nachGedacht Herausgegeben von Albert Newen und Sven Walter In der Reihe »nachGedacht – Moderne Klassiker« erscheinen in regelmäßiger Folge autorenorientierte Einführungen in das Werk von Wissenschaftlern, die die Philosophie und die Kognitionswissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt haben. Die einzelnen Bände bieten einen fundierten und umfassenden Einstieg in das Werk des jeweiligen Autors. Sie richten sich aufgrund ihrer praxisorientierten Konzeption insbesondere an Studierende und interessierte Laien, die sich im Rahmen eines Seminars, einer Prüfungsvorbereitung oder einfach ›in Eigenregie‹ in einen Klassiker der Analytischen Philosophie einarbeiten wollen. Alle Bände beginnen mit einer kurzen biographischen Notiz und einem Überblick über die Leitfragen und Positionen des jeweiligen Autors und schließen mit einer Einschätzung seiner historischen und systematischen Bedeutung. Im Zentrum eines jeden Bandes steht eine umfangreiche und differenzierte inhaltliche Einzeldarstellung, in der die Positionen und Argumente des Autors Schritt für Schritt »nachGedacht« und die jeweiligen Kernthesen in einer grau hinterlegten Box am Ende jedes Unterkapitels summarisch aufgeführt werden. Trotz der einheitlichen Struktur bleibt den Verfassern der einzelnen Bände genügend Gestaltungsspielraum, so dass in jedem Band das individuelle Philosophieverständnis des Autors und die persönliche Wertschätzung gegenüber dem behandelten ›Klassiker‹ zum Ausdruck kommen. Daniela Bailer-Jones / Cord Friebe Thomas Kuhn mentis Paderborn Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 mentis Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Str. 19, D-33100 Paderborn www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ISO 9706 Printed in Germany Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-503-8 2. Kuhns Wissenschaftsphilosophie im historischen Kontext und in ihren einzelnen Positionen 2.1 Einordnung Kuhns in den philosophiegeschichtlichen Zusammenhang Eine zentrale Leistung Kuhns wird häufig darin gesehen, dass er die Philosophie des Logischen Empirismus maßgeblich kritisierte und zu ihrem Niedergang beitrug. Philosophen des Logischen Empirismus und des Wiener Kreises, allen voran Rudolf Carnap (1891–1970), sahen als ihr Ziel die rationale Rekonstruktion von Naturwissenschaft. Es ging dabei darum, den Wissensanspruch zu klären, der an theoretische Postulate geknüpft wird. Es sollte deutlich werden, wie sich theoretische Postulate auf Beobachtungsterme bzw. empirische Daten zurückführen lassen. Theorien sollten allgemeingültige Prinzipien postulieren, die sich rational nachvollziehbar auf spezifische empirische Daten gründen. In diesem logisch-empiristischen Unterfangen wurde nicht unterstellt, dass die existierende Physik eine solche Rückführung theoretischer Postulate auf Beobachtungsterme grundsätzlich nicht leiste. Es ging eher darum, eine strikt logische Systematisierung der existierenden Physik vollends umzusetzen. Dieses Unterfangen ist insofern normativ als es eher darum geht, welche methodische Form Wissenschaft annehmen soll, als darum, wie in der Praxis wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden. Es geht also dezidiert nicht um den Entdeckungszusammenhang, d. h. wie Entdeckungen zustande kommen, sondern nur um den Rechtfertigungszusammenhang, d. h. wie die logische Struktur von Theorien, Bestätigung und Erklärungen expliziert werden kann (vgl. Reichenbach, 1938). Nicht die psychologischen oder sozialen Bedingungen, unter denen Wissen erworben wird, waren Thema, sondern wie Wissen rational auf solide epistemologische Säulen gestellt werden kann. Die »Logik« der Wissenschaft sollte von der »Psychologie« ganz getrennt bleiben. Es ging schlicht nicht darum, wie Wissenschaftler im wirklichen Leben über die Natur nachdenken. Kuhns Wissenschaftsphilosophie im historischen Kontext 11 Kuhn dagegen befasst sich genau mit den psychologischen und sozialen Abläufen, die die Annahme oder Ablehnung einer neuen Theorie begleiten, und zwar unter dem Stichwort Paradigmenwechsel. Im Vorwort seines Buchs beschreibt er Paradigmen als »universally recognized scientific achievements that for a time provide model problems and solutions to a community of practitioners« (Kuhn, [1962] 1970, viii). Die, die Wissenschaft einer bestimmten Fachrichtung betreiben, bedienen sich bestimmter Modellprobleme und Modelllösungen, die allgemein anerkannt sind und deren erfolgreiche Bearbeitung zu den Errungenschaften des Fachs gehören. Oft haben Modellprobleme deshalb auch Eingang in die Lehrbücher gefunden, anhand deren Studenten typische Beispiele und typische Problemlösungen erlernen. (Später spricht Kuhn von »exemplars« oder Musterbeispielen.) Wer durch diese Schule der Standardübungen geht, macht sich nicht nur das gängige Paradigma zueigen, sondern erwirbt auch die Mitgliedschaft in einer bestimmten fachwissenschaftlichen Gemeinschaft (»scientific community«) (Kuhn, 1970, 11). Im Rahmen einer wissenschaftlichen Revolution kann es nun vorkommen, dass Paradigmen wechseln, was den Ausübenden eines Fachs, die diesen Paradigmenwechsel vollziehen müssen, durchaus schwer fallen kann. Inspiriert wurde Kuhn, was das Umschlagen von einem Paradigma auf das nächste betrifft, von der Gestaltpsychologie. Dabei handelt es sich um eine Richtung der Psychologie, die in den 1920er Jahren einflussreich wurde und die von Max Wertheimer (1880– 1943), Wolfgang Köhler (1887–1967) und Kurt Koffka (1886–1941) begründet wurde. Gemäß dieser Anschauung werden zum Beispiel Dinge als Ganzes wahrgenommen und nicht nur durch ihre Einzelteile. Die Wahrnehmung des Ganzen unterscheidet sich von der der ›Einzeldaten‹, z. B. wenn eine Ansammlung von Punkten als Form wahrgenommen wird. In einem Vortrag Über Gestalttheorie vor der Kant-Gesellschaft am 17.12.1924 brachte Wertheimer den Ansatz auf folgende Formel: Es gibt Zusammenhänge, bei denen nicht, was im Ganzen geschieht, sich daraus herleitet, wie die einzelnen Stücke sind und sich zusammensetzen, sondern umgekehrt, wo – im prägnanten Fall – sich das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt von inneren Strukturgesetzen dieses seines Ganzen. 12 Kuhns Wissenschaftsphilosophie im historischen Kontext In der Philosophie ist ein berühmtes Beispiel die »Hasen-Ente«, ein Bild, das je nach Blickwinkel oder Erwartung entweder wahrgenommen wird als einen Hasen oder eine Ente darstellend. Nach der Gestalttheorie geht es u. a. darum, das, was der Mensch wahrnimmt (Hase oder Ente) als erlebte Wirklichkeit und unmittelbar gegeben anzuerkennen. Mit den Paradigmen verhält es sich so ähnlich wie mit Hase und Ente. Man kann nicht gleichzeitig einem alten und einem neuen Paradigma verhaftet sein. Sie schließen sich gegenseitig aus, so wie wir nicht gleichzeitig den Hasen und die Ente in einer Strichzeichnung sehen können. Der Übergang von einem Paradigma zu einem neuen ist, laut Kuhn, nicht gleichmäßig und kumulativ (immer mehr Wissen bei Annäherung an die Wahrheit), sondern zyklisch. Der Zyklus umfasst Normalwissenschaft, Krise und Revolution. In einer Periode von Normalwissenschaft (»normal science«) mit einem allgemein akzeptierten Paradigma kann es zu einer Krise kommen, weil in dem existierenden Paradigma bestimmte Probleme und Fragestellungen nicht gelöst werden können. Es kommt zu Anomalien, d. h. zu Phänomenen, die nicht ohne weiteres in das existierende Paradigma integriert werden können wegen Widersprüchlichkeit bzw. Inkonsistenzen. Krise bedeutet, dass die Anomalien nicht mehr leicht toleriert werden können – die Existenz von Anomalien allein muss nicht schon zu einer Krise führen. In einer Krise ist das herrschende Paradigma nicht mehr stabil und kann nicht mehr zur Ausrichtung der weiteren Forschung dienen. Deshalb wird ein neues Paradigma angestrebt, das nicht mit den gleichen Anomalien behaftet ist wie sein Vorgängermodell. Wenn das einst bewährte Paradigma durch ein neues ersetzt wird, spricht Kuhn von einer wissenschaftlichen Revolution. Damit Kuhns Wissenschaftsphilosophie im historischen Kontext 13 verallgemeinert Kuhn den Begriff der Wissenschaftlichen Revolution auf viele wissenschaftshistorische Entwicklungen. Ursprünglich bezeichnete der Begriff »die Wissenschaftliche Revolution« die Periode von ca. 1500 bis 1700, in der die Grundlagen für die moderne Wissenschaft gelegt wurden und während der die Aristotelische Naturphilosophie endgültig abgelehnt wurde (vgl. Schuster, 1990). Ihr wichtigster Bestandteil war die Kopernikanische Revolution, die mit Kopernikus und seinem Werk De revolutionibus orbium coelestium von 1543 begann und während derer die Sonne statt der Erde ins Zentrum unseres Planetensystems gerückt wurde. Mit dieser speziellen Revolution befasste sich Kuhn ja ausgiebig in seinem ersten Buch The Copernican Revolution von 1957. Thematisiert ist bei Kuhn nun nicht mehr nur die Wissenschaftliche Revolution. Neu war bei ihm, auch andere wissenschaftliche Entdeckungen revolutionär zu deuten. Die wettstreitenden Paradigmen lassen sich nun nicht ohne weiteres miteinander vergleichen, weil jedes der beiden Paradigmen mit seinen eigenen, zu ihm gehörenden Qualitätsmaßstäben gemessen wird. Es gibt kein gemeinsames Maß, weshalb Kuhn verschiedene Paradigmen inkommensurabel nennt. Der Begriff der Inkommensurabilität stammt ursprünglich aus der griechischen Mathematik und entstand im Zusammenhang mit der Entdeckung der irrationalen Zahlen (vgl. Szabó, 1969). Euklid (ca. 325 – ca. 265 v. Chr.) spricht im 10. Buch seiner Elemente davon, dass Maße kommensurabel oder inkommensurabel (σύμμετρoν, ασύμμετρoν) sein können. Die Länge der Diagonale eines Quadrats ist √2, wenn man bei der Seite des Quadrats von einer Länge 1 ausgeht, und die irrationale Zahl √2 lässt sich tatsächlich nicht mit dem gleichen Maß wie die rationale Zahl 1 messen. Ganz gleich, wie klein man die Maßeinheit wählt, es lässt sich keine finden, mit der sowohl die Seite des Quadrats als auch seine Diagonale als ein ganzzahliges Vielfaches dieser Maßeinheit gemessen werden kann – wobei es sich bei dieser Inkommensurabilität um einen theoretischen Begriff handelt. Was heißt es nun für verschiedene Paradigmen, dass es für sie »kein gemeinsames Maß« gibt? Die These der Inkommensurabilität wird oft so verstanden, als ob sich wissenschaftlicher Fortschritt aufgrund mangelnder Vergleichbarkeit gar nicht feststellen ließe. Die Vorstellung wäre also, dass sich verschiedene Paradigmen einfach abwechseln, immer nach dem Muster Normalwissenschaft, 14 Kuhns Wissenschaftsphilosophie im historischen Kontext Krise, Revolution. Demnach ließe sich gar nicht entscheiden, welche von zwei Theorien die bessere ist, weil sie jeweils verschiedenen Paradigmen angehören. Daraus erwächst der häufig gehörte Vorwurf gegen Kuhn, dass Wissenschaft dann überhaupt kein rationales Unterfangen mehr sei. Gemessen wird eine wissenschaftsphilosophische Theorie – wie z. B. die der wissenschaftlichen Revolutionen – (seit Kuhn) an der naturwissenschaftlichen Praxis. Kuhn untersuchte historisch – nicht nur mit Beispielen in The Structure of Scientific Revolutions, sondern auch z. B. in seinem Buch The Copernican Revolution – wie sich die Übergänge von alten zu neuen Theorien vollzogen haben. Kuhns enorme Wirkung auf die heutige Wissenschaftsphilosophie kam insgesamt weniger durch die von ihm vertretene Position zustande als durch die von ihm praktizierte Methode. Kuhn folgend werden philosophische Positionen über Wissenschaft inzwischen vielfach an der naturwissenschaftlichen Praxis gemessen. Heute ist es häufig üblich und wird erwartet, zur Unterstützung einer bestimmten philosophischen Position detaillierte historische oder aktuelle Fallstudien vorzulegen. Wissenschaftsphilosophie abgekoppelt von Wissenschaftsgeschichte ist seit Kuhn um einiges seltener geworden. Sowohl psychologische als auch soziologische Faktoren werden bei der historischen Analyse miteinbezogen, wenn es darum geht, wie wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden, wie sie bestätigt oder umgestoßen werden und wie sie im Lauf der Zeit Anerkennung finden. Kuhns Vorgehen in The Structure of Scientific Revolutions ist naturalistisch. Das heißt, er macht empirische Forschungsergebnisse zur Grundlage seiner Analyse. Im Vorwort zu Structure beschreibt er selbst die Vorbereitung und Entwicklung seiner Ideen: Much of my time in those years, however, was spent exploring fields without apparent relation to history of science but in which research now discloses problems like the ones history was bringing to my attention. (Kuhn, 1970, vi) Unter den Einflüssen, die scheinbar nichts mit Wissenschaftsphilosophie zu tun haben, nennt Kuhn dann die entwicklungspsychologischen Arbeiten von Jean Piaget (1896–1980), die des Linguisten Benjamin Lee Whorf (1897–1941), den Philosophen Willard Van Orman Quine (1908–2000) und das wissenssoziologische Werk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache Kuhns Wissenschaftsphilosophie im historischen Kontext 15 von Ludwik Fleck (1896–1961). Die naturalistische Methode in der Philosophie besteht gerade darin, dass wissenschaftliche Untersuchungen und Ergebnisse aus ganz verschiedenen Disziplinen verwendet werden können. Diese verschiedenen empirischen »Quellen« sind laut diesem Ansatz geradezu unverzichtbar. In einem naturalisierten Rahmen hat dann die Philosophie gegenüber den Wissenschaften keinen privilegierten Status, was den Wissenserwerb angeht; sie gliedert sich eher in den empirischen Wissenserwerb ein. Kuhn untersucht einerseits die wissenschaftliche Praxis historisch und argumentiert andererseits mit psychologischen Forschungsergebnissen. Seine Analyse der wissenschaftlichen Entwicklung stützt sich auf die Empirie, nicht auf logische Analyse oder a priori Argumente, zumindest in den frühen Tagen seiner Karriere. Dazu muss man einschränkend bemerken, dass Kuhn, der in seinem frühen Werk eindeutig ein Vorreiter des Naturalismus war, sich später von dieser Position abwendete. Alexander Bird kommentiert entsprechend: By the time naturalism had become respectable in philosophy Kuhn had repudiated it in favour of a more traditonal, a priori, philosophical (and Kantian) approach. (Bird 2003, 127; vgl. auch Bird, 2002) Umgekehrt vermutet Bird (2004), dass Kuhns naturalistische Tendenzen für die relativ negative Aufnahme seines Buches unter Philosophen verantwortlich waren. Vielleicht waren naturalistische Argumente in der philosophischen Landschaft einfach noch zu wenig vertraut. Dass aufeinander folgende Paradigmen inkommensurabel seien, ist, naturalistisch argumentiert, ein empirischer Befund. Später in seiner Karriere versuchte Kuhn dann, diese These sprachphilosophisch zu begründen, und wandte sich von seinem früheren Naturalismus ab, mit dem er auf die Disziplin der Wissenschaftsphilosophie einen so prägenden Einfluss ausgeübt hatte. Darin, dass Kuhn versucht, die These der Inkommensurabilität sprachphilosophisch zu begründen, zeigt sich letztlich auch eine gewisse Nähe zum Logischen Empirismus, in dem Theorien ja als sprachliche Gebilde mit theoretischen Termen rekonstruiert werden. Bird (2000, 260ff.) spekuliert, dass es Kuhn um die Anerkennung der philosophischen Zunft ging, die ihm ja immer wieder verweigert wurde, z. B. als er in 16 Kuhns Wissenschaftsphilosophie im historischen Kontext Berkeley zwar zum Professor avancierte, aber »nur« in Geschichte und nicht in Philosophie. Ähnlich wurde Kuhns berühmtes Buch zwar sehr viel rezepiert, aber verstärkt in Disziplinen außerhalb der Philosophie, wie der Soziologie. Obwohl sich Kuhn in seiner Arbeitsweise deutlich vom Logischen Empirismus abgrenzt, steht er dennoch klar unter dem Einfluss dieser Denkrichtung. Ein erstes Indiz dafür, dass der Kontrast nicht gar so scharf ist, ist die Tatsache, dass The Structure of Scientific Revolutions als Teil der International Encyclopedia of Unified Science veröffentlicht wurde. Letztere sollte der Darstellung der logischempiristischen Sichtweise der Wissenschaft dienen und wurde von Rudolf Carnap und Charles Morris (1901–1979) herausgegeben. Es existieren zwei Briefe Carnaps an Kuhn, die ersterer in seiner Eigenschaft als Herausgeber verfasste (vgl. Reisch, 1991). In diesen Briefen äußert sich Carnap, der wohl bedeutendste Repräsentant des Logischen Empirismus, sehr positiv und mit Interesse zu Kuhns Manuskript. Dies deutet darauf hin, dass Carnap selbst Kuhns Arbeit nicht als Todesstoß für die von ihm vertretene Denkrichtung betrachtete. Im Gegenteil, John Earman (1993) betont die Parallelen zwischen Kuhns und Carnaps Auffassungen bezüglich der Schwierigkeit einer ›neutralen‹ (also nicht theoriebeladenen und nicht sprachabhängigen) Beschreibung der Fakten und der Übersetzung von einer Theoriesprache in eine andere. Einige der Annahmen, die Kuhn von den Logischen Empiristen übernimmt, sind zentral für die Entwicklung der Kuhnschen Position. So zeigt Bird (2002, 452), dass Kuhn sich zwar darin von den Logischen Empiristen unterscheidet, dass er Wahrnehmung und Beobachtung nicht für theorieunabhängig hält. Umgekehrt übernimmt er aber von ihnen, dass sich die Rolle theoretischer Terme anhand ihrer Rolle innerhalb der Theorie erschließt. So argumentiert Kuhn z. B., dass der Begriff der Masse in der Newtonschen Gravitationstheorie ein anderer ist als in Einsteins Relativitätstheorie (vgl. Kuhn, 1970, 101-102). Bei Kuhn sind also theoretische Terme abhängig von ihrem theoretischen Kontext, also nicht fix. Des Weiteren sind Beobachtungsterme paradigmenabhängig, also auch nicht fix. Angesichts dessen ist es laut Bird alles andere als erstaunlich, dass Kuhn bei der These der Inkommensurabilität anlangt, eben gestützt auf eine Grundthese des Logischen Empirismus, das die Bedeutung eines theoretischen Begriffs wie ›Masse‹ nicht stabil ist jenseits der Formulierung einer neuen Theorie. Kuhns Wissenschaftsphilosophie im historischen Kontext 17