Politikdidaktische Hermeneutik - Pädagogische Hochschule Freiburg

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Politikdidaktische Hermeneutik
Potenziale empirischer Unterrichtsforschung
Hans-Werner Kuhn
„Würde mich gerne verstehen.
Aber weiß nicht, wie das geht.
Der Grundriss ist weg ...
(Unbewohnt – Herbert Grönemeyer, CD Mensch 2002)
Vorbemerkung
Der folgende Beitrag lässt sich als Suche nach dem „Grundriss“ verstehen. Diese Suche
beginnt bei den ersten Entwürfen, einzelnen Räumen und Stockwerken, die schließlich das
Konzept der „politikdidaktischen Hermeneutik“ bilden. Auch wenn es immer noch eine Baustelle ist, werden Potenziale deutlich. Die zentralen Grundbegriffe des Beitrags werden implizit entwickelt: dazu zählen die Hermeneutik1 ebenso wie das Verständnis von Fachdidaktik2
und das von Unterrichtsforschung.3 Allerdings kann das im Titel des Beitrags angesprochene
„Potenzial“ kurz charakterisiert werden. Potenz meint im Lateinischen: Macht, nach Fremdwörterbuch: Möglichkeit, Mächtigkeit, Kraft, philosophisch: das einem Gegenstand innewohnende Vermögen, seine Kraft, Veranlagung, medizinisch: die Zeugungsfähigkeit des Mannes;
Potentialität meint: die latente Wirkungskraft, potenziell: möglich, im Gegensatz zu wirklich,
der Möglichkeit, Fähigkeit nach.4
Damit stellt sich die Frage, was leistet das Konzept? Was sind seine Potenziale? Bringt es
diese in die Fachdiskussion ein?
Bestandsaufnahmen
Mittlerweile existieren eine Reihe von Überblicksartikeln zum Stand der empirischen Unterrichtsforschung im Lernfeld Politik.5 Im Folgenden sollen aus einer Bestandsaufnahme einige
1
Vgl. Hans-Georg Gadamer (1968) , Klassische und philosophische Hermeneutik, in: Gadamer-Lesebuch,
hrsg. v. Jean Grondin, Tübingen 1997, 32-57; vgl. Hans-Georg Gadamer (1999), Wahrheit und Methode.
Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, 7. Aufl.
2
Vgl. Peter Massing, Politikdidaktik, in: Georg Weißeno u.a. (Hrsg.): Wörterbuch Politische Bildung, Schwalbach/Ts. 2007, S. 290-299.
3
Vgl. Carla Schelle, Unterrichtsforschung, in: Georg Weißeno u.a. (Hrsg.): Wörterbuch Politische Bildung,
Schwalbach/Ts. 2007, S.377-386.
4
Vgl. Richard von Kienle, Fremdwörterbuch, Gütersloh (o.J.).
5
Vgl. Peter Henkenborg, Empirische Forschung zur politischen Bildung – Methoden und Ergebnisse, in: Wolfgang Sander (Hrsg.): Handbuch politische Bildung, 3. Aufl., Schwalbach/Ts. 2006, S. 48-61; vgl. Tilmann
1
Merkmale und Defizite herausgefiltert werden, um diese als potenzielle Basis des eigenen
Ansatzes der „politikdidaktischen Hermeneutik“ zu sichten. Allgemein gilt, dass interpretative Fachunterrichtsforschung ganz unterschiedliche Dokumente untersucht: Praktikumsberichte, Notizen, Wortprotokolle, Videodaten usw. Das geeignete Material nennt Grammes „gute
Unterrichtsreportagen“, die sich durch folgende Kriterien auszeichnen:
-
„Phänomennähe der Darstellung (…)
Wie ist das Verhältnis von Deskription (Bericht) und Wertungen (Adjektive)?
Sind die Auswahlkriterien für die Darstellung (knapp/ausführlich) transparent?
Werden Lerndynamiken durch aussagekräftige Standfotos visualisiert?
Sind Unterrichtsmaterialien, Tafelbilder und Schülerarbeitsergebnisse dokumentiert?
Wird die Lerngruppe homogen oder differenziert beschrieben (Unterscheidung Jungen/Mädchen, Herkunft, Alter, Leistungsniveau …)?
Wird ein Lehr-Lern-Kurzschluss vermieden? Welche Indikatoren für die Bewertung
des Erfolges des Lernprozesses werden genannt?
Werden mehrere Reflexionsebenen einbezogen (…)?“.6
Grammes weist in seinem Überblicksartikel auf aktuelle Grenzen empirischer Unterrichtsforschung hin:
-
„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die meisten qualitativen Arbeiten der explorativen Forschung zuzurechnen. (…)
Einzelfallstudien (Kasuistik) dominieren vor aufwendigeren Vergleichsstudien und
Langzeitbeobachtungen …
Noch zu wenige Studien fokussieren auf Lernen und Entwicklung in individuellen
Bildungsgängen (Einzelfallstudien zu Lernerbiographien)“.
Daraus folgert er einige Merkmale eines „innovativen Forschungsdesigns“:
-
„Replikationsstudien (Wiederholungsstudien) stiften eine bessere Kohärenz der disparaten Ergebnisse;
Hintergrundtheorien und normative Vorannahmen werden sorgfältig dargelegt;
internationaler und interkultureller Vergleich;
Reflexion des Verhältnis von Fachlichkeit des Lernens und fächerübergreifenden
Rahmungen;
Berücksichtigung der Tatsache, dass Lernen in institutionellen Kontexten stattfindet
…
Kombination qualitativer mit quantitativen Methoden und Langzeitbeobachtungen;
Auch handlungsorientierte Unterrichtsformen werden kritisch auf ihre Wirkungen hin
überprüft (…)“.7
Diese Merkmale lassen sich als Kriterien kritisch an mein Konzept anlegen. Ich werde im
Folgenden etwa zehn verschiedene Projekte und Veröffentlichungen knapp skizzieren und
Grammes, Interpretative Fachunterrichtsforschung, in: Dirk Lange/Volker Reinhardt (Hrsg.), Basiswissen Politische Bildung, Bd. 4, Forschung und Bildungsbedingungen, Hohengehren, S. 39-49.
6
Grammes, S. 47.
7
Ebd., S. 48.
2
dabei einem zentralen hermeneutischen Prinzip folgen: der jeweilige Kontext wird beschrieben und die zentralen Ergebnisse werden anhand von Originalzitaten genannt.
Kurzbiographie
Die Vorgabe zur Tagung, das eigene Konzept vorzustellen8, hat einen Reflexionsprozess ausgelöst, der zu einer Bestandsaufnahme bisheriger Arbeiten auf dem Feld der Unterrichtsforschung geführt hat. Sie lässt sich als „Kurzbiographie“ darstellen und umfasst folgende Phasen:
Die Geburt findet 1988 in Berlin statt, genauer am OSI (Otto-Suhr-Institut): Mit dem Aufsatz
„Unpolitischer Politikunterricht“ (mit Tilman Grammes) (Beispiel 1) wird ein Kernproblem
unseres Faches empirisch thematisiert: eine Unterrichtsstunde zum Thema „Ausmaß und Bedeutung der neuen Jugendbewegung“ wird auf der Basis einer Videodokumentation (in der
Lehrerfortbildung von Peter Massing und Werner Skuhr entstanden), eines Transkriptes und
einer fachdidaktischen Analyse, die am dreidimensionalen Politikbegriff9 orientiert ist, dargestellt. Bereits damals musste ich den Lehrer überzeugen bzw. überreden, die Zustimmung zur
Veröffentlichung der Analyse zu geben. Dies verweist auf die forschungsethische Dimension
empirischer Unterrichtsforschung.
Vor der Geburt findet normalerweise die Zeugung statt; sie bleibt hier (graphisch) im Dunkeln, lässt sich aber aus dem produktiven Klima am OSI erklären: Werner Skuhr und Peter
Massing hatten das Projekt „CULT“ entwickelt, wohl an einem sonnigen Sonntag im Garten,
Tilman Grammes und ich beteiligten uns daran. CULT steht für „Curriculum Lehrertraining“.
In der Politiklehrerausbildung arbeiteten wir mit Videoaufzeichnungen (deshalb Training),
wir entwarfen Microteaching-Skills und testeten die Interaktionsanalyse nach Flanders. Das
war noch reichlich behavioristisch gedacht und führte schnell in eine Sackgasse. Mein Doktorvater Josef Derbolav (Universität Bonn) würde von Reduktionismen und Verkürzungen
sprechen. Auch der Zusammenhang von „Bildung“ und „Training“ erscheint problematisch,
obwohl es einen qualitativen Umschlag vom einen zum anderen geben kann. Die Zeugung
war zwar mit viel „Liebe und Leidenschaft“ verbunden, aber doch eher Liebe auf den zweiten
Blick.
Dann folgen Kindheit und Jugend: Wie es in der Erziehung heißt, sind die ersten drei Jahre
entscheidend. Was passierte in dieser Zeit? Hier sind weitere Einzelanalysen zu nennen (Bei„Denn ich möchte nichts abfragen und kein konzeptionelles Korsett anbieten – nach längerem Nachdenken.“
(Einladungsschreiben 2.9.2007, Heinrich Oberreuter)
9
Vgl. Karl Rohe, Politik. Begriffe und Wirklichkeiten, 2. Auflage., Stuttgart 1994.
8
3
spiel 2), aber auch die Anfrage meines japanischen Kollegen Masami Matoba (Universität
Nagoya), der an Videoaufzeichnungen und Transkripten aus dem Politikunterricht interessiert
war. Dadurch fanden sich Transkripte und Fotos aus Berliner Aufzeichnungen in japanischen
Fachzeitschriften wieder. Ein weit reichender Impuls wie sich später zeigte. Als Jugendsünde
kann der Versuch betrachtet werden, die eng perspektivischen Vorverständnisse der Fachkollegen des Arbeitskreises Empirische Fachunterrichtsforschung Politikunterricht in einer Typologie heraus zu arbeiten (Beispiel 3).
In der Phase der Pubertät wurden Grenzen ausgelotet, insofern das fremde und eigene Politikbild am Beispiel einer handlungsorientierten Methode (Talkshow) untersucht wurde; die
erkennbaren Ambivalenzen (zwischen unpolitischem und politischen Unterricht, zwischen
„Show“ und politischer Bildung) galt es auszuhalten (Beispiel 4).
Eine erste Konsolidierung erfolgt dann – im Sinne des Erwachsenwerdens – in der Ausformulierung des eigenen Konzeptes im Spannungsfeld von kategorialem und handlungsorientierten
Politikunterrichts, aber auch in den Namensgebung und der Entfaltung der „politikdidaktischen Hermeneutik“, dies in Abgrenzung zu quantitativen und behavioristischen Konzepten
der Unterrichtsanalyse (Beispiel 5).
In den folgenden Männerjahren bzw. der Reifezeit weiteten sich die Interessen in zwei Richtungen aus: zum einen in den Versuch, mit einem Multimediaprojekt neue Lernwege für die
Lehrerbildung zu erschließen, zum anderen mit der Verdichtung auf Schlüsselszenen, um
individuelle Lernprozesse zur Anbahnung politischer Urteilsbildung zu erschließen. Nicht nur
die Auseinandersetzung mit der Urteilskompetenz als der domainspezifischen Kompetenz
politischen Lernens schlechthin, sondern auch die Entwicklung von innovativen Lernwegen
(u.a. Karikaturen, Zeitungskommentare) verbreiterten die Basis der Unterrichtsforschung hin
zu konstruktiven Lernangeboten.
Der Wechsel des Arbeitsschwerpunktes von den Sekundarstufen I und II zum sozialwissenschaftlichen Sachunterricht der Grundschule lässt sich als Midlife crisis10 charakterisieren,
insofern die bisherigen Grundlagen entwertet und neu befragt werden mussten. Lässt sich der
politikdidaktische Diskurs relativ bruchlos auf die Primarstufe übertragen? Welche Methoden,
Medien, Lernwege und Denkwerkzeuge können genutzt werden? Die fachdidaktische Analyse, aber auch der Vergleich mit Konzepten von Fachkolleginnen, ergaben sowohl Gemeinsamkeiten als auch Besonderheiten (wie den breiten Politikbegriff, das sozialwissenschaftliche Denken, die narrative Lernkultur) (Beispiel 6).
Musiker haben nach einem Interview schon mit Mitte 20 ihre Midlife-Krise („Das Schöne ist, dass Musiker
ihre midlife-crisis bereits mit 25 bekommen.“ Michael Beck von den Fantastischen Vier im Interview in: Der
Sonntag, 18. November 2007, S.20), Politikdidaktiker nach Peter Massing erst mit 60 (Aussage vom 6.12.2007).
10
4
In der Folgezeit wurden zwei weitere Ausweitungen realisiert: zum einen die Frage nach den
Basiskonzepten (Beispiel 7), aber auch die Zwischenbilanz11, beides Impulse von außen. Der
erste stellt eine Sekundäranalyse unter einem spezifischen Fokus dar, der zweite kennzeichnet
mein Konzept mit dem Interviewzitat: „Das methodische Instrumentarium für die Beobachtung des Politikunterrichts liefert die ‚politikdidaktische Hermeneutik‘“.
Den vorläufigen Abschluss findet diese Kurzbiographie in einer Publikation des Freiburger
Arbeitskreises Interpretationswerkstatt. Hier wird fächerübergreifend mit qualitativen Methoden an Transkripten und Videoaufzeichnungen gearbeitet. Die Lupe auf dem Cover des Bandes „Studieren und Forschen“ symbolisiert den genauen fachdidaktischen Blick, der nicht nur
Erfahrung voraussetzt, sondern auch auf einer Metaebene die Arbeitsweise der Werkstatt
selbst zum Thema macht und zugleich als Altersweisheit die Basiskompetenz „Unterricht interpretieren“ als zentral für die Lehrerbildung beschreibt (Kuhn 2004).
Ebenfalls als Bilanz kann der Leitfaden zur fachdidaktischen Unterrichtsanalyse12 angesehen
werden; hier werden zwei Stationen einer fiktiven Schülerbiographie mit dem Fokus der Methodenkompetenz verglichen. Das Spinnennetz auf dem Cover lässt kontroverse Lesarten zu
(Beispiel 8).
In der Zwischenbilanz kann festgehalten werden, dass eine stetige Ausweitung der politikdidaktischen Hermeneutik erfolgte: sowohl in die Breite (Klassen, Themen, Schulstufen, Lehrerbildung, Lehrerfortbildung usw.) als auch in die Tiefe (Fallanalysen, Sekundäranalysen,
Langzeitanalysen, Methodologische Grundlagen). Diese Grundlagen fließen ein in zwei aktuelle Forschungsprojekte: eine Vergleichsstudie und eine Videostudie. Es erfolgt damit eine
Internationalisierung der Unterrichtsforschung (Lesson Studies), eine Anbindung an die aktuelle Kompetenzdiskussion, die Nutzung komplexer Videoanalysesoftware und die distanzierte
Einschätzung gegenwärtiger didaktischer Konzepte (Fächerverbünde) und innovativer Lernstrategien. Diese Phasen der Kurzbiographie werden im Folgenden an konkreten Beispielen
demonstriert.
11
Vgl. Kerstin Pohl (Hrsg.), Positionen der politischen Bildung 1. Ein Interviewbuch zur Politikdidaktik,
Schwalbach/Ts., S. 212-227.
12
Vgl. Dagmar Richter/Carla Schelle (Hrsg.): Politikunterricht evaluieren – ein Leitfaden zur fachdidaktischen
Unterrichtsanalyse, Hohengehren 2006.
5
Beispiele
Beispiel 1: Unpolitischer Politikunterricht13
Kontext: Grundlage bildet eine Unterrichtsstunde zum Thema: „Ausmaß und Bedeutung der
neuen Jugendbewegung“, sie wurde im Rahmen der Lehrerfortbildung an der FU Berlin
durchgeführt. Der Fokus richtete sich auf die Umsetzung vorgegebener Unterrichtsmaterialien. 10. Klasse. Der Aufsatz enthält ein umfangreiches Transkript.
Zitate: In der fachdidaktischen Analyse wird „auf den ersten Blick“ das „Politische“ der
Stunde beschrieben. Dennoch vertreten wir die These, dass es sich um „unpolitischen Politikunterricht“ handelt. „Es gelingt dem Lehrer nicht, die das politische Problem markierenden
Fragen der Schüler aufzugreifen“.14 „Das politische Problem stellt sich komplizierter und radikaler zugleich und diese Auseinandersetzung müsste der Lehrer den Schülern zumuten“.15
Hier wird auf das Instrumentarium des drei-dimensionalen Politikbegriffs verwiesen (polity –
policy – politics16). „Es kommt daher nicht zu einem produktiven Lernprozess ...“.17 Die Verallgemeinerung: „Unsere Berliner Befunde weisen die exemplarisch aufgezeigten Probleme
einer politischen Profilierung von Sozialkundeunterricht als zentrales Defizit auf ... Entsprechende intensive qualitative Unterrichtsanalysen könnten einen wichtigen Beitrag zur fachdidaktischen Grundlagenforschung leisten“.18
Beispiel 2: „Massenmedien“ – Sozialwissenschaftliches Denken am Beispiel einer ersten
Sozialkundestunde (Hembd/Kuhn 1993)19
Kontext: Durch Kontakte zu Berliner Schulen hatten wir Gelegenheit, eine erste Sozialkundestunde an einer Oberschule zu filmen: in einer 7. Klasse wurde das Thema „Massenmedien“
behandelt. Die fachdidaktische Analyse nennt zwei Verfasser: den Fachlehrer und den Fachdidaktiker, ein Versuch, beide Perspektiven in einen produktiven Dialog zu bringen.20 Neben
Transkriptauszügen sind Sitzordnung, die beiden ersten Seiten aus 2 Tageszeitungen als Material und das Tafelbild dokumentiert. Die Auswertung erfolgt als Parallelmontage von Transkript und Kommentar der beiden Verfasser. Im Fokus standen fachdidaktische Aspekte so13
Vgl. Tilmann Grammes/Hans-Werner Kuhn, Unpolitischer Politikunterricht? Versuch einer qualitativen fachdidaktischen Analyse, in: Gegenwartskunde, H.4/1988, S. 490-501.
14
Ebd., S. 496.
15
Ebd., S. 497.
16
Vgl. Rohe.
17
Ebd.
18
Grammes/Kuhn, S. 498.
19
Vgl. Hembd/Kuhn, 1993, S. 52-90.
6
wie die Kommunikationsstruktur. Auch hier bildet die Frage: Handelt es sich um politisches
Lernen? (oder soziales Lernen oder um Lebenshilfe?) den Ausgangspunkt; sie wird durchaus
kontrovers beantwortet.21 Für die Lehrerbildung wird die Arbeit mit Roh-Transkripten vorgeschlagen, auch ein Interpunktionsexperiment (also das Transkript ohne jegliche Zeichen)
wird skizziert22 und weitere Auswertungsstrategien (Video, Lernertypen) angedeutet.
Zitate: „Die zentrale Interpretationshypothese lautet: Es handelt sich in den einzelnen Phasen
des Unterrichts, in den Fragestellungen des Lehrers, in seinen kritischen Kommentaren zu
Schüleräußerungen in erster Linie um die Anbahnung von sozialwissenschaftlichem Denken.
Diese Grundintension steht unter dem Leitmotiv, bei den Schülern einen fachspezifischen
Zugang zu Gegenständen der gesellschaftlichen Wirklichkeit anzulegen.“23
„In diesem Unterricht spielt die Wahrnehmungsschulung eine wichtige Rolle, die sich darin
äußert, dass Inhalt und Form in Beziehung gesetzt werden, dass Vergleiche angestellt, dass
Kategorien auf der Grundlage von vielen einzelnen Aspekten entwickelt werden und dass
Aufgaben einen fiktiven Anwendungsbezug herstellen, der die Lernergebnisse vertieft“. 24
Das Fazit des Fachlehrers: „Der Blick des Lehrers wird immer wieder scharf eingestellt in
Bezug auf das optimal Erreichbare, der Lehrer erwacht mehr oder weniger unsanft aus seiner
Selbstzufriedenheit durch konstruktive Kritik in methodischer und didaktischer Hinsicht, der
Alltagstrott erfährt dadurch eine heilsame Unterbrechung, der Lehrer wird ermahnt und herausgefordert zur prinzipiell ständigen Nachbereitung seines Unterrichts, unbewusstes pädagogisches Handeln wird bewusst gemacht (bei einigen pädagogischen Deutungen meiner Unterrichtsweise ging es mir allerdings wie dem Dichter, der sich mit den Überlegungen seiner
Interpreten konfrontiert sieht; d.h. nicht über alle Einzelaktionen habe ich vorher nachgedacht,
vielmehr schleift sich manches Verfahren, mancher Kniff usw. ein; ... wir handeln oft spontan, intuitiv – andernfalls wäre unser Unterricht völlig verkrampft), wir können aus der
exemplarischen Beobachtung allgemeine Handlungsprinzipien ableiten und schließlich erfahren wir, wer wir eigentlich sind ...“.25
21
Vgl. ebd., S. 79f.
Vgl. ebd., S. 84f.
23
Ebd., S. 80.
24
Ebd., S. 81.
25
Ebd., S. 87f.
22
7
Beispiel 3: Politischer oder unpolitischer Politikunterricht? Rekonstruktion einer Talkshow im Politikunterricht (1995)
Kontext: Unter der Fragestellung: „Politischer oder unpolitischer Unterricht?“ wurde im Reader „Politik als Kern der politischen Bildung“ (hrsg. v. Massing/Weißeno)
26
eine Talkshow
aus einer Ostberliner Oberstufenklasse rekonstruiert. Die Dokumentation des Transkriptes
erfolgt in diesem Fall mit Marginalien, die Kategorien des Politikzyklus benennen. Wie im
Titel des Beitrags bereits angedeutet, geht es zentral um die Ambivalenz handlungsorientierter
Methoden im Politikunterricht.
Zitate: „Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass alle acht Kategorien der politologischen Konfliktanalyse in der Talkshow angesprochen werden, dass aber die Häufigkeit der
Kategorie Werte/Ideologie darauf verweist, dass in der politischen Auseinandersetzung (um
den Paragraphen 218/Abtreibungsrecht; Thema: „Wer treibt ab: die Frau, der Staat oder niemand?“) grundlegend ein Wertkonflikt vorliegt. Auf der Ebene des Politikzyklus scheint die
entscheidende Frage zu sein, wie überhaupt das politische Problem definiert wird. Die Auseinandersetzung darüber setzt die Talkshow in Szene“.27
„Darüber hinaus werden indirekt Fragen an das politische System gestellt; insbesondere die
Frage der Legitimation und die Frage nach dem Sozialstaat Bundesrepublik bilden Anknüpfungspunkte für die Fortführung des Unterrichts. Auf der Metaebene können die Argumentationsmuster der einzelnen Akteure festgehalten werden“.28
Der Übergang von der „action“ in der Talkshow auf die Erkenntnisse in der Auswertung „entscheidet darüber, ob handlungsorientierte Methoden als Königsweg oder als Sackgasse der
politischen Bildung angesehen werden können. Methodisch gewendet führen diese Überlegungen zur Frage: Welches Politikbild lässt sich aus den Auswertungsfragen herausfiltern?
Im Wesentlichen werden folgende Auswertungsfragen bearbeitet:
1. Welche Positionen werden vertreten?
2. Welche Beurteilungsmaßstäbe/Bewertungskriterien liegen den verschiedenen Positionen zugrunde?
3. Welchem Kriterium (Wert) wurde Priorität gegeben?
4. Welche Position ist am ehesten geeignet, den Konflikt zu lösen?
5. Welche Meinungen haben sich die Schüler/innen gebildet?
Diese Auswertungsfragen fassen zweifelsohne ein zentrale Dimension der Talkshow zusammen“. Sie zielen „auf die policy-Dimension des Politischen. Ausgeblendet bleiben die von
den Schülerinnen vielfach angesprochene polity- und politics-Dimension. Damit entfällt auch
26
Vgl. Massing/Weißeno (Hrsg.), Politik als Kern der politischen Bildung, Opladen 1995.
Ebd., S. 196.
28
Ebd., S. 197.
27
8
die Diskussion darüber, wie diese Dimensionen zueinander in einem konflikthaften Spannungsverhältnis stehen, das erst das spezifisch Politische ausmacht“.29 „Stellt die Reduktion
auf die inhaltliche Dimension (Probleme, Ziele, Werte) bereits einen Umschlag ins Unpolitische dar?“30 [...] „Nimmt man das Politikbild, das den Lehrerfragen in der Auswertung zugrunde liegt, und das Politikbild, das die Schülerantworten enthalten, so muss die Hypothese
abgewiesen werden, nach der ein Umschlag von politischem zu unpolitischem Unterricht erfolge. Vielmehr vermittelt die Problematisierungsphase und zwar ausgehend von policyFragen – ein Bild von Politik, das auf Entscheiden, Verhandeln und Kompromissfähigkeit als
zentralen normativen Grundlagen der Demokratie beruht“.31
„Ein weiteres Ergebnis stellt die Einsicht dar, dass – zumindest in der Oberstufe – (...) mit den
in der Fachdidaktik entwickelten Instrumentarien gearbeitet werden kann. Sowohl das Modell
des Politikzyklus als auch das Modell der Dimensionen des Politischen eignen sich für eine
systematische Auswertung“.32
Beispiel 4: „Was für ein Fachverständnis haben denn meine Kollegen?!“ Von den
Schwierigkeiten eines Interpretationsprojektes (1998)
Kontext: Dieser Sammelband zum „alltäglichen Politikunterricht“33 (hrsg. von Peter Henkenborg und Hans-Werner Kuhn 1998) stellt die erste Buchpublikation des 1990 in Berlin gegründeten Arbeitskreises „Empirische Fachunterrichtsforschung Politik“ dar. Neben der
Thematisierung von „Grundfragen qualitativer Unterrichtsforschung in der politischen Bildung“ (u.a. stufendidaktische Konzepte, Geschlecht und Politik, Unterrichtsanalysen, Professionalisierung, Methodenfragen, Fachprofil und Politikbegriff)34 konzentrieren sich zwei Beiträge auf das „Methodentraining“ in der Politiklehrerbildung35 sowie auf die fachdidaktische
Rekonstruktion einer Unterrichtsstunde zum „Castor-Transport“.36 Hinzu kommt unter der
provokativen Frage: „Was für ein Fachverständnis haben denn meine Kollegen?!“ der Versuch, auf einer Metaebene eine Typologie fachdidaktischer Konzepte zu entwerfen. 37 Grundlage bildete das Protokoll einer Gruppendiskussion im Arbeitskreis, das ebenfalls im Buch
dokumentiert ist.
29
Ebd., S. 199.
Ebd.
31
Ebd., S. 201.
32
Ebd.
33
Vgl. Peter Henkenborg/Hans-Werner Kuhn (Hrsg.), Alltäglicher Politikunterricht, Opladen1998.
34
Vgl. ebd., S. 9-32.
35
Vgl. Hans-Werner Kuhn/Peter Massing (Hrsg.), Politikunterricht. Kategorial + handlungsorientiert. Ein Videobuch, Schwalbach/Ts. 1999.
36
Vgl. ebd., S. 255-272.
37
Vgl. Henkenborg/Kuhn.
30
9
Zitate: Die folgenden Zitate stammen aus dem Versuch, die Statements der Politikdidaktiker/innen im Arbeitskreis zu typologisieren, indem aus dem Rückschluss der protokollierten
Beiträge eines workshops in Berlin das „oftmals implizite Fachverständnis“ ermittelt wurde.
Folgende
„Typen
fachdidaktischen
Denkens“
wurden
unterschieden:
den
lern(prozess)orientierten Typus („das ist wie lateinische Grammatik, interessiert keinen, wird
aber gemacht“), den schülerorientierten („weil das an den Schülern total vorbeigegangen ist“),
den erlebnisorientierten („dass man nicht an das Erleben herankommt und dass diese politischen Lernprozesse dann außerhalb stattfinden, dann tatsächlich in der peer-group“), den professionsorientierten („aber er hat in seinem Habitus Wege und Möglichkeiten, um klar zu machen die simple Aussage: Ich bin euer Lehrer“), den zielorientierten („Ich ... tendiere dazu,
dass ein Lehrer, der weiß was er will, (der) eine klare Struktur hat, ... und das dann auch versucht umzusetzen, dass das dann nicht unbedingt groß zu kritisieren ist“), den mehrperspektivischen („Aber das ist doch im Kern das Grundproblem jedes Lehrers ... nämlich eine Planung zu haben und gleichzeitig flexibel zu sein ... Wo gibt es im Unterricht Punkte, wo das
besser hätte miteinander ins Gespräch kommen können? Die Planung mit der Flexibilität“),
den kategorienorientierten („Vergesst einmal den Politikunterricht, den ihr permanent erlebt,
nämlich einfach einmal über ein Problem zu diskutieren ... sondern hier erarbeiten wir uns ein
Problem nach in Anführungsstrichen ‚wissenschaftlichen Regeln’“), den komparatistischen
(„Wie weit strukturiert man vor? ... Ist dieser Unterricht so noch wirklich zeitgemäß?“), den
erfahrungsorientierten („Meine Vorstellungen vom guten Unterricht, die hier in der Diskussion ja auch aufschienen, sind irgendwo auch zu Ende. Man hat sehr viele schöne Rezepte.
Aber was ist denn guter Unterricht? ... Ich bin mittlerweile so weit, dass ich ... diese Frage gar
nicht mehr stelle“), den hermeneutischen („Man könnte einmal überlegen, welche pädagogische Grundhaltung da mitspielt“), den mikrostrukturellen („Kann man in dieser Szene Versatzstücke entdecken, die man programmatisch in der Fachdidaktik fordert? ... kann man irgendwo diese Mikrosequenzen danach untersuchen?“). Dieses Interpretationsexperiment lässt
sich wiederum in unterschiedlichen Lesarten deuten: als Scheitern38, als Spannungen zwischen Theorie und Empirie („Zwischenlesart“)39 oder als „normale“ Schwierigkeit: „Schwierig scheint ... die kommunikative Verständigung in der Gruppendiskussion selbst zu sein,
wenn die jeweilige Fragestellung und der methodische Zugang zum ‚identischen Material’
intransparent bleibt. Hier versucht die Typologie eine erste Orientierung, auch wenn sie lediglich bestimmte Strukturmerkmale der beteiligten Gesprächspartner verdichtet.“40
38
Vgl. ebd., S. 299f.
Vgl. ebd., S. 300f.
40
Ebd., S. 303.
39
10
Beispiel 5: Methodische Vorschläge für eine fachdidaktische Unterrichtsanalyse (1999)
Kontext: Als eines von wenigen Videobüchern wurde 1999 der Band „Politikunterricht: kategorial + handlungsorientiert“41 zusammen mit der Videodokumentation einer Doppelstunde
veröffentlicht. Diesmal kam das Angebot, Fachunterricht zu filmen, aus der Zweiten Phase
der Lehrerbildung. Es handelt sich um eine reale Lehrprobe, ein Referendar führt einer Berliner Oberstufenklasse ein Planspiel durch („Fraktionssitzung zur Frage: Normenkontrollklage
zur Entscheidung des Bundestages zum Paragraphen 218), die in der Auswertung kategorial
angelegt ist. Damit wird ein Spannungsverhältnis inszeniert, das die Verknüpfung von erlebnisorientierten, spielerischen Simulationen von realen Politikabläufen mit Grundbegriffen des
politischen Denkens ins Gespräch bringt. In einem Beitrag werden 10 Strukturmerkmale
handlungsorientierten Politikunterrichts42 entwickelt, die eine Interpretationsfolie für die
fachdidaktische Auswertung abgeben.
In der Auswertung werden „methodische Vorschläge für eine fachdidaktische Unterrichtsanalyse“43 thematisiert; es handelt sich um die Namensgebung des Ansatzes als „politikdidaktischer Hermeneutik“. Die methodologischen Überlegungen lassen sich von zwei Fragen leiten:
1. Wie kann ich den Zugang zu dokumentiertem Politikunterricht methodisch gestalten?
2. Welche relevanten Analysefragen liefert die Politikdidaktik?44
Der Beitrag greift die unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge solcher Analysen auf,
fragt nach den Bedingungen der Rezeption („Dominanz des kritischen Blicks“45), nennt als
wesentliches Element die „Verfremdung“ (durch Dokumentation und Transkripte); er fragt
nach dem Nutzen quantitativer Faktorenanalyse (u.a. Flanders), nach Analyseebenen und
schlägt im Ergebnis einen „hermeneutischen Dreischritt“46 vor. Damit liegt ein systematisches, zweidimensionales „Methodenraster“ für eine fachdidaktische Unterrichtsanalyse vor
(Graphik47). Am Ende des Beitrags werden Arbeitsvorschläge und offene Probleme beschrieben. Außerdem enthält der Band in Form von Modulen „Trainingsvorschläge für die Aus- und
Fortbildung von Sozialkunde-Lehrer/innen“.48 Insgesamt liegt hier ein Versuch vor, fachdidaktische Unterrichtsforschung als „anwendungsorientierte Grundlagenforschung“ (Hilligen)
zu betreiben: offen gelegt werden nicht nur die Grundlagen (u.a. Politikzyklus), sondern auch
41
Vgl. Kuhn/Massing (FN 35)
Vgl. Kuhn, Strukturmerkmale handlungsorientierten Politikunterrichts, S. 39-57.
43
Kuhn, Methodische Vorschläge für eine fachdidaktische Unterrichtsanalyse, S. 182-215.
44
Vgl. ebd., S. 182.
45
Ebd., S. 185f.
46
Ebd., S. 196f.
47
Vgl. ebd., S. 199.
48
Ebd., S. 216ff.
42
11
die Dokumentation (Planung, Transkript) bis hin zu unterschiedlichen Lesarten (2 Fachseminarleiter), zum Prinzip von Handlungsorientierung (Interviews), zu Genderfragen („Verhindert weibliche Identität den Perspektivenwechsel?“), zur Methodologie von Unterrichtsanalysen sowie zur konstruktiven Umsetzung der Analyseergebnisse in die Lehrerbildung (Bausteine zur fachdidaktischen Analyse, zum kategorialen Politikunterricht, zur politische Urteilsbildung, zum handlungsorientierten Politikunterricht, zu Simulationen, zu Folgestunden
sowie zur Benotung). Insbesondere zeigen die Ergebnisse Potenziale und Grenzen einer kategorialen Politikdidaktik.
Zitate: Zum Umgang mit Kategorien: „Im konkreten Fall kamen zwei der (in der Auswertung
der simulierten Fraktionssitzung – HWK) ermittelten Kategorien, nämlich ‚Werte’ und
‚Recht’ von den Schülern/innen; die restlichen drei Kategorien ‚Macht’, ‚Legitimität’ und
‚Politische Kultur’ hat der Lehrer eingebracht. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob damit
nicht Begriffe lediglich aufgesetzt werden. Der Verlauf des Unterrichtsgesprächs gibt Aufschlüsse darüber, ob diese Kritik berechtigt ist. Es könnte nämlich auch so sein, dass von den
Schüler/inne/n der Sachverhalt richtig beschrieben wird, sie ihn aber (noch) nicht auf den Begriff bringen können. Diese Zuspitzung und Abstraktion von der Beschreibung politischer
Phänomene bzw. politischer Argumentationsmuster zu ‚begriffenen’ Erkenntnissen macht
Lernhilfen notwendig. (...) Es scheint, dass erst der wiederholte Umgang mit grundlegenden
Kategorien den Schüler/innen einen selbständigen Umgang mit diesem Instrumentarium ermöglicht. Dabei können ‚geschlossene’ Modelle, die sich pragmatisch auf eine handhabbare
Anzahl von Dimensionen des Politischen, auf elf Kategorien, die politische Willensbildungund Entscheidungsprozesse beeinflussen oder vier Stationen des Politikzyklus beschränken,
insofern eine Hilfe sein, als diese Modelle als Suchraster relevante Fragestellungen der Analyse eröffnen, die bei einer ad hoc-Analyse ausgeblendet wären. ... Dennoch wird aus der
Handhabung eines dieser Modelle in der Regel auch eine Modellkritik entspringen, insofern
die Trennschärfe der einzelnen Kategorien, ihre Relevanz für konkrete Analysen, die Abgrenzung einzelner Dimensionen hinterfragt wird. Im günstigsten Fall entsteht ein politologisches
Koordinatensystem, das als methodisches Frageraster genutzt wird, um eine Orientierung im
komplexen Feld der Politik zu ermöglichen. ... Dieser Umgang mit Kategorien kann dazu
führen, dass diese nicht mehr als bloße ‚Schubladen’ angesehen werden, mit denen der Gegenstand bürokratisch einsortiert und damit abgehakt werden kann; dies wären vermeintliche
Erkenntnisse. Vielmehr ergeben sich aus diesem Umgang neue Fragestellungen, so dass Ka-
12
tegorien als ‚bewegliche Begriffe’ die Brücke zwischen konkretem Fallbeispiel und politologischer Analyse bilden, somit dem Schüler/der Schülerin auch fragwürdig werden können“. 49
Beispiel 6: Methoden der Unterrichtsanalyse – am Beispiel einer Sachunterrichtsstunde
im Vergleich (2000)
Kontext: „Nö-Szene“ - Die per Video dokumentierte und vollständig transkribierte Unterrichtsstunde ist Teil einer fünfstündigen Unterrichtseinheit „Mädchen und Jungen – früher
und heute“.50 Wenn hier eine isolierte „Schlüsselszene“ herausgegriffen wird, dann ist dies
zumindest fragwürdig. Grundeinheiten der empirischen Fachunterrichtsforschung sind in der
Regel Einzelstunden. Es können aber auch „Schlüsselszenen“ identifiziert werden, in denen
fachdidaktisch relevante Probleme erkannt und deren Lösung analysiert wird.
Die didaktisch motivierte Aufbereitung (Schnitt, Kommentare, Vergleichssequenzen usw.) für
die Vermittlung dieses Forschungsansatzes in der Hochschullehre stellt eine eigene Aufgabe
dar, für die es bislang in der Politik- und Sachunterrichtsdidaktik noch keine ausgearbeiteten
und veröffentlichten Beispiele gibt.
Transkript
334
Magnus
335
Lehrerin
Lehrerin
336
337
X
X
X
Lehrerin
Lehrerin
X
Mein Vater, der kocht auch immer, wenn meine Mutter nicht zu Hause
ist.
Dein Papa
kocht auch.(.) Würdest du das später auch machen?
Du würdest
es nicht machen?
NÖ.
Ich auch nicht.
(
)
(
)
Aber du hast bei deinem Papa
gesehen, dass er es macht, ne? Hmm ..
(Ich würde das machen)
Zitate: Widersprüchliche Normen - „Diese kleine Szene thematisiert zwei Knotenpunkte der
Unterrichtskommunikation, bei denen der Unterschied zwischen schulischen Normen und
sozialen Normen deutlich wird. Im ersten Fall verweigert Magnus sich doppelt: Er ist nicht
bereit, die Gleichschaltung der Normen zu akzeptieren (konkret: selbst zu kochen); auch die
Tatsache, dass sein Vater kocht (wenn die Mutter nicht zu Haus ist [(!!)], beeindruckt ihn we-
49
Ebd., S. 50-51.
Vgl. Dagmar Richter (Hrsg.), Methoden der Unterrichtsinterpretation. Qualitative Analysen einer sozialwissenschaftlichen Sachunterrichtsstunde im Vergleich, Weinheim und München 2000.
50
13
nig. Er distanziert sich von beiden (indirekten) Ansprüchen (Magnus: „NÖ“). Er würde es
später nicht so machen. Selbst auf diese unverbindliche Aussage über mögliches zukünftiges
Verhalten lässt er sich nicht ein. Diese Szene kann als die zentrale Schlüsselszene dieser
Stunde angesehen werden: In dieser Widerständigkeit liegt im sozialwissenschaftlichen Sachunterricht die Chance, kontrovers über Normen, Einstellungen und Verhaltensweisen zu sprechen. Die Lehrerin setzt ihn nicht unter Druck, obwohl sie an dieser Stelle nachfragt (Lehrerin: ‚Aber (!) du hast bei deinem Papa gesehen, dass er es macht, ne? Hmm ...’ Zeile 336f.).
Die Mitschülerinnen und -schüler betreten die Brücke, die ihnen die Lehrerin hier baut: ‚Ich
würde es machen’“.51
Beispiel 7: Urteilsbildung im Politikunterricht. Ein multimediales Projekt. Buch – Video
– CD (2003)
Kontext: In diesem Multimediaprojekt geht es um die zentrale Politikkompetenz: die politische Urteilsbildung. Hierzu wird in zwei 9. Klassen einer Berliner Schule (Oberschule) eine
Kurzsequenz zum „Fall Pinochet“ aufgezeichnet, transkribiert und einer fachdidaktischen
Analyse unterzogen. Damit kommt als Politikfeld die internationale Politik ins Spiel. Die
Auswertung konzentriert sich u.a. auf individuelle Lernprozesse; man kann in diesem Fall von
„marked students“ nach dem japanischen Konzept der Lesson studies sprechen. Die Isolierung von Schlüsselszenen verdichtet die Analyse und gibt ihr eine qualitative Wendung von
der Dokumentation zum Videographieren. Als Ergebnis, das an der Meinungsführerin Rahel
festgemacht wird, zeigt sich eine plausible Strategie zur Anbahnung von Urteilskompetenz.
Zitate: „An Rahels Beiträgen kann ein individueller Lernprozess aufgezeigt werden. Dabei
zeigt bereits die genauere Analyse ihres ersten Statements ihren ‚inneren Monolog‘. Sprachlich erkennbar an Unterbrechungen, unvollständigen Sätzen, Bemerkungen wie ‚ich versteh
das nicht‘ oder ihr energisches: ‚hier muss man eine Ausnahme machen‘ sind Indikatoren
ihrer Auseinandersetzung. Polar stehen sich gegenüber: die allgemeine Gültigkeit von Gesetzen zu notwendigen Ausnahmen für Einzelfälle, der positive Sinn von Immunität gegen die
Notwendigkeit, Straftatgen zu verfolgen, die Existenz von Gesetzen gegen deren mangelnde
Anwendbarkeit. Rahel führt quasi einen Dialog mit sich selbst. (…) Zugespitzt werden die
Widersprüche als moralische Anklage formuliert: ‚Es ist so richtig ungerecht, aber es ist so.‘
Ihre Bürgerinnenrolle (bzw. Schülerinnenrolle) muss sich auf distanzierte Beobachtung des
Falles reduzieren. … Wenigstens teilweise lösen sich die Dilemmata in ihrer abschließenden
Erkenntnis auf: nachdem eine Mitschülerin sinngemäß behauptet hatte, Staatsoberhäupter
Hans-Werner Kuhn, „Meine Mutter hat früher auch immer gehäkelt oder gestrickt“. Politikdidaktische Interpretation einer Grundschulstunde, in: Dagmar Richter (FN 50), S. 87-106, hier. S. 102f.
51
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könnten machen, was sie sollten, antwortet Rahel: ‚Das stimmt so nicht. Jetzt darf man es ja.
Als Pinochet es gemacht hat, da durfte man es noch nicht, aber jetzt, wo diese Gesetz (da)
sind, jetzt darf man, jetzt ist es gerecht‘. (…)
Die fachdidaktische Interpretation von Rahels Beiträgen führt zum Ergebnis, dass in der Klassendiskussion ein Weg beschritten wurde von moralischer Entrüstung zu politisch-rechtlicher
Argumentation. Nicht resignative Politikverdrossenheit, sondern – am Fall gewonnene – Einsicht in die Gestaltungsmöglichkeiten internationaler Politik wird von der Schülerin selbst
formuliert. Da sie als eine der Meinungsführerinnen der Klasse angesehen werden kann, wird
diese Entwicklung auch für die anderen Schülerinnen und Schüler bedeutsam sein. Der Weg
von der Moral zu Recht und Politik kann inhaltlich als eine Strategie angesehen werden, politische Urteilsbildung anzubahnen; wenn solche Erkenntnisse von Schülerinnen und Schülern
selbst entwickelt werden, kann der Lehrende sich auf sensible Beobachtungen, Nachfragen,
Problematisierungen und Verstärkungen beschränken, was sicher nachhaltiger Lernprozesse
in Gang setzt als dozierte Merksätze“.52
Beispiel 8: Demokratie: Gegenstand oder Methode? Szenen einer Politikstunde (2003)
Kontext: Als Sekundäranalyse ist der Beitrag „Demokratie: Gegenstand oder Methode?“ im
Band „Schülerdemokratie“53 konzipiert. Die bereits skizzierte „Fraktionssitzung“ einer Oberstufenklasse wird auf demokratietheoretische Implikationen untersucht, konkret geht es um
formale und inhaltliche Merkmale (Schumpeter, Habermas), um die Bürgerrolle und um das
politische Denken der Abiturientinnen und Abiturienten. Hier werden die Problemformulierung, die Frage: Empirischer oder hypothetischer Volkswille? (Fraenkel), die Entscheidung
und die Bewertung von Politik befragt (Hat die Politik versagt?).
Zitate: „Der Beitrag versucht, einen engen Zusammenhang zwischen handlungsorientierten
Methoden und ‚Demokratie-Lernen’ aufzuzeigen. In dieser Verknüpfung eröffnen sich Jugendliche einen spezifischen Zugang zur Politik bei dem sie politische Entscheidungen zugleich aus der Akteurs (Politiker) Perspektive (in der Simulation) und der Bürger(Betroffenen) Perspektive (in der Auswertung) wahrnehmen.
Dieser Perspektivwechsel hat mehrere Folgen:
-
zum Ersten werden unterschiedliche Handlungszwänge und -kalküle erfahrbar;
zum Zweiten differenziert sich dadurch die eigene politische Urteilsbildung;
52
Kuhn, Urteilsbildung im Politikunterricht, 2003, S.83.
Vgl. Hans-Werner Kuhn, Demokratie: Gegenstand oder Methode? Szenen einer Politikstunde, in: Klaus Hurrelmann/Christian Palentien (Hrsg.), Schüler-Demokratie. Mitbestimmung in der Schule, Neuwied 2003, S.
224-243.
53
15
-
-
zum Dritten wird die Differenz von unterrichtlichem ‚Spiel’ und politischer Wirklichkeit thematisierbar. Das eigene Probehandeln kann mit realen Entscheidungsprozessen
verglichen und beides – nach unterschiedlichen Kriterien – bewertet werden;
zum Vierten erhöht sich die Selbständigkeit der Schülerinnen und Schüler. Nachdem
die vorbereiteten Positionen ausgetauscht sind, folgt ein ‚offener Schlagabtausch’ der
Argumente. Wie sie das rhetorisch bewältigen und welche Bezüge zum politischen
System herangezogen werden, kann der/die beobachtende Lehrer/in zur Diagnose des
Lernprozesses nutzen. Hierbei ist ‚hermeneutische Kompetenz’ gefragt, weil er/sie oft
impliziten ‚demokratischen’ Denkfiguren aus den flüchtigen Statements überhaupt erkennen und für die gemeinsame Auswertung nutzbar machen. (…)
Werden in Auswertungsgesprächen die skizzierten Widersprüche, Zielkonflikte, Ambivalenzen nicht thematisiert, dann bleiben Lernchancen ungenutzt. … Wenn fachdidaktisches Denken als ‚vernetztes Denken’ bezeichnet werden kann, dann gilt es, diesen Zusammenhang von
Gegenstand, Zielen und Methoden empirisch verstärkt zu erforschen. Auf dieser Grundlage
könnten dann Lernpotenziale ermittelt werden, die dazu beitragen, dass Politikunterricht über
die Interpretation von Mikrostrukturen (‚politikdidaktische Hermeneutik’) Anschluss gewinnt
an die als konkrete Utopie fassbare ‚Schüler-Demokratie’“.54
Beispiel 9: Methodenkompetenz entwickeln. Zwei Beispiele (2006)
Kontext: In der dritten Publikation des Arbeitskreises „Empirische Fachunterrichtsforschung
Politikunterricht“ wird ein Leitfaden zur fachdidaktischen Unterrichtsanalyse entworfen, der
die Evaluation von Politikunterricht zum Ziel hat.55 Mein Beitrag versucht quasi eine Langzeitstudie, indem an zwei Beispielen – das erste aus dem Sachunterricht der Grundschule, das
zweite aus dem Politikunterricht der Oberstufe – Methodenkompetenz untersucht und verglichen wird; Grundlage bildet in beiden Fällen eine Pro-Contra-Debatte.56
Zitate: „Der fachdidaktische Vergleich zeigt, dass in beiden Fällen die Argumentationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler gefordert ist. Beides hat eine kontroverse Ausgangsfrage
zur Grundlage: Ist die Winterfütterung von Tieren sinnvoll? Und: Hat die Pro-Contra-Debatte
etwas gebracht? Beides sind offene Fragen, die eine eindeutige Stellungnahme erfordern, einen eigenen Standpunkt, eine Meinung, die aber erst durch eine plausible Begründung zu einem ‚Urteil‘ werden. Dabei geht es nicht nur um ‚politische Urteilsbildung‘, sondern um eine
Beurteilung einer eigenen Positionierung zu einer Sachfrage bzw. um die Beurteilung einer
54
Ebd., S. 240ff.
Vgl. Dagmar Richter/Carla Schelle (Hrsg.): Politikunterricht evaluieren – ein Leitfaden zur fachdidaktischen
Unterrichtsanalyse, Hohengehren 2006.
56
Vgl. Markus Gloe/Hans-Werner Kuhn, Pro-Contra-Debatte, in: Dirk Lange/Volker Reinhardt (Hrsg.), Basiswissen Politische Bildung, 6 Bde., Band 6: Methoden Politischer Bildung, Bad Heilbrunn 2007, S. 189-198;
Hans-Werner Kuhn/Markus Gloe: Die Po-Contra-Debatte, 2006, in: Siegfried Frech/Hans-Werner Kuhn/Peter
Massing (Hrsg.): Methodentraining für den Politikunterricht, Schwalbach/Ts., S. 145-162.
55
16
handlungsorientierten Methode, um die Effizienz für den eigenen Lernprozess. Im ersten Beispiel werden die Potenziale der Pro-Contra-Debatte von der Lehrerin nicht ‚ausgereizt‘, dazu
wäre es notwendig, in der Lehrerbildung die Fähigkeit, Unterricht zu interpretieren57 einzuüben und ‚geistesgegenwärtig‘ (Bollnow) in Lehrerhandeln zu übersetzen. Damit ist aber die
Novizin überfordert. Dennoch zeigen sich ausbaufähige und anschlussfähige Ansätze, die es
auf vielen weiteren Stationen zu entfalten gilt. Im zweiten Beispiel bewegen sich die Schülerinnen und Schüler auf einer Metaebene. Sie kommunizieren ‚über‘ ihren Unterricht, über die
angewandte Makromethode. Hier sind metakognitive Kompetenzen gefordert. Die Lehrerin
schaltet sich engagiert in die Diskussion ein, indem sie zum einen nach den Zielen des Politikunterrichts fragt, zum zweiten aber auch nach dem, was Schule dem ‚Staatsbürger‘ an politisch relevanten Kompetenzen vermittelt. (…) Auch wenn die Methodenkompetenz im Politikunterricht an vielen Gegenständen entwickelt werden kann, gilt es doch, diese Gegenstände
fachdidaktisch so aufzuladen, dass mit der Entwicklung der Methodenkompetenz auch Urteils- und Handlungskompetenz entwickelt werden kann. Diese grundlegenden Basiskompetenzen sind sowohl im sozialwissenschaftlichen Sachunterricht als auch im Politikunterricht
anzubahnen, zu trainieren und selbständig auf immer neue Zeitfragen anzuwenden“ (Kuhn
2006, S. 24-25).
Perspektiven
Auf der Grundlage der dargestellten Projekte und Ergebnisse, aber auch der Kritik an den
bisherigen Ergebnissen der empirischen Unterrichtsforschung (Sander, Grammes, Richter,
Schelle) werden gegenwärtig zwei Forschungsprojekte durchgeführt; beim ersten handelt es
sich um eine Vergleichsstudie mit dem Arbeitstitel Sachunterricht aus doppelter Perspektive:
Politisches Lernen in Deutschland und Japan. Sie ist aus dem Kontext der Kooperation mit
japanischen Hochschulen in Aichi und Nagoya entstanden, die dem Konzept der Lesson Studies58 folgen und an jeweils zwei Unterrichtsbeispielen (Klassensprecherwahl, Umwelt) einen
interkulturellen Vergleich versuchen. Dabei kommen die Akteure (Lehrer, Studierende) ebenso zur Sprache wie Fachdidaktiker und Grundschulpädagogen. Wechselseitige Hospitationen
und workshops bilden den Rahmen dieses Projekts. Die zentrale Vermutung geht dahin, dass
im sozialwissenschaftlichen Sachunterricht (social studies) weit weniger Unterschiede in der
Lernkultur nachzuweisen sind als in den internationalen Vergleichsstudien zum Mathematik57
Vgl. Hans-Werner Kuhn, Basiskompetenz: Unterricht interpretieren, in: Arbeitskreis Interpretationswerkstatt
PH Freiburg (Hrsg.): Studieren und Forschen. Qualitative Methoden in der LehrerInnenbildung, Herbolzheim
2004, S. 67-89.
58
Vgl. Hans-Werner Kuhn: Lesson Studies – eine veränderte Unterrichtskultur?, in: Georg Weißeno (Hrsg.):
Gemeinschaftskunde in Baden-Württemberg, Stuttgart 2008, S. 129-149.
17
unterricht (THIMMS-Videostudie: USA – Japan – Deutschland). Von besonderer Relevanz
dürften dabei die wechselseitigen fachdidaktischen Analysen aus dem kulturell anderen Hintergrund sein.
Beim zweiten Forschungsprojekt handelt es sich um eine Videostudie mit dem Arbeitstitel
Kompetenzen videographieren oder: Dialektik des Unterrichtens. Hier wird der Versuch unternommen, die Videodokumentationen aus einem Tagespraktikum im Fächerverbund
„Mensch, Natur und Kultur“ (Sachunterricht) fachdidaktisch unter die Lupe zu nehmen. Insgesamt 42 Aufzeichnungen aus zwei Jahren ermöglichen eine Langzeitstudie, die nicht nur
nach der Realisierung des Fächerverbundes fragt, sondern ebenfalls nach Entwicklungen bei
den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler vom Beginn der 3. bis zum Ende der 4. Klasse. Dabei erfolgt eine Typologisierung nach „Prototypen“ (z.B. zum politischen Lernen, zum
historischen Lernen, zu neuen Medien, zum Filmeinsatz, zur Problemorientierung, zum sokratischen Gespräch). Bei derzeitigen Stand des Projektes kann zweierlei vermutet werden: zum
einen stellt die Realisation des Fächerverbundes im schulischen Alltag eher eine Ausnahme
als eine Regel dar, zum zweiten lässt sich eine Kompetenzentwicklung am ehesten auf dem
Feld der Methodenkompetenz nachweisen; demgegenüber sind Wissensaufbau, Handlungsund Urteilskompetenz weniger ausgeprägt empirisch zu belegen.
Dieses Projekt basiert auf zwei weit auseinander liegenden Voraussetzungen: zum einen der
Klärung eines hermeneutischen Ansatzes der Unterrichtsforschung, zum zweiten der Nutzung
eines komplexen Videosoftwareprogramms (Interact) zu systematischen Kodierung der Videoaufzeichnungen und Transkripte. „INTERACT 8 bietet sehr flexible und einfach zu handhabende Methoden zum Sammeln und Erfassen jeglicher Art von Verhaltensdaten, sowie viele
statistische Werte und sämtliche Graphiken“ (aus: Quick start Handbuch, Arndorf 2007, 1).
Es geht also um die Verbindung von aktuellen „technischen“ Möglichkeiten der Videographie
und Videoanalyse mit den „philosophischen“ Grundlagen einer politikdidaktischen Unterrichtsforschung. Daraus resultiert die Weiterentwicklung des zweidimensionalen Methodenrasters (Hermeneutische Stufen, Dimensionen der Fachdidaktik) zu einem dreidimensionalen
Modell: hinzu kommt in der dritten Dimension die Frage, wie sich ein angemessener Zugang
zur Unterrichtswirklichkeit gestalten lässt. Hier spielen auf einer ersten Ebene unsere (inneren
und äußeren) Bilder von Fachunterricht, von „gutem“ Politikunterricht eine Rolle. Diese Bilder werden konfrontiert mit dokumentiertem Unterricht und setzen einen Prozess der Interpretation in Gang. Auf einer dritten Ebene erfolgt die Verdichtung zu fachdidaktisch relevanten
bzw. aufgeladenen Schlüsselszenen; technisch erfolgt hier eine Isolierung in Szenen und Sequenzen. Dieser aktive Prozess wird im Unterschied zur zweiten Ebene, der Unterrichtsdo18
kumentation, als Videographieren bezeichnet, insofern hier der Interpret quasi als Regisseur
agiert. Dieser Prozess kann in der Lehrerausbildung zum einen selbst nachvollzogen werden
(Fallstudien), zum anderen können aber auch die identifizierten Schlüsselszenen mit weiteren
Lesarten, Sekundäranalysen, Metaanalysen interpretiert werden; hieran zeigt sich der prinzipiell unabgeschlossene Prozess der hermeneutischen Interpretation. Um die Potenziale empirischer Unterrichtsforschung auszuschöpfen, genügt es nicht, nur mit einem Konzept zu arbeiten. Vielmehr ist ein flächendeckender Forschungsverbund notwendig, der arbeitsteilig
und pluralistisch strukturiert sein sollte. An Ansatzpunkten und Fragestellungen mangelt es
nicht, aber an einer institutionellen Vernetzung. Daher bleibt die Wirkung empirischer Unterrichtsforschung begrenzt, wenn nicht Forschungskriterien anders als bisher gewichtet werden.
Hierzu könnte eine vergleichbare Institution wie das IPN (Institut für Pädagogik der Naturwissenschaften) in Kiel auch für sozialwissenschaftliche Forschung geschaffen werden. Dieses Institut könnte sich der Selbstaufklärung der Gesellschaft und Politik widmen, dies im
Sinne einer „anwendungsbezogenen Grundlagenforschung“ (Hilligen) zur Didaktik der Demokratie. Politik, Parteien und Wissenschaft sind hierbei gemeinsam gefordert.
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