Schwerpunktpraxis Ernährungsmedizin

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Qualitätskriterien für die Einrichtung einer
„Schwerpunktpraxis Ernährungsmedizin“
J.G. Wechsler, R. Kluthe, W. Spann, G. Topf, U. Rabast, G. Wolfram,
Einleitung
Ernährungsabhängige Erkrankungen umfassen Übergewicht und Adipositas bis hin zu
Lungenfunktionsstörungen mit Schlafapnoe, arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus,
Dyslipoproteinämie und die Arteriosklerose mit ihren Begleiterkrankungen, den Herzinfarkt, den
Schlaganfall
und
die
periphere
arterielle
Verschlusserkrankung
ebenso
wie
Krebserkrankungen, sowie degenerative Gelenkerkrankungen. Auch gynäkologische und
psychiatrische Erkrankungen können Folge von Fehl- bzw. Überernährung sein. Aber auch
Mangelernährung (z.B. Jod) kann schwerwiegende Krankheitsbilder hervorrufen, die vor dem
Einsatz von Medikamenten ernährungsmedizinisch behandelt werden müssen.
Das „Metabolische Syndrom“ liegt vor, wenn Übergewicht bzw. Adipositas, Diabetes mellitus,
arterielle Hypertonie, Dyslipoproteinämie und Gicht gemeinsam auftreten. Adipositas ist
eindeutig durch Überernährung bzw. durch Fehlernährung mit zu hoher Fettzufuhr sowie
Bewegungsmangel bedingt. Die Weltgesundheitsorganisation hat Adipositas deshalb als
chronische Erkrankung klassifiziert. Übergewicht und Adipositas nehmen weltweit epidemiehaft
zu und damit auch ihre Folgeerkrankungen. Eine kausale Therapie kann nur in einer
grundlegenden Änderung der Ernährungsgewohnheiten und des Lebensstils gefunden werden.
Trotz intensiver Grundlagenforschung ist es bis heute nicht in größerem Umfang gelungen,
eine erfolgreiche Therapie ernährungsabhängiger Krankheiten und von Übergewicht und
Adipositas umzusetzen. Dies liegt darin, dass entsprechend der Polyätiologie der
Erkrankungen eine Polypragmasie der therapeutischen Maßnahmen, ohne entsprechende
Qualitätskontrolle erfolgt.
Die Empfehlungen und Leitlinien der Fachgesellschaften haben das therapeutische Vorgehen
bei ernährungsabhängigen Erkrankungen und Adipositas allerdings deutlich erleichtert. So gibt
es Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), des National Instituts of Health (NIH),
der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG), der Deutschen Gesellschaft für
Ernährungsmedizin (DGEM) und der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin (DAEM).
Auch von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) gibt es die DACH Referenzwerte
für die Nährstoffzufuhr, Beratungsstandards und Leitlinien.
Bis heute sind die Strukturen, um diese Therapiekonzepte und Empfehlungen umzusetzen,
noch nicht ausreichend wirksam. Aus diesem Grund möchten wir mit der Fachkompetenz von
Ernährungsmedizinern die Einrichtung von Schwerpunktpraxen Ernährungsmedizin erreichen.
Dies erscheint auch dringend notwendig, weil insbesondere auf dem Gebiet der
Adipositastherapie zahlreiche kommerzielle Programme für Übergewichtige und Adipöse
propagiert werden, die keinerlei Qualitätskriterien erfüllen.
Behandlungsziele einer Schwerpunktpraxis Ernährungsmedizin
Ziel ist es, die Qualität der Behandlung von Patienten mit ernährungsbedingten Erkrankungen
und Patienten mit Adipositas zu verbessern und langfristig Folgeerkrankungen zu vermeiden.
Eine Kosteneinsparung wird zwangsläufig die Folge sein. Weitere Ziele sind eine Änderung des
Lebensstils
durch
Ernährungsumstellung,
Steigerung
der
Alltagsaktivität
und
Verhaltensmodifikation.
Die Senkung von Morbidität und Mortalität durch Reduktion des kardiovaskulären Risikoprofils
und die Reduktion von adipositas-assoziierten Erkrankungen ist ein weiteres Ziel. Für die
Patienten soll durch psycho-soziale Stabilisierung eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft
und das Arbeitsleben ermöglicht werden. Das Selbstwertgefühl soll gesteigert, Selbständigkeit
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und Eigenverantwortung gefördert werden. Insgesamt soll die Lebensqualität durch
körperliches und seelisches Wohlbefinden verbessert werden.
Strukturelle und personelle Voraussetzungen
Eine besondere Fachkompetenz der Ärztinnen und Ärzte sowie der nichtärztlichen Mitarbeiter
auf dem Gebiet der Ernährungsmedizin ist zu fordern. Der Mediziner soll ausreichende
klinische Erfahrung auf dem Gebiet der Ernährungsmedizin von mindestens 3 Jahren sowie die
Qualifikation als Ernährungsmediziner (DAEM/DGEM) nachweisen können. Regelmäßige
Weiterbildungen und der Nachweis von Fortbildungspunkten (15 Punkte) auf dem Gebiet der
Ernährungsmedizin sind zu fordern. Zusätzlich ist die Mitarbeit in einem Qualitätszirkel auf dem
Gebiet der Ernährungsmedizin erforderlich.
Der Ernährungsfachkraft kommt im therapeutischen Team besondere Bedeutung zu. Es sollte
sich dabei um eine Diätassistentin oder Ökotrophologin mit praktischer Erfahrung in der
Ernährungsberatung bei ernährungsbedingten Erkrankungen handeln. Wünschenswert ist die
Ausbildung zur Ernährungsberaterin/er der DGE.
Einen
erfahrenen
Verhaltenstherapeuten
zur
erfolgreichen
Umsetzung
verhaltenstherapeutischer Strategien und langfristigen Änderung des Ernährungsverhaltens als
Psychologen im Team zu haben, ist wünschenswert. Der Psychologe sollte auch die
Therapiegruppen führen, da die Gruppentherapie sowohl vom Ergebnis als auch von der
Wirtschaftlichkeit der Einzeltherapie deutlich überlegen ist.
Der Einsatz eines Physiotherapeuten oder einer Physiotherapeutin ist für eine Änderung des
Bewegungsverhaltens notwendig. Körperliche Aktivitätssteigerung kann nicht nur zur
Gewichtsreduktion und zur langfristigen Gewichtserhaltung führen, sondern hat große
Bedeutung bei der Vermeidung einer Endothel-Dysfunktion. Zusammenarbeit mit lokalen
Sporteinrichtungen wie Sportvereinen, Fitness-Studios und Schwimmvereinen ist
wünschenswert.
Räumlichkeiten
Es muss ein geeigneter Raum verfügbar sein, in dem regelmäßig Schulungsveranstaltungen
und Gruppensitzungen durchgeführt werden können. Ferner muss ein Besprechungszimmer
zur Verfügung stehen, damit Einzelgespräche zwischen Patient und Therapeuten möglich sind.
Der Zugang zu einer Lehrküche muss gewährleistet sein.
Therapie-Konzeption
Eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten ist nur durch langfristige Behandlungskonzepte
möglich. Darum soll die Therapiedauer mindestens 6 - 12 Monate betragen, am Beginn der
Behandlung muss eine ärztliche Eingangsuntersuchung mit Stellung der Diagnose und
Therapieindikation stehen, die Schulung muss in Gruppen erfolgen, das Therapiekonzept muss
interdisziplinär aus Verhaltens-, Ernährungs- und Bewegungstherapie bestehen. Die
Gruppensitzungen müssen regelmäßig stattfinden. Regelmäßige Verlaufskontrollen sowie
Dokumentation sind notwendig. Die Therapieprogramme müssen sich an den Leitlinien bzw.
Standards der Fachgesellschaften orientieren.
Der Arzt steht im Mittelpunkt der Schwerpunktpraxis und des therapeutischen Teams. Er stellt
die Praxis für begleitende Diagnostik und Therapie sowie Räume für Schulungen, Beratungen
und Organisation. Er trägt auch das wirtschaftliche Risiko.
Hauptaufgabe des Arztes sind die Koordination des interdisziplinären Therapiekonzepts und
die Indikationsstellung für die Behandlung sowie die medizinische Betreuung und
Verantwortung während der Therapie.
Als erfahrener Ernährungsmediziner hat der Arzt mit seinem Team die Möglichkeit das
gesamte Therapiespektrum verantwortungsbewusst und leitlinienorientiert einzusetzen. Dies
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gilt sowohl für spezielle Ernährungsformen als auch für die Behandlung von Übergewicht und
Adipositas durch Formula-Diäten, Reduktionsdiäten einschließlich psychologischer Führung
und Bewegungstherapie bis hin zum Einsatz von Medikamenten und chirurgischen
Maßnahmen. Neben dem Einsatz chirurgischer Maßnahmen, wie z.B. der Banding-Operation,
sind auch plastisch-chirurgische Maßnahmen oder Apherese-Verfahren zu diskutieren. Das
Angebot der Schwerpunktpraxis muss aber auch Gesundheitsinformation liefern, Lifestyle
modifizieren und Präventiv-Programme beinhalten.
Qualitätssicherung und Dokumentation
Ein wesentliches Kriterium für eine Kostenerstattung durch die Krankenkassen ist eine gute
Qualitätskontrolle und Qualitätssicherung. Dies bedeutet Dokumentation aller erhobener Daten,
Auswertung und Diskussion dieser Ergebnisse am besten in Qualitätszirkeln. Die erhobenen
Daten betreffen nicht nur anthropometrische und biochemische Parameter, sondern auch den
Status von Komorbidität, Parameter der Lebensqualität, Medikamenteneinnahme sowie das
Therapieergebnis und die Publikation dieser Ergebnisse. Die Therapieerfolge sollten sich an
den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des National Institute of
Health (NIH) bezüglich Kurzzeit- und Langzeitergebnissen ernährungsbedingter Krankheiten
orientieren.
Eine Vernetzung der Schwerpunktpraxen Ernährungsmedizin durch EDV wird angestrebt.
Finanzierung
Zunächst wird eine Finanzierung der erbrachten Leistungen auf der gesetzlichen Grundlage
von individuellen Gesundheitsleistungen (IGEL-Leistungen) erfolgen müssen. Für die
Krankenkassen besteht grundsätzlich die Möglichkeit der Kostenbeteiligung. Dies muss im
Einzelfall ausgehandelt werden und bedarf eines Qualitätsnachweises.
Die Zertifizierung einer Schwerpunktpraxis Ernährungsmedizin erfolgt durch den
Bundesverband Deutscher Ernährungsmediziner (BDEM) und durch regelmäßige Kontrollen
durch das Institut für rationelle Ernährung und Diätetik (IRED).
Eine Anerkennung der Schwerpunktpraxen Ernährungsmedizin durch die Krankenkassen und
die Organe der Kassenärztlichen Selbstverwaltung wird angestrebt.
Literatur
Qualitätskriterien für ambulante Adipositas-Programme
H. Hauner, J.G. Wechsler, R. Kluthe ,H. Liebermeister, H. Ebersdobler, G. Wolfram, P. Fürst, K.W. Jauch
Aktuelle Ernähr. Med. 2000, 27, 163-165
Rationalisierungsschema 2000 des Berufsverbandes Deutscher Ernährungsmediziner, der Deutschen AdipositasGesellschaft, der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, der
Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin und des Verbandes der Diätassistenten – Deutscher Berufsverband.
R. Kluthe, P. Fürst, H. Hauner, E. Hund-Wissner, H. Kasper, G. Kotthoff, R. Rottka, M. Schade, J.G. Wechsler, A.
Weingard, M. Wild, G. Wolfram
Akt. Ernähr. Med. 2000, 25, 263-270
Strukturierte Adipositastherapie
J.G. Wechsler, H. Hagen, G. Kurrle, B. Ott, W. Linder, B. Schulz, M. Schusdziarra, G. Wagner, K. Leopold
Akt. Ernähr. Med., 2000, 25, 209-215
Schwerpunktpraxis Ernährungsmedizin
J.G. Wechsler und K. Leopold Akt. Ernähr. Med. 2003, 28, 45-49
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