Im Körper gefangen bei klarem Verstand KRANKHEIT Christel Kuhn leidet an Progressiver Supranukleärer Blickparese (PSP) – Falsche Diagnose In Deutschland leiden etwa 12 000 Menschen an PSP. Die Krankheit ist unheilbar. VON LARS HERRMANN GANDERKESEE – Sie fiel nach hinten um. Unvermittelt. Immer wieder. So fing es an. Ständig war ihr schwindelig. Vielleicht war es der Wetterumschwung? Christel Kuhn wusste keine Erklärung. Auch ihr Mann Horst war ratlos. Noch mehr Stürze. Ein Neurologe diagnostizierte Parkinson. Ein Schock. Acht Jahre sind seitdem vergangenen. Eine Fehleinschätzung. Etwa ein Jahr später wussten es Horst (81) und Christel Kuhn (72) besser: Sie ist unheilbar krank. Progressive Supranukleäre Blickparese, kurz PSP. „Parkinson fängt auch so an“, sagt Horst Kuhn, ohne den Ärzten einen Vorwurf zu machen. Bei der PSP gehen Nervenzellen in Gehirnarealen, die die Motorik steuern, zugrunde. Sobald die Krankheit einsetzt, beträgt die Lebenserwartung nur noch Erinnerungen an bessere Tage: Horst Kuhn hat viele Fotos seiner Frau Christel, die es liebte, zu reisen. BILD: LARS HERRMANN zehn Jahre. Höchstens. Die Koordination zwischen optischen Eindrücken – vom Auge vermittelt – und deren Umsetzung in körperliche Bewegung funktioniert nicht mehr. Betroffene taumeln. „Sie kam, trotz Rollator, sogar vom Bürgersteig ab“, sagt Horst Kuhn. Etwa 12 000 Deutsche leiden an PSP. In den Bundeslän- dern Niedersachsen und Bremen sind 22 Fälle bekannt. Medikamente können nur die Symptome lindern. „Man stellt allerhand auf die Beine. Obwohl man weiß, dass es zu Ende geht“, sagt Rolf Stiening aus Ganderkesee. Er ist Vorstandsmitglied der PSP-Gesellschaft und Koordinator für Bremen und Niedersachsen. Auch seine Frau war einst an PSP erkrankt. Horst Kuhn hat sich mit dem Schicksal seiner Frau abgefunden. „Ich weiß, es wird nicht besser. Man kann nichts für sie machen.“ Zuerst sei es aber grausam gewesen, gesteht der 81-Jährige. Christel Kuhn wird seit elf Monaten in einem Pflegeheim in Bookholzberg betreut. Jahrelang übernahm Ehemann Horst diese Bürde. Täglich. 24 Stunden. „Vatti, du musst auch mal an dich denken“, sagten die vier Kinder. Er fuhr eine Woche weg. Sie kam in Kurzzeitpflege. Und blieb. „Jetzt gehe ich jeden Tag ausgeruht zu ihr.“ Das Stadium ihrer Krankheit ist weit fortgeschritten. Ihr Gesicht habe sich gravierend verändert. Die Muskeln ab der Schulter aufwärts seien steif wie ein Brett. „Manchmal bekommt sie ihre Augen nicht auf“, berichtet Horst Kuhn. Daumen hoch, das heißt „Ja“. Daumen runter – „Nein“. Sie kann nicht mehr sprechen. Nicht mehr schlucken. „Wenn sie einen Hustenanfall bekommen sollte, sehe ich schwarz“, sagt Horst Kuhn. 41 Jahre sind sie verheiratet. Christel Kuhn bekommt aber noch alles mit. Die 72Jährige merkt, dass die Enkeltochter inzwischen nicht mehr allein zu ihr gehen mag. Die PSP-Gesellschaft bringt die Krankheit auf den Punkt: „Im Körper gefangen. Bei klarem Verstand.“