe und Plünderungen. Zu seinem persönlichen Schutze waren
ihm deshalb zwei handfeste Gardisten mitgegeben worden. Auf der Durchreise konnten wir
ihn in Bromberg am Bahnhof kurz sehen und sprechen, und ihm zur Stärkung auf der langen
Reise eine Pulle Rotwein sowie einige kalte ‘Kartoffelplätzchkes’, welche er sehr liebte, in
die Hand drucken. Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle.
Eine andere Kurierreise hatte Finnland zum Ziel. Als sich Finnland von Russland losgelöst
und am 7. März 1918 mit Deutschland Frieden geschlossen hatte, bildete sich die neue
finnische Regierung mit Hilfe von Deutschland in Helsingfors am finnischen Meerbusen. Erst
ging's nach Stockholm. Die Durchquerung der Ostsee nach Helsingfors war wegen der Minen,
und weil die Fahrt durch die Kriegszone führte, ausgeschlossen. Es blieb nichts Anderes
übrig, als von Stockholm aus zu Lande Helsingfors zu erreichen. Er musste einen weiten
Bogen um den ganzen Bottnischen Meerbusen bis zum Norden hinauf nach Haparanda
machen, von da ging's per Schlitten quer durch Finnland dem Reiseziel zu. Die Fahrt dauerte
eine ganze Reihe von Tagen, aber Fritz war des Lobes voll über die finnländische
Bevölkerung, deren Gastfreundschaft und ebenso deutschfreundliche Einstellung über jeden
Tadel erhoben war.
Kurz vor dem unglücklichen Ausgang des Krieges hatte Fritz das große Vergnügen als
Feldjäger der deutschen Botschaft im Haag zugeteilt zu werden. Das Kommando dauerte
mehrere Wochen. Fritz hatte sich inzwischen mit Mathilde Bonse, der Tochter meines
Jugendfreundes und Kollegen Forstmeisters Rud. Bonse in Altplacht, Reg.Bez. Potsdam,
verlobt. Alex und Cilli luden während des Haager Kommandos seine Braut zu sich nach
Herzogenbusch ein und konnten damit auch die häufige Anwesenheit Fritzens genießen. Aber
die deutsche Revolution machte dem Kommando ein vorzeitiges Ende. Fritz nahm nun seine
Forststudien nach vierjähriger Unterbrechung wieder auf.
Rudi
Seine Beschäftigung in Le Havre an Bord der Phryné seit Ende 1915 war nicht von langer
Dauer, denn bald schickte man ihn als Aufseher von deutschen Gefangenen in die
Schlachthäuser von Rouen, aber auch hier war seines Bleibens nicht lange. Die franz.
Regierung machte damals der Deutschen den Vorwurf, dass sie auch die gefangenen
Sousoffiziere werktätig beschäftigte. Als Regressivmaßnahmen stellte daraufhin Frankreich
sogenannte Vergeltungslager zusammen, in denen nur Unteroffiziere, Sergeanten,
Vizefeldwebel und Vizewachtmeister sowie Offiziersstellvertreter zur Arbeit herangezogen
wurden. Auch Rudi blühte als Vizewachtmeister dieses Missgeschick. Sein Vergeltungslager
wurde nach dem südöstlichen Frankreich verlegt. Nun führte ihn die mehrtägige
Eisenbahnfahrt von Rouen quer durch Frankreich nach Marseille und zwar in abgeblendeten
Viehwagen, damit nur ja die Gefangenen nicht die Reize einer Fahrt durch fremdes Land
genössen. Nach etwa acht-tägigem Aufenthalt in Marseille wurde das Lager nach Serre bei
Carpentras (Vaucluse) unweit Avignon verlegt, wo die Gefangenen mit Weinbergsarbeiten
beschäftigt wurden. Rudi urteilte über die Aufenthalt nicht ungünstig, er fühlte sich hier
wohler als in den früheren Lagern, weil sie viel in der freien Natur, die in dortiger Gegend
besonders reizvoll war, sich betätigen mussten. Mittlerweile war das Jahr 1918
herangebrochen und näherte sich der unglückliche Ausgang des Krieges. Schon vor dem
Abschluss des Versailler Diktats schickte sich die franz. Regierung an, die deutschen
Gefangenen unweit der deutschen Grenze in größeren Lagern zusammenzuziehen. Das
erweckte mit vollem Recht in den Gefangenen das Gefühl, dass nun die Stunde der Erlösung
aus der Not gekommen sei. Auf franz. Seite tat man alles um sie in dieser Erwartung zu
stärken, aber sie sollten um eine der schwerste Enttäuschungen reicher werden. Der
Schandfrieden von Versailles war von der deutschen Regierung unter unerhörtem Druck am
28. Juni 1919 unterzeichnet worden und damit in Kraft getreten. Während Frankreich
daraufhin unter Androhung schärfster Maßnahmen in kürzester Frist – es waren wohl kaum
14 Tage – die Auslieferung auch des letzten franz. Gefangenen von Deutschland forderte,
dachte es selbst nicht im Mindesten daran, den Austausch der Gefangenen irgendwie zu
beschleunigen, im Gegenteil suchte es ihn in geradezu teuflichster Art nach Möglichkeit in
die Länge zu ziehen. Die letzen deutschen Gefangenen, zu denen auch leider Rudi gehörte,
musste ¾ Jahr und mehr nach dem Friedensschluss auf Erlosung warten. Rudi bezeichnete
diese Wartezeit als die qualvollste, weil die Sehnsucht nach endlicher Befreiung von Tag zu
Tag wuchs, und von Tag zu Tag die Hoffnung auf den folgenden vertröstet werden musste. In
geradezu sadistischer Weise haben die Franzosen in ihrem unauslöschbaren Hass gegen
Deutschland sich auch der bemitleidenswerten Gefangenen bedient. Es war das eine der
vielen Gemeinheiten, die in der Weltgeschichte wirklich ihres Gleichen sucht. Endlich schlug
auch für Rudi die Befreiungsstunde. Am 2. März 1920 wurde er im Durchgangslager
Eglosheim (Baden) ausgeliefert. Am 30. April 1920 wurde er mit dem eisernen Kreuz 2 Cl.
dekoriert. Am 4. Augustus 1920 erhielt er das Verwundetenabzeichen in ‘schwarz’. Am 8.
Juni 1922 wurde ihm der Charakter als Leutnant verliehen, und am 30. April 1935 Verleihung
des Ehrenskreuzes für Frontkämpfer.
Inzwischen waren die Polen im Januar 1920 in Bromberg eingerückt und damit stand fast die
ganze Provinz Posen unter polnischer Staatshoheit. Die Entwicklung des polnischen
Werdeganges war noch in vollem Fluss, man musste jeden Augenblick befürchten, dass Rudis
Einreise nach Polen auf unüberwindbare Schwierigkeiten stoßen würde. Vorsichtshalber
hatten wir deshalb sämtliche Zivilsachen für Rudi an meine Schwester, Maria Sauter, in
Dessau geschickt, wohin sich Rudi auf unsere Verabredung nach seiner Heimkehr zuerst
wenden sollte. So geschah es und da die Einreise nach Bromberg derzeit möglich war,
konnten wir ihn einige Tage nach seiner Auslieferung wohlbehalten bei uns begrüßen. Die
Freude des Widersehens war beiderseits sehr groß, aber leider nur von kurzer Dauer, denn in
den nächsten Tagen kündigten die poln. Zeitungen in Bromberg an, dass die poln. Regierung
beabsichtige, in Kürze alle militärtauglichen jungen Leute ins Heer einzustellen. Das war für
ihn nach den 4½ Jahren trüber Gefangenschaft zu viel. Der Gedanke, für Polen Militärdienste
zu leisten und womöglich gegen Deutschland kämpfen zu sollen, war so unerträglich für ihn,
dass er sich schweren Herzens entschloss, schon nach wenigen Tagen in aller Eile wieder
auszurücken und unverzüglich sein Hochschulstudien in Darmstadt wieder aufzunehmen.
Ich begleitete ihn bis Berlin, wo ich mit unserem Schwiegersohn Indemans, welcher im
Auftrage des holländischen Gelben Kreuzes einen Eisenbahnzug mit Lebensmitteln für die
ungarische Regierung nach Budapest geleitet hatte, auf der Rückreise nach Holland
zusammentreffen wollte. In dieser Zeit fiel der ‘Kapp-Putsch’ der am 13. März 1920
ausbrach. Über Berlin wurde deshalb die Eisenbahnsperre gelegt. Die Regierung ließ mehrere
Tage keinen Zug nach Berlin herein. Zufällig hatten Rudi und ich das Glück, mit dem ersten
D-Zug, der wieder fuhr, nach Berlin hereinzukommen. Wir trafen gegen 10 Uhr abends auf
Bahnhof Friedrichstraße ein. Berlin lag vollständig im Dunkeln, und als wir unser Hotel
Westfälischer Hof am Bahnhof betraten, war auch hier – auf polizeiliche Anordnung! – jedes
elektrische Licht gelöscht, und alle Hotelräume in kümmerlichster Weise durch Kerzen
erleuchtet. Wir wollten noch ein Glas Bier draußen trinken und als wir uns dazu anschickten,
warnte uns der Hotelportier eindringlich nicht in das Stadtinnere zu gehen, weil man für die
Nacht größere Unruhen befürchtete und Schiessereien erwarte. Wir begnügten uns deshalb
damit im Wartesaal des Bahnhofs noch ein Stündchen zusammen zu sitzen. In aller Frühe des
anderen Morgen setzte Rudi seine Reise nach Darmstadt fort. Ich fuhr nach Bromberg zurück,
da unser Schwiegersohn weder eintraf, noch Nachrichten geschickt hatte, vielmehr war er
wegen der unterbrochenen Bahnverbindungen durch Deutschland mit seinem holl. Komitee
gezwungen, etwa vier Wochen in Budapest zu verbleiben, wo die Holländer wegen ihrer
großen Wohltätigkeit gegen das ungarische Volk von den Prominenten der ungarischen
Staatsregierung, an der Spitze der Staatsverweser Horthy, sehr gefeiert wurden und später
interessante Erlebnisse zu verzeichnen hatten.
Hier seien noch einige Bemerkungen eingeschaltet über die bösen Erfahrungen Rudi’s in der
Gefangenschaft. Als er heimkehrte, war er gegen früher auffallend still und in sich gekehrt, er
hatte gar keine Neigung, viel zu erzählen von seinen Erlebnissen in Frankreich, anscheinend
war er von Allem so tief beeindruckt, dass ihn eine gewisse Melancholie ergriffen hatte.
Infolgedessen mussten wir unsere begreifliche spannende Neugier und Interesse zügeln und
vermieden es, ihn durch Ausfragen zu belästigen. Es war für seine seelische Verfassung
ungemein günstig, dass er sich sofort in sein Studium vertiefte und gerade nach Darmstadt
zurückging, wo er in seinem Corps Hassia und im Kreise seiner alten Bekannten aufgemuntert
wurde. Erst nach Jahr und Tag gewann er seinen Gleichmut wieder, so erfuhren wir erst
allmählich folgende Einzelheiten über seine Gefangenschaft und seine Behandlung in der
Gefangenschaft.
Die zweite Champagneschlacht, die ihm zum Verhängnis wurde, war einer der Hauptversuche
der Franzosen und Engländer, die Entscheidung des Krieges mit bis dahin nicht dagewesenem
Aufwand an Truppen und Artillerie herbeizuführen. Das missglückte zwar, aber der Feind
konnte doch die Frontstrecke bei Perthes-Tahure, wo Rudi stand, um mehrere Kilometer
eindrücken. Rudi befand sich als Artilleriebeobachter im vordersten Schützengraben, als sie
am 25. September 1915 überrannt und gefangen genommen wurden. Der Anprall war so
stark, dass sogar sein ganzes Regiment, deren Geschütze doch einige Kilometer hinter den
Schützengräben standen, samt und sonders mit allem Zubehör in Gefangenschaft geriet. Bei
der Gefangennahme wurde ihnen von den Franzosen befohlen, zunächst landeinwärts zu
laufen, wo sie dann weiter hinten gesammelt würden. Gleich darauf sollte er Zeuge eines ganz
unerhörten Vorfalles werden, dessen sich ein höherer französischer Offizier schuldig machte.
Neben Rudi lief ein blutjunger Fähnrich von der Infanterie, ein französischer Offizier kommt
ihnen zu Pferd entgegen und stellt an den Fähnrich eine Frage in französisch, die er nicht
verstand, und auf die er infolgedessen keine Antwort geben konnte. Ohne sich zu besinnen,
zieht der französischer Offizier seinen Revolver, schießt ihn über den Haufen und reitet
befriedigt weiter. Kann man sich eine wahnsinnigere Kriegspsychose denken?
Die Gefangenen wurden zunächst in einem engen, mit Stacheldraht umzäunten Raum auf
offenem Felde zusammengepfercht und dort 24 Stunden belassen, ohne das ihnen Gelegenheit
gegeben war, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. In welchem Zustand sich schließlich die armen
Gefangenen befanden, kann sich jeder selbst ausmalen. Hass, tierische Wut und Revanche,
dass sind drei Begriffe, die den Franzosen gegen die deutsche Nation in höchster Potenz eigen
sind. Aus den geringsten Anlässen erhielten die Gefangenen ‘prison’ bei Wasser und Brot.
Mit Vorliebe bestraften sie dieselben in echt sadistischer Art, indem die aus der Heimat
geschickten Päckchen oder Pakete vor den Augen der Empfänger geöffnet, der Inhalt
ungenießbar gemacht – z.B. Tabak wurde mit Zucker oder Salz bestreut – und in diesem
Zustand den Gefangenen ausgehändigt wurden.
Rudi wurde öfters zum Fouragieren in die Stadt geschickt, selbstverständlich unter strenger
Bewachung. Hierbei konnte er feststellen, wie tief der Hass bei der ganzen Bevölkerung
eingefleischt war. Selbst fein gekleidete Damen entblödeten sich nicht, den Gefangenen die
Zunge auszustrecken, sie anzuspucken und ihnen Schimpfworte zuzurufen. Am
niederdrückendsten empfand aber Rudi, dass selbst die kleinen Kinder vor ihnen scheu im
weiten Bogen auswichen, als wenn sie sich vor einem wilden Tier fürchteten.
Die Zeit der Gefangenschaft wurde übrigens nicht ganz nutzlos verbracht. Die akademischen
Kreise schlossen sich in den einzelnen Lagern zusammen, organisierten alle möglichen
Schulungskurse, veranstalteten fachliche und allgemeine wissenschaftliche Vorträge und
brachten so eine willkommene Ablenkung und Abwechslung in die düstere Atmosphäre der
Gefangenschaft. Zeitweise genoss Rudi noch allerlei kleine Vergünstigungen dadurch, dass er
dem franz. Lagerkommandanten als Dolmetscher und Rechnungsführer diente, wofür ihm
eine besonderer Arbeitsraum und eine abgesonderte Lagerstätte und Abendbeleuchtung
zugute kam. Einen einzigen franz. Lageroffizier hat Rudi in den 4½ Jahren der
Gefangenschaft bei dem häufigen Lagerwechsel erlebt, von dem er wegen seines Verhaltens
zu den Gefangenen des Lobes voll war, weil er sich in mustergültiger Weise durch
menschenfreundliche und wohlwollende Behandlung der seiner Obhut anvertrauten
Kriegsgefangenen auszeichnete. Woher der weiße Rabe? Die Erklärung lag nicht fern, denn
der Besagte hatte einige Jahre in deutscher Gefangenschaft zubringen müssen, wo ihm am
eigenen Körper zum Bewusstsein gekommen war, dass man Kriegsgefangene nicht als Feinde
peinigen, sonder als hilflose Menschen behandeln sollte.
Noch ein Wort über die Latrinenverhältnisse in den Gefangenenlagern, welche nach Rudi’s
Angaben jeder Beschreibung spotteten. In dem Schlafraum, wo Hunderte von Gefangenen
schliefen, war eine offene Tonne zur Aufnahme aller Fäkalien aufgestellt. Pfui Teufel kann
man da nur sagen! Aber der Franzose, der sich so gern als ‘grande nation’ brüstet und sich als
erster Kulturträger spreizt, nimmt ganz bestimmt nicht in Sachen körperlicher Reinheit und in
sanitärer sowie hygienischer Beziehung unter den europäischen Völkern den ersten Platz ein.
Es sei hier nur daran erinnert, dass selbst in den vornehmsten franz. Schlössern damals die
Aborte nicht einmal eine Sitzgelegenheit sonder als Ersatz dafür nur eine eiserne Stange
aufwiesen.
Unsere Reisen während des Krieges nach Holland
Im Laufe des Krieges besuchten wir fast jedes Jahr unsere Kinder Cilli und Alex in Holland.
Zu Kriegsbeginn schloss sich Holland hermetisch gegen Deutschland ab, jeder Personen- und
Postverkehr war wochenlang unterbrochen, und man kann sich die Sorgen vorstellen, die sich
Cilli in jener Zeit um uns machte, wenn sie in den holländischen Zeitungen von dem Einfall
der Russen im Osten las. Allmählich kam der Verkehr wieder in Gang, aber die
Grenzrevisionen waren wenig angenehmer Natur. Männlein und Weiblein mussten sich
ausnahmslos in Isolierzellen wegen etwaiger Spionagedienste am Körper untersuchen lassen.
Man untersuchte den Tascheninhalt und tastete den Körper nach allen Richtungen ab.
Verdächtige Personen mussten sich ganz ausziehen und wurden von Kopf bis zu den Füssen
peinlichst untersucht. Die Spionage ist aber auch in tollster Weise betrieben worden, worüber
man an der Grenze die sonderbarste Dinge hörte. Da sollen sich auffallend umfangreiche
weibliche Busen als Schlupfwinkel für Brieftauben entpuppt haben. Die Mitnahme von
Zeitungen, Drucksachen, Briefschaften war strengstens untersagt, selbst Visitenkarten nahm
man uns ab, und als meine Frau einmal einen Hut in einer Tüte mitnahm, musste letztere auch
zurückgelassen werden, weil auf ihr der Name der Hutfirma gedruckt war. Die Spione
bedienten sich der pfiffigsten Kniffe, um Nachrichten dem Feinde zuzutragen. Briefe
beförderten sie zwischen den Schuhsolen, ja sie ließen sich auf den bloßen Körper, auf Brust
oder Rücken, Nachrichten mit unsichtbare Tinte schreiben, die dann am Ziel mit chemischen
Stoffen leserlich gemacht wurden.
Holland mobilisierte sofort die Armee und warf längs der deutschen Grenze Schützengräbern
aus, die während des ganzen Krieges besetzt blieben, so dass auch Holland finanziell durch
den Weltkrieg schwer zu leiden gehabt hat. Volk und Staat haben von jeher das größte
Misstrauen gehegt, dass Deutschland bei der ersten Gelegenheit das Ländchen annektieren
würde, woraus wohl die übertriebene Vorsicht zu verstehen ist, wenngleich die vom
deutschen Standpunkt keine Berechtigung hatte, denn Deutschland hat nie diese Absicht
gehabt, schon weil es ein politischer Missgriff ohne gleichen wäre.
Bei unserem Aufenthalt daselbst merkten wir deutlich zwei getrennte Lager, die der pro- und
antideutschen, die sich ab und zu recht kräftig in die Haare gerieten. England suchte die
holländische Wirtschaft mit brutalster Macht zu terrorisieren, schuf eine Organisation, die
NOT, die einen Zusammenschluss des Handels bezweckte, welche jegliche
Geschäftsverbindung mit dem deutschen Handel boykottieren musste. Alle Firmen, die mit
Deutschland Handel trieben, kamen auf die schwarze Liste und wurden aufs schärfste
bekämpft. Echt englischer imperialistischer Krämergeist! Ganz Holland wimmelte von
britischen Spionen und Aufpassern. Eines Abends saß ich in ’s-Bosch mit meinem Schwager
Karl Lamers und einigen Bekannten im Bierrestaurant Lohengrin. Wir unterhielten uns
natürlich über die Kriegslage und als ich über die Franzosen und Engländer herfiel, raunte mir
mein Schwager geheimnisvoll ins Ohr: ‘Vorsicht, am Nebentisch sitzt ein englischer Spion,
der aufmerksam unserer Unterhaltung zuhört.’
Persönlichen deutschfeindlichen Verunglimpfungen sind wir in Holland kaum ausgesetzt
gewesen. Nur eines Nachmittags begegnete meiner Frau, Tochter und mir in einer engen
Gasse ein Belgier, der, als er uns deutsch sprechen hörte, sich nach uns umdrehte und
wutschnaubend rief: ‘boches, boches!’ Aber die Strafe folgte auf dem Fuße nach, denn in
seiner Wut lief er gegen ein Baugerüst, so dass ihm der Hut vom Kopf flog. Unser
Schwiegersohn gab ihn in einem humoristischen Zeitungsartikel der öffentlichen
Lächerlichkeit preis.
Durch das schnelle Vorrücken unserer Truppen in Belgien waren tausende belg. Familien mit
Kind und Kegel nach Holland geflüchtet, wo sie in großzügigster und menschenfreundlichster
Weise Aufnahme fanden. Sie brachten allerlei Kriegsgreuelmärchen über die deutschen
Soldaten mit. Da sollten die ‘boches’ als wilde Hunnen und Barbaren bei ihnen zu Hause
gewütet haben, sie hätten sich an den Burgundervorräten der Belgier sinnlos betrunken und
dann ein förmliches Blutbad unter der wehrlosen Bevölkerung angerichtet, Greise, kleine
Kinder und wehrlose Frauen hin ermordet oder auf grauenhafte Weise durch Abschneiden
von Nase und Ohren, Herausreißen der Zunge und Ähnliches verstümmelt und ihre
Behausungen niedergebrannt. Die Leutchen verschwiegen aber sorgsam, dass sie und ihre
Frauen die kämpfenden deutschen Truppen aus dem Hinterhalt beschossen oder mit heißem
Wasser und Öl begossen und davon nicht abließen, trotzdem die deutsche Heeresleitung
schärfste Maßnahme ankündigte, wenn die Zivilbevölkerung sich irgendwie weiter am Kampf
beteilige.
Die Greuelmärchen fanden anfangs bei den Holländern viel Glauben und erweckte im ganzen
Volke größte Empörung, die aber nicht lange andauerte, denn die Wahrheit kam schließlich
doch ans Licht, ja die Empörung wandte sich bald gegen die belg. Flüchtlinge, welche in
ihren Ansprüchen keine Grenzen kannten und noch nicht einmal ein Wort des Dankens beim
Abschied fanden, wo sie wochen- und monatelang auf Kosten der Holländer gelebt hatten. Ich
habe selbst gesehen, wie anmaßend belgische Jünglinge sich auf den Straßen und Promenaden
der Stadt betrugen. Sie fuhren in großen Trupps auf ihre Rädern in rasender Fahrt dahin, und
wer nicht zeitig auswich oder zur Seite sprang, kam in Gefahr, angerempelt zu werden. Zum
Ärger der Holländer beherrschten sie Straße und Verkehr. Ich fand ihr Benehmen als
geduldete Gäste im fremden Land auf Höchste ungebührlich.
Zustände im Innern während des Krieges
Als der Weltkrieg sich in die Länge zog, trat in Deutschland eine Verknappung von
Lebensmitteln und lebensnotwendigen Stoffen ein, die sich im Laufe des Zeit katastrophal
auswirkte. Alle Nahrungsmittel wurden rationiert, d.h. es wurden von der Regierung Brot-,
Butter-, Fett-, Fleisch-, Mehl-, Milch-, Kartoffel- etc. Karten ausgegeben, die für einen
bestimmten Zeitraum bestimmte Mengen pro Kopf oder Haushalt verzeichneten. Nur unter
Angabe solcher Karten durften die Geschäfte bei Vermeidung hoher Strafen die betreffenden
Nahrungsmittel verabreichen. Das Jahr 1917 stand vornehmlich im Zeichen dieser
Verknappung. Aus dieser Zeit liegen mir noch verschiedene Karten vor. Nach meinen
Kriegsnotizen gestaltete sich die Rationierung der Lebensmittel in Deutschland im Frühjahr
1917 wie folgt: 250 gr. Fleisch pro Kopf und Woche, 4/7 Pfd. Kartoffeln pro Kopf täglich, 60
gr. Butter pro Kopf und Woche, 750 gr. Zucker pro Kopf und Monat.
Man kann sich vorstellen, wie die gesamte Bevölkerung die Lebensmittelgeschäfte bestürmte,
um die winzigen Mengen auf ihren Karten zu erhaschen. In langen Schlangen standen sie
‘Polonaise’ auf der Straße in Wind und Wetter und mussten stundenlang warten, ehe sie an
die Reihe kamen. Hausfrauen wissen ein böses Lied davon zu singen. Jede Kulanz war
verschwunden, denn die Kaufleute brauchten sich ja nicht um die Gunst des Publikums zu
bemühen, da sie ja um den Absatz ihrer Vorräte keine Sorgen hatten. Die Damen wurden
angeschnauzt wie die Rekruten auf dem Kasernenhof. Besonders taten sich darin die Fleischer
hervor, die ja auch den stärksten Ansturm auszuhalten hatten. Es war naheliegend, dass die
Bevölkerung auf alle denkbare Arte und auf Umwegen versuchte, sich zu versorgen. Auf dem
Lande war die Not weniger groß, bei den Bauern und kleinen Landwirten war noch allerlei zu
haben, was durch Geld und gute Worte losgeeist werden konnte, wie z.B. Eier, Milch, Butter,
Speck, Würste usw. Man schloss Freundschaften mit solchen Leuten und knüpfte, wie man
sich damals ausdrückte, ‘Konnexionen nach unten’ an. Solche Streifzüge aufs Land suchte die
hohe Obrigkeit natürlich nach Möglichkeit zu unterbinden. Gendarmen patrouillierten auf
Landstraßen, an den städtischen Einfallstoren, in den Eisenbahnzügen und interessierten sich
besonders für prallgefüllte Rucksäcke, und manches Pfund Butter oder dergl. verfiel zum
Ärger der eifrigen Sammler der Beschlagnahme. Anerkennend muss ich hier hervorheben,
dass die mir unterstellten Förster viel dazu beigetragen haben, unsere Notlage in der Stadt zu
erleichtern. Wie groß letztere war, möge man zum Illustration daraus ersehen, dass meine
Frau lange Zeit mehrmals in der Woche einen Marsch von 1½ Stunden zurücklegte um etwa
zwei Liter Milch heimzubringen. Die schlimmste Zeit nannte man die ‘Wrucken- oder
Steckrübenzeit’, es war damals die einzige landwirtschaftliche Frucht, die noch zu haben war,
und alle Gerichte waren auf Wrucken abgestellt. Man bezeichnete auch jene Periode als die
‘Marmeladenzeit’. Wegen Mangel an Butter und Fett wurde der größte Teil der Obsternte zu
Marmelade verarbeitet, die damals sozusagen zum täglichen Brot gehörte. In diese Notzeit
fiel eine unserer Hollandreisen, die uns ungeahnte Genüsse kulinarischer Art brachte. Mein
Schwager, der Arzt August Lamers, hatte sich gerade mit Lien Hoogveld verlobt und aus
diesem Anlass war es uns vergönnt, mehrer feine Familiendiners mitzumachen und in allerlei
Delikatessen zu schwelgen, welche wir uns schon lange verkneifen mussten. Meine Frau und
ich hatten uns vorher verabredet, nichts von unserer gegenwärtigen Ernährungsnot schon aus
politischen Gründen merken zu lassen, aber ich glaube annehmen zu dürfen, dass es uns nicht
vollends geglückt ist, denn wir haben an den vielen Leckerbissen und Torten mit Schlagsahne
einen Appetit entwickelt, welcher der Aufmerksamkeit unserer Verwandten kaum entgehen
konnte und gewisse Rückschläge auf unsern ausgehungerten Zustand zuließ.
Auf die Dauer machte sich der mangelhafte Ernährungszustand der Bevölkerung deutlich
bemerkbar. Die Widerstandskraft gegen Erkrankungen nahm sichtbar ab, so traten infektiöse
Erkältungen in Gestalt von Grippe und Influenza viel verheerender auf als in normalen Zeiten
und forderten zahlreiche Todesopfer. Im Frühjahr 1917 trat in Bromberg sowie in anderen
Gegenden eine Art Lungengrippe in geradezu beängstigender Weise auf. Sie befiel
ausschließlich das weibliche Geschlecht und zwar nur im Alter von 30 und 40 Jahren. Die
Erkrankungen verliefen meist tödlich, und wochenlang konnte man in den Zeitungen täglich
drei, vier oder mehr Todesanzeigen dieser Art lesen. Die eifrigen Bierologen mit ihren dicken
Schmerbäuchen und aufgeschwemmten Körper reagierten auf die eingeschränkte
Nahrungszufuhr und veränderte Lebensweise am meisten, zumal das Bier immer wässeriger
und weniger nahrhaft wurde. Sie magerten bis zum Skelett ab und mancher von ihnen musste
ins Gras beißen, dessen Herz den Wandel nicht aushielt.
Auch bei vielen Gebrauchsgegenständen trat allmählich empfindlicher Mangel ein, aber der
deutsche Erfindergeist wusste Rat. Wo die Rohstoffe fehlten, schaffte man bald Ersatz. Leder
wurde durch Kunstleder ersetzt, der Rohgummi durch synthetisch erzeugten Kunstgummi, die
Bindfäden fertigte man aus Papier und ersetzte aus letzterem Stoff auch die leinenen Säcke.
Auch auf dem Gebiete der Nahrungsmittel schaffte man allerlei Ersatz, so gab's Kunsthonig,
Fleischersatz in Pastenform und vieles Andere. Die meisten Ersatzgegenstände verschwanden
aber bald nach dem Kriege, weil sie doch keinen vollen Ersatz bieten konnten, nur die
papieren Säcken haben ihre Daseinsberechtigung nicht ganz verloren denn sie werden heute
noch viel für den Transport von Kunstdüngerstoffen etc. verwendet. Ganz neuerdings scheint
die Herstellung von synthetischem Gummi gelungen zu sein, der allen Anforderungen
genügen soll, nachdem die Reichsbahn und die Reichspost ihn auf seine Brauchbarkeit
erprobt haben. Das wird eine völlige Umwälzung in der überseeischen Gummierzeugung
hervorrufen.
Meine Dienstobliegenheiten während des Krieges
Während des Krieges nahmen meine Dienstobliegenheiten eine andere Gestaltung. Schon
bald wurde der Kollege Reg. und Forstrat Hitschhold als Adjutant des in Bromberg
stationierten Bezirksgenerals Krause zum Militärdienst einberufen. Seine Vertretung fiel mir
zur Last, wodurch mein Inspektionsbezirk um acht Oberförstereien: Selgenau, Grabau,
Podanin, Hollweg, Schönlanke, Behle, Dratzig und Notwendig, die alle im westlichen Teil
des Regierungsbezirks Brombergs lagen, vergrößert wurde. Zu dieser großen Belastung kam
noch, dass ein Teil der Oberförster und Förster zur Fahne einberufen waren, für deren
Vertretung gesorgt werden musste. Wenn auch die Verwaltungsgeschäfte sich durch
Einstellung der Ankaufspolitik vereinfachten, so trat auf der anderen Seite in der eigentlichen
Bewirtschaffung des Forsten eine völlige Umkehr ein, die viel Arbeit verursachte. Der
Mangel an Waldarbeitern musste durch russische Kriegsgefangene ersetzt werden, für welche
Baracken zu errichten waren. Die ganze Forstwirtschaft wurde auf die Kriegsnotwendigkeiten
umgestellt. Das Sammeln von getrocknetem Futterreisig nahm großen Umfang an, er wurde
als Ersatz der immer mehr mangelnden Heues als Pferdefutter benutzt. Um der großen
Knappheit an Harz, das in der Wirtschaft unentbehrlich war, abzuhelfen, wurden alle dazu
geeigneten alten Kieferbestände auf Harzgewinnung angezapft. Der öffentliche Verkauf von
Handelshölzern musste einer planmäßigen Verteilung an kriegsliefernde Holzfirmen zu
festgesetzten Preisen weichen. Das Alles verursachte einen Wust von Erlassungen und
Verordnungen, für deren ordentliche Durchführung in erster Linie der Reg.- und Forstrat
verantwortlich war. Die Hauptarbeit bestand darin, dass ich von Oberförsterei zu
Oberförsterei reiste, um dem ganzen Forstbeamtenapparat die notwendigen Anweisungen zu
erteilen. Für zur Fahne eingezogenen Oberförster übernahm in der Regel der älteste
Hegemeister die Vertretung. Hier war die Tätigkeit des Forstrates besonders mühselig, weil
die Vertreter in den Verwaltungsgeschäften nicht geschult waren und in den geringfügigsten
Dingen nicht der fortlaufenden Anleitung entbehren konnten. Aber jeder tat sein Bestes, und
sind irgendwelche bemerkenswerte Betriebsstörungen nicht vorgekommen.
Gegen Ende der Kriegszeit ereignete sich in der mir unterstellenden Oberförsterei Strehlitz
ein tragischer Fall, der die ganze Bevölkerung tief erschütterte. Es war die Ermordung des
Oberförsters Menz am helllichten Tage. Unter großer Beteiligung bestatteten wir den braven
Kollegen an einer Stelle in seinem Waldrevier, die er schon bei Lebzeiten dafür ausersehen
hatte. Der Oberförster Mentz war in der Frühjahrskulturzeit eines Morgens in den Wald
geritten, um die im Gange befindlichen Kulturen zu kontrollieren. Bei dieser Gelegenheit fiel
unweit der Kulturstätte, auf die er sich gerade befand, ein Schuss, welcher ihm und dem
anwesenden Förster verdächtig vorkam. Der Oberförster entschloss sich kurzerhand, auf den
Schuss zuzureiten und Näheres festzustellen. Einige Jagen weiter traf er die aus einigen
Stücken Rindvieh und Ziegen bestehende Heerde des Forsters an, welche ein kleiner etwa
zehnjähriger Junge im Walde weitete. In nächster Nähe stand ein mit einer Flinte bewaffneter
Mann, der bereits eine Ziege erschossen hatte und sich anschickte sein unsauberes Handwerk
fortzusetzen. Als der Oberförster die Situation erkannte, sprang er vom Pferde, um den Kerl
zur Rede zu stellen. Dieser wurde rabiat, ging in Anschlag und schoss auf den Oberförster,
wobei er ihm einen Finger zerschmetterte. Der Oberförster hatte in höchst unvorsichtiger
Weise versäumt, auf seinem Revierritt Gewehr oder Revolver mitzunehmen und stand dem
Raubschützen wehrlos gegenüber. Er vermochte noch Deckung hinter einer Kiefer zu nehmen
und wollte versuchen, im passenden Moment dem Kerl an die Gurgel zu springen. Das
missglückte aber und in geringer Entfernung ereilte ihn ein tödlicher Schuss. Der Bursche
wurde bald festgemacht, aber befremdenderweise nicht zum Tode sondern nur zu langjähriger
Zuchthausstrafe verurteilt.
Ungefähr um dieselbe Zeit wurde in der benachbarten Tuchlerheide Reg.Bez. Marienwerder
ein Oberförster Coß beim zufälligen Zusammentreffen mit einem Wilderer am hellen Tage
erschossen. Ich erwähne diese Fälle um ein Bild von den damaligen Zuständen zu skizzieren.
Der lange Kriegszustand hatte eine gewisse Schießpsychose entfacht, das Hantieren mit
harmlosen Knallkörpern aber auch mit weniger harmlosen Handgranaten u.dgl. war in den
Stunden der Dämmerung und nächtlichen Dunkelheit sozusagen an der Tagesordnung.
Taugenichts und Tagediebe hielten sich berufen, die rauen Sitten des Krieges auf die inneren
Zustände des Landes zu übertragen.
Waffenstillstand und Friedensdiktat von Versailles
Nachdem Deutschland am 1. Febr. 1917 unter dem Zwange des äußersten Not den
unbeschränkten U-Bootkrieg eröffnete, erklärten die Vereinigten Staaten von Amerika unter
ihrem Präsidenten Wilson am 6. April 1917 den Kriegszustand mit Deutschland. Nun war fast
die ganze Welt zum Kampf gegen die Mittelmächte aufgerufen, und die Aussichten, siegreich
aus ihm hervorzugehen, sanken für Deutschland immer mehr. Kein Wunder, dass sich auf
unserer Seite trotz der die ganze Welt in Staunen versetzenden unerhörten militärischen
Erfolge an unser West- und Ostfont, in Italien, Rumänien, Türkei eine gewisse
Friedensbereitschaft einstellte, und als der Präsident Wilson am 8. Januar 1918 mit seinen 14
Punkten als Friedensprogramm herauskam, erklärten sich Deutschland und Österreich alsbald
bereit, auf dieser Grundlage in Friedensverhandlungen einzutreten. Aber die Entente, vor
allem Frankreich, hatte härteres mit uns vor als Wilson. Dort hieß die Parole in Abänderung
eines lateinischen Zitates: ‘Ceterum censeo, Germaniam esse delendam’. Wenn ich hier etwas
näher auf die geschichtlichen Ereignisse eingehe, so geschieht es deshalb, um meinen jungen
Nachkommen, denen die inneren Zusammenhänge des Weltkrieges fremd sind, an meiner
eigenen Beurteilung der persönlich erlebten Tatsachen zu zeigen, in welch schmachvoller,
ehrloser und entwürdigender Weise Deutschland vollständig zu Boden gedrückt werden
sollte. Die Figur, welche Wilson in den Friedensverhandlungen spielte, war so überaus
kläglich, dass ich es mir nicht versagen kann, hier das Urteil wiederzugeben, welches der
angesehene politische Schriftsteller Volkmann in seinem Buche Revolution über Deutschland
über seine Rolle als Friedensvermittler gefällt hat. In dem betreffenden Abschnitt heißt es:
‘Am 13. Dezember 1918 landet Präsident Wilson in Brest mit Staatssekretär Lansing,
der vor der Reise gewarnt hat. Als Triumphator zieht er in Paris, London und Rom ein.
Er wird aber von Clemenceau so eingewickelt, dass seine 14 Punkte, die Deutschland in
einer feierlichen Note als Grundlage für einen Friedensvertrag am 10. November 1918
ausdrücklich anerkannt hatte, vollständig unter den Tisch fallen. Lloyd George will
einen vernünftigen Frieden, wird aber auch von der Blutgier Clemenceau’s überrannt.
Wilson verzagt ganz, will nach Muttern und bestellt sein Schiff George Washington zur
Heimfahrt. Drüben aber dekretiert man, er müsse durchhalten. Wilson will erst den
Völkerbund, dann Friedensbehandlung, Clemenceau umgekehrt, ihm liegt nichts am
Völkerbund, die Abreise Wilson’s flösst ihm Schrecken ein, er verzichtet auf Abtretung
des Rheinlandes und gibt Zusicherung zum Völkerbund.’
Am 29. April 1919 trifft die deutsche Friedensdelegation unter Führung des Grafen Brockdorf
in Paris ein, Oberst Henri nimmt sie in Empfang. Die deutsche Delegation sitzt vier Tage im
Hotel, ohne dass man sie ruft, weil erst ein großer Stank in der Entente ausgetragen werden
muss. Am 7. Mai werden die Friedensbedingungen überreicht, und am 23. Juni 1919 nach
Vielem hin und her der Friedensvertrag deutscherseits unterzeichnet. Hindenburg legt an
demselben Tage den Oberbefehl nieder. Deutschland konnte sich nach Allem auf härteste
Friedensbedingungen gefasst machen, es hatte den Krieg verloren und musste
selbstverständlich Opfer schwerster Art bringen, das war das unbestrittene Recht der Sieger.
Aber was der Friedensvertrag von Versailles brache, war ein Monstrum ohne gleichen,
welches in der Weltgeschichte kein zweites Bild kennt. Es ist ein einziger sinnloser
Wutausbruch des französischen Revanchegedankens und die zügellose Konkurrenzgier
Englands, eingekleidet in unglaublichen Entwürdigungen des deutschen Volkes, die auch
nicht das Geringste mit der Großmut eines Siegers zu tun haben. Verdiente Heerführer sollten
als ‘Kriegsverbrecher’ an Frankreich zur Aburteilung ausgeliefert werden. Deutschland wurde
unter Androhung äußerster Gewalt gezwungen, die alleinige Schuld am Weltkrieg
anzuerkennen (darin steckte die französische Revanche). Deutschland wurde als unfähig
erklärt Kolonien zu verwalten, also fort mit ihnen und ad saccum der Entente Auslieferung
der deutschen Kriegsflotte (beides zur Sicherung der englischen Weltherrschaft). Wie ein
roter Faden zieht sich durch den ganzen Schmachvertrag ein förmliches Bündel gemeinster
menschlicher Leidenschaften. In maßloser Weise ist da Hass mit Hohn, Unrecht mit
Erniedrigung, Unersättlichkeit mit Hochmut und Wahnsinn mit politischer Kurzsichtigkeit
gepaart. Jeder deutsche Junge muss einmal den ganzen Text des Schmachfriedens gelesen
haben damit ihn die gerechte innere Wut erfasst, und er niemals vergisst, welche bodenlose
und abgrundtiefe Erniedrigung sein Vaterland erdulden musste. Der Vertrag umfasste nicht
weniger als 240 Druckseiten. Er wird bei aufmerksamer Durchsicht feststellen können, dass
fast jede Seite unerfüllbare Forderungen enthält, welche Deutschland zum Weißbluten führen
sollte.
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