3 Genetische Entwicklungstheorie

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Karl Garnitschnig, (1998) Werte und Wertbewußtsein
Werte und Wertbewußtsein
1.1 ENTWICKLUNG
19
1.2 ENTWICKLUNGSBEGRIFF
19
1.3 Denken und Moralentwicklung
23
Wie ist Werterziehung und Entwicklung von Wertbewußtsein in der Schule möglich? Es
ließen sich eingangs Horrorszenen verschiedenster Art aus dem Schulbereich schildern und
auf diese Weise die Frage so auf die Spitze treiben, dass man sagen muß: Jede Bemühung um
Wertentwicklung in der Schule ist zu Aussichtslosigkeit verurteilt. Was will man der Schule
denn nicht noch aufbürden? Was die Gesellschaft vermasselt und verdirbt, soll die Schule
wieder zurechtrücken. Die Kinder kommen geschädigt in die Schule und die Lehrer sollen sie
heilen. Das ist eine Überforderung und außerdem ist die Schule ein Spiegelbild der
Gesellschaft.
Trotzdem wird die Arbeit als Lehrer nur befriedigend sein, wenn die Kinder und Jugendlichen
nicht nach ihren Defiziten, sondern nach ihren Ressourcen, ihren Möglichkeiten gesehen
werden, die bestimmte Werte haben und ein Wertbewußtsein entwickeln wollen, das sie ihr
Leben sinnvoll gestalten lässt. Nur was sie oft aus Bedürfnisdefiziten als Sinn betrachten,
entspricht nicht jenem Wertbewußtsein, das es ihnen und uns ermöglicht, ein gutes Leben
aufzubauen. Können aber in der Schule jene Bedingungen geschaffen werden, die zur
Übernahme gewünschter Werte bei den Schüler/innen und zu einem konstruktiven
Wertbewußtsein führen können? Es mangelt nicht an Werten, sondern an Wertbewußtsein
(vgl. dazu RATHS/HARMIN/SIMON 1976)
Ich will nicht empirische Daten darüber wiederholen, nach welchen Werten heute Menschen
leben (ÖSTERREICHISCHE JUGEND - WERTESTUDIE 1991) oder wie die
Wertentwicklung angeblich faktisch verläuft (PIAGET 1979, KOHLBERG 1987,
KOHLBERG/TURIEL 1978, OSER/ALTHOF 1992). Es werden vielmehr Kriterien für einen
bestimmten Wertbegriff formuliert und dann unterschiedliche Wertmuster angeführt und nach
Gründen gefragt, die für die Präferenz eines bestimmten Wertmusters sprechen. Ich werde
zeigen, dass diese Gründe zugleich die Bedingungen der Entwicklung von Werten sind.
Die oft gehörte Klage, dass die „Wertkrise“ - gemeint ist damit der schwindende offizielle
Wertkonsens - zu einem „Verlust an Hilfen bei der Wertorientierung“ (BREZINKA 1993, S.
56 f.) führe, ist die Klage derer, die gerne eine geringere Freiheit der Individuen und viel
lieber eine durch Hörigkeit garantierte Sicherheit möchten. Dahinter steht eine Angst vor
Autoritätsverlust im Sinn des Rufs nach Autorität, weil man es sich und im besonderen
anderen nicht zutraut, in kommunikativen Prozessen Konsens, Koexistenz, gerechte soziale
Strukturen, Solidarität herzustellen. Dahinter steht ein Zweifel an der Vernünftigkeit bzw.
Vernunftfähigkeit von Menschen, aber immer der anderen. Wolfgang Brezinka ersetzt den
Begriff „Wert“ durch den vermeintlich schärferen Begriff „normative Orientierungsmuster“
und möchte, dass alle Bürger an sie „gebunden sein sollen“ (1993, S. 64). Dieser Begriff
entspricht bei ihm dem der „Grundwerte“. Man kann nichts gegen den Wunsch haben,
Grundwerte mögen Geltung haben. Die Frage ist nur, wie glaubt man ihre Geltung erreichen
zu können, durch Zwang, Macht oder durch die Kraft vernünftiger Argumentation in
wechselseitiger Anerkennung. Freiheit bedeutet, Sicherheit immer erst in kommunikativen
Prozessen zu gewinnen und nicht durch Unbewusstheit oder verordnet Sicherheit zu haben.
1
Karl Garnitschnig, (1998) Werte und Wertbewußtsein
1 Alles Handeln ist wertbesetzt
Es wird - gegen die These von der Wertneutralität - von der Annahme ausgegangen, dass alles
Handeln wertbesetzt ist. Es bezieht seine Motive aus Wertvorstellungen, aus Vorstellungen
des Guten. Denn um eines für uns Guten oder gut Scheinenden setzen wir zielstrebiges
Handeln ein oder verhalten wir uns auf eine bestimmte Weise. Beziehungshandeln als ein
ausgezeichnetes Handeln in pädagogischen Kontexten ist ebenso von unseren
Wertvorstellungen bestimmt. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, sie wirken. Da dies
der Fall ist, brauchen Lehrer eine große Bewusstheit über ihre Handlungsmotive, von welchen
Wertmustern sie diktiert sind. Denn alle unsere Interaktionen wirken auf andere, ob wir
wollen oder nicht. Man kann sich nicht nicht verhalten.
Daher ist es so wichtig, über die Motive der eigenen Interaktionen Bescheid zu wissen und vor
allem darüber, aus welchen Wertmustern heraus wir uns verhalten oder handeln. Unter
Handeln wird bewusstes, geplantes Verhalten verstanden, das unter Vorstellungen eines Guten
steht. Man kann
1. alles unter einem größtmöglichen Lustgewinn sehen und sagen, was Lust verschaffe, ist gut,
2. unter dem größtmöglichen Nutzen entweder nur für sich oder auch für andere, und dann
auch unter dem Prinzip von Gerechtigkeit, oder
3. unter dem Gesichtspunkt wechselseitiger Anerkennung unter Anwendung universeller
ethischer Prinzipien und schließlich
4. kann man die Vorstellungen des Guten oder gutes Handeln unter dem Gesichtspunkt
konkreter wechselseitiger Anerkennung, die in direkten symmetrischen Kommunikationen
verläuft, sehen.
Es ist eine Tatsache, dass es unterschiedliche Wertkonzepte gibt. Für welches aber wollen wir
uns entscheiden? Angebote gibt es genug, aus allen Richtungen. Gibt es Kriterien, die uns bei
dieser Entscheidung helfen können? Wir bejahen diese Frage und leiten diese Kriterien aus
den Bedingungen ab, die erfüllt sein müssen, dass Menschen zu dem kommen, was für sie gut
ist. Seien wir nicht dogmatisch und lassen wir einmal jede Vorstellung des Guten gelten und
analysieren wir, was die Bedingung dafür ist, dieses Gute zu erreichen. Lust, Wohlbefinden
im Sinne der unter 1 beschriebenen Vorstellung ist ein sehr sensibles Gut, sehr schwer zu
bekommen. Das zeigt sich am deutlichsten in der frühen Kindheit. Das Kind ist bei seinem
Bedürfnis nach Wohlbefinden völlig abhängig von Erwachsenen, die ihm wohlwollen. Das ist
ganz leicht einsichtig und braucht nicht weiter bewiesen zu werden. Dies gilt so lange - wenn
auch in einem immer weiter abnehmendem Maße - bis das Individuum in der Lage ist, voll für
sich selbst zu sorgen. Was für das Erlangen von Lust oder Wohlbefinden gilt, gilt ähnlich
auch vom Kriterium der Nützlichkeit. Der größte Zuwachs an Gütern für alle hat
wechselseitige Anerkennung zur Bedingung. Also ist wechselseitige Anerkennung jenes
Kriterium, das die Erfüllung aller anderen Kriterien oder Vorstellungen des Guten ermöglicht.
Wir dürfen es daher mit Recht als den anderen übergeordnet ansehen. Leben Personen in
wechselseitiger Anerkennung und regeln sie so ihr Zusammenleben, können sie auch die
Bedingungen für ein gutes Zusammenleben schaffen. Wohlwollen und Anerkennung von
anderen sind die Bedingungen einer gesunden sozialen Entwicklung. Bekommt ein
Individuum, was es für seine Entwicklung braucht, nämlich Achtung, Wertschätzung und
echte Anerkennung, kann es sich zu einer Person entwickeln, die Anerkennung geben kann.
Das Selbst entwickelt sich aus sozialen Interaktionen, die von Anerkennung und
Wertschätzung getragen sind (NOAM 1993, S. 174).
Als Resumee der bisherigen Argumentation stellen wir fest, dass wir als vergesellschaftete
Individuen unser wie immer verstandes Wohl nur unter der Bedingung wechselseitiger
2
Karl Garnitschnig, (1998) Werte und Wertbewußtsein
Achtung und Anerkennug erreichen. Daraus kann die Forderung abgeleitet werden, dass alle
Regeln des Zusammenlebens aus den Bedingungen wechselseitiger Anerkennung aufgestellt
werden sollten. Dies lässt sich aber nur umsetzen, wenn Regeln nicht von außen vorgegeben
werden, sondern aus den Notwendigkeiten des Zusammenlebens entstehen. Nur dann nämlich
werden sich die Schüler ernst genommen und anerkannt fühlen. Hinweise auf Vorschriften
bringen den Interaktionspartner in die Ecke eines unechten Menschen, der nicht ernst
genommen wird. Dass diese Forderung auch an die Schulverwaltung adressiert werden muss,
soll später aufgenommen werden. Werden Schüler ernst genommen, dann werden diese
Regeln auch gut in diesem Sinne sein, dass sie aus eigenem ihr Bestes geben, ihre Freiheit
zum Wohl der anderen einsetzen.
Da wir, was wir tun, um eines für uns Guten willen tun, können wir bei allem Handeln nach
seinen Grundmotiven fragen und werden dabei zu den faktischen Wertmustern von Personen
kommen. Alles Handeln ist also motiviert, aber die Motive können meh oder weniger bewusst
sein, und außerdem können wir uns bei verschiedenen Handlungen mehr oder weniger
konsistent motivieren.
1.1 Anerkennung als Bedingung und Ziel des guten Zusammenlebens von
Individuen
Nehmen wir an, dass ein gutes Zusammenleben das Ziel sowohl der Entwicklung der
Individuen als auch der gesamten Menschheit ist, wechselseitige Anerkennung aber die
Bedingung für die Erreichung dieses Ziels, dann ist auch wechselseitige Anerkennung ein
Wert für sich. Der Sinn des Sinns menschlichen Handelns wäre danach, dass Menschen in
selbsttätiger und selbstbestimmter Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt zu einem guten
Leben kommen. Da dies nur bei wechselseitiger Anerkennung möglich ist, wie wir
bedingungsanalytisch festgestellt haben, müssten wir alles tun, dass Menschen tatsächlich
wechselseitige Anerkennung lernen und leben können. Anerkennung ist somit Bedingung und
Ziel eines guten Zusammenlebens von Individuen.
Es wird sehr viel über Lernen und Lernprozesse auch über das Lernen von Werten
gesprochen, aber es wird dabei der interaktionelle Aspekt des Lernens, die Bedeutung der
Beziehungsdynamik für die Aneignung der Lerninhalte auf den verschiedenen Ebenen zu
wenig beachtet. Gerade für die Aneignung von Werten bzw. von Wertmustern oder von
Grundüberzeugungen, die wir bei der Aneignung von Welt zugrundelegen, ist der
Beziehungsaspekt von herausragender Bedeutung, denn es kommt hier im besonderen das
Sozialemotionale und der Wille zum Tragen. Im sozialemotionalen Bereich und in dem des
Willens heißt Lernen, Austausch mit anderen zu pflegen und in diesem Austausch alle
Erfahrungen über Welt einzubeziehen. Also spielt dabei immer auch der kognitive Aspekt
hinein und wir brauchen bei der nötigen Betonung von Wertungsprozessen nicht zu
befürchten, dass dadurch die intellektuelle Entwicklung leidet. Das Gegenteil ist der Fall.
RATHS/HARMIN/SIMON konnten in empirischen Untersuchungen nachweisen, dass durch
Wertklärungsverfahren sich neben anderen Faktoren auch Lernschwächen positiv verändern.
Es verbessert sich die Einstellung zum Lernen, die Schüler werden initiativer, selbständiger,
ausdauernder, beteiligen sich aktiver, werden tatkräftiger, zielbewusster und kreativer (1976,
S. 65). Das ist klar, denn beim Prozess der Wertklärung werden generalisierte kognitive
Fähigkeiten geübt.
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Karl Garnitschnig, (1998) Werte und Wertbewußtsein
1.2 Beziehungsdynamik und Wertungsprozesse
Erst in der Beziehungsdynamik - basierend auf Anerkennung - ist Wertklärung in einer Weise
möglich, in der die Kinder/Jugendlichen zu selbständiger, freier Entscheidung bei Beachtung
mehrerer Entscheidungsmöglichkeiten und der Abwägung ihrer Folgen kommen, in der es
ihnen auch möglich ist, zu dem zu stehen, für das sie sich entschieden haben. Dies tun zu können, ist Bedingung für das Kennenlernen seiner selbst, um ein konstruktives Selbstbild zu entwickeln.
Kinder haben zweifelsfrei schon von Anfang an ein Werterleben (vgl. HUBER 1993, S. 77 f.).
Sie ziehen Wohlbefinden Magenkrämpfen vor und Zärtlichkeit und Fürsorge einer
Vernachlässigung. Kinder „wissen“ äußerst sensibel, was für sie gut ist, weil sie ganz aus dem
Gefühl leben und noch keinen Zeitbegriff haben, der es ihnen ermöglicht, Bedürfnisse
aufzuschieben (vgl. GOLDSTEIN u. a. 1974, GARNITSCHNIG 1988). Da sie noch nicht
rationalisieren können, reagieren sie auf Nichtbeachtung mit Apathie, Deprivation, Krankheit,
sogar mit Sterben.
Kinder können aber auch schon sehr früh, jedenfalls noch vor der Schule „die intrinsische
Geltung universeller moralischer Regeln“ (NUNNER-WINKLER 1993, S. 105) von
Spielregeln (z. B. Murmelspiel), sozialen Konventionen (Spaghetti nicht mit den Fingern
essen) und Klugheitsregeln (Jeden Abend die Zähne putzen) unterscheiden (vgl. TURIEL
1983). In einer Untersuchung wurden kleine Kinder gefragt: „‘Stell dir vor, es gibt eine
Familie/eine Schule/ein Land, da darf man Murmeln anders spielen/Spaghetti mit den Fingern
essen/ein anderes Kind schlagen/da braucht man die Zähne abends nicht zu putzen.’ Es zeigte
sich, dass die Kinder sehr klar zwischen Konventionen und Normen unterscheiden, die zu
allen Zeiten und in allen Kulturen eine unbedingte, von Sanktionen und Autoritäten
unabhängige Gültigkeit besitzen: Man darf ein anderes Kind nicht schlagen, auch wenn der
Vater/der Direktor/der König es erlauben und nicht einmal Gott dürfte das tun oder erlauben.“
(NUNNER-WINKLER 1993, S. 105, vgl. NUCCI/LEE 1993)
Bei der dynamischen Betrachtung der Moralentwicklung, die von dem Beziehungsgeschehen
zwischen Kindern und ihrer sozialen Umgebung bestimmt ist, sind in die Moralentwicklung
auch mögliche Brüche einzubeziehen. Grundsätzlich könnte es nämlich der Fall sein, dass zu
jedem Zeitpunkt in der Entwicklung ein Ereignis eintreten kann, das für das Kind und später
für den Jugendlichen und Erwachsenen bestimmend sein kann, welche Moral es/er annimmt.
Die wesentlich beeinflussenden Faktoren sind das Beziehungsgeschehen, das Ausmaß an
Zuwendung und Bedürfnisbefriedigung, an Achtung, Annahme, Verstehen und an
Anerkennung, das Selbstbild v. a., was die Selbstwirksamkeit betrifft. Bedeutsam ist also die
soziale Umwelt und ihr Druck in Richtung konformer Verhaltensweisen oder ihr Freilassen
für eigenständige Entscheidungen je nach den Möglichkeiten der Person, von rigiden
Erwartungen oder offenen Angeboten.
Es wird hier eine genetische Theorie der Entwicklung zugrundegelegt, die nach den
Vorgängern oder Vorläufern der vollen Ausprägung eines Sachverhalts, eines
Persönlichkeitsmerkmals oder einer psychischen Funktion sucht (ERIKSON 1981, 1979). Die
genetische Rekonstruktion von Moralentwicklung geht also von einem klar definierten Begriff
von Moral aus und zeigt, wie sich seine Merkmale im Laufe der Entwicklung
ausdifferenzieren.
Wenn Moral die Regeln des guten Zusammenlebens betrifft, die in wechselseitiger
Anerkennung gewonnen wurden und unter dem Prinzip wechselseitiger Anerkennung
formuliert werden, ist für die Moralentwicklung zu fragen, wie ein Individuum im Laufe
seiner Entwicklung wechselseitige Anerkennung leben kann und inwieweit es seine Umwelt
begreift, bzw. wie weit es die Komplexität der Umwelt erfassen kann, um Vorstellungen über
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Karl Garnitschnig, (1998) Werte und Wertbewußtsein
das Leben und Zusammenleben entwickeln zu können. Das bedeutet: Wie konkret kann ein
Individuum auf Situationen reagieren? Genauer: Welche Wirklichkeitsbereiche und welche
ihrer Merkmale kann eine Person konkret in ihr Handeln einbeziehen? Fassen wir vorläufig
zusammen: Aus der Definition von Moral als jene Regeln des Zusammenlebens, die in
wechselseitiger Anerkennung zwischen Individuen ausgehandelt werden, lassen sich zwei
Bedingungen von Moralentwicklung analytisch herausschälen: (1) Das Lernen wechselseitiger
Anerkennung und (2) die kognitive Fähigkeit, die Situationen des Zusammenlebens
beschreibenden Merkmale immer konkreter zu erfassen.
Um Personen zu moralischem Bewußtsein zu führen, müssen die Interaktionen von dem
getragen sein, was konstitutiv für Moral ist. Die Moralentwicklung von Kindern wird also
davon abhängen, wie weit die erwachsenen Bezugspersonen zu wechselseitiger Anerkennung
fähig sind und diese mit den Kindern leben können. Stehen die Bezugspersonen innerhalb der
Form eines Weltverstehens, das nicht von freier Selbstbestimmung, sondern von
Abhängigkeit von anderen Personen oder Normen und Wertvorstellungen getragen ist, dann
wird die Beziehungsgestaltung ein Kind in die Heteronomie führen. Ist jedoch die
Beziehungsgestaltung von allem Anfang an von freier Selbstbestimmung und wechselseitiger
Anerkennung getragen, kommt es nicht zur konventionellen Stufe der Moralentwicklung. Die
bisherigen Entwicklungstheorien hätten also nur insoferne recht, als die
Beziehungsgestaltung, die jene Kinder, die für die Datenerhebung interviewt wurden, erlebt
haben, von Heteronomie getragen war.
Wie die Moralentwicklung verläuft, ist sowohl nach Jean Piaget als auch nach Lawrence
Kohlberg von den Interaktionen mit der Umwelt abhängig. Dabei haben die sozialen
Interaktionen eine besondere Bedeutung. Wie sie sich für das Kind gestalten, hängt in der
Kindheit von den Interaktionen der erwachsenen Bezugspersonen mit dem Kind ab.
Entscheidend dabei ist, wieweit es ihnen von ihrer eigenen Entwicklung her gelingt, auf das
Kind verstehend einzugehen, dass dieses bei seinem Fühlen und Bewerten bleiben kann, auch
wenn die Bezugspersonen anderer Meinung sein sollten. Bedingung für ein Gleiten in
Heteronomie also ist, dass das Kind sich in seiner Existenz bedroht fühlt, was bei ihm dazu
führt, dass es seine eigene Bewertung aufgibt. Die Selbstbewertung ist beim Kind
verständlicherweise sehr sensibel und sehr schnell bedroht, solange es zu keiner Abstraktion
und Rationalisierung fähig ist. Die Piagetschen oder Kohlbergschen Entwicklungsphasen
lassen sich nur unter Bedingungen denken, unter denen dem Kind sein Selbst genommen
wurde, es aufgeben musste, seine Bewertungsgrundlage in sich selbst zu spüren (vgl. dazu
ROGERS 1989). Damit aber nehmen sie in ihre Theorie der Moralentwicklung moralfremde
Aspekte auf und sie wird somit inkonsistent.
Erfolgt die Entwicklung eines Kindes so, dass es immer vollständige Anerkennung erfährt
(oder zumindest soweit, dass es sich nicht bedroht fühlt), dann wird beim Kind die
Vorstellung „gut“ von eigenen inneren Bewertungsemotionen begleitet sein. Die Entwicklung
verläuft dann in einer signifikant anderen Weise, wie sie von Piaget und im Anschluss an ihn
von Kohlberg konzipiert wurde. Ihre Konzeption hat empirische Plausibilität, sofern es
wenige Personen gibt, die wirklich vollständige Anerkennung leben können oder von ihren
Bezugspartnern erleben. Daher wird es nur relativ wenige Kinder geben, deren
Moralentwicklung und Moralvorstellungen die Piaget-Kohlberg’sche Theorie widerlegen
könnten. Ließen sich einige Personen finden und einige genaue Fallstudien durchführen, reicht
dies für eine erste Bestätigung der Hypothese.
Als theoretischen Hintergrund konstruieren wir die Entwicklung der Vorstellungen von „gut“
unter Bedingungen von Anerkennung und von nicht ausreichender Anerkennung nach. Als
Kriterien für gut setzen wir das an, was das Kind und dann der Jugendliche und Erwachsene
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Karl Garnitschnig, (1998) Werte und Wertbewußtsein
als Objekt wechselseitiger Anerkennung erkennt und austauschen kann. Das sind zunächst die
Bedürfnisse, die ein Kind erfüllt haben muss, damit es sich gut entwickeln kann. Die
Bedingungen einer solchen Entwicklung lassen zugleich das Kind diese Bedürfnisse
entwickeln: Zärtlichkeit, Anerkennung, Vertrauen, Autonomie, d. h., die Erfahrung der
Übereinstimmung mit seinen Bedürfnissen und mit seinen Gefühlen (vgl. GRUEN 1990a).
Es
ist
zwischen
einer
Moralentwicklung
im
Sinne
einer
genetisch
entwicklungspsychologischen Theorie und den weltanschaulichen Wertkonzepten
erwachsener Personen zu unterscheiden. Kinder erwerben erst im Laufe von Lern- und
Reifungsprozessen Sozialperspektiven und die Fähigkeit, sich von ganz unterschiedlichen
Situationen ansprechen zu lassen und sie differenziert zu sehen, dass sie auch die Folgen von
Handlungen für andere abschätzen können. Erwachsene entscheiden sich mehr oder weniger
bewusst und legen dabei ihren Entscheidungen Moralkonzepte bzw. Wertmuster zugrunde. Es
sind daher zwei Konzepte der Moralentwicklung zu entwerfen: (1) ein
entwicklungspsychologisches Konzept und (2) ein handlungstheoretisches Konzept von
Moralvorstellungen bzw. Wertmustern der erwachsenen Person.
Mit etwa zwölf Jahren, wenn das Kind und dann der Jugendliche fähig wird, formal zu
operieren (vgl. PIAGET 1984), ist grundsätzlich die Kompetenz dazu gegeben, jedes
Moralkonzept - auch das der wechselseitigen Anerkennung zu leben. Allerdings sind in der
Regel Pubertierende so sehr mit sich selbst und dann mit dem Einstieg in die Ausbildung und
das Berufsleben beschäftigt, dass die reife Form von Moralität sich erst mit der Gewinnung
einer eigenen Identität um die Zwanzig herausbilden wird.
Die Gefühle des Kleinkindes sind leider sehr leicht zu irritieren. Das Kind ist so sehr auf
Sicherheit, Anerkennung und Zutrauen angewiesen, dass es sehr bald aufgibt, seinen eigenen
Gefühlen zu vertrauen, wenn es nicht anerkannt wird. Werden aber diese Bedürfnisse
selbstverständlich anerkannt und kann das Kind vom Erwachsenen Liebe und Anerkennung
erfahren, dann entwickelt das Kind selbstverständlich diese Personaktivitäten, die die
erwachsenen Bezugspersonen ihm gegenüber zeigen.
Ist dies nicht der Fall, wird das Kind sehr bald seinen Gefühlen misstrauen und das als gut und
richtig ansehen, was die Erwachsenen von ihm wollen, sofern dies nicht gänzlich seinen
Vorstellungen widerspricht. Wird das Kind gegen seine Vorstellugen immer wieder zu etwas
gezwungen, was seinen eigenen Vorstellungen widerspricht, kann es schizoides Verhalten bis
zu Schizophrenie (GREEN 1978) und andere neurotische Verhaltensweisen entwickeln. René
SPITZ (1967), Alice MILLER (1980), Arno GRUEN (1990a, 1990b), John BOWLBY (1973,
1984) u. a. haben solche Entwicklungen beschrieben. Das Kind hat ein so großes Bedürfnis
nach Angenommensein und Liebe, dass es, um sie zu bekommen, äußerst anfällig für
Manipulationen aller Art und Konditionierung ist und begibt sich leicht in Abhängigkeit,
wenn ihm nicht Liebe frei und bedingungslos gegeben wird.
Zu seiner Entwicklung braucht jeder Mensch ein Mindestmaß an Achtung, Sicherheit,
Wohlwollen und Anerkennung. Dieses Maß kann nicht von außen bestimmt werden, sondern
ist an der positiven Entwicklung des Kindes zu messen, ob es Selbstvertrauen und
Anerkennung anderen gegenüber zeigt. Machen wir das, was wir für unsere Entwicklung
brauchen, zum Kriterium für gutes Handeln schlechthin, dann erhalten wir den Grundsatz für
Moral: Was Menschen in gegewechselseitiger Achtung und Anerkennung als Regeln für ihr
Zusammenleben entwerfen, ist gut. Damit sollten sich alle Regeln des Zusammenlebens aus
den Bedingungen wechselseitiger Anerkennung konstituieren. Diese ist nicht nur die
Grundlage aller Moralität, sondern auch der Motor der Entwicklung zu ihr. Menschen
entwickeln Moralität, wenn sie in Beziehungen Anerkennung erfahren und dabei
wechselseitige Anerkennung lernen. Ist dies der Fall, dann werden diese Regeln auch gut in
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Karl Garnitschnig, (1998) Werte und Wertbewußtsein
dem Sinne sein, dass Menschen aus eigenem ihr Bestes geben, ihre Verantwortung und ihre
Freiheit zum Wohl prinzipiell aller Menschen einsetzen. Das Prinzip der Universalisierung
kann real werden.
Erfahren Menschen keine Anerkennung, dann geraten sie in Abhängigkeit, unterwerfen sich
äußeren Mächten, und sie werden Verhaltenweisen entwickeln, über die sie sich Anerkennung
verschaffen können. Solche sind dann meist mit Aggressionen verbunden. Die Spiele der
Macht sind äußerst subtil und laufen nur zu oft unter der Devise, für den anderen das Beste zu
wollen. Wir könnten alle Fehlformen von Verhalten unter dem Gesichtspunkt von Macht
erklären (vgl. dazu GRUEN 1990b). Wird dem Kind nicht Autonomie zugesprochen, lernt es,
„dass nichts zu lernen ist. Das Kind lernt, seine eigenen Reaktionen nicht zum Ausgangspunkt
der Entwicklung seines eigenen Wesens zu machen.“ (GRUEN 1990b, S. 20) Betrachten wir
dagegen Lernen als einen Prozess des Austauschs mit der Umwelt, in dem wir aktiv sind,
dann müssen wir auch freigelassen sein, solche vernetzten Erfahrungen zu machen.
Piaget und Kohlberg haben an die Kinder nicht wirklich beunruhigende Fragen gestelllt.
Hätten sie das getan, dann hätten sie die Erfahrung gemacht, dass Kinder bei für sie
essentiellen Fragen durchaus nicht heteronom urteilen, sondern sich selbst vertreten. Ein
Gespräch mit Jasmin (5; 10) soll dies demonstrieren:
I. Haben die Erwachsenen immer recht oder manchmal auch die Kinder?
J. Manchmal auch die Kinder.
I. Und wann haben die Kinder recht?
J. Wenn die Eltern Fragen stellen, die die Kinder wissen.
I. Z. B., wenn der Papa sagt, Du sollst die Hausschuhe anziehen?
J. Wenn der Papa sagt, ich soll die Hausschuhe anziehen und ich will sie anziehen, dann hat
der Papa recht. Wenn er sagt, ich soll die Hausschuhe anziehen und ich will nicht, dann
hab’ ich recht.
I. Angenommen, Du gehst ohne Hausschuhe wohin, wo es nass ist und der Papa sagt zu Dir,
zieh’ die Schuhe an. Hat er dann recht?
J. Ja, dann hat er recht.
I. Gibt es Dinge, bei denen die Erwachsenen auf keinen Fall recht haben?
J. Kein Mensch kann alles wissen. Wenn die Eltern es nicht wissen, hat man Pech gehabt,
wenn sie es wissen, hat man Glück gehabt.
I. Wenn ein Erwachsener ein Kind haut, hat er da recht?
J. Manchmal schon.
I. Wann hat er recht?
J. Wenn er sich das vorher überlegt.
I. Was meinst Du damit?
J. Wenn er das vorher überlegt, aber wenn er es einfach macht, hat er nicht recht.
I. Was sagst Du, wenn ich sage, dass es nie recht ist, jemanden zu hauen?
J. Hauen ist keine gute Version. - Was heißt überhaupt Version?
I. Version heißt Möglichkeit.
J. A ja. Besser ist, das Kind wegtragen, wenn es schlimm ist.
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Karl Garnitschnig, (1998) Werte und Wertbewußtsein
I. Was kannst Du Dir denken, wann die Eltern nicht recht haben?
J. Ja, z. B., wenn die Eltern sagen, mein Kind hat nie recht. Das stimmt überhaupt nicht (mit
starker Betonung).
[.........]
I. Wenn die Eltern zu etwas zwingen?
J. Die Eltern können die Kinder nicht zwingen; sie sollen sagen: willst Du mitkommen?
I. Angenommen, ein Kind will über die Straße laufen und es kommt ein Auto?
J. Sie sollen sagen, bitte lauf’ da nicht drüber.
I. Das Kind könnte tot sein.
J. Wenn das Kind die Eltern mag, dann wird es so etwas nicht machen.
I. Wann mag ein Kind die Eltern?
J. Wenn die Eltern zum Kind lieb sind. Sie müssen nachdenken.
1.3 Wertentwicklung geschieht, wenn Menschen in wechselseitiger
Anerkennung in realen Handlungssituationen ihr Zusammenleben gestalten
Wie aber bildet sich diese Wertüberzeugung heraus bzw. wie lässt sie sich herausbilden? Es
interessiert uns also nicht die Tatsache des Wertwandels in unseren Gesellschaften, sondern
wie können wir konkret zu einer gegebenen Zeit Wertüberzeugungen entwickeln. Vom Ansatz
ausgehend wird die Frage so beantwortet, dass Bedingung der Entwicklung von
Wertüberzeugungen ist, dass Personen in realen Handlungssituationen in wechselseitiger
Anerkennung jene Vorstellungen entwickeln, wie sie ihr Zusammenleben gestalten möchten.
Wertentwicklung geschieht, wenn wir unsere Vorstellungen des Zusammenlebens potentiell
auf immer mehr Menschen in sich konkretisierenden Handlungssituationen beziehen. Für die
Schulen würde das bedeuten, dass in ihnen das auch tatsächlich umgesetzt wird, was im
Zielparagraphen gefordert wird, nämlich dass die Schüler demokratisches Bewußtsein
erwerben (SchOG § 2). Das ist aber nur möglich, wenn Schüler die Möglichkeit zu
demokratischen Entscheidungen haben. Damit dies auch tatsächlich unter den konkreten
Bedingungen unserer Schulen umgesetzt wird, müssen unsere Schulen dereguliert werden und
muß ihnen ein hohes Maß an Autonomie eingeräumt werden.
Betrachten wir das Gesagte unter dem Gesichtspunkt der oben beschriebenen Wertmuster
oder Formen des Wertbewußtseins. Wie schon gesagt, es ist nicht die Frage bedeutsam, wie
Personen zu Werten kommen, denn solche haben sie, die Frage ist vielmehr, welche
Bewußtheit sie über Werte haben, wieweit sie über Werte nachdenken und welche
grundsätzlichen Annahmen diesem Nachdenken zugrundeliegen. So kann ein und dasselbe
Gut, ein und derselbe Wert, sei es ein Ding (z. B. eine Wohnung) oder ein Sachverhalt (z. B.
der Beruf oder eine bestimmte Beziehung) mit einer ganz anderen Wertbedeutung je nachdem
besetzt sein, welche Grundüberzeugung, welchen Standpunkt des natürlichen Bewußtseins
eine Person hat oder im konkreten Fall zugrundelegt.* Je nach Wertobjekt segmentieren
Personen den Gebrauch ihrer Wertmuster. Es ist nicht nur eine Frage der Kompetenz, sondern
auch der Bedeutsamkeit von Gütern für die Person, welches Wertmuster sie in einer konkreten
Situation wählt (vgl. dazu DÖBERT/NUNNER-WINKLER 1978).
*
Dies ist die oben getroffene zweite Form der Unterscheidung von Wertentwicklung - das weltanschauliche
Wertkonzept.
8
Karl Garnitschnig, (1998) Werte und Wertbewußtsein
Abb.1: Entwicklung des moralischen Urteils
Sozialperspektive
unter der Bedingung
von Anerkennung
von mangelnder Anerkennung
0. Unmittelbarer Austausch mit Beschränkter
Austausch
Bezugspersonen
Bezugspersonen
Vorstellung von „gut“
unter der Bedingung
von Anerkennung
mit Gut ist, was mir wohltut
von mangelnder Anerkennung
Gut ist, wenn meine Bedürfnisse
erfüllt werden, ein Mangel
beseitigt wird
1. Das Kind unterscheidet sich von Das Kind unterscheidet sich von Gut ist, wenn meine Bedürfnisse Gut ist, wenn ich bekomme, was
anderen, seine Bedürfnisse stehen anderen und ist auf seine von den Bezugspersonen befriedigt ich brauche, unabhängig von den
im Mittelpunkt
Bedürfnisse fixiert
werden, bzw. wenn die Bedürfnisse Bezugspersonen
in Übereinstimmung mit den
Bezugspersonen ermöglicht werden
2. Übernahme der Perspektive Erkennt die Bedürfnisse anderer, Gut ist, sich mit jeweils einzelnen
anderer, aber nur gegenüber bleibt aber um die Befriedigung der anderen austauschen zu können und
Einzelpersonen
eigenen Bedürfnisse bemüht
die
Bedürfnisse
und
Handlungserwartungen anderer zu
berücksichtigen, zu beachten und
gegebenenfalls auch zu erfüllen
(ohne Zwang)
Wenn ich Anerkennung bekomme,
will ich Anerkennung geben.
Gut ist, wenn die eigenen
Bedürfnisse von anderen befriedigt
werden, auch wenn es ihren
Bedürfnissen widerspricht.
Gut ist, von anderen Nutzen
ziehen zu können (- niedriger
Utilitarismus)
3. Wechselseitige Anerkennung in Das Individuum sieht sich als
einer überschaubaren Gruppe zu einzeln gegenüber der Gruppe und
einzelnen
und
zu
diesen tritt nur zu einzelnen in Kontakt.
untereinander
Gut ist, was zur Befriedigung
meiner Bedürfnisse durch die
Gruppe beiträgt, wenn ich andere
dazu bringen kann, meine
Wünsche und Erwartungen zu
erfüllen. Erwartungen anderer
werden nur erfüllt, wenn ich von
Gut ist, was in wechselseitiger
Anerkennung zu einem guten
Zusammenleben beiträgt, meine
Wünsche, Erwartungen mit denen
der anderen abzustimmen.
Gut ist, wenn das, was die anderen
wollen, mit dem übereinstimmt,
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Karl Garnitschnig, (1998) Werte und Wertbewußtsein
was ich will.
4. Wechselseitige Anerkennung Das Individuum schließt sich Gut ist, was Individuen in
von Personen, die einem sozialen Interessensgruppen im System an, Anerkennung von Gleichheit als
System angehören
die seinen Interessen nützen
Grundlage für ihr gesellschaftliches
Zusammenleben aushandeln.
Gut sind Regeln und Gesetze, die
dazu dienen, dass in einem System
das Zusammenleben aller gefördert
wird
5. Wechselseitige Anerkennung Die Individuen beziehen potentiell Gut ist, wenn ein Individuum in
von potientiell allen Individuen, alle anderen ein, aber nur im seine Handlungsentscheidungen
Bedenken der Konsequenzen für Hinblick auf den Nutzen für die potentiell alle anderen einbezieht.
alle Individuen
Durchsetzung ihrer Interessen
Gut sind Regeln, die für alle
Individuen zu einem guten Leben
führen.
6. Wechselseitige Anerkennung Die Individuen beziehen potentiell Gut ist, was Menschen in direkter
von potentiell allen Individuen bei alle anderen ein, um sie direkt für wechselseitiger Anerkennung unter
Abwägen der Konsequenzen in ihre Zwecke zu manipulieren
Berücksichtigung der Bedürfnisse
direkten
symmetrischen
und Interessen der anderen als
Interaktionen
Regeln für ihr Zusammenleben
entwerfen oder wählen
10
anderen die Befriedigung meiner
Wünsche ... voraussehen kann.
Gut ist, was dem eigenen Vorteil
und der eigenen Macht im System
dient.
Gut sind Regeln und Gesetze, die
der Durchsetzung der eigenen
Interessen nicht widersprechen
Gut ist, was dem eigenen Vorteil
und der eigenen Macht über
potentiell alle Menschen dient
Gut ist, wenn es gelingt, die
anderen in direkter Weise für die
eigenen
Bedürfnisse
und
Interessen zu nutzen. Sie sollen
damit auch noch einverstanden
sein.
Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
Demonstrieren wir das Gemeinte an einem Beispiel. Wählen wir dafür ein für Erziehung
konstitutives Merkmal, das der Beziehung. Man kann
1. die Beziehung zu einem Menschen als Mittel-Zweck-Relation auffassen. Wenn dieser
oder jener Zweck durch die Beziehung erreicht werden kann, wird sie aufrecht erhalten.
Andernfalls wird sie abgebrochen. Der andere dient also als Mittel zu einem bestimmten
Zweck für einen selbst oder für das System. Besonders deutlich ist das am Arbeitsmarkt. In
der Schule erfüllt die Selektion diese Funktion. Verzichtet man auf die Mittel-ZweckRelation und betrachtet man den anderen in seinem Selbstzweck, müßten Bedingungen im
Sinne von nicht nur einem einseitigen, sondern einem wechselseitigen Austausch zum
Wohl aller organisiert werden. In der Schule scheint mir die Zielrelation in dem Sinne, dass
Schüler da sind, um bestimmte Ziele zu erreichen, die vorgegeben sind, in der gleichen
Zweck-Mittel-Relation zu stehen. Man müßte den anderen zumindest als gleich betrachten,
um aus dieser Instrumentalisierung von Menschen, die sich negativ auf Kinder auswirken
muß, herauszukommen. Man könnte
2. die Beziehung zu anderen unter dem Gesichtspunkt formaler Gleichheit sehen. Das
würde bedeuten, dass in Austauschprozessen alle Individuen das formal gleiche
bekommen. Jeder hätte unabhängig von seiner Individualität, seinen Besonderheiten das
gleiche zu tun, das gleiche zu leisten. Die Zweck-Mittel-Relation wäre zwar aufgehoben,
aber der andere bliebe abstrakt auf einen Zweck bezogen. Erreicht er ihn, ist es gut, erreicht
er ihn nicht, muß er Einbußen erleiden. Alle werden über den gleichen Kamm geschoren,
ihre Individualität wird nicht beachtet. Leistungen werden an dem Maßstab der großen Zahl
gemessen, Gratifikationen für Leistungen erfolgen nach einem abstrakten Bezugsmaßstab à
la Gaußscher Normalverteilung. Wir erkennen leicht, dass bei einem solchen
Wertstandpunkt formaler Gleichheit viele auf der Strecke bleiben und nicht als
Selbstzweck gesehen werden. Individuen werden zwar nicht als Mittel für einen
vorgegebenen Zweck verwendet, wohl aber bleiben sie dem vorgegebenen Zweck
äußerlich. Als Selbstzweck werden Individuen erst dann gesehen - seit Immanuel Kant
unhintergehbarer Standard moralischen Bewußtseins - , wenn man
3. die Beziehung unter dem Gesichtspunkt konkreter Gleichheit sieht, wenn also die ganz
individuellen Chancen, bestimmte Ziele zu erreichen, mitbedacht werden. Solange
allerdings dieser Prozeß einseitig von einem der Bezugspartner aus erfolgt, können wir
noch nicht von vollständiger Anerkennung sprechen. Auch ist eine Gesinnungsethik, die
auf dem Prinzip der Universalisierung aufbaut, nicht ausreichend. Auch wenn man dem
Handeln solche Grundsätze zugrundelegt, die für alle Menschen gelten könnten, bleibt der
andere doch abstrakt außen. Erst wenn der andere
4. in die Beziehung als ganz konkreter Mensch mit all seinen Fähigkeiten und Mängeln
einbezogen wird, der auch die Ziele aktiv und konkret mitbestimmt, ist vollständige
wechselseitige Anerkennung gegeben, ist der andere real Selbstzweck. Erst in einer so
wertbesetzten Beziehung dürften sich Menschen wirklich wohl und anerkannt fühlen. Erst
mit einer solchen Beziehung dürften sie sich begnügen. Erst so kommt jeder zu seinem
Selbstsein, wird er vollkommen als Mensch anerkannt.
Was wir nun am Sachverhalt der Beziehung demonstriert haben, ließe sich am Lernen, an
der Benotung, an jedem Ding und an jedem Sachverhalt demonstrieren. Etwas ist nicht an
sich wertvoll, sondern bekommt seinen spezifischen Wert auf der Folie der
unterschiedlichen Standpunkte von Wertbewußtsein. Daraus wird erkennbar, dass in
diesem Konzept nicht über besondere Werte zu sprechen ist, denn alles Reale hat Wert, die
Frage ist, welchen Wert wir ihm - aufgrund unserer Weise Welt zu sehen - geben.
Betrachten wir alles als Mittel für unsere Zwecke oder betrachten wir alles als ein sensibles
11
Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
System, in dem alles und jedes vom Kleinsten bis zum Größten Achtung verdient und in
das wir uns selbst einbinden wollen.
2 Ansätze zur Wertentwicklung
Zur Wertentwicklung gibt es zwei Ansätze: 1. die Wertklärung, beschrieben und
dokumentiert durch Louis RATHS, Merill HARMIN und Sidney SIMON (1976)* und 2.
die gerechte Schulgemeinschaft in der Tradition von Lawrence KOHLBERG (vgl. dazu in
diesem Band OSER, S. .......). Der erste Ansatz zielt direkt auf die Bewußtheit von
Wertvorstellungen in Wertklärungsgesprächen ab, der zweite Ansatz geht von der
Vorstellung aus, dass moralisches Handeln nur in realen Situationen gelernt werden kann,
die durch Fairness, Gerechtigkeit, wechselseitige Anerkennung gekennzeichnet sind und in
denen Personen in echte Entscheidungsprozesse eingebunden sind.** Schule muß sich also
dadurch auszeichnen, dass die in ihr Beteiligten ihr Leben selbst gestalten können. Dies
stellt auch die Frage, welche gesellschaftlichen Kräfte und Bedingungen in Schulen
Wertbewußtsein fördern und welche ihm gegenstehen. Was sind die Bedingungen in
Schulen, dass Menschen sich wechselseitig anerkennen? Dies scheint nur möglich zu sein,
wenn Menschen autonom handeln können. Autonom definieren wir als in
Übereinstimmung mit sich selbst, mit seinen eigenen Bedürfnissen zu sein. Jeder Zwang,
jede Herrschaft führt zu Heteronomie, zu Abhängigkeit. Was die Schulen betrifft, dürfte es
nicht um vordergründige Reformen gehen, sondern um die grundsätzliche Einstellung, dass
Schulen darin von allen Beteiligten unterstützt werden, dass sie zu einer autonomen
Gestaltung des Schullebens kommen. Lehrer werden solange ihre Professionalität im
pädagogischen Bereich nicht leben können, solange ihnen nicht wirklich Verantwortung
für die Belange des Schullebens übergeben wird. Wie soll man initiativ und innovativ sein,
wenn immer wieder Grenzen von außen gesetzt werden? Man gibt nur dann sein Bestes,
wenn einem auch etwas zugetraut wird. Auf die Schule bezogen heißt dies, dass die
Professionalität von Lehrern ernst genommen wird. D. h., dass man ihnen die Möglichkeit
gibt, das Leben in der Schule zu organisieren und sie in ihren Bemühungen als Beweis
dafür zu unterstützen, dass man es ihnen glaubt. Lehrer würden dann mehr kooperieren,
weil sie mehr kooperieren müßten. Kooperation schließt Professionalisierung ein.
Der Sinn des Handelns und im besonderen moralischen Handelns ist der Aufbau eines
sozialen Systems. Dies ist umso eher möglich, je mehr Individuen das Wohl aller wollen.
Dieser Prozeß läuft über Kommunikationen mit dem Ziel, von sich wechselseitig zu
erfahren, was das jeweilige Wohl des anderen ist. Da kann es keine Kriterien außerhalb
dessen geben, was Menschen als ihr Wohl betrachten. Man braucht da nicht zu befürchten,
dass dieser Ansatz wilde Folgen haben müßte, weil er aller Willkür Tür und Tor öffne.
Problematisch wird dieser Ansatz nur, wenn man wechselseitige Anerkennung irgendwo
abbricht. Wenn man z. B. sagt, sie soll nur für eine bestimmte Gruppe gelten oder für ein
bestimmtes System. Dann entwickeln sich gefährliche Partikularismen. Zuweilen mag die
Forcierung eines Standpunkts eine bestimmte Idee deutlicher hervorheben und es kann so
zu einer Klärung von Sachverhalten kommen. Dies führt zu einem zweiten Kriterium über
das des Universalismus hinaus, nämlich das Kriterium der Konkretion, d. h. welche
Merkmale wie konkret berücksichtigt werden. Das hat mit der Sensibilität für das Detail im
*
Da dieses Werk vergriffen ist, sei auf HARECKER (1991) verwiesen, die das Verfahren der Wertklärung in
Theorie und Praxis anwenderfreundlich beschreibt.
**
Beide Ansätze sind relativ gut in verschiedenen Veröffentlichungen dokumentiert, daher ist es nicht nötig,
sie hier näher zu beschreiben. Zum Just community-Ansatz siehe OSER/ALTHOF 1992 und die darin zitierte
Literatur.
12
Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
Zusammenhang mit der Frage zu tun, welche Folgen aus Handlungsentscheidungen
entstehen.
2.1 Ein dritter Ansatz zur Wertentwicklung
Die hier vertretene Theorie der Wert- bzw. Moralentwicklung legt einen dritten Ansatz
nahe, der auf den beiden Merkmalen der Bestimmung konkreten moralischen Handelns
und Bewußtseins basiert: (1) Welche Menschen von den ersten Bezugspersonen bis hin zu
potentiell allen Menschen in Handlungsmotive einbezogen und (2) wie konkret die
Merkmale der Handlungssituationen erfaßt werden (können). Jede Handlungssituation und
jedes Merkmal an ihr kann Motiv für unser Handeln werden. Je sensibler jemand auf
Handlungssituationen und die in ihnen liegenden Handlungsaufforderungen reagiert, ein
desto ausgebildeteres moralisches Bewußtsein wird er haben.
Auf den Unterricht bezogen heißt dies, dass seine Inhalte nicht nur unter ihrem kognitiven
Aspekt, sondern auch unter dem gesehen werden sollen, wie der Schüler zu ihm wertend
Stellung bezieht. Es wäre zu wenig, wollte man nur vom Erleben, Benennen, Beschreiben
und schließlich methodischen Erfassen von Inhalten ausgehen, sondern es sind immer auch
ihre Bewertung in ihrer Bedeutung für den einzelnen Schüler, die Möglichkeiten von aus
ihnen entstehenden Handlungsentwürfen und auch die Verwirklichung des Erfaßten und
positiv Bewerteten einzubeziehen.
Bei diesem dritten Ansatz werden direkt Unterrichtssituationen einbezogen und es wird
gefragt, unter welchen Bedingungen sie einen Wertungs- bzw. einen Gewissensanspruch
enthalten können. Dies ist dann der Fall, wenn bei der Erörterung jeder Situation und jeder
Frage zwischen dem Beschreiben und Erfassen von Gegenständen und Sachverhalten und
dem Sinn des gewonnen Wissens für das Handeln unterschieden wird. Der Philosoph und
Pädagoge Franz FISCHER (1975, 1979, 1980), der eine Philosophie des Sinns vom Sinn
entworfen hat, hat sich überhöhende Bildungskategorien entwickelt, indem er jeweils nach
dem Sinn unseres Aussagens über Wirklichkeit frägt. Definieren wir Lernen als aktiven
Austausch mit der Umwelt (GARNITSCHNIG 1992), dann können wir fragen, wie man
sich mit der Umwelt auseinandersetzen muß, damit sie Anlaß für Wertungen wird. Er hat
dies in den Zusammenhang mit der „Erziehung des Gewissens“ (1979) gestellt
(GARNITSCHNIG 1994). Der Gewissensbegriff hat bei Franz Fischer mit der Auslegung
der Gesamtwirklichkeit zu tun. Er unterscheidet den Gegebenheitshorizont, der die
vorausgesetzte unvermittelte Wirklichkeit meint, die benannt und beschrieben (das
Unmittelbar-Allgemeine) und methodisch erfaßt (das Prädikativ-Allgemeine) werden muß,
von der Sphäre des Gewissens, in der das Ich den Anspruch der vorausgesetzten
Wirklichkeit im Positiv-Allgemeinen, Unmittelbar-Konkreten und Positiv-Konkreten
erfährt (vgl. Abb. 2). Es taucht die Frage nach der Bedeutung für die Person selbst auf,
nach dem, was sie tun soll, was gut ist.
Abb. 2: Bildungskategorien
13
Genetische Entwicklungstheorie
Bildungskategorie
ETHIK:DOK
Frage-Modus
Was erlebe ich und wie erlebe
ich es?
Wirklichkeit
2. Das Unmittelbar-Allgemeine - Das Wie benenne ich es?
Benennen, Beschreiben
Das einzelne Gegebene
3. Das Prädikativ-Allgemeine - Das
Was ist der Sachverhalt?
Interpretieren, methodische
Erfassen, Alltagstheorien und
wissenschaftliche Theorien
Hypothese
4. Das Positiv-Allgemeine - Die
Was bedeutet es für uns?
Bewertung
Aufgegebenes
5. Das Unmittelbar-Konkrete - Das
Wie kann ich es verwirklichen?
Erkennen des Möglichen
Motiv
6. Das Positiv-Konkrete Was verwirkliche ich und wie
Das Verwirklichen
verwirkliche ich es?
Vorbild
Sinn
1. Die vorausgesetzte unvermittelte
Wirklichkeit
Gemeintes
Gewißheit
Wissen
positiver Sinn
Vollbringen
Bezeugung
Im Positiv-Allgemeinen, also der Bildungskategorie, in der uns die Wirklichkeit als
Forderung anspricht, fragen wir nach dem Wozu theoretischer Erkenntnisse für den
Menschen, aber natürlich auch der Wirklichkeit insgesamt. Wir erleben in jeder Situation,
wenn wir uns auf sie einlassen, ein je nach Bestimmtheit der Situation bestimmtes
Aufgegebensein, das sich als Anspruch an uns äußert, aus dem sich für uns Motive für
unser Handeln ergeben. Der neue Lehrplan für die Grundschule formuliert viele solche
Lernsituationen, die schon im Wortlaut diese Kategorien ansprechen. Sehr deutlich zeigt
sich das Gemeinte z. B. im Lernziel „Regeln für das Zusammenleben finden, anerkennen
und einhalten“ (LEHRPLAN DER VOLKSSCHULE 1987, S. 135) oder wenn die
Lernziele des Erfahrungs- und Lernbereichs Natur nach einer Reihe prädikativallgemeiner Lernziele mit dem positiv-allgemeinen Lernziel abschließen: „Die eigene
Verantwortung gegenüber der Natur allmählich erkennen“ (a. a. O., S. 139). Im
Erfahrungs- und Lernbereich Technik ist weiters angeführt: „Sachgemäßes und
verantwortungsbewußtes Handeln im Umgang mit Stoffen entwickeln“ (a. a. O., S. 143).
Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen, aber man sollte sich nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die Lernziele des prädikativ-allgemeinen bei weitem die des positivallgemeinen Typs überwiegen. Daneben bietet das Leben in der Schule viele Situationen, in
denen Sensibilität für den Gewissensanspruch geübt werden kann: Ein Schüler merkt, dass
ein anderer Lernhilfe braucht; ein Schüler signalisiert in seiner Mimik, dass es zu Hause
Pronbleme gibt; im aggressiven Verhalten eines Schülers wird sein angeschlagenes
Selbstwertgefühl offenbar; ein Behinderter bekommt genau das Maß an Hilfe, das er
braucht ...
Sollen Schüler wirklich Wertbewußtsein entwickeln, dann muß klar sein, dass jede
Lernsituation so verstanden wird, dass sie auch einen Gewissensanspruch enthält (vgl.
FISCHER 1975, S. 110). Stellen Sie sich vor, Sie würden in jeder Situation auf ihren
Anspruch hören. So Sie das bisher noch nicht getan haben, würde sich Ihr Leben radikal
ändern. Sie würden mit den Menschen und in den Dingen leben, was bedeutet, Sie würden
sie erst wirklich erleben. Sie wären aufmerksam, voll Achtung allem zugewandt.
Wirklichkeit würde sich Ihnen neu, aus ihrem Sinn heraus erschließen.
14
Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
Bei der Entwicklung von Wertbewußtsein bzw. bei der Gewissensbildung muß jede
Forderung oder Aufforderung an den Schüler an die Unmittelbarkeit des Bewußtseins des
jungen Menschen gerichtet sein, d. h. die Forderungen müssen ihm Motive vermitteln
können, die dem Stand seiner Entwicklung entsprechen, d. h. er muß sich aus ihnen auch
wirklich entscheiden können. Ein Schulanfänger wird noch nicht in der Lage sein, Regeln
für die gesamte Schule zu entwickeln, wohl aber für das Zusammenleben in seiner Klasse
als Gruppe. Aus den Situationen sollen Motive einleuchten, für die sich das Kind positiv
entscheiden kann und Sollen und Wollen eins werden.
Diese Motive sollte der junge Mensch auch umsetzen können. Er muß berechtigt sowohl
aufgrund seiner Selbsteinschätzung als auch vom System "Schule " her glauben können,
dass er seine Motive auch verwirklichen kann. Eine Bedingung dafür ist sicher die, dass
auch der Lehrer glaubt, dass der Schüler sie verwirklichen kann, weil er ihm nur dann
Gelegenheit dazu einräumt und weil er dadurch auch den Grad der Einschätzung seiner
Selbstverursachung erhöhen hilft. Der Lehrer kann also dem Schüler helfen, den Glauben
an sich selbst zu stärken. Betrifft diesen Glauben die Gewißheit des Schülers, bestimmte
Motive, die von ihm in Entscheidungssituationen gewählt wurden, seien auch zu
verwirklichen, kann sich in ihm Wertbewußtsein verlebendigen (FISCHER 1979, S. 34).
Moralisieren, also jemandem allgemeine Grundsätze vorhalten, ist verfehlt, weil solche
Grundsätze das Gewissen nicht zu konkreten Motiven bestimmen können. Außerdem wäre
damit ein negatives Modelllernen verbunden, weil beim Moralisieren genau das passiert,
was gegen den Gewissenssinn spricht, nämlich den anderen nicht als Selbstzweck, sondern
"als ein zu veränderndes empirisch Gegebenes" zu sehen (ebd.). Der Lehrer müßte dem
Schüler die Einsicht vermitteln können, dass er im anderen auch sich verneint. Angst ist
ebenso kontraproduktiv, denn sie kann nicht Einsicht erzeugen.
Abb. 3: Ansprüche aus der Gliederung der Bildungskategorien
BILDUNGSKATEGORIE 1-3
GEWISSENSANSPRUCH
Die vorausgesetzte
unvermittelte
Wirklichkeit
Wahrhaftigkeit
BILDUNGSKATGORIE 4-6
Das PositivKonkrete
Betroffenheit
Handlungswille
Das UnmittelbarAllgemeine
Das UnmittelbarKonkrete
Sachgerechtheit
Verantwortung
Das PrädikativAllgemeine
Das PositivAllgemeine
Ordnungssinn
15
Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
Es ist vorausgesetzt, dass Gewissen die Gewißheit des Wissens in sich schließt, dass
Wissen durch Gewissen seinen Sinn erfährt und Gewissen durch Wissen seinen Inhalt. Aus
diesem Grund müssen die Bildungskategorien 1 - 3 mit den Bildungskategorien 4 - 6 in
einem solchen Voraussetzungs- und Ergänzungsverhältnis stehen.
Am Anfang eines jeden Lernprozesses als Austausch mit der Wirklichkeit steht das sich
Einlassen auf die Wirklichkeit. Für die Schule heißt das, dass der Lehrer die Lernziele an
konkreten Ereignissen und Sachverhalten festmacht, die für die Schüler erlebbar werden
und mit denen er auch etwas machen kann, die eine Bedeutung für seine Handlungswelt
haben. Hier geht es z. B. auch um Formen der Mitgestaltung in der Schule. Man weiß aus
vielen Untersuchungen, dass moralische Entwicklung besser greift, wenn Schüler für sie
bedeutsame Bereiche in demokratischen Entscheidungsprozessen, die von wechselseitiger
Anerkennung
getragen
sind,
zumindest
teilweise
gestalten
können
(KOHLBERG/WASSERMANN/ RICHARDSON 1978, OSER/ALTHOF 1992). Die
Beteiligung an Entscheidungen muß natürlich alters- und kompetenzspezifisch erfolgen.
Ein Kind in der ersten Klasse der Primarschule wird noch nicht über Belange der Schule
entscheiden können, wohl aber über Regeln der Arbeit in der Klasse, der eigenen
Lerngruppe. Erst aus dem Erleben kann Betroffenheit und damit Interesse entstehen und
kann Wahrhaftigkeit im Umgang mit Sachverhalten gelebt werden.
Bei der Betroffenheit wird es nicht bleiben können, weil, wenn etwas eine Situation für
eine Entscheidung sein kann, dann muß man sie auch erkennen, zunächst in der Weise des
bloßen Benennens und Beschreibens, aber dann auch im Zusammenhang mit anderen
Sachverhalten und Ereignissen, ohne die die Situation nicht verstanden werden könnte und
woraus dann auch kein Handeln folgen könnte. Das Handeln setzt den Glauben an seine
Verwirklichung voraus. Es gibt zumindest vier Gründe, die diesen Glauben nicht entstehen
lassen könnten: 1. Undurchführbarkeit von der Sache her, 2. Mangel an Kompetenz, dieser
kann durch Lernen vermindert werden, 3. mangelndes Vertrauen in die eigene
Verursachung - da kann der Lehrer helfen, 4. der Lehrer mißtraut den Möglichkeiten eines
Schülers. Dieses Mißtrauen kann wieder begründet oder unbegründet sein. Ist es begründet,
muß der Lehrer Schritte anbahnen, dass der Schüler die Kompetenz erreicht; im zweiten
Fall bedarf der Lehrer der Weiterbildung.
Gegen all das Gesagte kann man natürlich einwenden, dass Personen nicht so ideal,
sondern vielmehr nach ihren negativen Impulsen, Trieben, Gewohnheiten, manipulierten
Meinungen, Trends folgend handelten. Dagegen lässt sich als faktischer Aussage wenig
einwenden. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen man aus dieser Tatsache zieht.
Zunächst einmal sei festgehalten, dass Impulse, Triebe, Gewohnheiten, Meinungen nicht an
sich schlecht sind. Sie sind also nicht - wie nach gewissen Vorstellungen - auszumerzen, in
welchem Fall sie nur ein verdrängtes und damit der bewußten Kontrolle entzogenes Dasein
hätten. Alles, was ist, bedeutet ein Aufgegebensein, das man akzeptierend wahrnehmen
soll. Daraus entstehen uns Motive, die zur Entscheidung herausfordern, deren Kriterium für
ihr Gutsein der Selbstzweck seiner selbst und der anderen ist.
Jede dieser Bildungskategorien bedarf eigener didaktischer Formen, wenn sie in schulische
Lernprozesse eingebracht werden sollen. Aus dem Gesagten wird Abb. 4 unmittelbar
verständlich, sodass sie nicht zusätzlich erläutert zu werden braucht. Ein solches Lernen
kann jedenfalls nur bei aktivem Lernen realisiert werden, bei dem der Schüler sich mit
seiner Umwelt über Wissen, das er sich selbst erwirbt, und eigenmotiviertes Handeln
auseinandersetzt. Erfolgt Lernen auf diese Weise, dann werden die Lernformen, die in Abb.
4 den einzelnen Bildungskategorien getrennt zugewiesen werden, als Einheiten verstanden
werden, wie die Bildungskategorien auch in den realen Lernsituationen eine Einheit bilden.
16
Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
Abb. 4: Bildungskategorien in ihrem Zusammenhang mit pädagogischen
Lernprinzipien
BILDUNGSKATEGORIE
LERNFORMEN
1. Die vorausgesetzte unvermittelte Wirklichkeit
Das Miterleben - Was und wie ich erlebe?
erlebnisorientiertes Lernen
2. Das Unmittelbar-Allgemeine
entdeckendes, fragendes Lernen
Das Benennen, Beschreiben - Wie benenne ich es?
3. Das Prädikativ-Allgemeine
genetisches Lernen an der
Das Interpretieren, methodische Erfassen - Was ist Wissenschaft
der Sachverhalt?
4. Das Positiv-Allgemeine
Die Bewertung - Was bedeutet es für mich?
stellungbeziehendes,
weltanschauliches Lernen
5. Das Unmittelbar-Konkrete
Das Erkennen des Möglichen - Wie kann ich es
verwirklichen?
projektorientiertes Lernen
6. Das Positiv-Konkrete
Das Verwirklichen - Wie verwirkliche ich es?
Lernen am Modell, Lernen durch
Tun
Fassen wir die einzelnen Aspekte der Entwicklung von Wertbewußtsein zusammen:
 Der Schüler muß sich als anerkannt, geachtet, wertgeschätzt erleben können.
 Der Schüler soll sich in Lern- und Entscheidungssituationen mit seiner Um- und
Mitwelt selbständig auseinandersetzen und zu ihr Stellung beziehen.
 Der Schüler soll seine Entscheidungen dialogisch in wechselseitiger Anerkennung
begründen.
 In einer offenen Atmosphäre soll der Schüler die Verwirklichbarkeit seiner
Vorstellungen und Motive erleben können und so sein Glaube an ihre
Verwirklichbarkeit gestärkt werden.
 Dadurch wird die Sensibilität für den Gewissensanspruch in allen Situationen erhöht,
sodass der Schüler erleben kann, dass ein Entwerfen von Regeln in wechselseitiger
Anerkennung tatsächlich ein gutes Zusammenleben zu fördern vermag.
3 Genetische Entwicklungstheorie
Die genetische Betrachtungsweise der Entwicklung geht von der Annahme aus, dass durch
Austausch mit der Umwelt ursprünglich vorhandene Funktionen zu immer komplexeren
Fähigkeiten ausdifferenziert werden. Diese Vorstellung hat schon der große böhmische
Pädagoge Johann Amos Comenius, dessen große Vision es war, allem Wissen eine
geläuterte Form zu geben, vertreten. Er führt in seiner Großen Didaktik (1657) als dritten
Grundsatz, der zu berücksichtigen ist, damit sich alle alles leicht einprägen, an: „Die Natur
entwickelt alles aus Anfängen, die klein an Maß, aber groß an inneren Kräften sind.“
(1993, S. 100) Es ist daher zunächst einmal das genau zu bestimmen, dessen Entwicklung
17
Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
man verfolgen möchte. Es ist nach seinen Merkmalen genau zu definieren und dann ist die
Ausformung oder Ausfaltung dieser Merkmale zu beschreiben.
Im besonderen muss für die Moralentwicklung klar sein, dass jeweils die
moralspezifischen Merkmale gefördert werden. Daher muss auch bei der Erfassung des
Entwicklungsprozesses auf die moralspezifischen Äusserungen des Kindes geachtet und
diese verstärkt werden, natürlich durch entsprechende dies Merkmale wie Autonomie,
Betroffenheit .... fördernde Interaktionen (vgl. dazu Döbert 1987, S. 496). Die Autonomie
von der Geburt an zu verfolhen bedeutet, dass alle autonomen Äusserungen des Kindes
beachtet werden und dies im Zusammenhang mit der Möglichkeit, Entscheidungen zu
treffen. Es lässt sich nämlich feststellen, dass bereits Kinder entscheiden können, ob für sie
etwas angenehm oder unangenehm ist und hier im besonderen im sozialen Kontext. Ist die
Interaktion zwischen Kind und Bezugspersonen für das Kind befriedigend, dann wendet es
sich seiner Umwelt und Mitwelt vermehrt zu. Die Initiaive geht dabei vom Kind aus.
Stimulation ist schon für sich befriedigend und wird daher aufgesucht (empirisch
nachweisen). Dies beweisen die Untersuchungen zum Hospitalismus, im besonderen die
zur frühkindlichen Deprivation (vgl. Hellbrügge 19..).
Etwas, was erreicht worden ist, wird nicht auf der nächsten Stufe wieder verloren, außer es
handelt sich um psychodynamisch bedingte Abwehrprozesse. Dies wäre dann gegeben,
wenn man Carol Giligans (19 ) Deutung Kohlbergs folgt, wenn Stufe 4 so beschrieben
würde, als ginge in der Stufe der Systemperspektive die Perspektive der Stufe 3 von
Zuneigung im intimen Raum von Familie und Freundschaft verloren. Ebenso stellt die
Orientierung an Strafe und Gehorsam eine Unterbrechung moralischer Entwicklung dar
und kann schon von daher nicht als Moralstufe bezeichnet werden. Der Moral gegenüber
stellt sie eine pathologische Form dar. Das Kind will nicht primär Strafe vermeiden,
sondern es ist auf den Erwachsenen angewiesen, und wenn es nicht anders kann, verleugnet
es sein eigenes Wollen und folgt den Normen der Erwachsenen bei Abspaltung des eigenen
Fühlens (Gruen 1990 a, 1990b). Die angebliche Orientierung an Strafe und Gehorsam ist
auch nicht anthropologisch gedacht, denn der Mensch sucht Lust und Glück und nicht
Vermeidung von Strafe. Letzteres kann nur als Folge des ursprünglichen Bedürfnisses
interpretiert werden. Man sollte also nicht ein Derivat als Stufe der Entwicklung ansetzen.
Bei einer dynamischen Betrachtung der Moralentwicklung, die von dem
Beziehungsgeschehen zwischen dem Kind und seiner sozialen Umgebung bestimmt ist,
sind in die Moralentwicklung auch Brüche einzubeziehen. Grundsätzlich könnte es
nämlich der Fall sein, dass zu jedem Zeitpunkt in der Entwicklung ein Ereignis eintritt, das
für das Kind und später den Jugendlichen und Erwachsenen sein Beziehungshandeln
betreffend bestimmend sein kann, wie es sich moralisch entwickelt.
Aus einer heteronomen Moral entwickelt sich nicht eine autonome Moral, sondern wir
müssen annehmen, dass die Kräfte, die Autonomie, Selbständigkeit, freie
Handlungsführung sowohl innerpsychisch als auch beziehungsdynamisch fördern, von
Anfang an da sind. Jeder Organismus ist autopoetisch1 und strebt die Vollendung seiner
artspezifischen Potentiale an. In diesem Zusammenhang spricht auch der humanistische
Psychologe und Begründer der personenzentrierten Gesprächspsychotherapie in Analogie
zu biologischen Organismen von einer organismischen Tendenz im Menschen als
anthropologische Grundannahme.2 Karl Bühler spricht von einem Funktionstrieb im
Zusammenhang mit dem Spiel. Das Kind sucht von Natur aus Stimulationen auf, im
besonderen verstärkt durch seine Äußerungen des Wohlseins oder Wohlbefindens
1
2
Vgl. dazu die Thesen der beiden Biologen Maturana/Varela (19 )
Rogers Kartoffeln in 19 , S.
18
Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
liebevolle Zuwendung von außenund tut dies im besonderen ab der dritten bis fünften
Woche durch sein Lächeln, das wohl von Anfang anein soziales Lächelnals Antwort auf
das Lächeln, Reden und Streicheln eines Bezugsperson ist (vgl. Stern 19 ). Allerdings
kann dieses Aufsuchen von Stimulation schon sehr früh frustriert werden, wenn es z. B.
keine Bezugsperson gibt, die das Kind annimmt. Dann wird sich das Kind zurück ziehen,
um sein verletzliches Selbst zu schützen und um nicht weiter enttäuscht zu werden. Es wird
sich in Analogie zu einer elektronisch gesteuerten Maschine, die nur noch ein
Notprogramm fährt, wenn bestimmte Teilprogramme oder Teilfunktionen ausgefallen sind,
eben auf ein Notprogramm einstellen. Dieser Sachverhalt darf als allgemein gesichert und
anerkannt angenommen werden, zumal es ohne diese Annahme nicht denkbar wäre, wie
sich Organismen entwickeln. Es ist auch klar, dass dies autonome Äußerungen eines
Organismus sind.
Für die Maralentwicklung gilt es aber im besonderen nachzuweisen, welche autonome
Äußerungen schon von Säuglingen als Vorläufer für vollständige moralische
Entscheidungen angesehen werden können. Die Äußerungen müssen in irgendeiner Form
erkennen lassen, dass Säuglinge andere in einer Weise einbeziehen, aus der hervorgeht,
dass sie andere respektieren. Beim Kleinstkind äußert sich dies zunächst in einem Interesse
für das menschliche Antlitz unabhängig vom Nahrungs- und Pflegebedürfnis. Es ist also
einerseits die sozial-emotionale Entwicklung zu verfolgen und andererseits das
Unterscheidungsvermögen des Kleinstkindes zwischen qualitativ verschiedenen Personund Situationsmerkmalen und schließlich wie deren Zusammenhang gesehen werden kann.
Es ist hier die Möglichkeit des Erfassens zunehmender Komplexität von Bedeutung. Die
Systemperspektive in der Form einer legalistischen Orientierung ist nicht moralisch,
sondern eben legalistisch. Wenn sich das Kind von den Normen der Erwachsenen noch
nicht lösen kann, weil es auf ihre Fürsorge und Zuwendung angewiesen ist, dann bedeutet
das nicht, dass das Kind auf einer Stufe der heteronomen Moral stehe, sondern fordert von
den Erwachsenen, ihre Normen nicht als absolut gültig den Kindern zu präsentieren,
sondern ihnen die Möglichkeit zu gewähren, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu
artikulieren. Die Phänomene bzw. Begriffe wären klar auseinanderzuhalten.
3.1 Entwicklung
Der Erzieher hat es im wesentlichen damit zu tun, Individuen dabei zu helfen, dass sie von
geringer organisierten Denkformen und Handlungsweisen zu höher organisierten und
stärker internalisierten Denkformen und Handlungsweisen gelangen. Für den Nachweis
dieses Prozesses ist es notwendig, die verschiedenen Formen von Denk- und
Bewußtseinsstrukturen zu rekonstruieren, die Individuen in ihrer Entwicklung durchlaufen.
Der Mensch organisiert die Welt, die so zu seiner Welt wird. Er ist nach dem Psychologen
und Kliniker Robert Kegan ein „bedeutungsbildender Organismus“ (vgl. dazu auch LENK
1994). „Erfahrung ist, was wir mit dem, was uns begegnet, machen.“ (1986, S. 31)
3.2 Entwicklungsbegriff
Ein nichttrivialer Entwicklungsbegriff, wie er von Theoretikern der kognitiven Psychologie
entwickelt wurde, ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
1. Eine solche Entwicklungstheorie geht von einer einheitlichen Grundgegebenheit, einer
gleichen Basisfunktion (z. B. Beziehung, Denken, Werten) aus, die Welt oder
Teilwelten jeweils anders strukturieren. In diesem Sinne wären die Theorien der
Entwicklung des moralischen Urteils von Piaget und Kohlberg keine solche Theorie,
19
Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
weil die Basisfunktion, deren Entwicklung beschrieben werden soll, nicht schon in der
ersten Stufe vorkommt.
2. Die einzelnen Phasen bilden in sich klar voneinander unterscheidbare, qualitative
Strukturen, die sich auf die gleiche Basisfunktion beziehen.
3. "Diese differenten Strukturen bilden eine invariante Reihe, Ordnung oder Abfolge in der
individuellen Entwicklung. Kulturelle Faktoren können die Entwicklung beschleunigen,
verlangsamen oder stoppen, aber nicht ihre Sequenz ändern." (KOHLBERG 1980, S.
227, 1974, S. 17)
4. Die aufeinanderfolgenden Formen bilden "ein srukturiertes Ganzes". Sie stellen jeweils
ein strukturiertes Interpretationsmuster der Gesamtwirklichkeit dar, die eine Ordnung
von zunehmender Differenziertheit und Integriertheit bilden. Die nächsthöhere Stufe ist
durch mindestens ein neues Element charakterisiert, das aber nicht nur additiv ist,
sondern mit den bereits vorhandenen, errungenen Elementen ein neues Niveau, eine
neue Struktur bildet3. Es handelt sich um hierarchisch geordnete Präferenzsysteme, die
mit einer psychischen Disposition von Individuen verbunden sind, Problemlösungen
oder Deutungen auf dem höchsten ihnen zugänglichen Niveau zu bevorzugen (vgl.
KOHLBERG 1980, ebd., 1974, S. 18). Die neue Struktur ersetzt die alte Struktur, aber
die Elemente bleiben erhalten oder es kommt ein neues Element hinzu und die
Relationen der Elemente ändern sich.
Bewußtsein entsteht nicht, sondern ist gegeben. Es formt sich, differenziert sich aus. Es
könnte auch nicht durch irgendwelche Maßnahmen entwickelt werden, wäre es nicht schon
gegeben. Es bedarf aber einiger Bedingungen, soll sich das Bewußtsein ausformen und zu
sich selbst kommen können. Dies geschieht im Austausch mit der Umwelt, der natürlichen
wie der sozialen Umwelt aber auch im Rückbezug auf sich selbst und im sich Öffnen
geistigen Intuitionen gegenüber. Der Austausch mit der natürlichen Umwelt erfolgt immer
zugleich in der und mit der sozialen Umwelt. Wir deuten die Welt von der erreichten Form
des Bewußtseins her. Im Prozeß des Deutens von Welt wird offenbar, was für uns jeweils
Realität ist. Entwicklung erfolgt dadurch, dass jeweils differenziertere Formen der
Weltdeutung angestrebt werden, in der jeweils Welt weiter ausdifferenziert erscheint, und
eine je neue Form des Subjekt-Welt-Bezugs (– kognitiv gedacht), auftaucht, in der jeweils
neue differenziertere Verstehensstrukturen gebildet werden, über die Welt jeweils besser
erklärt werden kann.. Emotional wird eine je weitere Sozialperspektive vom Egozentrismus
über die Annahmen der Perspektiven anderer bis hin zu universeller Liebe eingenommen.
Bildung soll zu je höheren Formen von Bewußtsein und Erfahrung hinführen bis zu einem
autonomen und schließlich transpersonalen Bewußtsein. Der Mensch hat den Drang über
sich hinauszuwachsen.
Erziehung braucht eine Zukunftsperspektive, eine Utopie, ein Ideal oder einfach ein Ziel,
auf das hin der Prozeß der Erziehaung läuft. Sie braucht ein Ideal dessen, eine Vorstellung
davon, was der Mensch werden kann, woraufhin er sich entwickeln kann. Immer wieder
machen wir die Erfahrung, dass es zu genügen scheint, einfach zu interagieren, einfach mit
Menschen zu arbeiten, dass sie zu dem kommen, was sie momentan wollen oder brauchen:
z. B. zu lernen, wie man ein Vorstellungsgespräch führt, wie man mit Kindern und mit sich
umgehen soll, wenn sie einem auf die Nerven gehen, wie man mit einem alkoholsüchtigen
3
Vgl. dazu die Lernniveaus beim strukturellen Lernen, bei dem ebenso ein hierarchischer Aufbau von
Lernprozessen angenommen wird, GAGNE 1969; vgl. auch OLECHOWSKI 1978, S. 289.
Zum Entwicklungsbegriff siehe KOHLBERG 1980, S. 227, 247; HABERMAS 1976, S. 90, der FLAVELL
1972 zitiert; vgl. auch KÄRN 1978, S. 82
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Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
Partner zurechtkommen könnte. Gewiß all das ist notwendig, aber all das muß eine weitere
Perspektive haben, sonst bleiben solche Bildungsprozesse im Grunde unbefriedigend. Der
Mensch braucht Sinnperspektiven, soll er glücklich sein.
Das Eingebettetsein in soziale Zusammenhänge und dieser wieder in gesellschaftliche
Zusammenhänge lässt Erziehung zu einer Reise ins Nichts werden, wenn der Erzieher nicht
eine gesellschaftliche Verantwortung sieht. Dies liegt heute in einer Zeit, in der sich die
gesellschaftlichen Probleme zuspitzen, mehr denn je auf der Hand: allem voran die
Zerstörung der Umwelt und damit verbunden die Verantwortungslosigkeit für andere und
die nachkommenden Generationen. Solange Menschen ihr Eigentum, ihr Auto, ihre
Sicherheit wichtiger nehmen und das Leid anderer, die Zerstörung der Lebensgrundlagen
nicht sehen, ist wohl jede andere Bildung Flickwerk.
"Das größte aber ist die Liebe." Vielleicht genügt es schon zu sagen: Respekt, Rücksicht,
Achtung, Wertschätzung, Ehrfurcht gegenüber der Natur und dem Menschen. Der Mensch
und sein Glück sollen im Mittelpunkt stehen. Aber was ist Glück? Es gibt das
vordergründige Glück der Befriedigung physischer und psychischer Bedürfnisse. Dieses
Glück kennt keine andere Zukunft als eine lineare Fortsetzung von Einkommen,
Verbesserung von Woh nung, Erholung, Arbeit. Sie ist eigentlich ohne Perspektive, weil
der Mensch nur sich sieht, seinen kleinen Kreis, nicht die anderen. Dieses Glück der
eigenen Häuslichkeit hat keine soziale Perspektive. Die Rede "Ich allein habe keine
Wirkung", verrät nur die egozentrische Perspektive. Ziel ist die Sicherung des eigenen
Lebens in einem Bereich.
Die weitere Perspektive ist mit der Einsicht verbunden, andere anzuerkennen, weil mein
Glück vom Glück der anderen abhängig ist. Um diese Perspektive gegenüber der ersten
durchzuhalten, bedarf es allerdings der Anstrengung, jeweils zu erkennen, dass dies und
wie weit dies zutrifft, sofern es nicht ohnehin klar auf der Hand liegt. Dann ist eine solche
Person auch bereit, Arbeit oder Anstrengungen für andere in Kauf zu nehmen. In die
eigenen Entscheidungen wird also die gesellschaftliche Perspektive einbezogen und es wird
gefragt, was eine Handlung oder Entscheidung im Kontext des Zusammenlebens aller für
ihr Wohlergehen bedeutet.
Dauerndes Glück lebt in einem Menschen, der dem Zufälligen entwachsen konnte und der
weiß, dass er sich selbst immer wieder täuschen kann, der aber zugleich im Wunsch nach
Wahrheit und Klarheit konsequent sucht und erkennt, dass ihm in einer offenen
glaubenden, vertrauenden und liebenden Haltung die Erkenntnis und die Einsicht in das
Wahre, Gute und Schöne zufließt. Der so Rückgebundene (= Religiöse) erlebt Glück, wenn
es da ist, ganz, auch wenn es viele Gestalten hat, die in sich wieder einen Kosmos bilden.
Typen von Glück
 Befriedigung physischer und psychischer Bedürfnisse
 Eigene Sicherheit
 Zugehörigkeit, Anerkennung
 Wechselseitige Anerkennung
 Ganzheitliches Allerleben
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Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
3.3 Moralisches Handeln
Moral stellt die Frage, ob eine Handlung gut ist oder nicht. Daher hängt nun alles davon ab,
wie wir das Prädikat „gut“ definieren. Gehen wir mit George Edward Moore davon aus,
dass „gut“ ein undefiniertes Prädikat ist und es uns also intuitiv zugänglich ist, dann muß
uns klar sein, dass moralisch gut durch kein anderes Prädikat zu ersetzen ist, etwa durch
die Prädikate „angenehm“ (Hedonismus), „nützlich“ (Utilitarismus in seinen verschiedenen
Ausprägungen), „gerecht“ usw.. Vielmehr müssen wir uns bei einem solchen
Ausgangspunkt fragen, was dies für moralisches Urteilen und die Bestimmung dessen, was
ein moralisches Urteil ist, bedeutet.
3.3.1 Moralisches Urteilen
Gehen wir von der unmittelbaren Bedeutung moralischen Handelns aus, dann werden wir
zunächst sagen können, dass moralisches Handeln nur dann vorliegt, wenn eine Person
etwas nicht aus irgendeinem Zwang, sondern von sich aus tut. Moralische Urteile beziehen
sich also auf Entscheidungen und ob man diese auch autonom getroffen hat. Folgt jemand
in einer Entscheidung einem anderen, dann kann man also nicht mehr von einem
moralischen Urteil sprechen, außer er identifieziert sich völlig bewußt mit der
Fremdentscheidung. Dann ist sie aber so, als wäre es die eigene Entscheidung.
Aus diesem Grund enthält jedes moralische Urteil eine intuitive Komponente, nämlich die
eigene Vorstellung von gut und wie diese in die Handlungsentscheidung einfließt, und eine
rationale Komponente, nämlich alle jene Überlegungen, die sich auf die
Situationsmerkmale beziehen, in welcher die Entscheidung erfolgt. Für die Entwicklung
des moralischen Urteils stellt sich dann die Frage, wieviele Situationsmerkmale von einer
Person in einem bestimmten Alter einbezogen werden können. Die Situationsmerkmale
müssen auch deshalb einbezogen werden, weil sie von Bedeutung für die Einschätzung der
Folgen der Entscheidung sind. Die Abschätzung der Folgen der Entscheidung müssen in
das moralische Urteil schon einfließen. Wer moralisch entscheiden will, wird sich sogar
bemühen, sich kundig zu machen, weil seine Verantwortlichkeit am genauen Abwägung
der Folgen seiner Entscheidung hängt.
Da die Handlungsentscheidungen immer auch Personen betreffen, sind diese in die
Überlegungen in der Weise einzubeziehen, dass erstens gefragt werden muß, ob eine
Entscheidung auch in ihrem Sinne getroffen wird. Können die Personen direkt einbezogen
werden, sollen sie auch tatsächlich einbezogen werden. Wegen der prinzipiellen
Komplexität der Welt, ist jede Entscheidung individuell zu treffen, von Fall zu Fall. Es gibt
also keine moralischen Regeln in dem Sinn wie Schicklichkeitsregeln, nach denen man
sich immer wieder in gleicher Weise halten kann.
Da alle moralischen Entscheidungen individuell sind, spielt der gute Wille, moralisch
handeln zu wollen, nicht vorschnell zu entscheiden, sondern alle Umstände nach bestem
Wissen und Gewissen zu berücksichtigen, eine wesentliche Rolle. Dies hat wohl Kant zu
seiner Aussage veranlaßt, dass nichts gut sei, als allein ein guter Wille (Kant
). Der
Wille bezieht sich einerseits darauf, überhaupt gut handeln zu wollen, das heißt, sich bei
jedem Entscheidungselement auf die eigene intuitive Vorstellung von gut zu beziehen und
andererseits sich angesichts der Komplexität von Entscheidungen nicht vorschnell zu
handeln. Die grundsätzliche Kontingenz allen Handelns, Urteilens und Entscheidens wird
hier deutlich. Wir können nur sagen, dass dies im Moment die beste Lösung ist.
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Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
Was wir tun können ist, dass wir uns für andere und für Situationen sensibel machen, dass
wir den anderen Achtung und Respekt entgegenbringen, dass wir schweigen, um auf den
anderen und das andere zu achten, dem anderen Raum für seine Argumente geben.
Vielleicht tragen seine Argumente Wesentliches für die Entscheidung bei. Aus dieser
grundsätzlichen Kontingenz und der Einsicht in die Kontingenz entsteht Betroffenheit.
Sich von der Situation und den anderen betreffen lassen, lässt uns auf Situationen zugehen
und von ihnen Abstand nehmen. Sich betreffen zu lassen ist ein passiver und aktiver
Vorgang zugleich. Im Sinne Bubers (19..) ist es ein Schweben über den Grundworten IchDu und Ich-Es, Nähe und Distanz, Begegnung und Anschauen. Moralisches Urteilen ist ein
Urteilen in der Konkretion. Alle Momente sind einzubeziehen, es gibt nichts, was nicht
Bedeutung hätte.
3.4 Denken und Moralentwicklung
Denken spielt eine zentrale Rolle in der Moralentwicklung (Oser, 1981, S. 324). Allerdings
benutzen auch intelligente Menschen das Denken nur zu oft, um unmoralisch zu sein.
Zusammenfassung
Die Welt wird unter sich überbietenden, nicht ausschließenden Ideen des Guten gedeutet
bis hin zu der Einsicht, dass das Wahre, Gute und Schöne in einer offenen, meditativen
Sicht der Realität uns jeweils neu anmuten kann.
4 Wollen
Wenn vom Wollen ausgegangen wird, kann man dann sagen: Wenn eine Person etwas will,
dann ist das Rechtfertigung genug. Dieser Standpunkt kann eine therapeutische und
erzieherische Berechtigung haben. Man kann einer Person zugestehen, ihre Erfahrungen
selbst zu machen. Die Frage ist nur, was folgt daraus für andere. Ist das für sie tragbar oder
nicht. Ohne freiwilliges Zugeständnis könnte dies unter dem Titel des sittlichen Wollens
nicht gefordert werden, wenn das Prinzip wechselseitiger Anerkennung aufrecht erhalten
und nicht unterboten werden soll.
Das Universalisierungsprinzp beruht zunächst auf dem Prinzip formaler Gleichheit und
dann der Abwägung der Konsequenzen eines Handelns bzw. einer Entscheidung für die
Allgemeinheit. Die Konsequenzen können je nach Materie höchst unterschiedlich sein und
können daher nur von Materie zu Materie entschieden werden. Zu lügen, jemand zu
verletzen, zu stehlen haben jeweils andere reale Konsequenzen. Würde man ein Kriterium,
das allen gemeinsam ist, ansetzen, um unterschiedliche Konsequenzen zu beurteilen,
würden Menschen psychisch oder physisch Schaden leiden, verletzt werden, es würde
daraus Leiden entstehen. Ist also Leiden nicht zu verursachen das letzte Kriterium? Bejaht
man diese Frage, dann ist doch klar, dass es sich hier allerdings nur um eine NegativVariante handelt.
Die Positiv-Variante lautet: Ich will das Glück anderer befördern, nicht abstrakt, sondern in
Formen eines beglückenden harmonischen den Einzelnen in seiner Entwicklung zu voller
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Genetische Entwicklungstheorie
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Handlungsfähigkeit fördernden Zusammenlebens, kurz eines guten Zusammenlebens. Das
Prädikat „gut“ darf nur nicht auf ein bestimmtes Merkmal fixiert werden, es kann aber alle
als positiv bewerteteten Prädikate annehmen. Nehmen wir also alle von den
unterschiedlichen Moralsystemen befürworteten Prinzipien zusammen und achten wir nur
darauf, ob und wie weit diese Prinzipien miteinander in Konflikt geraten: Der
Eudaimonismus, die verschiedenen Utilitarismen, der Emotivismus, die Gesinnungs- und
Verantwortungsethik, der Kontraktialismus.
4.1 Selbstbewußtsein
Wenn wir wechselseitige Anerkennung als grundlegendes Prinzip aller Ethik ansetzen,
dann auch mit J. G. Fichte unter der Bedingung, dass ein Mensch nur unter der Bedingung
wechselseitiger Anerkennung ein Selbstbewußtsein entwickeln kann (vgl. Mead 19..), was
wieder Bedingung für die Möglichkeit der Anerkennung dieses Prinzips ist.
4.2 Gut
Jede Theorie, jede Sicht der Dinge geht von Grundannahmen aus, die nicht weiter
innerhalb der Theorie begründet werden können. Diese Grundannahmen mögen implizit
oder explizit formuliert sein, sie bestimmen das Ganze, soll die Theorie konsistent sein.
Wenn Entscheidungen zu treffen sind, wägt man ab, ob diese Entscheidungen spontan oder
willkürlich getroffen sind. Soll Handeln und die es tragenden Entscheidungen konsistent
verlaufen, dann lassen sich jedenfalls solche Annahmen nicht umgehen. Solche
Grundannahmen gehen in die Definitionen der innerhalb der Theorie verwendeten Begriffe
ein. Wenn also in der Moral „gut“ in bestimmter Weise definiert wird, und man will
konsistent bleiben, dann entwickelt sich daraus ein bestimmtes Moralsystem, wie z. B. der
Hedonismus oder der Utilitarismus.
Wie die Frage der Wahrheit von Sätzen eine unendliche Aufgabe ist, genau so die Frage
nach dem Guten. Wie die Frage nach der Wahrheit nur sinnvoll unter der Voraussetzung
ist, dass sie zu erkennen möglich ist, und es unsere Aufgabe ist zu ermitteln, wie sie
wirklich werden kann, indem wir die Bedingungen dafür formulieren, genauso müssen wir
bei der Frage nach dem Guten wie bei allen Transzendentalien vorgehen. Es gibt ein Gut,
wie ist es möglich, es zu erfassen und zu leben. Was sind die Bedingungen dafür.
Gehen wir mit den Intuitionisten davon aus, dass „gut“ ein undefiniertes Prädikat ist,
müssen andere Annahmen getroffen werden, um zu bestimmen, was ein moralisches Urteil
von einem anderen Urteil unterscheidet. Moralität hat mit der Regelung
zwischenmenschlichen Handelns zu tun, bei dem alle Beteiligten mit ihren individuellen
Bedürfnissen und Interessen berücksichtigt werden.
Wie weit wird durch die Entscheidungsprozedur die inhaltliche Richtigkeit und Güte der
Entscheidung bestimmt?
Zur Universalisierung sind alle verpflichtet, auch jeder einzelne für sich. Den konkreten
Inhalt bekommt sie erst durch die wechselseitige Anerkennung. Jemanden zu helfen, der
sich nicht selbst helfen kann, ist gut. Vielleicht aber will der andere sich nicht helfen
lassen? Vielleicht möchte jemand z. B. in einer Intensivstation lieber sterben als künstlich
sam Leben erhalten werden? Konsens ist kein Moralkriterium. Diskurse können ideal
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Genetische Entwicklungstheorie
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geführt werden oder real mit unterschiedlichen, ideale Diskurse verfehlenden
problematischen Situatioen verbunden sein.
4.3 Sich für das Gute trainieren
Dieser Gedanke kommt besonder bei Platon und Aristoteles, bei ersterem stärker zum
Ausdruck, die eine stark normative Ethik entwickeln, die im wesentlichen auf die
Entfaltung bon Tugenden aufbaut. Man müsse sich für das gute Handeln erst stark machen.
Eine weitere Stufe über die prinzipiengeleitete Stufe hinaus ist deshalb notwendig, weil
sonst die Dynamik der Entwicklung nicht verständlich wäre (1) und weil Prinzipien
geradezu danach verlangen, den Ort ihrer Entstehung zu erklären (2).
Sittlichkeit hat nicht mit einem Sollen, sondern mit Selbstverpfichtung zu tun, nicht mit
einem kategorischen Imperativ, sondern mit dem Willen, andere Menschen zu achten und
sie in den eigenen Handlungsentscheidungen zu bedenken. Es wäre klarer zwischen Moral
und Sittlichkeit oder zwischen Sollen und Wollen zu unterscheiden.
Die Verpflichtung sein Handeln an universellen Prinzipien auszurichten, bindet das
Handeln an ein Sollen. Sittlichkeit als Selbstverpflichtung und als der Wille in
wechselseitiger Anerkennung zu handeln darf ein Handeln nach universellen Prinzipien
nicht unterbieten, aber überbietet es im Sinne der Regel „Was du willst, was die Menschen
dir tun, das tu auch du ihnen.“ Was in dieser Regel enthalten sein kann, geht weit über das
hinaus, was in einer Moral, die von universellen Prinzipien ausgeht, argumentierbar ist.
Man kann niemandem Anerkennung, Emphatie, Verstehen andemonstrieren, er muß sie
selbst ergreifen wollen.
Wo es um ein Sollen geht, muß es sich um Gegenstände handeln, die erst dann ausgeführt
werden können, wenn man sich auch gefühlsmäßig damit verbindet. Da muß mann wollen,
seine Aufmerksamkeit darauf richten, seine Gefühle sprechen lassen. Wenn z. B. Otfried
Höffe (1986, S. 61) über Zurechenbarkeit deer Handlungsbewertung und ihren
imperativischen und kategorischen Charakter definiert, dann spricht er nur innerhalb der
Sprache der Logik des Sollens. Allerdings hält er das nicht konsequent durch. Die Begriffe
„Anspruch“ und „Aufforderung“ (a.a.O., S.62), gehören zur Sprache der Logik des
Wollens.
Der kategorische Imperativ braucht wie jedes Prinzip eine Richtung, ein Ziel, das durch die
Handlungsmaximen gefördert werden soll, etwa das Allgemeinwohl.
Wenn jemand eine Handlungsregel aufstellt, dann kann er das nur ernsthaft unter der
Bedingung tun, dass er sich selbst auch in der Rolle des Betroffenen denkt (Keller/Reuss
1986, S.129). Darin bestehe die rationale Kraft des Argumentierens mit Moralprinzipien
(ebd.)
Kants These: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu
denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden als allein ein
guter Wille.“ (Grundlegung zur Methaphysik der Sitten, Reclam 1904, S.21, Kritik der
praktischen Vernunft, Vorländer 1906, S.71). Primat der praktischen Vernunft über die
theoretische (Ib, S.153-156). Es muß für den Erkenntnisprozeß – soll er nicht in
Dogmatismus und Skeptizismus verfallen – sowohl die Unendlichkeit des Wissens, d. h.
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Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
das die Aufgabe des Wissens eine unendliche Aufgabe bleibt, als auch die Idee, das
Postulat des unendlichen Erkennens, aufrecht erhalten werden. Die genuine Frage der
Philosophie als der Versuch, unser Sein und Erkennen zu klären, ist, wie von der Prämisse
das Wahrheit wirklich ist, Wahrheit möglich werden kann, eine Klärung dieser Frage
möglich ist. Wie das Gute erkannt und gelebt werden kann, wie das Schöne erkannt und
verwirklicht werden kann und wie das eine und die Einung möglich ist.
In der ersten Formulierung des kategorischen Imperativs darf man nicht nur die
Universalisierung sehen, sondern auch die Erweiterung der zweiten Formulierung, jeden
Menschen als Zweck und nicht als Mittel zu betrachten. Beide zusammen lassen sich unter
dem Prinzip wechselseitiger Anerkennung zusammenfassen.
5 Wert
Wertvoll ist, was Leiden mindert und Wohlbefinden erhöht. Wie verändert sich das von der
Geburt bis zum Erwachsenenalter.
Empirische Untersuchungen: zunächst Beobachtung, dann Interviews (Werte werden
vorgegeben und nach ihrer Wichtigkeit 1 - 4 beurteilt, schließlich Fragebögen wie oben.
Es müßte systematisch festgelegt werden, welche Bedeutung jeweils die Werte oder
Einstellungsobjekte haben.
Wert objektiv: „Die Eignung eines Gegenstandes, das Wertgefühl eines Menschen auf sich
zu ziehen.“ (Meinong, zitiert nach Wieser/Rauter 1974, S.311)
Ausgangspunkt allen Argumentierens, alltagssprachlichen, wissenschaftlichen wie
moralischen Argumentierens ist das Bewußtsein, genauer das zum Zeitpunkt des
Argumentierens so und so lebensgeschichtlich gewordene Bewußtsein des Individuums.
Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass jede Theorie für ihre Begründung auf eine
Theorie höheren Grades zurückgreifen muß, die Letztbegründung beruht auf der
Bedeutungsbildung im Alltagsleben, der alltäglichen Praxis, ausgedrückt in Wörtern der
natürlichen Sprache. Von ihnen her als undefinierten Ausdrücken, bekommt jeder
definierte Ausdruck seine Bedeutung. Die Bedeutung selbst wird im Prozeß des
methodisch-systematischen Argumentierens transportiert und eindeutig zu machen
versucht. Dem dienen die Definitionen und methodischen Regeln des Argumentierens. In
diesem Prozeß werden immer wieder Entscheidungen derart getroffen, einen bestimmten
Begriff so und so verstehen zu wollen. Man trifft Entscheidungen, um Komplexität zu
reduzieren. Diese müssen als plausibel, sinnvoll anerkannt werden. Auf einer anderen
Schleife oder einem anderen Pfad von Entscheidungen (Entscheidungspfade) können sie
wieder aufgenommen werden.
Werte als Güter
dinglich
psychisch, sozial
geistig
dingliche Werte
Natur
von Menschen gemachte kulturelle Güter
psychische Werte
Bewußtsein meiner Selbst – Selbstbewußtsein, Geschmack
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Genetische Entwicklungstheorie
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soziales Bewußtsein – Anerkennung, Wertschätzung –
individuelle Werte und soziale Werte sind wegen der Sozialität
des Menschen immer wechselseitig imprägniert.
geistige Werte
Aus der Sinndeutung von Welt, alllgemeine Sinninterpretation,
wodurch jeder Wert eine spezifische Bedeutung erhält: z. B.
Eudaimonismus, Utilitarismus, Sittlichkeit, Transzendenz
Werte können je nach Situation unterschiedliche Bedeutsamkeit annehmen. Z. B. Durst in
der Wüste – Wasser ist ein hohes Gut, der Geschmack spielt erst wieder eine Rolle, wenn
der Organismus durch das Verdursten nicht mehr bedroht ist.
Die Moral von Personen ist aus ihren Handlungen ablesbar, im besonderen aus den
emotionalen und kognitiven Anteilen. Handlungen sind zielorientert, man handelt, um
etwas zu erreichen, sei es direkt oder indirekt.
Übergänge zwischen den Ebenen:
 Einsicht, dass eine bestimmte Form der Interpretation von Welt über bestimmte
Schemata nicht reicht. Bestimmte Phänomene können nicht mehr erklärt werden.
 Die Bedeutung von Krisen: Krisensituationen fordern zu ihrer Lösung in der Regel neue
Einsichten.
 Dialektische Prozesse
5.1 Normen und Werte
6 Merkmale des moralischen Urteils
6.1 Autonomie
Es ist sehr beliebt geworden, auch unter Pädagogen, denen es mehr um die entwicklung des
Individuums zu sich selbst gehen müsste, Moral mit Normen zu identivizieren, die
einzuhalten wären. Moralisch ist aber erst der Mensch, der aus Achtung, Wertschätzung
und Anerkennung Normen, die ein gutes Zusammenleben garantieren, von sich aus tut.
Etwas aus Zwang oder um negative Sanktionen zu vermeiden zu tun, geht an der
Verantwortung über sich selbst und den anderen vorbei.
6.2 Selbstverpflichtung
Moralisch gesehen verpflichtet also eine Person sich selbst, etwas zu tun. Bei der
Sichselbstverpflichtung handelt es sich um eine reflexives Werk mit einem oder zwei
Argumenten. In der Moral handelt es sich in der Regel um letzteren Fall. Das Tun erfolgt
gegenüber einer anderen Person. Sich selbst zu verpflichten bedeutet Gründe zu haben,
warum man etwas gegenüber einer anderen Person tun will. Es gehört Einsicht in
Sachzusammenhänge und auch eine Person verstehen zu wollen dazu.
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Genetische Entwicklungstheorie
ETHIK:DOK
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