2003-01-01_Fehlinger.. - la:sf Lehranstalt für systemische

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MARGARETE FEHLINGER
ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT
KLIENTEN-/PERSONZENTRIERTE PSYCHOTHERAPIE UND NARRATIVE
FORMEN DER SYSTEMISCHEN THERAPIE 1
Auf der Suche nach hilfreichen psychotherapeutischen Handlungen, die das Finden von Lösungen für
Probleme und die Linderung von seelischen Leidenszuständen unterstützen, begegnete ich 1976 der
klienten-/personenzentrierten Psychotherapie, damals unter dem Namen „Gesprächstherapie". Meine
zwei Wegbegleiter oder besser gesagt „auf den Weg Bringer“ waren Ilse Papula und Alfred Klinglmair
- Ilse Papula mit ihrer anregenden, unterstützenden und bestätigenden Art, Alfred Klinglmair mit
seinem (manchmal auch ziemlich konfrontierendem) „in Frage Stellen“. Die Ausbildung bei Eva-Maria
Biermann-Ratjen, Jochen Eckert und Alfred Klinglmair faszinierte und überforderte mich zugleich. Die
Aufforderung zum Wagnis, den eigenen Bezugsrahmen zu verlassen und die innere Welt des Klienten
mit dessen Augen zu sehen und diese Haltung dann noch im Sinn des einfühlenden Verstehens zu
äußern und zugleich auch kongruent zu sein, brachte mich immer wieder hart an meine Grenzen,
manchmal sogar zur „Verzweiflung“ und zu dem Eindruck, für diesen psychotherapeutischen Ansatz,
bzw. für die Ausübung der Psychotherapie überhaupt, völlig unzulänglich zu sein.
Aber ich gab nicht auf und hoffte 1978 umso mehr im Rahmen meiner Familientherapieausbildung, die
in einer Verbindung der Arbeit von Virginia Satir (1964) mit dem strukturellen Ansatz der
Familientherapie (Haley 1977, Minuchin 1983) bestand, zu lernen, wie man „aus Problemen Lösungen
macht“, ohne sich so sehr auf eine therapeutische Beziehung einlassen zu müssen. Die Einladungen,
die diese Methode barg, waren in der Tat verführerisch. Da sich die damalige systemische Sichtweise
noch an dem Ansatz der Kybernetik I orientierte, verfiel ich der Illusion den interaktionellen Prozess
von Systemen (objektiv) beobachten zu lernen, sozusagen den „Systemfehler“ aufspüren zu können,
der ein Problem/eine Krankheit hervorbringt. Sollte das gelingen, dann müsste auch klar sein, was zu
tun ist, um Veränderungen herbeizuführen.
1. Diesen Artikel widme ich in Dankbarkeit und Hochachtung vor ihrem Sein und ihrer Arbeit Ilse
Papula, die für mich Lehrerin, Wegbegleiterin und Freundin ist.
2. Aus der klientenzentrierten Perspektive scheint der systemischen Therapie vorrangig ein Interesse
an Ziel- und Lösungsorientierung zugeschrieben zu werden, das aber Begegnung insofern vermeidet,
als absichtsvoll, nicht absichtslos gehandelt wird (Korbei 2001). Rückblickend glaube ich heute, dass
die Hoffnung auf Vermeidung von Begegnung genau das Faszinierende an der neuen Methode für
mich war.
Allerdings fand ich an meiner wichtigsten Lehrerin in dieser Methode, Virginia Satir, nicht nur eine
„Systemveränderin“, sondern auch eine Meisterin im Zuhören. Sie konnte auf ihre so
unverwechselbare Art verschiedenste Menschen auf Missverständnisse in der Kommunikation
aufmerksam machen, welche sie als die "Wurzel des Leids" und der Krankheit in Familien und
anderen sozialen Systemen verstand. Unvergesslich bleibt mir ihre Fähigkeit der Umdeutung. „Dies
war eine ihrer Methoden, mit denen sie das gegenseitige Zuhören von Menschen sanft machte“
(Hoffman 2000, S.156).
Bevor ich aber noch mit den Enttäuschungen meiner Erwartungen durch meine praktische Arbeit
konfrontiert werden konnte, gab Paul Dell mit seinem Vortrag auf dem Züricher Kongress 1981 die
Initialzündung zum Übergang von der Familientherapie zu einer umfassenderen systemischen
Therapie. (Ludewig 2000). Seine Überlegungen stützten sich auf die Arbeiten Humberto Maturanas
(1982), die einen nachhaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung hatten. Dazu gesellten sich dann
die sogenannte Kybernetik 2. Ordnung nach Heinz von Foerster (1985) und der radikale
Konstruktivismus, wie ihn Ernst von Glasersfeld (1987) ausformulierte. Eine Verbindung zwischen
Theorie und Praxis schafften etwas später vorrangig Harry Goolishian, Harlene Anderson (1990) und
Steve der Shazer (1982).
Michel White und David Epston (1990) richteten ihre Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Vorgänge,
auf die Art und Weise, wie ihre Klientinnen ihre Geschichten erzählen und gaben mit dieser
Zuwendung zu Narrativem den Anstoß für eine der Bezeichnungen der Systemtherapie zweiter
Ordnung, die als „narrative Formen der Psychotherapie“, oder „narrativer Ansatz“ (Kriz 1997) im
Sprachgebrauch ist. Allerdings wird die Verwendung des Begriffs sehr unterschiedlich gehandhabt
und erfasst vor allem jenen Teil neuerer Entwicklungen, der sich eindeutig dem Bereich „nichtinterventiv“ zuordnet.
Interessant dabei ist, dass einige der vielen geistigen Väter und Mütter dieses Ansatzes wie z.B. Harry
Goolishian sich weigerten, unter den Oberbegriff „systemische Therapie“ eingereiht zu werden. Es
scheint es vor allem die Eigenheit des deutschen systemischen Diskurses zu sein, unter die Begriffe
„narrative Therapie“ oder „narrative Formen der Therapie“ ein breites Spektrum von unterschiedlichen
Therapieformen miteinzuschließen, die andernorts als jeweils eigenständige Formen differenziert
werden (Deissler 2000).
1. Theoretische Zugänge zum narrativen Ansatz
Narrative Ansätze gehen davon aus, dass die Art und Weise, wie wir im Alltag die Welt beschreibend
wahrnehmen, deuten und bewerten von vergangenen und gegenwärtigen sozialen
Austauschprozessen definiert ist. In dieser aus dem sozialen Konstruktionismus gewonnenen
Sichtweise wird „der Diskurs über die Welt nicht als Widerspiegelung oder Landkarte der Welt
gesehen, sondern als ein Produkt gemeinschaftlichen Gedankenaustausches.“ (Gergen 1985, S 266)
In einem Vorgang des Konstruierens von Ähnlichkeiten und Unterschiedlichkeiten im sozialen
Austausch (er)finden Menschen sich und ihre Umwelt, entwickeln Geschichten über sich selbst
(Selbst-Erzählungen) und über andere (Beziehungsgeschichten), über ihre Leiden, ihren Schmerz und
ihren Ärger (Problemgeschichten). Dieser Prozess führt zu dominanten Erzählungen, der andere
mögliche Wirklichkeitskonstruktionen auslässt. Erzählungen über Leiden, Schmerz und Ärger
(Problemgeschichten) entsprechen diesem Muster. Die Form dieser Erzählungen ist kontextabhängig
und verändert sich im Dialog mit den jeweiligen Gesprächspartnerinnen.
Harlene Anderson (1999) - langjährige Kollegin von Harry Goolishian, die nach seinem Tod die
gemeinsame Arbeit eindrucksvoll weiterentwickelte - nennt ihren Ansatz "kollaborativ". Sie umschreibt
damit den notwendigen Abschied vom Expertinnentum der Psychotherapeutinnen, wenn sie sich auf
die Perspektive der im Gespräch gemeinschaftlich gesuchten und gefundenen alternativen
Erzählungen einlassen. Dem liegt eine einfache Kernprämisse zugrunde „die natürliche Konsequenz
von Dialog oder dialogischen Gespräch ist Änderung oder Transformation“ (Anderson 2000, S 86).
Damit ergibt sich die Frage, was psychotherapeutische Gespräche von Alltagsgesprächen
unterscheidet, denn „wenn alle Gespräche erfolgreich wären, gäbe es keinen Bedarf für Therapeuten“
(Paff 2000).
2. Der therapeutische Dialog - Narrative Form der Psychotherapie
Wenn eine Klientin und eine Psychotherapeutin ein Gespräch miteinander führen, dann besteht
dieses aus ihrem (hörbaren) Dialog, sowie ihrem innerem (stummen) Dialog. “Daher bezeichne
ich den therapeutischen Prozess als ein dialogisches Gespräch; es stellt einen generativen
Prozess dar, in dem neue Bedeutungszusammenhänge – eine andere Art, die eigenen
Erlebnisse zu verstehen, sinnvoll erscheinen zu lassen, oder zu akzentualisieren oder zu
interpunktieren – hervortreten und wechselseitig konstruiert werden“ (Anderson 1999, S 134).
Psychotherapie wird so zu einem gemeinsamen Erkunden, das sich durch einige Merkmale
auszeichnet: Festgelegter dialogischer Raum, gemeinsame Intentionalität von Klientin und
Psychotherapeutin, Gefühl der Zugehörigkeit zum Gespräch, Verstehen aus dem Gespräch
heraus, innerer Dialog und Aussprechen des Ungesagten (Anderson 1999). Diese durch
gemeinsames Suchen und Finden entwickelten neuen Erzählungen repräsentieren neue
Beschreibungen, Bedeutungszusammenhänge und neue Bewertungen, die von beiden Klientinnen und Psychotherapeutinnen - anders erlebt werden ....... leichter, weniger
ohnmächtig, freudvoller, hoffnungsvoller ....... Dies kann aber nur geschehen, wenn auch die
bisherige problemaufrechterhaltende Geschichte ernst genommen und gewürdigt wird.
2.1.Verstehen aus dem Gespräch heraus
„Um zu einem Dialog und zur kollaborativen Befragung einzuladen und sie aufrechtzuerhalten,
müssen die Handlungen eines Therapeuten sich kohärent auf die Geschichte einer Person beziehen.
Ich möchte ihnen (Klientinnen) zuhören und hören, was sie wollen, dass ich höre“ (Anderson 2000, S
93)
Klaus Deissler (Deissler 2000) unterscheidet zwischen einem "nachvollziehenden Verstehen“, das
sich darauf beschränkt rückzuversichern, ob die Erzählerin bei ihren Ausführungen sich verstanden
fühlt und einem „kreativen Verstehen“, das zu möglichen anderen oder neuen Verstehensweisen
beitragen will. Harlene Anderson (2000, S 139) meint, dass es sich beim „Verstehen um einen
interpretierenden Prozess handelt, eine Erzählung, deren Zweck durch das deutsche Wort Deutung
recht gut getroffen ist: die tiefere Bedeutung zu erfassen.
Diese Bedeutungsvorschläge sollten von der Klientin als optimale Differenz zu den bisherigen
Sichtweisen erlebt werden; optimal in dem Sinn, dass sie von Klientinnen angenommen werden,
indem sie eine Brücke zwischen Vertrautem und Neuem spannen.
2.2. Aussprechen des Ungesagten
“Narrative Therapie gründet in der Idee, dass sich therapeutische Dialoge als gemeinsame
Erzählvorgänge verstehen lassen, die hilfreiche Unterschiede im Leben, Zusammenleben und
Problemlösungshandeln erzeugen.“ (Grossmann 2000, S 16). Zu der Frage, wie man solche
hilfreichen Unterschiedsbildungen findet, hat die systemische Therapie zahlreiche Ideen
hervorgebracht – eine beeindruckende, verdichtete Zusammenfassung, die zwischen der Innenseite
der Erzählung (was zwischen den Personen ausgetauscht wird) und der Außenseite (in welchem
Kontext diese Erzählung eingebettet ist), findet sich bei Konrad Großmann (2000).
Die Aufgabe der Psychotherapeutin ist es aufmerksam zuzuhören, was in Sprache (3) gebracht wird
und was ungesagt bleibt; und Ausgelassenes im Sinne der Unterschiedsbildung durch Fragen oder
andere Wege wieder in Kommunikation zu bringen. Das ermöglicht Ungesagtes weiterzuentwickeln
und zum Ausdruck zu bringen. Voraussetzung dafür ist die Unterscheidung, welches Verhalten (4) Teil
der dominanten Erzählung ist und welches unterlassen wird (Simon 1997).
3. Nicht nur Hörbares wird in die therapeutische Kommunikation gebracht, sondern auch „Unhörbares“
– Stille, Stimmung, Bewegung .......... in Form von Sprache oder in Ausdrucksformen jenseits der
Sprache, etwa indem auf Gesagtes mit (ausgelassenem) Schweigen reagiert wird, oder der Körper in
Form einer Bewegung antworten kann.
4. Wenn ich von Verhalten spreche, dann umfasst dieses den sprachlichen und nicht-sprachlichen
Austausch in der therapeutischen Beziehung
Bei allem Ringen um passende (interventive) Formen des Fragens, verweist narrative Therapie auf die
einfache, aber wesentliche Bedeutung der therapeutischen Beziehung. Lynn Hofmann drückt dies
über die Antwort einer ihrer Klientinnen aus: „Ob Sie mir die richtige Frage gestellt haben, weiß ich
nicht, aber wichtig war, dass Sie mich akzeptiert haben“ (5)
2.3. Innerer dialogischer Raum
Das Herstellen und die Aufrechterhaltung eines inneren dialogischen Raumes bedeutet für die
Psychotherapeutin, dass sie innerlich einen Raum schafft, in dem sie der Klientin Raum gibt und
gleichzeitig Kommunikation mit sich selbst aufnimmt. Dieses Raum-Geben soll in einer Haltung des
„Nicht-Wissens“ erfolgen, in einer Haltung des Verzichts auf den Glauben an erworbenes Fachwissen,
der Bereitschaft des Infragestellens und der Bescheidenheit. Denn „Wissen" hieße anzunehmen
verstehen zu können. Damit macht man sich unempfänglich für das Unerwartete, Unausgesprochene
und „Noch-nicht-Gesagte“. Dieses „Horchen“ auf die eigenen inneren Stimmen, auch auf
Widersprüche, Inkohärenzen, die Fähigkeit, sie transparent zu machen und dem therapeutischen
Dialog zur Verfügung zu stellen, sind die zentralen Anforderungen an die Psychotherapeutin (Lyotard
1989).
3. Der therapeutische Dialog – klienten-/personenzentrierte Psycho-therapie (6)
Auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Martin Bubers „Dialogischen Prinzip“ (Buber
1962), konzentrierte sich Carl Rogers auf die Bedeutung der realen Begegnung von „Person zu
Person“, ohne das Konzept der „Alter-Ego-Beziehung“ aufzugeben (Finke 1999). Er betonte wie
wichtig es für die Klientin ist, die Therapeutin auch in ihrer unmittelbaren Gegenwärtigkeit als
konkrete und authentische Person zu erleben (Rogers 1973). Konsequenterweise sollte diese
den Wunsch entwickeln, die Klientin als Person kennen zu lernen und nicht sosehr ihr helfen
zu wollen. Es ist die Begegnung, die hilft oder heilt (Rogers/Buber 1960). Die passende
therapeutische Beziehung wird damit nicht zur Voraussetzung von Therapie, sondern „sie ist
selbst Therapie“ (Schmid 2001, S 59).
5 Persönliche Mitteilung von Gisela Schwarz (in dem Vortrag „postmoderne Ansätze in der
systemischen Therapie am 10.10.2001 in Linz) über ihre Kollegin Lynn Hofmann
6. In meinen folgenden Ausführungen konzentriere ich mich auf die Strömung der klienten/personenzentrierten Psychotherapie, die die Beziehung in den Mittelpunkt stellt (Keil, Stumm 2002)
und dabei nur auf jene Aspekte, die eine Verbindung zur narrativen Therapie nahe legen. Ich erlaube
mir diese Einschränkung, da es meines Erachtens hinsichtlich der jeweiligen Persönlichkeitstheorien
wesentliche theoretische Unterschiede gibt. Hier ließ sich für mich keine Brücke zwischen narrativer
und klienten-/personenzentrierter Therapie finden. Die Bemühungen von Jürgen Kriz (1997) eine
Verbindung zu schaffen, indem er beobachtbare Interaktionen stets auch als persönlichen Ausdruck
der beteiligten Individuen versteht, sind noch nicht ausreichend befriedigend.
Diese therapeutische Beziehung vollzieht sich im Beziehungsangebot der Kongruenz, der
bedingungslosen Wertschätzung und Empathie – sie ist Haltung und Handeln zugleich, die sich in
Entsprechung zur jeweiligen Situation/zum jeweiligen therapeutischen Dialog erst entfalten und seinen
Ausdruck finden muss. Wolfgang Keil (2001) warnt davor, diese drei Elemente auf eine Methode oder
Verhaltensanweisung zu reduzieren. Auch wenn in der Nachfolge von Carl Rogers im klienten/personenzentrierten Ansatz eine Hinwendung zur klinischen Orientierung (Swildens 1991, Speirer
1994) zu beobachten ist, sagen die "Grundannahmen nichts darüber aus, wie die Kommunikation
zwischen Klientin und Psychotherapeutin zu erfolgen hat" (Schmid 2002).
Noch deutlicher rücken Van Kessel W. und van der Linden P. (1993) das interaktionelle Geschehen in
den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit - nicht nur jenes zwischen Klientin und Psychotherapeutin,
sondern auch jenes ihres Eingebundenseins in ein weiteres Beziehungsfeld. Äußere Dialoge gestalten
die inneren, die "äußere Welt" findet in der "inneren Welt" ihre Entsprechung. Mit dieser Sichtweise
wird eine neue Idee eingeführt: Die Exploration des eigenen Selbst erschafft nicht ein feststehendes
und gleich bleibendes Selbstbild, sondern bezieht sich darauf, wie jemand in der Kommunikation mit
anderen zu seinem eigenen Erleben gelangt und daraus wieder handelt.
Somit wird die dem Menschenbild des klienten-/personenzentrierten Ansatzes zugrunde liegende
Annahme einer Aktualisierungstendenz als ein Prinzip der Selbstorganisation nicht nur
"individualistisch" gesehen, sondern als eine Kraft, die sich in der Beziehung entfaltet, denn „Rogers
geht davon aus, dass die individuell konstruktive Entwicklungstendenz auch eine sozial konstruktive
ist“ (Schmid 2001, S 65).
4. Findet sich ein Unterschied?
Je länger ich nachdenke, schreibe, überlege, nachlese ............, umso schwerer wird mir das Erkennen
und Benennen von Unterschieden zwischen beiden Ansätzen. Mir ist es, als würde ich auf meine
Anfänge zurückschauen und damit mein gegenwärtiges und vielleicht sogar zukünftiges
therapeutisches Handeln neu bewerten. Aus diesem Lernprozess heraus versuche ich meine ersten
Gedanken zu formulieren.
4.1. Große Übereinstimmung findet sich in dem Bereich, den man „Abschied vom Expertentum“
nennen kann, was einen besonderen Umgang mit „Wissen“ (diagnostisch, störungsspezifisch,
klinisch.....) zur Folge hat. Im theoretischen Diskurs der klienten-/personenzentrierten Psychotherapie
wie der systemischen Therapie nimmt die Auseinandersetzung mit der Frage, ob Krankenbehandlung
eines speziellen Wissens bedarf, in den letzten Jahren breiten Raum ein (Swildens 1991, Speirer
1994, Retzer/Simon 1998, Ludewig 2000). Diese Entwicklung scheint u.a. auch eine Folge der
Psychotherapiegesetzgebungen (8) und der daraus resultierenden Forderung des Nachweises von
Wissenschaftlichkeit.
Die narrative Psychotherapie ist diesbezüglich viel radikaler. In der geforderten Haltung des „NichtWissens", die dem Begriff der „Absichtslosigkeit“ entspricht, wird solches Expertinnentum abgelehnt.
In dieser Sichtweise stimmt sie mit jenen „Strömungen“ der klienten-/personenzentrierten
Psychotherapie überein, welche die personale Beziehung und die Verwirklichung der
Grundeinstellungen in völliger diagnostischer Absichtslosigkeit fokussiert (Stumm, Keil 2002).
4.2. Beide Methoden vertreten die Sichtweise, dass die therapeutische Beziehung den wesentlichen
Raum herstellt, in dem Heilung/Veränderung geschehen kann. Allerdings sind die Erklärungsmodelle
über das, wie Beziehung zu beschreiben ist, unterschiedlich.
In der Tradition der humanistischen Psychologie beschreibt die klienten-/personenzentrierte Therapie
Beziehung als einen Austausch von Personen, der durch das Wesen/das „Selbst“ dieser Personen
bestimmt ist. Die Personen „mit Leib und Seele“ sind somit die Gestalterinnen der Beziehung.
Ganz in der Tradition der postmodernen Philosophie verabschiedet sich die narrative Form der
systemischen Therapie von der Idee des ungeteilten Selbst/der Persönlichkeit (Gergen 1996). Sie legt
bei der Betrachtung von Beziehung den Focus der Aufmerksamkeit auf den Kommunikationsprozess.
Die Personen werden damit zu „Trägern“ dieses Prozesses, der sich abhängig von den
Kontextbedingungen entwickelt, formt, verändert ..... Damit ist die Person nicht Voraussetzung, dass
Beziehung geschehen kann, sondern sie (er)findet sich durch den und in dem Prozess sozialen
Austausches.
4.3. Auch „das Verstehen aus dem Gespräch heraus“ und das „einfühlende Verstehen“ beschreibt
denselben Prozess aus einer unterschiedlichen Perspektive, einmal ausgehend vom
Kommunikationsprozess, das andere Mal ausgehend von den Personen. Ob sich dieser Unterschied
in der therapeutischen Praxis abbildet, erscheint mir immer fraglicher. Beide Methoden hoffen, dass
dieses Bemühen um Verstehen in der therapeutischen Beziehung sich anregend auf das „SelbstVerstehen“ der Klientin (und natürlich auch das der Therapeutin) auswirkt.
Die narrative Form der Psychotherapie gibt aus der Tradition der Unterschiedsbildungen und der
vielfältigen Fragetechniken der systemischen Therapie bereits beschriebene (s. 2.1. und 2.2.)
Hinweise, wie dieses Verstehen gemeinsam sprachlich konstruiert werden kann.
Diese Aussage wage ich nur für den deutschsprachigen Raum zu machen. Die Entwicklung in
anderen Bereichen von Europa und den USA entzieht sich leider meiner Kenntnis.
Allerdings entwickelt sich die Vision des kollaborativen Ansatzes (Anderson 1999) in eine andere
Richtung. Sie reflektiert, inwieweit Fragen nicht bereits Erklärungen in sich tragen und etwas darüber
aussagen, was die Therapeutin denkt. Sollte sich diese Sichtweise weiterentwickeln, dann rücken
beide Methoden noch näher zusammen.
Die klienten-/personenzentrierte Therapie lehnt Techniken ab, die dieses schwierige Einfühlen und
Verstehen leichter machen könnten. Sie verweist fast kompromisslos auf die Grundhaltung der
Empathie.
Finke (1994) unterscheidet die beiden Komponenten „Einfühlen“ und „Verstehen“. Mit „Einfühlen“
versucht die Psychotherapeutin, sich der inneren Welt der Klientin zu nähern. Die aus dieser
Wahrnehmung gewonnenen Orientierung hilft zum „Verstehen“ des inneren Bezugssystems der
Klientin. „Verstehen“ bedeutet zunächst das Nachzeichnen eines mehr oder weniger manifesten
Sinnes und sodann das Erhellen eines verborgenen, also latenten Sinnes. Hierbei geht er von der
Annahme aus, dass im Kontext eines intrapsychischen Konfliktes wesentliche Aspekte des Selbst gar
nicht oder nur verzerrt symbolisiert werden (Finke 1999, S 129). Die entscheidende Aufgabe der
Therapeutin besteht darin, das „Unerklärliche“ zu verstehen und das Verstandene so zu
kommunizieren, dass es bei der Patientin zu einer affektiv verankerten, das Erleben ändernden
Einsicht führt. Dieses „Unerklärliche“ oder „Verborgene“ entfaltet sich in einem Suchprozess, innerhalb
dessen die Psychotherapeutin das, was sich in der Beziehung entfaltet und vor allem das, was sich an
der Grenze des Gewahrwerdens noch nicht gezeigt hat, auf sich wirken lässt und sich hierfür als
Interaktionspartnerin anbietet. "Verstehen" besteht aus mehreren Schritten; es erfasst schließlich
mehr als das nur ausdrücklich Gemeinte.
Diese Beschreibung des "Verstehensprozesses" entspricht dem Wandel, der sich für die "narrative
Therapie" aus jener transformierenden Kraft dialogischer Gespräche ergibt, die aus dem Erzählen und
Nacherzählen vertrauter Geschichten entsteht. Das gemeinsame Erkunden bewegt sich von
vertrauten zu ausgelassenen und verborgenen Erzählungen. Personen wandeln sich in Beziehung zu
diesen neu erzählten Geschichten.
5. Schluss
„Carl Rogers (1951) bahnbrechende Auffassung der therapeutischen Beziehung hat die klinische
Praxis für immer verändert und war Grundlage eines Großteils der Psychotherapieforschung, die in
den vergangenen vierzig Jahren geleistet wurde.“ (Miller 2000, S 102).
Ein bisschen leichtfertig und auch erwartungsvoll etwas „Besseres“ zu finden, war ich in das weite
Land der systemischen Therapie aufgebrochen und kann mich jetzt, 20 Jahre später nur diesem Satz
anschließen und mich vor der Größe eines Carl Rogers nur verneigen. Nach all den
Auseinandersetzungen mit den postmodernen Entwicklungen der systemischen Therapie glaube ich
zu seinen Sichtweisen dessen, was hilft, um seelische Leidenszustände zu lindern, einen Zugang
gefunden zu haben, der weniger fordert als befreit. Ich weiß nicht, ob ich mit der Behauptung zu weit
gehe, dass die narrativen Formen der systemischen Therapie die wesentlichen Erkenntnisse von Carl
Rogers durch die „Brille“ der postmodernen philosophischen Ansätze betrachtet wieder gefunden bzw.
neu erfunden haben.
Umso mehr befremdet es mich, dass viele „Vordenkerinnen“ narrativer Therapie Carl Rogers und die
Nähe ihrer Sichtweisen zum klienten-/personenzentrierten Ansatz nicht oder nur am Rande erwähnen.
Lynn Hoffmann (2002) beschreibt, wie beeindruckt sie von einem Video von Carl Rogers war, das sie
für einen ungehobenen Schatz (natürlich nur für Systemikerinnen!) im psychotherapeutischen Feld
hält "I found his practices, including the way he embodied his words, resembled what I think of as a
collaborative working style" (Hoffmann 2002, S 181).
Meine Absicht ist, diese unzulässige Auslassung in Sprache zu bringen. Ich hoffe, mit diesem Artikel
einen kleinen Beitrag zur gegenseitigen Wertschätzung von psychotherapeutischen Methoden
geleistet zu haben.
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DR. MARGARETHE FEHLINGER ist Psychologin und Psychotherapeutin (Familientherapie) in freier
Praxis, Lehrtherapeutin der Fachsektion Systemische Familientherapie des ÖAGG, Linz.
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