Vorlesung / Strachota – „Heilpädagogik und Medizin“ 1. Vorlesung, 04.10.2005 190189 Heilpädagogik und Medizin: Zur heilpädagogischen Relevanz medizinischen Denkens und Handelns im 20. und 21. Jahrhundert (WS 2005/06) Zuordnung zum Studienplan: 5.7.1. [51b5aa; FK II/1; FK II/3] Zeit, Ort: Dienstag, 15.00-16.30; NIG Hs II Beginn: 4.10.05 Basisliteratur: Literaturempfehlungen werden in der Lehrveranstaltung bekannt gegeben. Ziel der Lehrveranstaltung: Im Rahmen dieser Vorlesung soll die Relevanz des medizinischen Krankheitsbegriffes für die Gestaltung heilpädagogischer Praxis im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert verdeutlicht werden. Vor dem Hintergrund des Zusammenhanges zwischen zugrunde liegendem Krankheitsverständnis und ärztlichem Handeln, der u.a. an der Pränataldiagnostik, Neonatologie und anderen medizinischen Teildisziplinen aufgezeigt wird, soll erkennbar werden, welche Konsequenzen die moderne Medizin(-technik) für das heilpädagogische Aufgaben- und Selbstverständnis hat. Prüfungsmodalität: schriftliche Prüfung am 31.1.06 Inhaltliche Beschreibung: • grundlegende sprachtheoretische Überlegungen; • Streifzug durch die Geschichte des medizinischen Krankheitsbegriffes; • medizinisches Denken und Handeln im 20. und 21. Jahrhundert (unter besonderer Berücksichtigung der Humangenetik); • Relevanz medizinischer Teildisziplinen für die heilpädagogische Praxis; • Konsequenzen für das heilpädagogische Aufgaben- und Selbstverständnis. 1. Vorlesung: 04.10.2005 Funktionen von Sprache Sprache – Begriff – Krankheitsbegriff (Quelle: Strachotai, „Heilpädagogik & Medizin) „In Teil 1 soll deutlich gemacht werden, welches Verständnis von Begriff dieser Arbeit zugrunde liegt, dem vorgelagert sind einführende Überlegungen zu ‚Sprache’ allgemein. Die zunächst grundlegend gehaltenen Ausführungen über Aspekte und Funktionen von Sprache und Begriff werden in einem nächsten Schritt hinsichtlich des ‚Begriffs Krankheit’ herausgearbeitet, im abschließenden Kapitel dieses 1.Teiles steht der medizinische Krankheitsbegriff und seine Relevanz für das medizinische Tätigkeitsfeld (Diagnose und Therapie) im Zentrum des Nachdenkens“. 1 Sprache - Äußerung von Vorstellungen (mit Ausdruck, Appell, Mitteilung) - Formen, Materialien, Medien und Techniken (durch Sprechen und artikuliertes Denken, Worte und Wörter, Satz und Text, ferner Stimme, Laut- und Schrift,..) und - „…alles was die Reflexion auf Sprache in Wissenschaft und Philosophie untersucht.“ - Zitat: Borsche 1995, 1437; Quelle: Strachota 2002, 18; Äußerung von Vorstellungen – Das Denken in verschrifteter Form als „Text“ Ein Text soll sprachlich etwas zum Ausdruck bringen, und um das zu können, muss er folgende Voraussetzungen erfüllen: ein Text muss in einer Sprache geschrieben sein, die von der lesenden Person verstanden wird (d.h. die verwendeten Sprachzeichen müssen als bekannt vorausgesetzt werden); ein Text muss nach Möglichkeit sprachlich eindeutig formuliert sein: Zwei unterschiedliche Sprachausdrücke für ein und denselben Sachverhalt, ohne darauf ausdrücklich Bezug zu nehmen, stiften ebenso Verwirrung wie die Bezeichnung verschiedener Sachverhalte mit ein und demselben Sprachausdruck; ein Text muss an ein Vor-Wissen angeknüpft werden können, das bewusst oder unbewusst die Basis für das Verstehen neuen Wissens darstellt. Kurz zusammengefasst: Text muss für den Leser verständlich sein, umgekehrt sollte der Leser schon eine Vorstellung davon haben, was ein Text überhaupt ist, bzw. über ein Vorwissen verfügen. Ein Text sollte aber doch so verständlich sein, dass ihn auch eine Person ohne Vorwissen lesen kann. Trotzdem sollten gewisse Fachausdrücke (Basics) als bekannt vorausgesetzt werden können. Sprache ist ein Neologisma Um an obige Voraussetzungen anzuknüpfen, ist vorab noch festzuhalten, dass Fachtermini allgemein gesehen, sich immer wieder verändern, bzw. immer wieder neue Termini auftreten. Daraus folgt, dass z.B. Termini, die wir heute als bekannt voraussetzen, vor 20 Jahren noch völlig unbekannt waren. Gleiche Situation haben wir mit der Sprache auch, sie ist nichts Statisches, sondern etwas sich Veränderndes (und mit ihr verändern beziehungsweise entwickeln sich immer wieder auch neue Fachausdrücke). Sie ist ein sich veränderndes sowie „historisch variables Gefüge von Wörtern und Sätzen“ (Schnelle 1980, 331; Quelle: Strachota 2002, 19). Dieses Attribut „Verändernde“ macht die Sprache schließlich zu einem Neologisma. Texte nur für die Alltagswelt wichtig? Mit Texten ist man keineswegs bloß in der Alltagswelt konfrontiert, sondern ebenso in der Wissenschaft -> in der Welt der Wissenschaft, die nach Soeffner (1989, 29) eine „Welt der Texte, der Protokolle von Denken und Handeln, eine Welt fixierter Lebensäußerungen“ ist. Versprachlichung als… …Grundbedingung wissenschaftlicher Arbeit. Warum? 2 Weil sie es ist, die Wissenschaft objektiv, d.h. unabhängig von Personen, Gruppen und aktuellen historischen Zwängen macht: „Der Erfahrungs-, Handlungs- und Wissensstil der Wissenschaft ist gekennzeichnet durch das unpersönliche Argument, und dieses wiederum basiert auf der in der Sprache dokumentierten – diskursiven – Welt der Problemsituationen, Hypothesen, Theorien…“ (a.a.O.). Seiffert meint,… „…Erkenntnis sei undenkbar ohne die Sprache, in der sie ihren Ausdruck findet, egal ob wissenschaftlicher oder nichtwissenschaftlicher Art.“ „Sprache ist ein Medium“ (Seiffert) Zweierlei Funktionen der Sprache sind hier angesprochen: 1) erkenntnistheoretisch fundamentale Rolle (menschliches Verstehen der Welt) 2) Sprache als Kommunikationsmedium (Mitteilung, Verständigung) 3) Sprache hat Orientierungs- und Ordnungsfunktion (Hierarchie: Einfache Wörter – Begriffe – Grundbegriffe -> verändern sich die Begriffe/Grundbegriffe, so verändern sich auch damit auch die Handlungskonzepte und jene daraus abgeleitenden Handlungen) Nicht die aneinandergereihten Buchstaben verweisen auf die Orientierung, sondern erst der sprachliche Ausdruck! Wissenschaftliche Texte Formulierung: Die Sprache des wissenschaftlichen Textes ist zwar verständlich, wenn aber jener Texte aus seinem inhaltlichen Zusammenhang gerissen wird/wurde, so kann der ganze Texte dann nicht verstanden werden. Ein Text kann aber auch dann unverständlich sein, wenn der Verfasser in seinem Werk verschiedenste Synonyme für einen Sachverhalt oder einen sprachlichen Ausdruck für verschiedene Sacheverhalte verwendet. Darum: Fachliche Grundtermini nicht verwenden, wenn sie noch nicht einschlägig eingeführt worden sind, d.h. die noch nicht mit verständlichen Ausdrücken erklärt worden sind! Orth, E., W.ii (1979, 141): Begriffe sind, so lässt sich mit Orth an Gesagtes anknüpfend sagen, mehr oder weniger stabilisierte und elementare geistige Konzepte der Orientierung (Orth 1979, 141, zit. n. Strachota 2002, 22) Science Community = die betreffende Menschengruppe: Die Begriffe einer solchen spezifischen Menschengruppe geben natürlich auch eine spezifische Sichtweise und Verstehensweise von Sachverhalten vor/wieder, nach Gipper ist darunter die Vorgabe der „Gliederung und Beurteilung“ der Dinge, die als Gegenstände gelten, zu verstehen. Dies alles fällt unter die Orientierungsleistung, und gilt für Alltagsbegriffe genauso. 2 Seiten einer Medaille - Mensch ist in seinem Wahrnehmen, Denken und Handeln nicht nur von Sprache geprägt, sondern… 3 - …er nimmt zugleich auch mit seinem Wahrnehmen, Denken und Handeln Einfluss auf Sprache. Ad Begriffe und Begriffsumfang - Wiederholung: Begriffe sind Sprachmittel mit Orientierungsfunktion - Sprachlicher Ausdruck = Wort - Begrifflicher Inhalt = Wortbedeutung - Sprachlicher Verständigung verlangt nach einer (genauen) Bezeichnung - Wandel von Begriffen ≠ Wandel von Bezeichnung: Begrifflicher Inhalt kann sich über die Zeit verändern, die Bezeichnung bleibt aber gleich. Jedoch: „Ein Wandel von Bezeichnungen bei gleich bleibendem Inhalt ist möglich (Strachota 2002, 23)! Bsp.: „Krankheit“, „Behinderung“; „Entartung“, „Kinderfehler“, „Entwicklungshemmung“ oder „Wertsinnhemmung“ mussten dem Begriff der „Behinderung“ weichen und versucht nun dieselbe Bezeichnung zu beanspruchen. Ob ihm das gelungen ist, müsste nach Lindmeieriii (1993, 20) nochmals begriffsanalytisch untersucht werden. Unterscheidungen: Grundgrößen a) sinnliche Zeichen, Benennung, Wort, Wortkörper – Bezeichnung b) Vorstellung, Idee, Denkinhalt, begrifflicher Inhalt, Bedeutung – Begriff und c) Tatsächlich oder vermeintlich wirklichem Inhalt als realen oder gedachten Zustand, Sache, bzw. Sachverhalt – Gegenstand. Begriffsinhalt und Begriffsumfang Wir gehen nun wieder von unserem Vorverständnis über etwas aus, wir haben einen Begriff von etwas. Z.B. ein Fernseher -> ist die Bezeichnung für einen Gegenstand. Dieser Fernseher hat alle Eigenschaften und Merkmale, die ihn zu einem Computer machen, ihn als solchen auszeichnen. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein dieser Merkmale, Attribute (Begriffsinhalt) entscheidet letztlich darüber, welche Gegenstände denn nun als Fernseher bezeichnet werden können und welche nicht (Begriffsumfang). Zusammengefasst: - Begriffsinhalt: Gesamtheit der in der Idee enthaltenen Attribute/Oberbegriffe. - Begriffsumfang der Idee bestehend aus den Subjekten der Idee/Unterbegriffe. - Je genauer und präzise durch diese Attribute und Merkmale versehen, desto genauer die Zuordnung und umso kleiner der Begriffsumfang. (Gilt auch für nicht-gegenständliche Sachverhalte). - Mit der Unterscheidung zwischen Inhalt und Umfang ist für die vorliegende Arbeit jedenfalls die Einsicht gewonnen, dass es bei der Frage, was damit gemeint sei, wenn von „Krankheit“ gesprochen oder geschrieben wird, vor allem um den Begriffsinhalt, also um die zugrunde liegende Vorstellung von Krankheit geht. Fragen, die den Begriffsumfang betreffen (wie beispielsweise, ob ein bestimmtes Erscheinungsbild eine Krankheit ist oder nicht), lassen sich nur beantworten, wenn Klarheit darüber besteht, was überhaupt unter einer Krankheit zu verstehen sei und verweisen daher immer zurück auf den Begriffsinhalt (Strachota 2002, 25). - Wenn z.B. eine Person den Begriff und die Verwendung „Krankheit“ verwendet, dann bringt diese Person zum Ausdruck, dass sie das eben als solches bezeichnete auf eine ganz bestimmte Art und Weise versteht. Die Person sagt z.B. Bronchitis ist eine Krankheit, dann sie erstens ein bestimmtes Zustandsbild als solches erkennt und daher als solches 4 bezeichnet, und zweitens dieses als Bronchitis bezeichnete Zustandsbild als Krankheit versteht – es kommt aber nicht zum Ausdruck, was diese Person unter Krankheit versteht. Die Frage ist, welcher Begriff von Krankheit dazu führt, bestimmte Erscheinungs- und Zustandsbilder in seinem Begriffsumfang einzuschließen und andere nicht…“ (A.a.O.). Vorstellung/Sichtweise von Krankheit (Singular) vs. Krankheit als konkrete Bezeichnung (Plural) Dies sind zwei verschiedene Ebenen, nämlich die begriffliche (ideelle) und die gegenständliche (empirische). Begriffsinhalt richtiger oder falscher Gebrauch von bestimmten Begriffen: Alltagssprache: richtige oder falsche Wahl entscheidet sich hier am Gebrauch im praktischen Leben. Wissenschaftssprache: hier ist der Gebrauch bestimmter Wörter normiert => Fachwörter, Termini,…(sind „kontextinvariant“, d.h. sind in ihrer Bedeutung festgelegt) Beispiel der Gebrauch des Begriffs „Behinderung“ hat in den verschiedenen Disziplinen und Wissenschaften eine ganz unterschiedliche Bedeutung. Deshalb sagt beispielsweise Gipperiv (1971b, 760). Auch für Gipper muss die Bedeutung eines Wortes, eines Begriffes „überindividuelle, intersubjektivem soziale Geltung innerhalb der Sprachgemeinschaft haben, wenn sie verstehbar, mitteilbar und somit wissenschaftlich beschreibbar sein soll.“ Zusammengefaßt: (nach Strachota 2002, 28): Aus dem bisher gesagten kann folgen, dass Begriffe: a) keine Repräsentanten objektiver Wirklichkeit im Sinne reiner Abbildtheorien sind (objektivistischer Ansatz) und auch keine b) bloß im (subjektiven) Geist bestehenden abstrakten Konstrukte und Fiktionen (subjektivistischer Ansatz), c) sondern sprachliche Repräsentationen subjektiv erfahrener und erkannter Wirklichkeit, deren Bedeutungen allerdings an bestimmte überindividuelle Diskursordnungen gebunden sind. Begriff als Indikator und Faktor als Indikator: zeigen Gegebenheiten sprachlich an, spiegeln Realität wieder. Als Faktor: vermögen in das soziale und politische Geschehen einzugreifen. Zusammengefasst: „Sprache schafft Realität (Begriff als Faktor) und spiegelt Realität wider (Begriff als Indikator).“(Strachota 2002, 29) 2. Vorlesung: 11.10.2005 Begriff Krankheit Der medizinische Krankheitsbegriff Diagnose Therapie Exkurs Heilung Passwort 1.Vorlesung: Geschichte WH 1.Vorlesung: Funktionen von Sprache Orientierungsfunktion => Hierarchie: Grundbegriffe: Zentrale Orientierungsfunktion 5 Text Begriff Krankheit: Grundbegriffe im Denkmodell => zentrale Orientierungsfunktion. Stehen an der Spitze, als Ausgangsbegriffe. Krankheit ist neben Gesundheit und Heilung einer der Grundbegriffe. Bildende Kraft des Begriffs Krankheit -> (wenn) wesentlicher Bestandteil handlungsleitender Theorien daran anknüpft => wird medizinisch. Frage nach dem Krankheitsverständnis: Welcher Begriff von Krankheit führt dazu, dass bestimmte Sachverhalte als Krankheit bezeichnet werden? (Siehe auch Vorlesung 1, Ende) Medizinischer Krankheitsbegriff Bestimmung der Krankheit ist an ein wissenschaftliches Diskurssystem gebunden, eingebettet in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge. Krankheit ist kein medizinisches Faktum, sondern ein mehrschichtiges Phänomen mit 3 Sinnebenen. 3 Sinnebenen 1) Perspektive kranker Mensch: Subjekt, Befinden 2) Perspektive Arzt: Befund 3) Perspektive Gesellschaft: Normative Bewertung stehen in einer Wechselbeziehung Medizinischer Befund ist auch abhängig von der Normativen Bewertung durch die Gesellschaft! Beispiel: Konsequenzen auf das medizinische Handeln und heilpädagogische Handeln Welche Bestimmungsbilder sind Gegenstand medizinischen Denkens und Handelns und welche Zustände sind noch nicht Gegenstand? Ausweisen des Gegenstandsbereiches Verantwortungsbereich bestimmen Gezielte Eingriffe sind zu verantworten (ab wann ärztliches Handelns legitim ist, ist abhängig davon, ob es medizinisch begründbar ist. Medizinisches Handeln ist dann legitim, wenn eine Krankheit vorliegt => Diagnose + Therapie!) Diagnose - griechisch: genau erkennen (Diagnose: erkennen einer Krankheit als solche = nur dann möglich, wenn ich als Ärztin konkrete Vorstellung von Krankheit habe), unterscheiden; - Ist das Down-Syndrom als solches eine Krankheit? Beispiel dazu: Der Behinderungsbegriff ist kein medizinischer Begriff. Er ist daher abzugrenzen vom medizinischen Krankheitsbegriff. Idealtypisch könnte man sagen: Behinderung fängt dort an, wo Krankheit aufhörtv (Hensle und Vernooij 2000, 14). - Wenn medizinisches Handelns legitim sein soll, dann muss es wie schon gesagt, begründet sein, d.h. Bestimmung und Ausweisung des Verantwortungsbereichs. Im Erkenntnisbemühen macht sich der Arzt ein Bild und auf den Grundlagen der Diagnose (diese geht logisch voraus) erstellt er einen Therapieplan (->therapeutisches Handeln). Die Diagnose geht der Therapie logisch (und zeitlich) voraus. 6 Therapie - Ziel: Heilung, gezielte Heilbehandlung: „Die therapeutischen Maßnahmen, die als ‚Wege zur Heilung zur Heilung’ ein ganzes Spektrum an Hilfsmaßnahmen bilden, haben in jedem Fall ‚ihrer Natur nach das Ziel, leibliche oder seelische Störungen zu beeinflussen und so weit wie möglich zu beseitigen“ (Strachota 2002, 41, zit. n. Schippergesvi 1976, 5). - Seit der Antike gibt es 3 Möglichkeiten therapeutischen Handelns: hierarchisch zu verstehen: Zuerst: „Wort“ -> Diätetik, nächster Schritt: „Kraut“ -> medikamentöse Maßnahme, und dann „Messer“ -> chirurgische Maßnahme. Diätetik ist die allumfassende Lebenskunst, die sich auf die gesamte Lebensführung des Menschen bezog. Arzt galt in der Antike als „Ratgeber“. Die diätetische Maßregel bezieht sich auf alle Bereiche des Lebens, wie essen, schlafen, Kleidung,… Diätetik: medizinisch-therapeutischer Bereich, hat an Bedeutung verloren und heute nur als Schwache Form übrig geblieben ist die „Diät“. - Ziel medizinischen Handelns Heilung „conditio sine qua non“: Diese Formel ist eine Methode in den Rechtswissenschaften und in der Rechtspraxis, mit der festgestellt wird, ob ein Vorgang oder eine Handlung ursächlich für eine bestimmte Tatsache ist. Die Condicio-sine-qua-non-Formel besagt, dass jeder Umstand kausal ist, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele; er muss condicio sine qua non sein (lat. wörtlich: "Bedingung, ohne die nicht"; im Plural: condiciones sine quibus non, etwa: 'notwendige Bedingung').Die Formel ist nicht unumstritten, da der Erkenntnisgewinn an sich gering ist: Um entscheiden zu können, ob der Erfolg entfällt, wenn man die Handlung hinwegdenkt, muss man bereits wissen, ob die Handlung kausal für den Erfolg ist. Zumindest kann die CondicioFormel einen Kausalzusammenhang evident machen und hat insofern Begründungswert. Für die Feststellung der Kausalität in schwierigen Fällen sind jedoch weitere Überlegungen und letztlich der Rückgriff auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse notwendig (etwa wenn es um die Ursächlichkeit eines Medikaments für bestimmte Schäden geht, wie etwa in den Contergan-Fällen). Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Conditio-sine-qua-non-Formel - Leitidee medizinischen Handelns: Wiederherstellung von Gesundheit und das ist gleich Heilung! Geschichte des Krankheitsbegriffes 2 Fundamentalfragen: -> 1) Die Frage nach dem Woher (die Krankheit): Quelle, Ursachen von Krankheit. 2) Die Frage nach dem Wo, d.h. wo spielt sich die Krankheit ab: Schauplatz von Krankheit => Seele oder Körper (Blut, Organe) Die Antworten auf diese Fragen waren höchst unterschiedlich! Geschichte 7 Ausgangspunkt ist die Klassische Antike: 5. Jahrhundert vor christus Hippokrates: Begründer der empirisch-rationalen Medizin. MEDIZINISCHE PRAXIS IN DER ANTIKE Bevor sich etwa im 6. Jahrhundert v. Chr. die fortgeschrittenere griechische Medizin entwickelte, gab es in den einzelnen Kulturkreisen bereits verschiedene medizinische Systeme, die sich vorwiegend auf Magie, Hausmittel und einfache chirurgische Verfahren gründeten. Ägyptische Medizin In der Medizin des alten Ägypten sind zwei verschiedene Richtungen zu erkennen: eine magisch-religiöse, die sehr alte Elemente umfasste, und eine empirischrationale, die sich auf Erfahrungen und Beobachtungen stützte, während ihr die mystischen Aspekte fehlten. Die häufigsten Augen- und Hauterkrankungen behandelten die Ärzte meist ausschließlich nach Vernunftprinzipien, weil die Krankheitsherde leicht zugänglich waren. Weniger gut erkennbare Leiden versuchte man weiterhin mit den Zaubersprüchen und Beschwörungsformeln der Priester und Magier zu heilen. In der 3. Dynastie entwickelte sich der Beruf des Arztes als eine frühe Form des Wissenschaftlers, der anders vorging als die Zauberer und Priester. Der erste Arzt, dessen Namen wir kennen, war Imhotep. Er lebte etwa um 2725 v. Chr. Imhotep diente dem Pharao gleichzeitig als Wesir (d. h. als hoher Beamter), Pyramidenbaumeister und Astrologe. Quelle: http://www.qui-net.de/inf/AntikeMed.htm Ad empirisch-rationale Medizin: zusammenfassend Ebenfalls ins 17.Jahrhundert v.u.Z. sind jene ersten systematischen Versuche zu datieren, das Wesen von Natur und Welt losgelöst von magischen und religiösen Vorstellungen zu verstehen. Der Versuch, Welt und Natur (und damit auch den Menschen, gesund wie krank) auf einer naturalistischen Basis zu verstehen, ließ die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten, die die Natur ordnen und beherrschen, entstehen. Die Frage nach dem Anfang der Dinge, nach ihrem (natürlichen) Grund, nach dem Urstoff – d.h. nach der Ur-Sache – stand im Zentrum des naturphilosophischen Nachdenkens und war der Impuls für die Suche nach den Grundbausteinen, nach einer treibenden Urkraft der belebten wie unbelebten Natur. (Strachota 2002, 59) Ad Magisch-animistische oder magisch-dämonistische Vorstellung von Kranheit Magisch-Dämonistische Vorstellungen sind supra-naturalistische Vorstellungen von Krankheit. Der Grund einer Krankheit wurde über das Wirken übernatürlicher Mächte gesehen. Krankheit wurde als Strafe für begangene Sünden gesehen. Die bestrafenden Mächte sind die Dämonen, die über den Tabubruch entzürnt sind. „Der Sünder wird von den entzürnten Dämonen besetzt, wird selbst besessen und krank. Häufig kommt es zu einer regelrechten Inkorporation des krankmachenden Dämonen. Dann dringt dieses Wesen mit allen ihm eigenen ‚Verunreinigungen’ direkt in den Körper des Regelverletzers ein und bewirkt schwere physische und psychische Krankheit.“ (Eckart 1994vii, 9, zit. n. Strachota 2002, 50). Trepanation(v. französ.: trepan Bohrer) ist ein Begriff aus der Medizin und beschreibt operative Verfahren, bei denen meist knöchern oder auf eine andere Weise fest umschlossene Räume mechanisch eröffnet werden. In der Neurochirurgie bezeichnet man mit Trepanation die operative Öffnung des Schädels, entweder zur Vornahme operativer Eingriffe im Schädelinnern oder auch zur Senkung des Schädelinnendrucks, des Hirndrucks. Man spricht in diesem Fall auch von Entlastungstrepanation. Die Öffnung des Schädels, teilweise einschließlich der Hirnhäute kann entweder in Form einer Bohrung oder auch eines ausgesägten Stück Knochens geschehen. Bis zum Wiedereinsetzen des Knochenstückes verbleibt dieses oft im Bauch. Somit wächst es schneller wieder an. Bei der Trepanation des Schädels kommen zwei 8 verschiedene Operationsverfahren zur Anwendung: Bei der osteoplastischen Trepanation wird das aus dem Schädel entnommene Knochenstück wieder zum Verschluss der Operationswunde verwendet. Bei der osteoklastischen Trepanation wird der entstandene Defekt auf andere Weise geschlossen, z.B. durch Implantate aus Metall oder Kunststoff. Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Trepanation Die Trepanation, also die Durchbohrung des Schädeldaches, stellt einen der ältesten medizinischen Eingriffe dar, die ältesten trepanierten Schädel stammen der Zeit nach aus der letzten Vereisung und aus der Steinzeit (Jetter 1992viii, 21). Pierre Paul Broca, der Entdecker der Aphasie, sah, so Jetter (a.a.O., 22; Hervorhebung im Original), in der Trepanation eine magische Operation, die zur „- Entfernung des bösen Geistes durch das Loch ausgeführt wurde oder sogar das Ziel hatte, ovale Knochenstücke oder - Rondelles als Amulette zu gewinnen, die später als wunderwirkende Zaubermittel genutzt werden sollten. Meist doppelt durchbohrt und am Rand eingekerbt, wurden diese menschlichen Knochenscheiben den Kindern auf den Leib gebunden oder als Anhänger am Hals getragen.“ Therapie Präventivmaßnahmen: als Prophylaktische Maßnahme zur Verhütung von Dämonen (hier gab’s einen Text von Prof. Strachota) Behandlungsmaßnahmen: „Das Ziel animistisch-dämonologischer Behandlungsmaßnahmen war die Beseitigung der Besessenheit von Krankheit und Dämon – animistisch-dämonologische Heilmaßnahmen versuchen, die krankmachenden Geister und Dämonen zu besänftigen, zu vertreiben, zu bannen, um den kranken – und d.h. besessenen – Menschen von ihnen zu befreien. Heilkundige sind Medizinmänner und Schamanen (Strachota 2002, 51), „die über ein erhebliches Heilwissen im magischen ebenso wie im empirisch-vorrationalen Bereich verfügen“ (Eckart 1994, 9, zit. n. Strachota 2002, 51) Dies sowie eine Reihe anderer vielfältiger Maßnahmen, die man zur Prophylaxe von Dämoneneinflüssen traf, weisen darauf hin, dass es auf dieser Kulturstufe zwar noch keine Definition von Gesundheit und Krankheit gab, das Phänomen Gesundheit aber „bereits einen echten Wert darstellte“ (Schadewaldt 1993ix, 16, zit. n. Strachota 2002, 52) Das Heilwissen umfasste neben suggestiven auch medikamentöse und chirurgische Fähigkeiten. So wurde über die Veränderung des Bewusstseinszustandes (Trance, Betäubung, Wachtraum) versucht, Zugriff auf die Besessenheit zu erhalten…(Strachota 2002, 51) …Handlungen zur Behandlung/Austreibung der Besessenheit: a) Invokationsriten, wie Bezaubern, Besingen, Betanzen, b) Berührungen, wie Händeauflegen, Bestreichen, Beklopfen, Einsatz totemistischer Medien, c) einfache Operationstechniken, wie z.B. kultische Exzisionen, Inzisionen, Perforationen (Infibulation, Trepanation) und deformierende Operationen an Hals, Zähnen, Haut, Gliedmaßen und Geschlechtsorganen. Antike Hier sah man die Quelle einer Krankheit nicht im Wirken übernatürlicher Kräfte, sondern natürlicher Kräfte => naturalistische Vorstellung von Krankheit. Schauplatz ist nicht die Seele, sondern der menschliche Leib. Im Vergleich zu den magisch-religiösen Krankheitsvorstellungen der archaischen Zeit ist die antike Medizin empirisch-rational zu nennen, da Krankheit weniger als ein Seinszustand, sondern vielmehr als ein Vorgang verstanden wird, „der sich mit Hilfe von natürlichen, materiellen Faktoren erklären lässt. Ein Eingreifen der Götter in das Befinden des Menschen ist mit diesem Denken nicht vereinbar“ (Wittern & Schnalkex 1996, 98, zit. n. Strachota 2002, 61). Mit der Loslösung magisch-religiöser Vorstellungen verbunden ist die „Hinwendung zur ärztlichen Erfahrung und zur naturphilosophisch-naturwissenschaftlichen Durchdringung der beobachteten Tatsachen und ihrer philosophischen Einordnung“ (Schadewaldt 1993, 17f., zit. n. Strachota 2002, ebd.). 9 Ärzte in der griechischen Antike …durften keine Sektionen am Menschen vornehmen. Dies war schwer tabuisiert. Dadurch konnte man nicht in den Menschen hineinschauen und erkennen, was da alles ist. Die Ärzte waren auf die Vorstellung angewiesen, Rückschlüsse zog man durch Abtasten oder Tiersektionen, deren Ergebnisse man dann für Vergleiche heranzog. Die Folge: Irrtümer, denn kann man vom Esel nur schwer auf menschliche Anatomie schliessen. Vgl.: Berger, gewisse Analogien mögen vielleicht legitim sein, aber einen vollkommenen Rückschluss kann man hier einfach nicht ziehen. Krankheitslehre/Antike „4-Säfte-Lehre“: 4 materielle Säfte (sind alle natürlichen Stoffe), bilden die Grundlage des menschlichen Organismus (Blut, Schleim, Gelbe + Schwarze Galle). Ihre Mischung und ihre Bewegung im Körper ‚bestimmen die somatischen Eigenschaften und Funktionen und entscheiden über Gesundheit und Krankheit (Goltz 1992xi, 1120, zit. n. Strachota 2002, 64) Die Säfte verlassen auch den Körper. Anmerkung zur „Schwarzen Galle“: damit ist verstocktes Blut gemeint. Eine ausgewogene Mischung dieser 4 Säfte liegt vor, wenn der Mensch gesund ist. Bei Disharmonie kommt es zu einer Form von Krankheit (kommt zu Störung des Fliessgleichgewichts). Ergänzung: „Säftesystem“: Polybos selbst war der Auffassung, der Mensch bestehe aus Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle. Es liegt jedenfalls nahe anzunehmen, dass die Beobachtung jener Flüssigkeiten, die bei Opferhandlungen den tierischen Körper sowie bei offenen Verletzungen (Blut) oder bei bestimmten Krankheitsverläufen den menschlichen Körper (Schleim, Galle) sichtbar verlassen, und das heißt, sich zuvor im Körper befanden, dazu führte, die Existenz bestimmter Flüssigkeiten als Grundstoffe des menschlichen Körpers zu verstehen. Ungeklärt ist dabei, warum die schwarze Galle, „diese rätselhafte vierte Flüssigkeit“ (Jetter 1992 xii, 74, zit. n. Strachota 2002, 64), als vierter Saft aufgenommen wurde, „weil es eine schwarze Galle nach heutiger medizinischer Auffassung gar nicht gibt“ (Fischer, K.- D. 1996, 84, zit. n. Strachota 2002, 64) Erg.: humores = die Säfte => daher auch Humoralpathologie Quelle: natürliche Kräfte (s.o.) Ein Überfluss der Säfte, oder wenn einer der Säfte verdorben ist, würde dies zu einer Störung und in Folge zu einer Krankheit führen. Evakuation: Das, was schlecht ist, muss aus dem Körper raus (evakuieren). Aderlaß ist eine evakuierende Maßnahme. Krankheit fließt in den 4 Säften (Mischung der Säfte ist sehr individuell). Disharmonie ist auch sehr individuell. Ursprung „Empedokles, eine Generation älter als Hippokrates, gilt als der Schöpfer der sog. Vierelementenlehre, die er mit den vier Grundqualitäten (feucht, trocken, warm, kalt) in Verbindung brachte. Entsprechend der Elementen- und Qualitätenlehre hat Empedokles in seinem Krankheitskonzept als erster „das Mischungsverhältnis der Körpersäfte (Harmonie = synkrasie = Gesundheit; Disharmonie = dyskrasie =Krankheit) … angedeutet und damit das Fundament für die spätere Säfte-Lehre gelegt“ (Eckart 1994, 42, zit. n. Strachota 2002, 60; Hervorhebung im Original). Naturalistische Vorstellungen von Krankheiten: 16. Jahrhundert 10 Beginn Neuzeit: Ackerknecht bezeichnet das 16. Jahrhundert auch als die „Wiege der modernen Medizin und Wissenschaft“ Das 16. Jahrhundert ist ein Jahrhundert, in dem die Natur – das irdische, das Diesseits – und das einzelne Individuum ins Bewusstsein des Menschen rücken. Natur nicht mehr als Schicksal, sondern Natur wird zunehmend als beforschbar und beherrschbar wahrgenommen. Sie ist zu erkennen, zu beforschen und damit auch beherrschbar! Auch von einer Individualisierung der Krankheit war die Rede! Beherrschbar, d.h. Rationalisierungsprozess -> Natur wird zum Objekt des Denkens, auch die menschliche Natur. Der menschliche Leib wir zum Erkenntnisobjekt (=> Verobjektivierung oder Vergegenständlichung) In dieser Zeit beginnen Menschen systematisch in menschliche Leichen zu schauen, sie zu öffnen und sie zu siziieren. Der menschliche Leib wird zum verobjektivierten Körper. D.h. Schauen im Körper des Menschen, was zu sehen war. Unterschied zu früher: Tabuthema Siziieren (bröckelte schon im 13./14. Jahrhundert (-> „Lehrsektionen“ haben oft Tage gedauert und waren dann mit Unterricht an der Leiche verknüpft) Medizinische Vorlesungen wurden so durchgeführt, dass ein Magister auf einer Lehrkanzel steht, vor ihm eine geöffnete menschliche Leiche. Der Magister liest aus einem Werk (v. Galen: „Anatomie“; Anmerkung: Galen war „der letzte große Arzt der Antike, der zweite ‚Stammhalter’ der antiken Medizin nach Hippokrates“/ Gourevitchxiii 1996, 137, zit. n. Strachota 2002, 66) und er zeigt den Menschen anhand der Leiche, wo das zu finden ist, was von ihm vorgetragen wurde. Schüler übertrugen die Ergebnisse in ihre Hefte. Von einem entscheidenden Fortschritt konnte hier keine Rede sein! „Der Magister dozierte vom Pult herab aus einem Lehrbuch. Ein Demonstrant hatte an der Leiche das Vorgetragene zu zeigen. Die Schüler übertrugen die Ergebnisse in ihre Hefte. Von einem entscheidenden Fortschritt konnte bei dieser Art von Forschung und Lehre kaum die Rede sein“ (Schipperges 1990, 28, zit. n. Strachota 2002, 82). Galeiische Irrtümern => v. Galen (und seine Humoralpathologie) hat diese Irrtümer in einem Buch zusammengefasst geschrieben. Prof. Strachota zeigt einen Kupferstich aus dem 18.Jahrhundert, auf dem zu sehen ist, wie Ärzte die Sektionen bewachten. Andreas Vesal, „De humanis corporis fabrica“(anatomisches Werk der Neuzeit): hat hunderte von Leichen siziiert und hat zum ersten Mal im 16. Jahrhundert anatomischpathologische Erscheinungen beschrieben. Vesal war einer der Ersten, der verschiedene Irrtümer entdeckte und sie beschrieb. Er lieferte der Medizin eine neue Anatomie. Vesal wurde stark kritisiert, auch von seinem Lehrer („Der menschliche Körper hat sich eben verändert“) 16. Jahrhundert: Medizin am Objekt Mensch orientierte Medizin. Ihr oder „Der Weg ging über Leichen“ 11 „Der Leib, in der mittelalterlichen Welt unbewusster, selbständiger Teil privaten und öffentlichen Lebens, wird nun dem erkennenden und leitenden Subjekt unterworfen: er wird zum objektivierten Körper. Der Körper wird als Arbeitskraft, als Arbeitsinstrument, als Leichnam, als Maschine, als – so in der aufblühenden Anatomie – paradigmatischer Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gesetzt“ (Labisch 1989, 17, zit. n. Strachota 2002, 95) Die Geburt der Modernen Medizin ist in unmittelbarem Zusammenhang mit der „Wiedergeburt der anatomischen Zerlegungskunst“ (Eckart 1994, 110, zit. n. Strachota 2002, 96) zu sehen, die wiederum nur vor dem Hintergrund des beschriebenen Prozesses der Vergegenständlichung des beseelten Leibes zum verobjektivierten Körper zu verstehen ist. Im 16. Jahrhundert „rückt die Anatomie derart zentral in das Bewusstsein der Ärzte, dass man geradezu von einer Geburt der Medizin aus dem Geiste der Anatomie hat sprechen können“ (Schipperges 1990, 26, zit. n. Strachota 2002, 96). 3. Vorlesung: 18.10.2005 Wiederholung der letzten VO 3 unterschiedliche Konzepte/Vorstellungen/Denkansätze 19. Jahrhundert, 20. Jhdt. Exkurs Psychiatrie Heilpädagogische Relevanz (Passwort: „Relevanz“) Wiederholung der letzten Vorlesung 16. Jahrhundert, Naturalistische Vorstellung von Krankheit, „Objekt-Mensch-orientierte Medizin“; Moderne Medizin; Mensch als Maschine, der nach Gesetzmäßigkeiten funktioniert -> Mechanistische, später Theatrophysikalische Vorstellung; 18. Jahrhundert Viele unterschiedliche Konzepte -> Versuch Systematik hineinzubringen: Hierfür 3 Vorstellungen von Krankheit 1) Mechanistische Vorstellung v. Krankheit: Mensch als Maschine, der nach Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Schauplatz des Krankheitsgeschehens ist nicht mehr die Seele, sondern der Körper; allein über die körperliche Beschaffenheit herrscht noch Uneinigkeit, oder besser gesagt: Daß Krankheit einen festen (solidus) Sitz, also einen Sitz in den festen und nicht in den flüssigen Bestandteilen des Körpers haben könnte, rückt unabweisbar vor das Auge, das zergliederte Leichen studiert. Der wohl radikalste Vertreter einer mechanistischen Auffassung der menschlichen Natur ist der französische Philosoph und Arzt Julien de la Mettrie, der in seiner 1748 erschienenen Schrift „L’homme machine“ schreibt: „Der Körper des Menschen ist eine Maschine, die ihre Triebfedern selbst spannt, ein lebendiger Inbegriff der ewigen Bewegung. Die zugeführte Nahrung sorgte dafür, dass sie in Gang bleibt. Ohne Nahrung verliert die 12 Seele zunehmend an Kraft, bis sie sich noch einmal kurz aufbäumt und dann an Entkräftung stirbt, so wie die Flamme einer Kerze noch einmal kurz aufflackert, bevor sie erlischt. Versorgt man den Körper jedoch mit vorzüglicher Nahrung und stärkenden Säften, so wird die Seele ebenso vorzüglich sein und stark“ (La Mettriexiv 1748/1985, 26, zit. n. Strachota 2002, 122). 2) Psychodynamische Vorstellung v. Krankheit: Diese Vorstellung hat in einer Reihe von Krankheitskonzepten ihren Niederschlag gefunden: Animismus, Vitalismus,… Versuche einer möglichst nicht-mechanistischen Vorstellung -> Überzeugung, dass Krankheit als Reaktion des Gesamtorganismus auf Umwelteinwirkungen ist. 3) Solidarpathologische Vorstellung v. Krankheit: Die Solidarpathologische Vorstellung war eng verbunden mit dem Italiener Morgagni. Er hat um Mitte des 18. Jahrhunderts „Über Sitz und Ursache der Krankheit“ (1771, lat.: De sedibus et causis morborum; Neue Ära in Praxis der Chirurgie und Medizin) geschrieben. In diesem epochemachendem Werk stellt er die These „Krankheit hat einen festen Sitz“ auf. Damit wurde Krankheit lokalisierbar, aufgrund von Obduktionsbefunden klinischer Fälle. Morgagni hatte circa 700 Leichen siziert und stellte einen Zusammenhang mit jenen Symptomen und Krankheitsverläufen einer Patientin her – nach deren Tod. => Synthese von Anatomie und Klinischer Beobachtung. Mit diesen Ergebnissen wurden pathologische Veränderungen in der Struktur der Organe erkannt -> Ursache von Krankheiten („nicht mehr aufgrund einer schlechten Mischung von Körpersäften, sondern in pathologischen Strukturveränderungen von Organen). Krankheit hat einen festen Sitz in den Organen. => Abkehr von dynamischen Vorstellungen von Krankheit => Solidarpathologische Vorstellungen als Leitbild der heutigen Schulmedizin. 19.Jahrhundert Humoralpathologische Vorstellung von Krankheit verliert ihre Bedeutung: a) Wissenschaftliche Hygiene b) Bakteriologie c) Zellularpathologie Vorstellungen Ad: a) Wissenschaftliche Hygiene „Seuchenhafte Krankheiten“/heute: Infektionskranhkeiten. Im Mittelalter: „Die Pest“ als seuchenhafte Krankheit. Millionen von Menschen wurden dadurch getötet. Mitte des 20. Jahrhunderts: Cholera, Diphterie, Typhus,… Um Entstehungszusammenhänge ist es der Wissenschaftlichen Hygiene in der 1. Hälfte des 19.Jahrhunderts gegangen: Nämlich vom Auftreten seuchenhafter Krankheiten und der hygienischen Situation. Vertreter: Max v. Pettenkofer: Er war einer der Ersten, der die Umwelt der Menschen in ihrer Wirkung auf Krankheit und Gesundheit in den Zusammenhang von Entstehung von Krankheit gebracht hat. 13 Miasmatische Theorie/ v. Miasma (-> Krankheitsstoffe, krankmachender Keim…Bodendunst): Entstehung von Seuchen durch Ausdünstungen des Bodens, des Wassers oder durch krankmachende Bestandteile der Luft (besonders in Sumpfgebieten). Erste Versuche das Entstehen von Krankheiten zu untersuchen -> „Bezug auf soziale Umwelt“, hier lag große Aufmerksamkeit. Der Blickwinkel wandte sich aber in der 2.Hälfte des 19.Jahrhunderts auf einen neuen Denkansatz, den der… Ad: b) …Bakteriologie (= Wissenschaft von den kleinsten einzelligen Mikroorganismen; begründet durch den französischen Chemiker Louis PASTEUR und dem deutschen Arzt Robert KOCH) Mit der Bakteriologie ist die Wurzel dessen angesprochen, was man heute als „Biotechnologie“ bezeichnet. Pasteur bevorzugte die Mikrobiologie. Pasteur stammte aus einem französischen Weinort -> dieser Umstand war nicht uninteressant für die wissenschaftliche Forschung: „Gährungsprozesse“ und deren Abläufe. Er (Pasteur) erklärte Weinkrankheiten als erregerbedingte Veränderungen und wies nach, dass man diese Mikroorganismen durch Erzeugen einer bestimmten Temperatur abtöten konnte (Strachota 2002, 142).1857: Die Weinforschungen führten Pasteur in weiterer Folge zur Vermutung, dass auch bestimmte Krankheiten der Menschen und Tiere durch lebende Erreger, nämlich Mikroorganismen oder auch Mikroben, verursacht sein könnten (Strachota 2002, ebd.). Vor allem für „Milzbranderkrankung“ (dazu Forschung, Robert Koch ist ihm aber 1876 zuvorgekommen). -> Lebende Krankheitserreger dringen in den menschlichen Organismus ein und verursachen so verschiedene Krankheiten => Mikrobiologie. Nachweislich ganz spezifische Erreger verursachen ganz verschiedene Krankheiten. Das konnte nun nachgewiesen werden (Erreger im Labor entdeckt durch R. Koch 1878, „Wundeiterung“, Tuberkulose und dann Cholera). Ab hier noch keine Ergänzungen! Direkter Kausalzusammenhang: Erreger – Krankheiten Ethologie der Krankheiten: Lehre von der Ursache von Krankheiten; rein biologisch erklärt. Dieses Zusammenspiel von Umweltbedingung, Erregern und menschlichem Organismus ist reduziert auf ein rein Biologisches (auch noch bei Pettenkofer) => Bakteriologie. Ad: c) Zellularpathologie: Begründer ist der deutsche Arzt Kirchow. Mitte des 19.Jahrhunderts hat er seine Gedanken (an Morgagni anknüpfend) veröffentlicht, die den Inhalt haben, dass der Sitz der Krankheiten in den Organen ist/zu suchen ist. Um die Jahrhundertwende meinte ein Franzose (namens ?), der Sitz der Krankheiten sei in den Gewebszellen zu finden. Kirchow hingegen meinte, der Sitz der Krankheiten sei in den Zellen zu finden – deshalb auch Zellularpathologie. Die Zelle ist der Träger allen Lebens und damit auch aller Krankheiten. Die Krankheit manifestiert sich in der Zelle. Krankheit und Gesundheit entspricht der Zelltätigkeit. Zelle => Krankheit ist dort zu bekämpfen. Allgemein: Wie wir hier erkennen können, bewegen wir uns nun fortlaufend vom Flüssigen zum Festen und vom Ganzen zu seinen Teilen (historisch gesehen gehen wir immer mehr ins „Kleinere“, d.h. von den Organen – zum Gewebe – bis hin zu den Zellen). Von einer Subjektorientierten Heilkunst zu einer Objektivierten Heiltechnik. Ende des 19.Jahrhunderts wurde Krankheit als ein am einzelnen Individuum objektivierbarer Defekt lokalisierbar. Sie wurde so zu sagen aus dem Kontext herausgelöst. 14 Wir kommen nun hin zu einer Naturwissenschaftlich-Orientierten-Medizin. Krankheit führt zum Objekt. Der Träger von Krankheit wird zum Objekt (-> Verobjektivierungsprozess, Seelenbegriff wird aufgelöst, alles nicht materiell erfassbare gibt es nicht, da die Seele ja nicht fassbar ist, daher gibt es sie ja auch nicht). Konsequenz für psychische Krankheiten: „keine körperlichen Ursachen – nicht als Krankheit anerkannt. Exkurs Psychiatrie: W. GRIESINGER: Naturwissenschaftliche Psychiatrie: Mitte 19.Jahrhundert sah man das Gehirn als den Sitz von Geisteskrankheiten (-> organischsomatischer Krankheitsbegriff). Gehirnerkrankung ist zugrunde liegend einer psychischen Störung = Gehirnveränderung (Krankheit lokalisierbar). In den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts: Körpermedizin zur Behandlung (im Gehirn) von Geisteskrankheiten getestet. Für Griesinger hieß das das „Herausschneiden von Gehirnteilen „Psychiker“: ??? „Somatiker“(haben sich durchgesetzt): Psychische Störungen, deren Ursache somatische Veränderungen sind. Krankheitsverständnis = Somatisch-Pathologisch und lokalisierbar! Heilpädagogische Relevanz medizinischen Denkens: Das heißt, ab wann kann davon gesprochen werden? „Heilpädagogische Praxis“ /versus – Handeln (medizinisches Handeln, oder „Wege zur Heilung“): Handeln, als medizinisches Handeln beinhaltet: Diagnose, Therapie, Gegenstand ist die Krankheit, medizinischer Leitbegriff ist die Heilung und die Therapeutischen Massnahmen (siehe 2.Vorlesung). Ad Heilpädagogik: Heilpädagogisches Handeln steht unter dem Begriff der Erziehung (im weiteren Sinn, siehe dazu BACH-Zitat), also das breite Spektrum des heilpädagogischen Handelns. Formen des Handelns, die die gezielte Einwirkung Erwachsener auf Kinder und Jugendliche betrifft. Erziehung: lat. „educare“- hinausführen (heißt so viel wie, das „Kind aus seiner Unvollkommenheit hinausführen zu seiner Vollkommenheit => Hochform des Erwachsenenseins“), aufziehen, großziehen, auch im Sinne einer Verbesserung (durch gezieltes Einwirken-> Leitidee pädagogischen Handelns-> BILDUNG. Gezieltes Medizinisches Einwirken ≠ gezieltem pädagogischem Einwirken. Pädagogische Maßnahmen=> „Wege zur Bildung“ => Erziehungsprozess, d.h. einleiten und gestalten. Medizinische Maßnahmen=> „Wege zur Heilung“ Pädagogisch-Erzieherische Praxis: Gesamtbereich all jener Handlungsprozesse, in denen das Ziel BILDUNG, d.h. das Eröffnen und Gestalten von Erziehungsprozessen ist. Der Bereich der pädagogischen Praxis, innerhalb derer es um Bildung geht (s.o.), wenn diese Prozesse durch Behinderung als beeinträchtigt gelten. Ad Eröffnen und Gestalten von Erziehungsprozessen: Hat begonnen mit der Erfindung von Erziehungsversuchen 15 Gehörloser Kinder : MÖCKEL:“Suche nach neuen praktikablen Wegen dort, wo andere Wege in eine Sackgasse geführt haben…“ (Siehe Strachota-Skript). „Demnach ist Heilpädagogik die Suche nach Wegen in der Erziehung…“ : Ziel also: Erziehungsprozesse eröffnen und gestalten, dort wo sie nicht in Gang kommen, weil man von der Annahme ausgeht, dass Bildung aufgrund einer Behinderung nicht möglich sei. (> vgl. „Jarmer, Grundlagen zur Bildung Gehörloser“: Man ging früher von einer Bildungsunfähigkeit Gehörloser aus -> siehe Verwendung des Begriffs „taubstumm“). Medizinisches Verständnis von Krankheiten: Etwa um das 2.Drittel des 19.Jahrhunderts: Relevanz des Heilpädagogischen Denkens. Beginn 19.Jahrhundert: Mediziner sprachen vom Phänomen des „Kretinismus“ (einer Form der geistigen Behinderung=> gestörte Schilddrüsenfunktion verbunden mit Kropfbildung – welche als Ursache galt – und einer Gehörlosigkeit: Diese Leute wurden als „Idioten und Blödsinnige“ bezeichnet. Man ging von einem Organischen Defekt aus. Hier lag hauptsächlich das Interesse: Das Phänomen wurde als medizinisch wahrgenommen (d.h. als Krankheit). Es wurde gut beschrieben in der Literatur. Als Konsequenz dieser Annahme wurde das Phänomen somit oder galt somit als behandelbar. Behinderung als Strafe Gottes: Wie schon bei der „Einführungsvorlesung“ erwähnt, gab es verschiedene Sichtweisen von Behinderung und Modelle, die daraus hervorgingen. Eine Sichtweise war, dass man Behinderung als eine Strafe Gottes ansah (für eine begangene Sünde). Heute: heute gilt Krankheit als behandelbar und bestenfalls heilbar. Ad Bildung Gehörloser: - Impuls für Bildungsanstalten dazu war im späten 18.Jahrhundert: „Mit der Hoffnung auf ökonomischen Nutzen“ (oder bürgerliche Brauchbarkeit). - Zu oben genannten Zeitpunkt gab es bereits erste Erziehungsversuche: durch De L’Epee (siehe Skriptum oder Jarmer) Ad Bildung Geistig-Behinderter: - Hier lag der Impuls für Bildungsanstalten (von der Medizin) in der „Hoffnung auf Heilung“. - Kretinismus lag im Zentrum des Interesses. Er galt als behandelbar und heilbar. - Zwischen 1840 + 1860: Hier in dieser Zeitspanne wurde der Begriff „Heilpädagogik“ geprägt, die Medizin war hierfür impulsgebend. Weiters aber kam es hier zu Gründungen diverser Bildungsanstalten für Geistig-Behinderte. (=> zu einer Gründungswelle von Bildungsanstalten). Die Gemeinsamkeiten lagen in der Hoffnung auf Heilung! - Anstaltsgründungen zwischen 1840 + 1860: Guggenbühl: 1842 (Interlaken, „Heilanstalt für Kretinen“) Saegert: 1845 Groesch: 1847 Kern: Weitere siehe Strachota-Skript!! Heilpädagogische Relevanz medizinischen Handelns: am Beispiel „Guggenbühls“ - Guggenbühl: Medizinischer Einfluss auf heilpädagogische Praxis. 16 - - Exkurs: Psychodynamische Vorstellungen: diese spielen eine wichtige Rolle, haben einen großen Einfluss. Gut, Ausgangspunkt ist: Einheit Seele/Leib, welche unaufhebbar ist. Durch die Zellularpathologische Vorstellung kam es zu einer Auflösung dieser Einheit. Animismus: Menschlicher Leib ist von Seele belebt (anima = die Seele). Beseelter Organismus, Seele ist ständig in Bewegung (durch Reize aus der Außenwelt, Umweltreize). Krankheit ist psychogenetisch verursacht, d.h. die Seele verursacht Krankheit (krankmachende Reize aus der Außenwelt irritieren Bewegungen der Seele, es kommt zu einer Dysfunktion und in weiterer Folge zu einer Krankheit). Die Seele reagiert auf Krankheit, mit dem Ausdruck: z.B. Schwitzen (= Ausdruck der „Bewegungen der Seele“). Seelenbeeinflussende Therapie im Animismus. Lebenskrafttheorie: Lebensprinzip: Krankheit, wenn diese beeinträchtigt (durch Reize von außen, die krankmachend sind), dann unterstützt hier der Arzt der Lebenskraft, dadurch sollen die Reize abgeschwächt werden. Zurück zu Guggenbühl: Zweites Drittel 19.Jahrhundert: Guggenbühl ist Arzt und aufgrund eines Erlebnisses kam er dazu, sich mit Kretinismus zu beschäftigen. Für ihn war eine „Gezielte Förderung“ sehr wichtig! Dadurch ist viel mehr möglich als das bloße Aufsagen eines Gebetes (von einem Blödsinnigen wurde verlangt, dass er das „Ave Maria“ aufsage). (siehe dazu: Buch!) 4. Vorlesung: 25.10.2005 Medizinische Wahrnehmung vom Phänomen Behinderung Heilpädagogische Relevanz des medizinischen Krankheitsbegriffs/Guggenbühl/Sehschwachen + Schwerhörigenschule Abschließend noch zur letzten Vorlesung: Zitat von Kern -> Ad Anstaltsgründungen zw. 1840 und 1860: „Die Aufgabe der Anstalt kann keine andere sein, als Blödsinnige körperlich und geistig zu heben und soweit zu fördern, dass sie ihrer weiteren Bildung in den Schulen geistig gesunder Kinder oder sonst unter den gewöhnlichen Lebensverhältnissen anstreben können; da aber, wo dieses Ziel nicht erreicht werden kann, sind die Zöglinge in der Anstalt selbst bis zu dem in ihrer Organisation bedingten Bildungsgrade zu führen oder weiterhin durch eine geeignete physische und psychische Pflege gegen tieferes Versinken zu schützen. (…) Die Frage, welches Ziel im concreten Falle in der Anstalt zu erstreben sei, lässt sich in der That nur durch den Erfolg selbst beantworten, a priori ist durchaus kein Urtheil zu fällen…“ (Kern 1855, 564 ff.zit. n. Meyer 1983xv, 101; Hervorhebung A.S.). Zusammenfassend: (nach Strachota 2002, 274 f.) Die pädagogische Zielsetzung der im deutschen Sprachraum zwischen 1840 und 1860 gegründeten Anstalten lässt sich nach Speckxvi (1979, 63) auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Trotz unterschiedlichen Gewichtungen lässt sich mit Speck (a.a.O.) aber sagen, die Kinder sollten „in der Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeiten so weit als möglich gefördert werden, selbst wenn viele von ihnen lebenslänglicher Fürsorge bedürften.“ Guggenbühl, Saegert und andere Anstaltsgründer waren der Auffassung, dass die bislang vernachlässigten geistig behinderten Kinder – wie vor ihnen die gehörlosen und blinden Kinder (vgl. Strachota, 2002, 3.2) – mit pädagogischer Hilfe, d.h. über die Eröffnung und Gestaltung von Erziehungsprozessen auf eine höhere Stufe der Erziehung gehoben werden konnten; d.h. sie folgten der Vorstellung, dass auch geistig behinderte Kinder bildbar waren. Dem damaligen Verständnis von Krankheit 17 zufolge wird, zumal von jenen Anstaltsgründern, die selbst Ärzte waren, von der Heilbarkeit und folglich von Heilung gesprochen, wo vielleicht – aus heutiger Sicht – eher Bildbarkeit und Bildung gemeint war. Der Titel von Saegerts im Jahre 1845 erschienenen Schrift „Die Heilung des Blödsinns auf intellektuellem Wege“ ist denn auch, so Möckel, nicht falsch, aber aus heutiger Sicht missverständlich; in gegenwärtige Terminologie übersetzt, müsste er nach Möckel „’Erziehung geistig Behinderter durch Unterricht’ (lauten; A.S.); denn wenn Kinder, die vorher als unerziehbar und bildungsunfähig galten, doch erzogen und unterrichtet werden konnten, war das eine Form der Heilung.“ (Möckel u.a. zit. n. Strachota 2002, 274 f.). Konsequenzen für die heilpädagogische Praxis am Beispiel der Bemühungen um Kinder mit Seh- und Hörschwäche Die naturwissenschaftliche, organisch-somatische Sichtweise von Krankheit beeinflusste die pädagogischen Bemühungen um Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung bloß indirekt, wohl aber jene um schwachbegabte, sprachgestörte, hör- und sehschwache und erziehungsschwierige Kinder in unmittelbarer Weise. Sie eröffnete gegen Ende des 20. Jahrhunderts neue pädagogische Handlungsmöglichkeiten und –notwendigkeiten insofern, als erkannt wurde, dass organische Störungen und Defekten, welche im Ausprägungsgrad des Schadens differierten, in jeweils unterschiedlicher Weise pädagogisch Rechnung zu tragen war. Diese Erkenntnisse führten schließlich zur Gründung der sog. „jüngeren Sonderschulen“ (Möckel 1988xvii, zit. n. Strachota 2002, 275) in den Jahren zwischen 1880 und 19201. Am Ende dieses Kapitels soll die Bedeutung medizinischen Denkens unter besonderer Berücksichtigung des lokalistischen, organisch-somatischen Krankheitsverständnisses für die heilpädagogische Praxis lediglich am Beispiel der Etablierung und Institutionalisierung pädagogischer Bemühungen um seh- und hörschwache Kinder gezeigt werden. Wie im II. Teil (vgl. Strachota 2002, 8.4) dargestellt, kam es in der Medizin des 19.Jahrhunderts auf der Basis einer lokalistischen und organisch-somatischen Krankheitsauffassung zu einer starken Konzentration auf das einzelne (geschädigte) Organ im Krankheitsgeschehen und infolge dessen zu einer Differenzierung und Spezialisierung der Medizin in Spezialgebiete wie beispielsweise der Ohrenheilkunde, Augenheilkunde u.v.m. Die organbezogene, lokalistische Auffassung von Krankheit sollte auch sehr schnell dazu führen, dass die Bedeutung diagnostischer Maßnahmen zunahm. Daß sich die Diagnose je nach Ausbau des technischen Instrumentariums und dem Einbau neuer Denkweisen in die Medizin entfaltet, wurde bereits aufgezeigt (vgl. Strachota 2002, Teil II, 8.3). Eine Diagnose im modernen Sinne als möglichst exakter Befund des biologischen Ist-Zustandes der Patientin oder des Patienten ist erst möglich, wenn Krankheit als lokalisierbare und daher feststellbare (messbare, sichtbar gemachte) Läsion (vgl. Berger – Entwicklungsneurologie 1) verstanden wird. Darüber hinaus vermochte die (technische) Entwicklung apparativer Diagnose-Instrumentarien (vgl. Berger – Entwicklungsneurologie 1) pathogene Abweichungen nachzuweisen, welche den Diagnostikern, die sich bislang bloß auf ihre Sinne stützen konnten, weitgehend verborgen geblieben waren (Strachota 2002, 275 ff.). „Die neueren Sonderschulen sind im Zeitraum von etwa 40 Jahren entstanden, um 1880 die Hilfsschulen, fast gleichzeitig die Sprachkurse für Stotterer, um 1900 die Schwerhörigenschulen, bis zum ersten Weltkrieg erste Beobachtungsklassen, Beratungsstellen und Sehschwachenschulen“ (Möckel 1988, 178, zit. n. Strachota 2002, 275) 1 18 Diese beiden Entwicklungen (Spezialisierung in medizinische Teildisziplinen sowie die technische Entwicklung und Verbesserung der Diagnoseinstrumentarien) sollten für die Gestaltung eines bestimmten Bereiches heilpädagogischer Praxis insofern von Bedeutung werden, als man beispielsweise nunmehr nicht bloß zwischen Blindheit und Sehschwäche oder zwischen Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit unterschied, sondern Seh- bzw. Hörreste genauer zu bestimmen vermochte. So konnte etwa der Arzt Friedrich Bezold, der ein Verfahren zur Bestimmung des Restgehörs entwickelte, an Hand seiner Untersuchungen an der Münchner Taubstummenanstalt im Jahre 1898 deutlich machen, welch unterschiedliche Voraussetzungen Schülerinnen und Schüler mit und ohne Restgehör für den Unterricht mitbrachten (Möckel 1988, 182, zit. n. Strachota 2002, 276). Eine ähnliche Situation findet sich bei blinden bzw. sehschwachen Kindern und Jugendlichen. Hier war es der Arzt Georg Levinsohn, der auf dem Blindenlehrerkongress im Jahre 1907 vorschlug, „schwachsinnige Kinder mit einer Sehschärfe von ¼ bis ¹/25 abgesondert von blinden Kindern zu unterrichten…“ (a.a.O., 186) Vor allem für Kinder mit geringer Seh- und Hörschwäche hatte diese differentialdiagnostische Wahrnehmung weitreichende positive Folgen, denn bis zum Einsatz der verfeinerten medizinischen Diagnoseinstrumentarien blieben geringe Seh- und Hörschwäche weitgehend unerkannt. Schulprobleme wie jene beim Lesen- und Schreibenlernen waren nicht als Folgeprobleme des organischen Schadens gesehen, sondern vielmehr auf mangelnde intellektuelle Begabung der betroffenen Kinder zurückgeführten worden. Vier Jahre nach Bezolds Untersuchungen richtete die Stadt Berlin im Jahre 1902 die erste Schwerhörigenklasse ein, welche für schwerhörige Volksschülerinnen und –schüler bestimmt war. Die erste Schwerhörigenschule wurde in Berlin 1907, die erste Sehschwachenschule ebenfalls in Berlin im Jahre 1919 eröffnet. (Strachota 2002, 276) Resümee Am Ende dieses Kapitels lässt sich mithin folgendes festhalten: Die medizinische Wahrnehmung bestimmter Phänomene, die aus heutiger Sicht als Behinderung bezeichnet werden können, eröffnete im 19.Jahrhundert neue heilpädagogische Handlungsmöglichkeiten, die in weiterer Folge zur Institutionalisierung dieser pädagogischen Bemühungen um behinderte Kinder und Jugendliche führten. Die medizinische Wahrnehmung von geistiger Behinderung als behandelbarer Krankheit im zweiten Drittel des 19.Jahrhunderts führte dazu, verschiedene „heilende“ Maßnahmen anzuwenden, die zumindest zu einer positiven Zustandsveränderung in bestimmten Bereichen des Seelischen und Körperlichen führen sollten. Diese heilenden Maßnahmen schlossen auch solche Maßnahmen ein, die aus heutiger Sicht als pädagogische Maßnahmen zu bezeichnen sind. Vor dem Hintergrund eines vorwiegend (psycho)dynamistischen Krankheitsverständnisses versuchten sowohl Mediziner als auch Pädagogen und Theologen, Menschen mit geistiger Behinderung durch den Einsatz pädagogischer Maßnahmen in ihrer geistig-seelisch-leiblichen Entwicklung zu unterstützen und diese Bemühungen zu institutionalisieren. Als „indirekte Folge“ der Etablierung der organbezogenen Sichtweise von Krankheit innerhalb der zusehends naturwissenschaftlich orientierten Medizin zogen sich im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts die Mediziner aus dem neu eröffneten heilpädagogischen Handlungsfeld zurück, was möglicherweise mit dem Umstand in Zusammenhang stehen könnte, geistige Behinderung sei über eine unmittelbare Beeinflussung von physiologischen Prozessen doch nicht „heilbar“. Derselbe Umstand veranlasste den Pädagogen und Mediziner Karl F. Kern allerdings 19 auch zur Formulierung der Ziele einer Geistigbehindertenpädagogik, die sich weniger dem Leitgedanken der „Heilung“ als vielmehr dem der „Bildung“ verpflichtet fühlte. (Strachota 2002, 277 ff.) Der Durchbruch der lokalistischen, organbezogenen Sichtweise von Krankheit führte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dazu, dass beispielsweise bestimmte organische Defekte differentialdiagnostisch festgestellt werden konnten. Diese medizinische Wahrnehmung und diagnostische Festschreibung führte zur Bestimmung der Seh- bzw. Hörreste, von der auch unterschiedliche pädagogische Notwendigkeiten abgeleitet wurden: Es wurde erkannt, dass die pädagogischen Bemühungen in den Taubstummenanstalten den pädagogischen Bedürfnissen der schwerhörigen Kinder genauso wenig gerecht wurden wie die blinden-pädagogischen Bemühungen den Bedürfnissen der sehschwachen Kinder. Die lokalistische organisch-somatische Sichtweise von Krankheit führte dazu, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts neue pädagogische Handlungsnotwendigkeiten in dem Sinne erkannt wurden, als unterschiedlich ausgeprägte Läsionen im Organischen unterschiedliche Voraussetzungen für das Gelingen oder Scheitern von Erziehungsprozessen mit sich bringen können. Wenn gegen Ende des 18. Jahrhunderts die ersten heilpädagogischen Einrichtungen für blinde und gehörlose Kinder ohne medizinischen Einfluss und ohne Beteiligung von Ärzten entstanden, so gibt es demgegenüber „keine jüngere Sonderschule oder Erziehungseinrichtung, an deren Entstehung nicht Ärzte einen maßgeblichen Anteil hatten“ (Möckel 1988, 177, zit. n. Strachota 2002, 278). Es ist mit Möckel (a.a.O.) darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei diesen Ärzten vorwiegend um Fachärzte handelte, deren organisch-somatisches Verständnis die beschriebenen Phänomene in den heilpädagogischen Aufmerksamkeitsbereich rückten. „Mit diesen schlaglichartigen Bemerkungen zur Entwicklung der heilpädagogischen Praxis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts möchte ich dieses Kapitel abschließen. Im letzten Kapitel dieses Teils geht es um die heilpädagogische Relevanz des medizinischen Verständnisses von Krankheit im 20. Jahrhundert. (Strachota 2002, 278). 5. Vorlesung: 08.11.2005 20. Jahrhundert, Entwicklungen, Eugenik; Passwort: „eugenik“ WH letzte Vorlesung: Medizinische Wahrnehmung vom Phänomen Behinderung. Ende des 19. Jahrhunderts Hier gab es Entwicklungen, die für die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sehr wichtig waren. Schwerpunkte heute: Eugenik (wurde als Synonym verwendet), Rasseneugenische Hygiene; Auswirkungen dieser Denkweise und Umsetzung und weitere Entwicklung. Eugenik: = „Wohlgeboren von edler Abkunft“ Ullstein: „Lehre vom Erbgut eines Volkes und seine Pflege“ 20 Duden: „Erbgesundheitslehre (im Sinne von Erbschädigungen und deren Bekämpfung), Rassenhygiene [Lehre von der ]…“ Roche-Lexikon/Medizin => „…“ Weingart u.a. => spricht von „einer Vorläuferin der Humangenetik“ Eugenik: „Lehre vom Erbgut eines Volkes und seine Pflege" (Ullstein. Fremdwörterlexikon 1981, 56). "Erbgesundheitslehre, Rassenhygiene, [Lehre von der; A.S.] Verhütung von Erbschädigungen u. Bekämpfung der Weiterverbreitung von Erbkrankheiten“ (Duden. Das Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke 1985, 249). „Lehre, die sich - bezogen auf die Erkenntnisse der Humangenetik - mit Problemen der Verbesserung von Erbanlagen künftiger Generationen beschäftigt“ (RocheLexikon Medizin 1984, 479) Eugenik ist „die 'Wissenschaft vom guten Erbe', die in Deutschland [und Österreich; A.S.] vorwiegend als 'Rassenhygiene' bezeichnet wurde und die Vorläuferin der modernen Humangenetik war“ (Weingart u.a. 1992, 16). Wie kam es zu diesen Entwicklungen? Theoretische Wurzeln: Ein Exkurs Eugenisches Denken: Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts – die Folgen der Industrialisierung waren unübersehbar – gab es ein großes Problem: Es ging um die „Soziale Frage“. Welche Probleme waren das?: Verelendung der Arbeiter und Arbeiterinnen durch katastrophale Arbeitsbedingungen: wie z.B. 14-16 Stunden-Arbeitstag. Es gab auch Kinderarbeit (1891 kam es zu einem Verbot der Kinderarbeit bzw. wurde die Arbeitszeit auf 6h am Tag begrenzt, bei Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren lag die Arbeitszeit bei 10h am Tag. Weiters: Ein Problem war außerdem der große Hygienemangel (so kam z.B. auf 50 Personen eine Toilette, oder mussten 5-6 Personen in einem Raum ausharren), oder unzureichende Ernährung -> dies alles führte zu einem erbärmlichen Gesundheitszustand der „Unterschicht“. All die oben genannten Probleme bedurften einer Lösung. Je nach wissenschaftlichen Hintergrund wurde nach Lösungen gesucht. Es gab Erklärungsansätze, wie z.B. durch Karl Marx, oder Ansätze seitens der naturwissenschaftlichen Theorie Darwins (Darwinismus; später -> Rezeption (Übernahme neuen Gedankenguts) des Darwinismus + Weiterentwicklung -> zum Sozialdarwinismus. Beide Lösungsansätze => Biologisierung. Diese schrecklichen Gesundheitszustände, die Selbstmorde, die hohe Kriminalität wurden vom Sozialdarwinismus und der Eugenik als Symptome einer Degeneration (= Rückbildung), und zwar einer fortschreitenden Degeneration verstanden. Biologisch und moralisch! 21 Degenerationstheorien haben eine lange Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Eine Degeneration oder Rückbildung steht immer in Zusammenhang mit (einer) Zivilisation und die Folge derer. Ad Soziale Frage: Von der naturwissenschaftlichen Seite wurden die genannten Zustände nicht als Folge der Industrialisierung verstanden, sondern als Symptom eben einer Degeneration. Degenerative Merkmale sind z.B. geistige Krankheiten, Behinderung, Kurzsichtigkeit, schlechte Gebärfähigkeit, Selbstmorde,… Ende des 19. Jahrhunderts… … tritt die Eugenik mit einem neuen Degenerationskonzept auf: These der Degeneration mit These der Erblichkeit verknüpft. Degenerative Erscheinung -> biologisch bedingt und vererbbar. Logische Konsequenz daraus: Wenn diese Merkmale erblich sind, d.h. dass sie nicht mit dem Träger „untergeht“, sondern von Generation zu Generation weitergegeben wird, wenn bei weiterer Fortpflanzung diese degenerativen Merkmale weitergegeben werden, dann würde das zu einem Kollaps des ganzen Volkes führen. Diese „These“ wurde der „Eugenik der Vererbung“ zugeschrieben. Da wurde z.B. das Problem des Alkoholismus aus dem sozialen Kontext (Milieu) herausgelöst und die Ursache im einzelnen Individuum befindlich gemacht. Für die Gesamtheit all dieser Erscheinungen… … gab es den (Sammel)-Begriff der Minderwertigkeit (vgl. Adlers Theorie der „Organminderwertigkeit“). „Minderwertgkeit“ betraf alle Menschen, die aus „dem Rahmen fielen“ – geistig, sozial wie auch körperlich. Auch wurde die Soziale Frage zu einer Wertfrage – d.h. „hochwertiges“ oder „wertloses“ Leben. Siehe später auch die „Lebenswert/LebensunwertDiskussion (von Peter Singer). „Wertdenken“ …=> ursprünglich Begriff aus der Philosophie der Wirtschaft: Der Wert von Sachen aus wirtschaftlicher Hinsicht wird abhängig gemacht vom (wirtschaftlichen/ökonomischen) Nutzen („Kosten-Nutzen-Frage“), den sie bringen. Übertragen auf den Menschen heißt das: Der Wert eines Menschen ist abhängig vom Nutzen, den er der Gesellschaft bringt. Kosten-NutzenAnalyse: „Was kostet ein Mensch (mit Behinderung) und welchen Nutzen bringt er (ökonomisch gesehen)?“ 22 Exkurs: NS-Zeit (Folie), „Minderwertigkeit“,… !!!Ab diesem Absatz!!! Worauf stützt sich die Eugenik? Sie stützt sich auf „3 Theoretische Säulen“: 1) Evolutionstheorie von Charles Darwin 2) Vererbungslehre von Weissmann 3) Sozialdarwinismus Ad Charles Darwin „Evolution“ = bedeutet „Entfaltung“ in ununterbrochener Entwicklung, im Gegensatz dazu steht die „Revolution“, die für einen „Umsturz des Bestehenden“ steht. - Darwins Theorie ist die Abstammungslehre: im Jahre 1859: „Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl,…(siehe Folie oberhalb) (1.Auflage; 7.Auflage: 1983). - Es ging um die Erklärung vom Ursprung der Arten: Arten ≠ „göttliche Schöpfungen“ (sowie dies die „Naturgeschichte“ des 18. Jahrhunderts glaubte). Vielmehr fand Darwin seine Erklärungen oder besser gesagt den Ursprung der Arten als „Produkt der Natur“. „Alles irdische Leben (also Pflanzen, Tiere, Menschen) seien Produkt einer Auseinandersetzung mit der biologischen Umwelt“. Damit wurde eine „Wissenschaftliche Revolution“ eingeleitet => Das hat das Weltbild entscheidend verändert. - Mensch hat nicht mehr die Sonderstellung, er „entsteht“ nach den biologischen Gesetzesmäßigkeiten. Er ist ein Lebewesen wie alle anderen Lebewesen auch. 23 Der Kern von Darwins Theorie: Selektionstheorie: Der Impuls jeder Entwicklung ist Konkurrenz und Auslese. Er beschreibt weiters einen Kampf ums Dasein (ums überleben) -> dieser sei notwendig, damit Individuen überleben. „Survival of the fittest“: Diese Aussage spricht für sich selbst: “Nur die härtesten, oder in dem Fall die Fittesten kommen durch!“ Jedes Lebewesen besitzt die natürliche Tendenz zu überleben und sich zu vermehren. Die moderne Leseart dieses Gedankens wäre: Seine Gene (vielfach) weiterzugeben. Vermehren sich Lebewesen, dann resultiert daraus, dass es immer mehr und mehr Lebewesen gibt, was wiederum zur Folge hat, dass es zu einer Knappheit der natürlichen Ressourcen kommt und zwangsläufig auch zu einer „Konkurrenz“ um diese Ressourcen (Kampf ums Dasein). Darwin: war seinerseits ursprünglich auf Pflanzen und Tiere bezogen. Er meinte, es können nur jene Individuen überleben in diesem Kampf, und sich vermehren, die den Anforderungen der Umwelt besser entsprechen als andere Individuen (aufgrund ihrer biologischen Ausstattung) und diese setzen sich in diesem Kampf durch. Wir sprechen noch immer vom „Kampf zwischen den Individuen in Auseinandersetzung mit ihrer biologischen Umwelt“. Die, die nicht fit sind (d.h. vgl. „survival of the fittest“), verschwinden aus dieser Umwelt, es kommt zu einer Aussterbung dieser Individuen. Man oder Darwin spricht auch von einer Natürlichen Auslese. Deutscher Sozialdarwinismus: Begriff Fit-ness ins Deutsche übersetzt und mit folgendem Ausdruck versehen: „Tüchtigkeit“ oder „Tauglichkeit“ -> sehr wertender Ausdruck! Evolutionstheoretiker meinen, dass der wohl entsprechendste deutsche Begriff „Anpassung“ wäre, denn es geht ja um die Anforderungen der jeweiligen Umwelt. Das heißt, dass der „Kampf ums Dasein“ bestimmt ist von der „Auslese“ und „Zuchtwahl“, aufgrund dieser natürlichen Ressourcen. Allgemein: Dieser Ausleseprozess gibt die Abfolge der Arten an und diese erscheint immer vom jeweiligen Prozess der Entwicklung. Diese Entwicklung, also die Abfolge der Arten, wurde von Theoretikern des 19.Jahrhunderts und zum Teil des 20. Jahrhunderts, als eine „Höherentwicklung“ (nicht von Darwin selber) interpretiert. Die Lebewesen werden immer besser. Sie haben alle ein „vorgegebenes Ziel“ (= telos) => Teleologismus. D.h. so viel wie, als würden sich Lebewesen auf ein vorgegebenes Ziel richten => mit Blick auf die „Vollkommenheit“. So gesehen wäre die Evolution „Fortschritt auf ein vorgegebenes Ziel. Darwin selbst kennt kein Ziel, keine Höherentwicklung, sondern geht von „spontanen, zufälligen Mutationen“ aus, die sich in Folge der Auseinandersetzung mit der Umwelt als erfolgreich erweisen. Er sieht keine vorgegebene Richtung => Fehlinterpretation! Darwins „Heimliche Teleologisierung“ bildet das Zentrum im Eugenischen Denken. Wenn die Evolution auf Basis der natürlichen Auslese Höherentwicklung bedeuten würde, dann gilt auch der Umkehrschluss (Rückschritt, schlimmstenfalls Rückentwicklung => Ausschaltung der natürlichen Auslese). 24 Die Rezeption der „Darwin’schen Theorie“ fand in Deutschland sehr früh statt, etwa in den 60-er Jahren des 19. Jahrhunderts. 1959 ist dazu ein Werk erschienen. Ernst Haeckel, Zoologe und Philosoph, hat die Selektionstheorie in Deutschland aufgegriffen und populär gemacht. Der Gedanke der Selektion wurde auf den Menschen übertragen, auf die menschliche Gesellschaft. Haeckel meinte, die natürliche Auslese wird in der modernen menschlichen Gesellschaft künstlich ausgeschaltet:. Bsp.: „Armenfürsorge“ Biologisierung der sozialen Hierarchie: Menschen aus der unteren oder untersten Schicht (die unter schlimmsten Bedingungen leben) tun dies aufgrund ihrer biologischen Minderwertigkeit. Armenfürsorge greift hier dazwischen, v.a. hat Haeckel die Therapeutische Medizin an den Pranger gestellt, weil diese „kontra-selektorisch“ entgegenwirkt : Hier biographisches zu HAECKEL: Der Zoologe und Philosoph Ernst Haeckel war ein wichtiger Wegbereiter des Darwinismus in Deutschland. Sein Hauptwerk „Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie“ wurde ein zeitgenössisches Standardwerk mit großer Wirkung. Haeckel ließ ausschließlich die Erfahrung früherer Generationen als Quelle der Erkenntnis zu, a priori gewonnene Erkenntnisse lehnte er ab. Gott als Lenker des Weltgeschehens lehnte er gleichfalls ab. Mit seinem Monismus förderte Ernst Haeckel die diesseitige materialistisch-naturwissenschaftliche Weltanschauung... Biografie Ernst Haeckel wurde als Sohn des preußischen Oberregierungsrats Carl Haeckel und seiner Frau Charlotte, geborene Sethe, am 16. Februar 1834 in Potsdam geboren. Ernst Haeckel besuchte in Merseburg die Schule. Schon in dieser Zeit interessierte ihn die Pflanzenkunde. Ab dem Jahr 1852 studierte er an den Universitäten Berlin, Würzburg und Wien Medizin. Im Jahr 1854 unternahm er eine Studienreise, auf der er Seetiere erforschte. Zwei Jahre später war er Assistent von Professor Rudolf Virchow an der Universität Würzburg. Im Jahr 1957 promovierte Ernst Haeckel in Berlin zum Dr. med. Seine Dissertationsarbeit beschäftigt sich mit dem Gewebe des Flusskrebses. Im Jahr darauf bestand er das Staatsexamen. Danach kehrte er der Medizin den Rücken und konzentrierte sich auf die Fachgebiete vergleichende Anatomie und Zoologie. Innerhalb der beiden Jahre 1859 und 1860 begab er sich 25 nach Italien zum Zwecke der Studienreise. Auf Sizilien entdeckte er insgesamt 144 neue Arten von Strahlentierchen. Im Jahr 1861 habilitierte er sich an der Jenaer Universität. Seine Habilitationsschrift befasste sich mit der Ordnung von Wurzelfüßlern. Im Jahr darauf wurde er außerordentlicher Professor in Jena. Im gleichen Jahr, 1862, heiratete er seine Cousine Anna Sethe. Bereits nach zwei Jahren, am 16. Februar 1864, starb seine Frau, an dem Tag, an dem Haeckel die Cothenius-Medaille verliehen bekam. Obwohl er von verschiedenen Universitäten Berufungen erhielt, blieb Ernst Haeckel sein Leben lang in Jena. Er widmete sich in seinen wissenschaftlichen Abhandlungen hauptsächlich der Morphologie und Entwicklungsgeschichte der niederen Seetiere. Seine systematische Arbeitsweise und die Beschreibung von 4.000 neuen Arten waren bedeutend für weitere Forschungen Im Jahr 1866 begegnete er in England dem englischen Naturforscher Charles Darwin. Haeckel war ein Anhänger von dessen Evolutionstheorie, die er weiter entwickelte. Im Zusammenhang mit der Evolutionstheorie machte er seine Vorstellung vom Monismus geltend. Das All wird nach Haeckel durch ein allgemeingültiges Kausalgesetz beherrscht. Zwar lehnte er einen Gott als Lenker des Weltgeschehens ab, doch begriff Haeckel den Schöpfer als Summe aller Kräfte und Materie. Kraft und Materie sind nach Haeckel durch das Kausalitätsprinzip verbunden. Sein Monismus setzte sich mit der kirchlichen Lehre auseinander. Im Jahr 1867 heiratete er ein zweites Mal: die Tochter eines Professors, Agnes Huschke. Aus dieser Verbindung entstanden drei Kinder. Im Jahr darauf verbreitete er seine Entwicklungslehre öffentlich durch Vorträge. Ernst Haeckel widmete sich im Jahr 1869 einer ausgedehnten Reisetätigkeit zu Forschungszwecken. Sie führte ihn in den Orient, nach Skandinavien, Dalmatien, Großbritannien und andere Länder. Zu seinen hauptsächlichen Forschungsgebieten zählten Quallen, Kalkschwämme und Korallen. Mit seiner Grundlagenforschung beabsichtige Haeckel die Evolutionsgeschichte von Mensch und Tier voranzutreiben. Im Jahr 1872 entwarf er das „biogenetische Gesetz“. Danach wiederholt sich in der Entwicklung des Individuum, in der Phylogenese, diejenige seiner Gattung, 26 die Ontogenese. Im Jahr 1874 erschien sein Werk mit dem Titel „Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen“. Darin bringt er den Menschen in Verbindung mit der Evolutionsentwicklung und seine Abstammung von affenähnlichen Primaten. Ab 1874 verbreitete Ernst Haeckel seine Gastraea-Theorie, nach der alle vielzelligen Tiere einem einheitlichen Ursprung entstammen. Die Vielfalt in den organischen Formen begründete Haeckel mit der auf darwinscher Selektion beruhenden Wechselwirkung zwischen Vererbung und Anpassung. Im Jahr 1876 begegnete er erneut Charles Darwin. Im Jahr darauf löste er sich ganz von der Kirche. Haeckel schlug die Abschaffung des schulischen Religionsunterrichtes vor und dafür die Einführung des naturwissenschaftlichen Schwerpunktes. Innerhalb der beiden Jahren 1881 und 1882 unternahm er eine Forschungsreise in das heutige Sri Lanka. Im Jahr 1894 wurde in Jena eine Professur für Geologie und Paläontologie eigens für Ernst Haeckel ins Leben gerufen. In der Zeit von 1894 bis 1896 wurde sein Werk „Systematische Phylogenie“ ediert. Im Jahr 1899 kam sein Hauptwerk „Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie“ heraus. Darin begründete er seinen diesseitigen, materialistisch-naturwissenschaftlichen Monismus und wandte sich gleichzeitig gegen kirchliche Glaubenssätze. Das Buch entwickelte sich zu einem bekannten Standardwerk, das in 25 Sprachen übersetzt wurde. Innerhalb der beiden Jahre 1900 und 1901 reiste er nach Java und Sumatra. Im Jahr 1901 entstand dann der Titel „Aus Insulinde. Malayische Reisebriefe“. Haeckel beteiligte sich im Jahr 1904 am Internationalen Friedenskongress in Rom. Zwei Jahre später rief er den „Deutschen Monistenbund“ in Jena zur Pflege der materialistisch-naturwissenschaftlichen Weltanschauung ins Lebens. Im Jahr 1908 wurde das Museum für Abstammungslehre in Jena eröffnet. Im Jahr darauf erfolgte seine Emeritierung. 1910 trat er aus der Kirche aus. Im Jahr darauf nahm er am ersten Internationalen Monistenkongress in Hamburg teil. Im Jahr 1914 wurde seine Abhandlung „Gottnatur (Theophysis). Studien über die Monistische 27 Religion“ publiziert. In diesem Werk versuchte Haeckel zwischen Religion und Naturwissenschaft zu vermittelt. Ernst Haeckel starb am 9. August 1919 in Jena. Im Jahr 1920 wurde in seiner Jenaer Villa „Medusa“ das Ernst-Haeckel-Memorial-Museum eröffnet. xviii So wurde Darwins Theorie im 19. Jahrhundert fehlinterpretiert und weiterentwickelt. Exkurs: 20. Jahrhundert/Beispiel: Symposium in London Mit einem Referat von Julien Huxley: „Zukunft der Menschen – Aspekte der Evolution“ („Die Zukunft der Menschen sei gefährdet,..“ 19. Jahrhundert Haeckel: Philosophische Ausweitung der Darwinschen Theorie (ohne Anspruch einer praktischen Umsetzung. Dem entgegen stehen die Eugeniker mit dem Anspruch: Darwinschen Theorie zu praktischen Anwendungen umzusetzen. ) Mit der Übertragung auf die menschliche Gesellschaft, siehe weiter oben. Sozialer Status wird auf biologische Minderheit zurückgeführt (vgl. auch „Daseinskampf“): „Beweis der Tüchtigkeit“: Sieger sind die „Tüchtigsten“ <-> „Beweis deren biologischer Minderwertigkeit“. Um Biologie geht’s auch in der Eugenik. Deutsche Eugenikbewegung: „Biologie von Krankheiten“. EUGENIK (= Steuerung des Fortpflanzungsverhaltens) Begründer: Francis Galton, Engländer und ein Cousins Darwins, auch Anhänger der Darwinschen Evolutionstheorie. Es ging ihm bereits um die praktische Anwendung (auf den Menschen). Er bewegte sich bei seinen praktischen Vorschlägen im Bereich der so genannten „positiven Eugenik“, d.h. der Vermehrung der Nachkommen mit hohen Erbqualitäten. „Galton versuchte auf der Basis umfangreicher biographisch-genealogischer Untersuchungen nachzuweisen, dass geistige Fähigkeiten, vor allem die Intelligenz, ebenso erblich seien wie beliebige körperliche Eigenschaften (Weingart u.a. 1992, 36, zit. n. Strachota 2002, 159). Durch bewusste Steuerung und Lenkung der Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Auslese ‚sollten die Menschen die Kontrolle über ihre eigene Evolution gewinnen und sie in Richtung auf eine biologische Verbesserung lenken’“(a.a.O.). Seine praktischen Vorschläge zur Verbesserung des menschlichen Erbgutes, für die er 1883 den Begriff Eugenik2 wählte, zielten vor allem darauf ab, die geistige Elite Englands durch staatliche Förderung zu früher Heirat sowie zur Zeugung möglichst vieler Kinder zu bewegen, um so die Zahl der geistig (und körperlich) hervorragenden Individuen von Generation zu Generation zu vermehren (a.a.O., 37, zit. n. Strachota 2002, 159). Eugenik (Eu-Genik) ist die „Wissenschaft vom guten Erbe“ (Weingart u.a. 1992, 16, Hervorhebung A.S.), eine „Disziplin zur Steuerung und Kontrolle der menschlichen Erbgesundheit“ (a.a.O., 17). 2 28 In den 60ern standen die „intellektuellen Merkmale“ im Zentrum des Interesses, es ging insbesondere darum, das man Nachweise fand oder finden wollte, „ob denn Intelligenz erblich sei“. Außerdem suchte man nach Strategien zur Verbesserung der menschlichen Rasse durch Vermehrung der erblichen Begabungen (z.B. geistig Intellektueller) -> wie vermehren? Schluß: Maßnahmen -> Bezug auf Fortpflanzungsprozess. Anfänge der Deutschen Eugenik - Rezeption der Arbeiten Galtons im Deutschen nicht nachweisbar, es gibt kein Wissen darüber. - Die deutsche Rassenhygienebewegung entwickelte sich unabhängig von der englischen Eugenikbewegung, zumindest ist eine Rezeption der Arbeiten Galtons nicht nachweisbar (a.a.O.). Die erste einschlägige Publikation erscheint 1891 von Wilhelm Schallmayer („Über die drohende körperliche Entartung der Kulturmenschheit“), der Begriff Rassenhygiene wird 1895 von Alfred Ploetz („Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen“) geprägt. Für Schallmyer und Ploetz stellt – im Unterschied zur englischen Eugenik – die Medizin den entscheidenden Ausgangspunkt eugenischen und rassenhygienischen3 Denkens dar: Die moderne therapeutische Medizin greift insofern in den natürlichen Auslesemechanismus ein, als Kranke, Schwache, Behinderte, Arme, eben die „Minderwertigen“, dem vernichtenden Gesetz der „natürlichen Auslese“ entzogen werden. Die damit außer Kraft gesetzte „natürliche Selektion“ müsse daher durch „künstliche Selektion“ ersetzt werden. Der therapeutischen Medizin sei mithin eine prophylaktische zur Seite zu stellen (Strachota 2002, 160) - Ad natürliche Auslese: Minderwertige würden ohne therapeutische Medizin nicht überleben und sich nicht fortpflanzen. Mit ihr würde eine „überproportionale Fortpflanzung“ dieser minderwertigen Rasse erfolgen. Anm.: Seit der 70er Jahre: Differentierte Geburtenrate zwischen Oberschicht und Unterschicht (= hier vgl. „Vielgebärerei“, von der bei der natürlichen Auslese in Bezug auf die „überproportionale Fortpflanzung“ gesprochen wird). Was nun entgegensetzen? - Während Galton von einer positiven Eugenik ausging, vertraten Schallmayer und Ploetz eine so genannte „negative Eugenik“, d.h. die Bekämpfung der genetischen Degeneration durch die Verringerung der Nachkommen mit unterdurchschnittlichen Erbqualitäten. „Die von den Rassehygienikern postulierten Forderungen beinhalteten u.a. (Zwangs-)Sterilisation, Zwang zur ärztlichen Untersuchung für beide Ehebewerber 4 (Ehegesundheitszeugnis), Eheberatungsstellen , Heiratsverbote, Schwangerschaftsabbruch aus eugenischen Gründen, Zwangsasylierung sowie die Tötung missgebildeter Neugeborener (Strachota 2002, 160). 3 Im angelsächsischen Sprachraum wurde ausschließlich der Begriff Eugenik verwendet, während im deutschen Sprachraum zunächst nur der von Ploetz geprägte Begriff Rassenhygiene Anwendung fand, mit zunehmender Rezeption der englischen Eugenik allerdings auch dieser Begriff verwendet wurde. Die Begriffe Eugenik und Rassenhygiene werden in der (Sekundär-) Literatur mehr oder weniger synonym verwendet. (Strachota 2002, Fußnote, 160) 4 „1922 richtete der Wiener Julius Tandler, Aktivist in der österreichischen Rassenhygiene, beim dortigen Gesundheitsamt eine Prüfungsstelle für Eheeignung ein“ (Weingart u.a. 1992, 276, zit. n. Strachota 2002, Fußnote, 160). 29 - Deutsche Eugenik: weiters: Medizin soll sich nicht so sehr um die Bekämpfung von Krankheiten, sondern soll sich lieber um die Vorbeugung („Prävention“) dieser kümmern. Vorbeugung von Krankheiten = Gesunderhaltung, Gesundheitspflege; Hygiene: gr. Hygieia = griechische Göttin der Gesundheit. Hygiene ist die Lehre von der Gesunderhaltung des Menschen. Die hygienische Medizin versuchte auf die menschliche Zuchtwahl bessernd einzuwirken (n. Schallmayer). Der Denkansatz von Verhütung = Grund wieso Ploetz den Begriff „Rassenhygiene“ verwendet. 6. Vorlesung: 15.11.2005 Umsetzung eugenischer Forderung im NS: - Zwangssterilisation - (Erwachsenen) Euthanasie - Beschönigender Begriff („Schöner Tod“) der Euthanasie: Erweckt den Eindruck vom „Gnadentod“ (als humaner Akt) Zur Umsetzung der eugenischen Forderung im Nationalsozialismus (Quelle: Strachota 2002, 160 ff.) Die als erstes durchgeführte eugenisch-präventive Maßnahme war die Sterilisation: Bereits ab 1890 begann man, Angehörige der Gruppe jener, die von der Sozialen Frage betroffen waren5, aus Gründen der eugenischen Prävention zu sterilisieren. Den Anfang machte einer der „berühmtesten europäischen Ärzte der Wende zum 20. Jahrhundert und mit Sicherheit der bekannteste medizinische Sozialreformer und Experte für die Soziale Frage“ (Dörner 1993xix, 30, zit. n. Strachota 2002, 161), der Schweizer Psychiater August Forell. An dieser Stelle sei betont, dass eugenisches Gedankengut nicht per se „rechtes“ Gedankengut war und ist. Auch Vertreter und Vertreterinnen der politischen Linken (wie etwa Tandler u.v.m.) vertraten die Auffassung, dass sich die europäischen Gesellschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts in einem Degenerationsprozess befanden; allerdings wurden die Degenerationssymptome (Alkoholismus, Prostitution, Obdachlosigkeit, steigende Zahl der Geisteskrankheiten, Selbstmorde, etc.) eher als Druck und Folge der bestehenden Produktionsund Eigentumsverhältnisse verstanden (Weingart u.a. 1992xx, 108, zit. n. Strachota 2002, 161). Dennoch vertrat beispielsweise Karl Kautsky 1910 die Auffassung, dass die körperliche Entartung der Menschheit rasche und beängstigende Fortschritte mache; die Naturwissenschaft habe die Gefahr erkannt und sie stellt auch das Mittel bereit, das die Entartung aufhalten kann: „die Ersetzung der natürlichen Zuchtwahl, die der Kampf ums Dasein bewirkt, durch eine künstliche Zuchtwahl in der Weise, dass alle kränklichen Individuen, die kranke Kinder zeugen können, auf die Fortpflanzung verzichten …“ (Kautsky zit. n. Weingart u.a. 1992, 110, Hervorhebung Strachota). Die sozialistische Eugenik sollte als Sozialeugenik etabliert werden, und zwar als freiwillige Sozialeugenik, die keines staatlichen Zwanges mehr bedarf: „Die öffentliche Meinung und das Gewissen der Eltern würden vor der Eheschließung“, so gibt Weingart (a.a.O., 111 f.) den „orthodoxen Marxisten“ Kautsky sinngemäß wieder, „das Einholen sachkundigen Rats darüber gebieten, ob die Fortpflanzung ratsam sei. Die Zeugung eines kranken 5 Zu den Angehörigen der Sozialen Frage zählten Asoziale und Gemeinschaftsfremde, Schwule und Lesben, Prostituierte, Alkoholikerinnen und Alkoholiker sowie Geisteskranke und Behinderte. (Strachota 2002, 161) 30 Kindes werde dann mit ähnlichen Augen betrachtet werden wie etwa derzeit die eines unehelichen Kindes.“ Prinzipielle Unterschiede zwischen sozialistischen und rassehygienischen Forderungen lassen sich nach Weingart u.a. (1992, 112) nicht erkennen: „Soweit an der eugenischen Programmatik überhaupt Kritik geübt wurde, galt diese dem bürgerlichen politischen Hintergrund ihrer führenden Vertreter, nicht aber der Sache selbst.“ Wenn man einen Unterschied zwischen linker und rechter Eugenik ausmachen will, dann bestand der Fokus der sozialistischen Eugenik in der (freiwilligen) Individualhygiene, während sich jener der rechten Eugenik auf die (staatlich gesteuerte) Rassenhygiene richtete6. Die politische Umsetzung der rassehygienischen Forderungen erfolgte bekanntlich im Nationalsozialismus. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) ist das „wohl wichtigste rassenhygienische Gesetzeswerk, das unter dem NS-Regime realisiert wurde …“ (Weingart u.a. 1992, 464, zit. n. Strachota 2002, 162); es trat am 1. Jänner 1934 in Kraft und legalisierte die Zwangssterilisation sog. Erbkranker Menschen. Sterilisation war vorgesehen bei angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, manischdepressivem Irrsein, Epilepsie, Chorea (erblicher Veitstanz), erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, schweren erblichen körperlichen Missbildungen und schwerem Alkoholismus. Daß die eugenische Forderung der Tötung missgebildeter nicht Neugeborener im Rahmen der sog. Euthanasie-Aktionen des NS-Regimes zwar nicht auf legalisierter Basis, aber dennoch durchgeführt und auf Kinder, Jugendliche und erwachsene Personen ausgeweitet wurde, ist ebenfalls bekannt. Die Hauptakteure der Euthanasieaktionen waren Psychiater, die Zahl der involvierten Rassenhygieniker war relativ klein (Weingart u.a. 1992, 523, zit. n. Strachota 2002, 162); es gibt keinen Nachweis einer direkten Beteiligung – dennoch schufen sie den Bedingungsrahmen, „innerhalb dessen die ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens’ möglich wurde“ (a.a.O.). Das 20. Jahrhundert (Quelle: Strachota 2002, 162 ff.) Eine Darstellung der Entwicklung der Medizin des 20. Jahrhunderts kann (vor allem im Rahmen der vorliegenden Arbeit) im allerbesten Falle, wie selbst Seidler 1993 xxi, 216, zit. n. Strachota 2002, 162) schreibt, „Wesentliches nur beispielhaft streifen“. Wie bei vielen Jahrhunderten davor, lässt sich einleitend sagen, dass sich die Entwicklungstendenzen des vorangegangenen Jahrhunderts kontinuierlich fortsetzen; und auch im 20. Jahrhundert ist die Hauptströmung hinsichtlich des Krankheitsbegriffes von Neben- und Gegenströmen begleitet. Im 20. Jahrhundert kommt es vor allem zu bahnbrechenden Entwicklungen im Bereich der Diagnose und Therapie, mit Beckerxxii (1995, 5, zit. n. Strachota 2002, 163) lässt sich geradezu sagen: „Wir leben im Jahrhundert der Therapie – wobei hier zu ergänzen ist, dass es sich dabei nicht bloß um Heilung bringende, sondern auch um gezielt Tod bringende Therapie handelt. Die Gliederung des folgenden Kapitels weicht von jener der vorangegangenen Kapitel insofern ab, als der erste Abschnitt, der bislang mit dem Titel „Allgemeine Bemerkungen“ versehen war, „Während der linke Flügel der eugenischen Bewegung in der Sowjetunion und in den angelsächsischen Ländern relativ großen Einfluss gewinnen konnte, blieb er in Deutschland nahezu bedeutungslos. Ihm fehlten bedeutende Repräsentanten wie Hermann Muller in den USA, J.B.S. Haldane in England oder A.S. Serebrovski in der Sowjetunion; darüber hinaus war das generelle politische Klima in Deutschland von Beginn an günstiger für die antisozialistischen und antidemokratischen Varianten der Eugenik“ (Weingart u.a. 1992, 113 f., zit. n. Strachota 2002, 162). 6 31 infolge seines Umfanges und der besseren Übersichtlichkeit wegen in einzelne Zwischenkapitel gegliedert wird: In der skizzenhaften Darstellung des 20. Jahrhunderts werde ich im Kapitel 9.1 zunächst dort anschließen, wo ich das 19. Jahrhundert abgeschlossen habe: bei der Eugenik- bzw. Rassenhygienebewegung und der Umsetzung ihrer Forderungen im NS-Regime. Daran anschließend wird die (naturwissenschaftliche) Weiterentwicklung der Medizin bis 1933 angedeutet (9.2), die Entwicklung der Vererbungslehre, der Genetik, in groben Schritten von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart nachgezeichnet (9.3) sowie im Rahmen dieses Zwischenkapitels auf die Entwicklung der menschlichen Vererbungslehre, die Humangenetik, eingegangen (9.3.1). Die Notwendigkeit der gesonderten und durch eigene Kapitelzuweisung auch damit zum Ausdruck gebrachten historischen Darstellung der Eugenik, Genetik und Humangenetik ergibt sich infolge der besonderen Relevanz für den Argumentationszusammenhang der Arbeit. Die Entwicklung der Medizin in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, die sich im wesentlichen im diagnostischen und therapeutischen Bereich vollzog, wird in den entsprechenden Kapiteln Diagnose (9.5) und Therapie (9.6) dargestellt; diesen vorgelagert ist, wie bei allen vorangegangenen Jahrhunderten, das Kapitel zum Krankheitsbegriff (9.4). Eugenik und Diagnose Bereits in Kapitel 8.7 wurde angedeutet, dass die Hauptakteure der Euthanasieaktionen Psychiater waren. An dieser Stelle sei an die Entwicklung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert erinnert. Das neue lokalistische Verständnis von Krankheit führte Griesinger, den Begründer der somatischen Psychiatrie, zur These, Geisteskrankheiten hätten ihren Sitz im Gehirn, seien mithin Gehirnkrankheiten. Er ging davon aus, dass allen psychischen Störungen, sofern sie als seelische Krankheiten verstanden werden sollen, eine physiologisch-pathologische Gehirnveränderung zugrunde liegen müsse (Eckart 1994, 247, zit. n. Strachota 2002, 163). Dass die Weigerung, psychische Krankheiten als (mithin behandelbare) Krankheiten anzuerkennen, wenn eine solche physiologisch-pathologische Gehirnveränderung nicht zugrunde liegt, sozialdarwinistischen und eugenische Degenerationstheorien zuarbeitete (Zens 1993xxiii, 29, zit. n. Strachota 2002, 164), ist offenkundig und wurde schon erwähnt (vgl. 8.2). Die zentrale These der Rassenhygienebwegung war jene der genetischen Degeneration: Wenn degenerative Merkmale eines Individuums vererbt werden, dann heißt das, dass sie nicht mit ihrem Träger oder ihrer Trägerin untergehen, sondern von Generation zu Generation weitergegeben werden; d.h. es kommt zu einer Akkumulation degenerativer Merkmale, was unweigerlich zum biologischen Kollaps eines ganzen Volkes führen muss (Weingart u.a. 1992, 50, zit. n. Strachota 2002, 164). Dem darwinistischen Entwicklungs- und vor allem Selektionsgedanken der „natürlichen Auslese“ folgend, ging die rassenhygienische Argumentationsfigur davon aus, dass die moderne therapeutische Medizin die sog. Minderwertigen dem Gesetz der natürlichen Zuchtwahl (Auslese) entziehen und dadurch zum Überleben verhelfen. Das (behauptete) Ungleichgewicht der Fortpflanzung von hoch- und minderwertigen Menschen infolge künstlicher Außerkraftsetzung der natürlichen Auslese erfahre eine Verschärfung durch die (behauptete) überproportionale Vermehrung der minderwertigen Menschen – die Rede war von der „Vielgebärerei“ der Asozialen, Kranken, Kriminellen etc., die der ungenügenden Fortpflanzung der gesunden und tüchtigen Menschen diametral entgegen stehe. Nachdem die natürliche Selektion außer Kraft gesetzt worden war, müsse daher als therapeutische Strategie eine künstliche Selektion medizinisches Handeln bestimmen. Die 32 Medizin ist damit Ausgangspunkt des Denkens deutscher Rassenhygieniker mit Betonung des prophylaktisch orientierten Aspektes der Medizin. Der Erste Weltkrieg brachte in diese Dynamik einen zusätzlichen Schub, indem die Behauptung der überproportionalen Fortpflanzung Minderwertiger, die den Degenerationsprozess noch weiter beschleunigt, durch die einfache Formel Nahrung erhielt: Die Hochwertigen werden im Krieg abgeschlachtet und die Minderwertigen vermehren sich. Aus diesem behaupteten Umstand erwuchs der Medizin die besondere Aufgabe der Erneuerung des Volksganzen. Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde hat beispielsweise „auf einer offiziell als ‚Kriegstagung’ einberufenen Konferenz in Leipzig 1917 festgestellt: ‚Mehr als je heißt es, unser Sondergebiet zu pflegen und die Bedeutung der Kinderheilkunde zu betonen, denn von ihr soll die Wiederaufforstung des deutschen Volksbestandes beeinflusst werden, damit wir über die schweren Wunden hinwegkommen, die der Krieg uns schlägt“ (Seidler 1993, 220, zit. n. Strachota 2002, 164). Der Rassenhygienebewegung ging es um das Aufzeigen eines Ausweges aus dieser degenerativen Entwicklung: Gezielte Züchtungsmaßnahmen, vor allem Maßnahmen, die der „negativen Eugenik“ zuzurechnen sind, wurden als Lösung gesehen. Diesem Zeitgeist entsprechend, erschien 1920 eine kleine Schrift mit dem Titel „Zur Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, in welcher der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche für die Legalisierung der aktiven Tötung minderwertigen, d.h. lebensunwerten Lebens plädieren; mit den „Ballastexistenzen“ und „leeren Menschenhülsen“ waren geistig Tote, „unrettbar Verlorene“, „unheilbar Blödsinnige“ gemeint. Medizinisches Handeln, so war schon eingangs dieser Arbeit festgestellt worden (vgl. 1, 4.1), besteht „im wesentlichen aus Diagnostizieren, Vorbeugen und Therapieren“ (Dörner 1993, 41, zit. n. Strachota 2002, 165), wobei sich die therapeutischen Maßnahmen darin zu legitimieren haben, Heilung herbeizuführen. Gesundheit erhält mit fortschreitender Industrialisierung in erster Linie die Bedeutung von Funktionstüchtigkeit, Stärke, Erfolg – kurz industrieller Brauchbarkeit: Ein Teil der sozialen Frage wurde über Sterilisation wegrationalisiert, ein weiterer Teil sollte durch Therapie geheilt, industriell brauchbar gemacht werden. Dem Erblichkeitswahn gesellte sich, so Dörner (a.a.O., 40, zit. n. Strachota, ebd.), der „Mythos der Heilbarkeit“ bei. Was aber sollte mit jenen geschehen, die trotz aller Therapiebemühungen unheilbar blieben? „Das vermessene Unterfangen der Medizinierung der Sozialen Frage und ihre Verschärfung durch den Anspruch der Heilbarkeit konstituiert aus sich selbst heraus als Gegen- oder Restgruppe die Unheilbaren. Es kann gar nicht anders sein: das Existenzrecht der Unheilbaren wird noch weit gefährdeter sein als das der Gesamtheit der Minderwertigen“ (Dörner 1993, 47, zit. n. Strachota 2002, ebd., 165). Bei Dörner (a.a.O., 57, zit. n. Strachota 2002, ebd., 165) ist der Hinweis zu finden, dass der amerikanische Psychologe Robert Lifton „den gesamten Prozess von der Selektion bis zur Vergasung in den Vernichtungs-Konzentrationslagern in seinem medizinischen Charakter“ beschrieb und aufgrund seiner Gesprächserfahrungen mit NS-Ärzten den Begriff des „therapeutischen Tötens“ (a.a.O., 117, Hervorhebung A.S.) prägte. Dörner greift diesen Begriff auf und spricht vom therapeutischen Töten als „Endlösung der Sozialen Frage“ (a.a.O., 48 ff.): Die Nazis errechneten einen „Überhang“ von rund 70 000 Unheilbaren und begannen, diese systematisch von ihrem unheilbaren Leid zu erlösen, d.h. zu töten7. 77 Grundlage für die durchgeführten Euthanasie-Maßnahmen an geisteskranken und behinderten Menschen stellte eine auf den 1. September 1939 zurückdatierte „Ermächtigung“ Hitlers dar – ein Satz auf privatem Briefpapier 33 „Dieselben Kommissionen, die die Krankenhäuser bereisten, um die Quoten der Unheilbaren zu ermitteln, waren gleichzeitig damit beauftragt, die therapeutischen Ausrüstungen der Krankenhäuser zugunsten der Therapie der Heilbaren zu verbessern: jede Förderung für die Heilbaren, menschliches Mitleid und Tod für die Unheilbaren. (…) Dies war auch die Ethik des … Carl Schneider, christlich, warmherzig engagiert, jedem einzelnen seiner Patienten therapeutisch zu helfen, der 1939 möglicherweise das beste und umfangreichste Buch des 20. Jahrhunderts über therapeutische Möglichkeiten für Menschen mit Psychosen veröffentlichte und der im selben Jahr einer der Chef-Organisatioren der Euthanasie oder – wie man auch sagte – Desinfezierung der Unheilbaren wurde. Er war wohl auch der Chef-Denker dieser Gruppe; denn vermutlich aus seiner Feder stammt hauptsächlich die Denkanschrift der Euthanasie-Leistungsgruppe von 1943 über die künftige Entwicklung der Psychiatrie nach dem Kriege. In dieser Denkschrift sind alle wichtigen Kriterien für eine moderne, gemeindenahe und patientenfreundliche Psychiatrie enthalten, wie wir in der Bundesrepublik dies auf ähnliche Weise erst in den 70er Jahren mit Hilfe der Psychiatrie-Enquete zusammendenken konnten. Die Modernität der Euthanasie-Psychiater erschreckt und fasziniert zugleich“ (Dörner 1993, 57 f., zit. n. Strachota 2002, 166) Der größtmöglichen Förderung für die Heilbaren stand somit die schmerzlose Erlösung von ihrer aussichtslosen Zukunft für die Unheilbaren gegenüber. Im August 1941 war die Ermordung (Desinfizierung) der Unheilbaren (des Überhanges) abgeschlossen (a.a.O., 58). Neben den etwa 350 000 zwangssterilisierten Menschen wurden mindestens 70 000 „Patienten von Heil- und Pflegeanstalten, schwer chronisch Kranke, geisteskranke Kriminelle, aber auch ‚Patienten fremder Staatsangehörigkeit oder Rasse’“ (Seidler 1993, 230, zi. N. Strachota 2002, 166) umgebracht. Einige wenige Ärzte und Ärztinnen wurden wegen ihrer Experimente am lebenden Menschen 1946/47 vor dem amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg angeklagt: Sie „haben während des Prozesses betont, dass ihre Untersuchungen der Verhütung von Krankheit und Not, letztlich der kranken Menschheit gedient hätten und nach strengen naturwissenschaftlichen Kriterien durchgeführt worden seien“ (a.a.O., 231). Die intensive Forschung zur Verquickung von Naturwissenschaft, Medizin und Nationalsozialismus der vergangenen Jahre hat, so Friedrich & Matzow (1992, 7, zit. n. Strachota 2002, 166), die „über 30 Jahre gepflegte Legende von den ‚nur’ etwa 300 verbrecherischen Naziärzten aufgehoben“. Und auch Weingart u.a. (1992, 477) schreiben dazu: „Den Ärzten, die zu einem hohen Prozentsatz als irgendeine andere Berufsgruppe der NSDAP (45%) und/oder der SA und SS angehörten, war … die neue Rolle des ‚Erbarztes’ zugedacht, der über die traditionelle Funktion des Individualarztes hinaus die Sorge für die Erbgesundheit des gesamten Volkskörpers tragen sollte. Die rassenhygienische Aufgabenstellung, ‚Erhaltung und Hebung der Gesundheit des Erbgutes und der Rasse des deutschen Volkes’, wurde im November 1937 offizieller Bestandteil der Berufsordnung für Ärzte.“ Hitlers, d.h. keine gesetzliche Grundlage, der sog. Gnadenent od-Erlaß: „Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann. gez. Adolf Hitler“ (Klee 1985, 100, zit. n. Strachota 2002, 165). 34 7. Vorlesung: 22.11.2005 Hinweis auf 2 Veranstaltungen Wiederholung letzte Vorlesung 2 Schienen der Euthanasie-Vorhaben 2 Veranstaltungshinweise: a) Symposium – 70 Jahre Heilpädagogische Gesellschaft in Österreich: Donnerstag 24.11.2005 b) Sa, 26.11.2005: Buchpräsentation des Buches: „Warum die Taube Taube heißt“, ein Märchen (vom ÖGLB herausgegeben): in „Hirschstetten, Palmenhaus – 22.Bezirk;“ Wiederholung der letzten Vorlesung - Eine Überleitung zum heutigen Film: Die Umsetzung eugenischer Forderung im NS Zwangssterilisation (Erwachsenen) Euthanasie Die beschönigenden Begriffe des „Schönen Tod“ in der Euthanasie: welche den Eindruck erwecken vom „Gnadentod“ (als humanen Akt). „Euthanasie“ = Eu thanatos, gr. Und bedeutet „Schöner Tod“, wir sehen also, der Begriff vom „beschönigten Tod“ kommt nicht von ungefähr. Die Nationalsozialisten „missbrauchten“ den Begriff als „Minderwertige von ihrem Leid zu befreien“, der Gnadentod als Akt der Humanität. „Auf 2 Schienen wurde Gefahren“ 1) Mitleidsschiene: Ein Sterben in Würde, Gnadentod; „diese Leute müssen aus Mitleid von ihrem Leid befreit werden. 2) Kosten-Nutzen-Analyse: Verwertbarkeit (ökonomisch-gesehen) des Menschen (auch in Bezug auf die Bildungsfähigkeit). Folie dazu im Anhang! 3) Folglich kam es zu einer „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Anmerkung: „Bildungsunfähigkeit“: Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 erklärte das Reichsschulpflichtgesetz alle geistigbehinderten Kinder, die die Kulturtechniken nicht erlernen konnten, zu Bildungsunfähigen und befreite sie von der Schulpflicht (Hensle & Vernooij 2000, 134). „Der Bescheinigung der ‚Bildungsunfähigkeit’ folgte kurze Zeit darauf die Verurteilung ‚lebenswert’, und den gesellschaftlichen Wertvorstellungen der nationalsozialistischen Epoche entsprechend folgte die Vernichtung der die Volkswirtschaft belastenden und die Volksgesundheit schädigenden xxiv ‚Balastexistenzen’“ (Hagemeister 1995, 68, zit. n. Hensle & Vernooij 2000, 134). Auch nach 1945 blieb der Gedanke der Bildungsunfähigkeit erhalten. Die Wende trat erst 1958 ein mit Gründung der „Bundesvereinigung Lebenshilfe für das behinderte Kind“. (ebd., 134) Psychiatrische Institutionen Die großen Anstalten wurden in der Folgezeit weitgehend aufgelöst und stattdessen, in den Bundesländern (Anm.: Deutschland) der ehemaligen DDR uneinheitlich, Sonderkindergärten, Tagesbildungsstätten, Schulen, Wohnheime und beschützende Werkstätten eingerichtet. Die Elternvereinigung erkämpfte, auf diesem Hintergrund nachvollziehbar, das SchulRECHT für ihre Kinder. In der ehemaligen DDR blieben „schwachsinnige“ Kinder weiterhin nicht schulpflichtig, sondern sie befanden sich in der Verantwortung des staatlichen Gesundheitswesens. Einige der 35 „förderungsfähigeren“ Kinder besuchten einen C-Zug der Hilfsschulen, andere fanden, teilweise unter äußerst schlechten Bedingungen, Versorgung, Pflege und Förderung in nichtstaatlichen Einrichtungen. (ebd., 134 f.). Euthanasieaktionen 1938/39: - Kindereuthanasieaktion/Kinderaktion: 1938/39 begannen die Euthanasieaktionen mit den sogenannten „Kinderaktionen“, der Kindereuthanasie. Es wurden Kinder-Fachabteilungen in Krankenanstalten und psychiatrischen Anstalten gegründet. Bildungsunfähige Kinder wurden von Schulen dorthin in die Kinderabteilung überstellt und dort getötet. Über 5000 behinderte Kinder wurden dort getötet. Bsp.: Die größte psychiatrische Anstalt im Deutschen Reich war am Steinhof/Wien. Heil- und Pflegeanstalt hatte so eine Kinderabteilung > am Spiegelgrund. Tötungsaktion fast parallel ausgeweitet auf Erwachsene (unheilbar Kranke, psychisch Kranke und geistig Behinderte): „Aktion T4“ „T4“ ist hergeleitet von der Adresse Berlin, Tiergartenstrasse 4. Bei dieser Tötungsaktion wurden ca. 100 000 – 120 000 Menschen ermordet. Was da passierte blieb lange unerforscht und unaufgearbeitet. In der Heilpädagogik dauerte es etwas länger, teilweise sind Bereiche noch heute unerforscht und nicht wenige Personen und Anstaltsleiter waren darin verstrickt, deswegen gab und gibt es kein Interesse an einer Aufarbeitung. Aber: es gab auch nicht wenige Anstaltsleiter, die Kinder bewahrten, in dem sie ihnen Bildungsfähigkeit zugesprochen haben, d.h. sie haben Meldebögen ausgefüllt, die mehrfach kontrolliert wurden. Diese „Aktion“ lief dezentralisiert. Hierbei wurden bei T4 innerhalb eines Jahres etwa 70 000 Menschen als lebensunwert (s.a.o.) vernichtet. Auch ließ man sie zum Teil verhungern, oder iniziierte ihnen eine Überdosis Medikamente, an denen diese dann elendig zu Grunde gingen. Zwischen 1939-1945 wurden etwa 260 000 psychischkranke und geistigbehinderte (Kinder) vernichtet, getötet. Diese Morde standen in einer „3-fachen Kontinuitätslinie“ (historisch gesehen): 1) Sie standen in der Tradition der Eugenik, die im Nationalsozialismus zur „Staatsdoktrin“ erhoben wurde 2) Praktische Umsetzung der Forderungen: Binding & Hoche: Der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche prägten in den 20ern des 20. Jahrhunderts ganz wesentlich den Begriff des „lebensunwerten Lebens“, vor allem in ihrem veröffentlichten Werk: „Die Frage der Vernichtung lebensunwerten Lebens- , Ihr Maß und ihre Form“ (Leipzig 1920). 3) Deutsche Psychiatriegeschichte: Anmerkung: Ende der 20er: Krise in deutschen Pflegeheimen wegen Überfüllung, bis 1931 hat sich diese Situation verstärkt. In den ersten Jahren des deutschen Reiches (etwa 340 000 kranke Menschen in Anstaltsgebäuden untergebracht) kam es zu einer Überbelegung: Ursachen hierfür waren: der totalitäre Charakter des NS-Regimes (-> hatten ein engmaschiges Netz an sozialer Kontrolle aufgebaut: dieser konnten sich Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht entziehen). Immer mehr Menschen wurden auf „Antrag der Behörden“ in Anstalten überwiesen. Dies verursachte erhebliche Kosten, die Reaktion darauf: Die Pflegesätze wurden gekürzt, die Anstalten hatten daher immer weniger Tagesgeld zur Verfügung. 36 4) Aber die Folgen waren auch in anderen Bereichen zu spüren: Es kam zu Mangelernährungen, die Sterberate stieg an. Ergänzung: „Neue Psychiatrische Therapeutik“: hier wurde für Unheilbar Kranke Geld ausgegeben – zur Verwahrung. Euthanasie-Psychiater zählten sich, kaum vorstellbar, zu den Innovativen innerhalb der Neuen Psychiatrie. Unheilbare sollten beseitigt werden, damit für Heilbare mehr Geld zur Verfügung bliebe. 2 Stränge: Aus den oben in Punkt 4 erwähnten „Zur-Verfügung halten von Geldern für Heilbare“ entwickelten sich 2 Stränge heraus, die einander gegenüber standen: Das war zum einen … - das Heilen (Heilbarer, für Heilbare wurde im NS viel getan) und - die „Vernichtung Unheilbarer“, also z.B. geistigbehinderter, psychischkranker, … Um an obigen Punkt 4 anzuschließen: Es war also der Plan, sog. „Unheilbare“ in „Absterbeanstalten“ abzuschieben. Weiters: Kein Arzt war gezwungen zur Euthanasie. Für die Neue Psychiatriereform war es super die Unheilbaren durch Vergasung zu vernichten, damit auch jetzt die Überleitung zu folgendem: Es mussten Tötungsanstalten eingerichtet werden: Im Zuge von „T4“ wurden 6 Einrichtungen beschlagnahmt und mit „Duschräumen“ und Krematorien (zur Verbrennung der Leichen) ausgestattet. Filmdokumentation dazu: Über „Schloss Hartheim“: „Mord in Schloss Hartheim“: - Schloss Hartheim war ein ehemaliges Pflegezentrum, welches dann von den Nazis in ein „Euthanasiezentrum“ umgewandelt“ oder umfunktioniert wurde. - Hartheim war die einzige Vernichtungsstätte, die mitten in einer Ortschaft lag. Ein Brüderpaar, welches in der Umgebung des Schlosses aufwuchs, berichtete von „unerträglichem Gestank nach menschlichem verbrannten Fleisch, der ihnen jeglichen Appetit verdarb“. - In Schloss Hartheim wurden ca. über 30 000 Menschen ermordet. - Es gab beispielsweise einen „Rassischen Normenkatalog“, was darunter zu verstehen ist, kann man sich denken. - Im Schloss erfolgte die „Vernichtung erbkranken Guts“ - Es wurde alles „zum Gunsten der Kriegswirtschaft umgewirtschaftet“ - Pflegeheime wurden (ursprünglich) für Kriegsinvalide benötigt, nicht für „Unheilbare“ - Es gibt auch eine „Hartheimer Statistik“ - Insgesamt war der Prozentsatz an NSDAP-Ärzten mit 45% extrem hoch - In den Jahren 1946/47 kam es bei den „Nürnberger Prozessen“ zu einigen Anklagen von NS-Ärzten - „Vernichtend“ + „Heilend“ (v. Ebbinghaus und Dörrer) - Legitimation: „Untersuchungen dienen der Verhütung von Krankheit und Not“ (-> ist an strengen naturwissenschaftlichen Kriterien orientiert -> „Verobjektivierung“, Krankheit wird zum Versachlichten Objekt). Der Mensch wird zum Ding. Es kommt zu einem Verlust des Subjekts => Depersonalisierung/Entpersonalisierung: vgl. Moralphilosoph Peter Singer. 37 - Die „Vernichtungen“ als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als ein „schleichender Prozess der Entwertung: ganze Gesellschaftsgruppen wurden von der Gesellschaft ausgeschlossen Blick vieler Verantwortlicher: „Pannwitzblick“ – d.h. Blick eines Menschen zu einem „Dings da“; dieser Begriff stammt aus einem Buch „Ist das ein Mensch“ von Primo Levi (1944/45), einem italienischen Chemiker, der nach Auschwitz deportiert hatte. Anhang: ZuRecht kommen: Absicherung, Recht, Politik Selektion im Gesundheitswesen Keine Dialyse für den Rentner Ludger Wess, Publik-Forum "Zu sterben, um öffentliche Mittel zu sparen, kann die moralische Pflicht eines Staatsbürgers sein": Solche Maßstäbe, immer häufiger von Gesundheitsökonomen vertreten, könnten Behinderte und Alte bald in Lebensgefahr bringen. Entsolidarisierung auf dem Vormarsch: Wie notwendige medizinische Behandlung aus Kostengründen verweigert wird 38 »Ich habe 50 Jahre gearbeitet, war praktisch nie krank und möchte jetzt meinen Lebensabend genießen und meine Enkel aufwachsen sehen«, schildert der sympathische ältere Herr dem Saalpublikum. Im grellen Licht des Spotlights bewirbt er sich um eine Dialyse, denn seine Nieren wollen nicht mehr so recht. Doch er hat Konkurrenz: Ein zweiter Spot beleuchtet eine knapp 40jährige alleinerziehende Mutter, die ebenfalls eine Dialyse braucht. Das Publikum der britischen »Life and Death Game Show«, der Spielshow »Leben und Tod«, braucht nur wenige Sekunden, um sich zu entscheiden. Der Spot über dem alten Herrn wird ausgeknipst; die Mehrheit hat sich gegen seine Behandlung und damit für seinen Tod entschieden. Doch auch die alleinerziehende Mutter kann sich nicht lange freuen. In der zweiten Spielrunde verliert sie gegen eine Kandidatin, die das Budget für sich und einige Dutzend andere beansprucht, um eine Hüftoperation zu erhalten, die sie von unerträglichen Schmerzen befreien und wieder arbeitsfähig machen würde. Diese Inszenierung des britischen Fernsehens sollte die Öffentlichkeit vor einigen Jahren mit dem Gedanken vertraut machen, daß das Gesundheitssystem rationiert werden muß. Großbritannien stellt inzwischen in der Tat nicht mehr jede Therapie für alle zur Verfügung: Menschen über 60 erhalten keine Dialyse mehr - man läßt sie sterben, es sei denn, sie zahlen selbst. Auch in Deutschland wird die Liste der Streichungen im Leistungskatalog der Kassen immer länger, und geht es nach dem Willen von zahlreichen Gesundheitsökonomen, Philosophen und Medizinern, wie etwa den Wissenschaftlern des Bochumer Zentrums fiir medizinische Ethik um den Sozialmediziner Herbert Viefhues und den Philosophen Hans-Martin Sass, dann könnten schon bald nicht nur Heftpflaster und Ergänzungskuren sondern auch Bypass-Operationen, Organtransplantationen und teure Krebstherapien aus dem Leistungskatalog gestrichen werden. Sass möchte die gesetzliche Krankenversicherung umbauen zu einer Basisversicherung für gesundheitliche Grundrisiken, wobei ergänzende medizinische Leistungen entsprechend dem eigenen Risikoprofil über private Zusatzversicherungen abzudecken wären. Gleicher Zugang aller zu intensiven und kostspieligen Therapien sei nicht finanzierbar, und eine Entscheidung müsse sich notgedrungen über konventionelle moralische Argumente hinwegsetzen. Notfalls müsse man die Betroffenen einfach sterben lassen. Viefhues stellt am Beispiel schwerbehinderter Neugeborener die Frage, ob ein solches Kind »lebensunterstützende Therapien bis zum bitteren Ende verlangen und dabei personelle, instrumentelle und monetäre Ressourcen der Gesellschaft aufbrauchen« könne, die unter Umständen auch »anderweitig bitter benötigt werden«. Und der Dortmunder Gesundheitsökonom Walter Krämer rechnet vor, daß Aids ein »unverhältnismäßig hohes Maß an Ressourcen« beanspruche. Er kann sich durchaus vorstellen, das lebensverlängernde Medikament AZT aus dem Leistungskatalog der Kassen zu streichen. Solche Äußerungen und die in Bonn verordneten Streichungen machen angst. Aber spätestens dann, wenn die Experten mehr Selbständigkeit und Eigenverantwortung einfordern und behaupten, daß das jetzige System Menschen begünstige, die sich unverantwortlich verhielten, schlägt die Stimmung um. An diesem Punkt beginnt auf vielen Veranstaltungen, in denen über die Gesundheitskosten debattiert wird, eine Diskussion, in der sich Referenten und Zuhörerschaft mit Vorschlägen überbieten, wie man Menschen, die sich nicht »gesundheitskonform« betragen, möglichst effizient abstrafen kann. Warum noch eine neue Leber für einen Alkoholiker, eine Herzoperation für starke Raucher, langwierige Rehabilitation für den verunglückten Raser, lebenslange Pflege für das behinderte Kind, dessen Mutter sich nicht zur Abtreibung entschließen konnte? 39 Solche Fragen klingen verführerisch einfach. Aber wer sich auf solche Rationierung einläßt, wird sehr bald erleben, daß auch er selbst nicht ungeschoren davonkommt. Denn dann herrscht Krieg: Ein Krieg der Alten gegen die Jungen, der Raucher gegen die Trinker, der Dicken gegen die Dünnen - ein Krieg gegen anscheinend überbordende Interessen von Pflegebedürftigen und Behinderten, ein Krieg, in dem das Gesundheitswesen selektieren muß - ähnlich wie der Arzt auf dem Schlachtfeld oder während einer Katastrophe eine Selektion betreiben soll (»Triage«), um angesichts knapper Ressourcen zuerst die Patienten mit den besten Überlebenschancen zu versorgen. Wolf Wolfensberger, Professor an der New Yorker Syracuse-Universität und ein großer alter Vorkämpfer für die Rechte behinderter Menschen, spricht angesichts dieser Entsolidarisierungstendenzen bereits davon, daß sich manche Bevölkerungsgruppen - Behinderte, Alte und Benachteiligte - in Lebensgefahr befänden. Zu starke Worte? Die Kriterien sind brutal. Die britische Regierung etwa rationiert nach dem sogenannten »Humankapitalansatz«, wonach der Mensch nur noch soviel wert ist, wie er erwirtschaften kann. Kinder sind danach im Schnitt 2,5 Millionen Mark wert, Rentner überhaupt nichts, weil sie nichts mehr produzieren. Dann gibt es die sogenannte »RosserMatrix«, ein einfaches Schema, nach dem die Lebensqualität bewertet wird. Auch sie wird in Großbritannien verwertet, um den Sinn medizinischer Behandlungen einzuschätzen. Eine Operation, die auf Dauer ein schmerzfreies Leben ohne Behinderung ermöglicht, hat die besten Chancen, finanziert zu werden; wer bettlägerig bleiben oder gar auf Dauer starke Schmerzen haben wird, bleibt besser unversorgt. »Unser Gesundheitswesen sollte nicht dazu benutzt werden, das Leben von alten Menschen immer weiter zu verlängern, sondern nur, um eine erfüllte natürliche und passende Lebensspanne zu erzielen sowie im Anschluß daran Leiden zu vermeiden«, fordert der Medizinethiker Daniel Callahan in einem Buch über die Ziele des Gesundheitswesens in einer alternden Gesellschaft. In den USA, wo die medizinische Versorgung längst zu einem Luxusgut geworden ist, sind solche Vorschläge an der Tagesordnung. Über 35 Millionen Menschen, zumeist Angestellte kleiner Firmen oder Selbständige, leben dort dauerhaft ohne Versicherungsschutz, weitere 30 Millionen sind unterversichert oder zumindest zeitweilig ohne Krankenversicherung. Staatliche Hilfen im Krankheitsfall gibt es nur für Rentner (Medicare) und Arme (Medicaid). Doch diesen beiden Gruppen wird immer öfter die medizinische Behandlung verwehrt, weil die vom Staat in solchen Fällen gezahlten Sätze zu niedrig sind. Und es gibt es immer mehr Arme, die auf staatliche Hilfen angewiesen sind. Im US-Bundesstaat Oregon wurde von den Behörden daher eine Liste vorbereitet, auf der die Krankheiten verzeichnet sind, deren Behandlung der Staat demnächst noch übernehmen will. Nicht behandelt wiirde der Liste zufolge etwa ein Aids-Patient mit einer Lebenserwartung unter einem halben Jahr, aber auch bestimmte Bandscheibenschäden. Höchste Priorität hat die Behandlung offener Wunden, dann folgen Säuglingsversorgung, Prävention und Empfängnisverhütung, schließlich Infektionskrankheiten, Karies und Migräne. Dialyse, Transplantationen, kostspielige Medikamente, aber auch die Wiederbelebung oder künstliche Ernährung von Alten sind nicht vorgesehen, weil sie nur für eine geringe Verbesserung der Lebensqualität sorgen. Vielleicht ist es kein Zufall, daß gerade in Oregon die Tötung auf Verlangen erstmals legalisiert wurde. Paul Menzel, ein einflußreicher amerikanischer Gesundheitsökonom, zählt im Schlußkapitel seines Buches »Strong Medicine« (Starke Medizin) die Kosten auf, die für die 40 Versorgung todgeweihter alter Patienten aufgewendet werden und gipfelt in der Schlußfolgerung: »Zu sterben, um öffentliche Mittel zu sparen, kann die moralische Pflicht eines Staatsbürgers sein.xxv « Aus: Publik-Forum 09.08.1996 , S.8,9 Oder: Selbstbestimmtes Sterben? Die Tötung von kranken, alten und behinderten Menschen ist jener Teilbereich des industriellen Massenmordes durch die Nazis, der heute - v.a. was die Praxis betrifft - am lebendigsten ist. Vermehrt gibt es in diesem Bereich der Bioethik-Diskussion, der "Euthanasie", Vorstöße, diese zu legitimieren und legalisieren. Durchgeführt wird sie bereits. In Österreich gibt es dazu wieder eine neue Initiative. von einem TATblatt-Leser Am Mittwoch dem 25.2.98 legte eine Gruppe von ÄrztInnen, EthikerInnen und JuristInnen ein Manifest mit dem Titel Menschenwürdiges Sterben dem Nationalratspräsidenten Heinz Fischer vor. Am folgenden Tag berichtete der Kurier durchaus wohlwollend darüber. Die Gruppe der "Euthanasie"-BefürworterInnen will, daß der Nationalrat ein Gesetz erläßt, das nicht nur die Unterlassung von therapeutischen Maßnahmen, sondern auch die aktive Tötung auf Verlangen erlaubt. Die Initiative ist nicht nur als Versuch zu werten, die "Euthanasie" voranzutreiben, sie ist auch von dem Wunsch getragen, das zu legalisieren, was Fakt ist. Es wird erklärt, daß in österreichischen Spitälern die "aktive Sterbehilfe" ohnehin passiert, und die permanente Rechtsunsicherheit der ÄrztInnen beseitigt werden muß. Die VerfasserInnen des Manifests weisen freilich jede Nähe ihrer Schrift zur Praxis und Ideologie der NS-"Euthanasie" weit von sich. Das beschreibt nicht nur ihre historische Unkenntnis, sondern es wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Geisteswelt der VerfasserInnen, wenn sie von einem Mißbrauch der Euthanasie durch die Nazis sprechen. Sie sehen heute eine "Überbewertung der Medizin und Technik". Diese verdränge "zunehmend die Würde des Menschen und sein Recht auf Selbstbestimmung". Unter diese Selbstbestimmung fassen sie auch das Getötetwerden durch eineN ÄrztIn, sofern der Zustand der Kranken "unerträglich, irreversibel und todbringend ist". Damit reihen sie sich problemlos unter die befürwortenden ProponentInnen der internationalen "Euthanasie"-Diskussion. Deren Argumente werden im Folgenden kurz skizziert. Argumentationsmuster 41 "Euthanasie"-BefürworterInnen begreifen sich selbst gerne als VorkämpferInnen für Liberalität und Selbstbestimmung. Aus dem Leiden Sterbender und unheilbar Kranker leiten sie ab, daß diese lieber sterben wollen. Sie beschreiben das Leben jener als ausschließlich leiderfüllt, welches für sie wertlos und nicht zuletzt bedrohlich ist. Das zeigt ihre Unfähigkeit, sich leidender Menschen anzunehmen, sie in ihrem Leid zu begleiten. Sollte einE KrankeR den Wunsch äußern, lieber zu sterben, so stürzen sie sich triumphierend darauf, und wollen nicht sehen, in welchem gesellschaftlichen Umfeld dieser Wunsch entsteht, in dem Alte und Kranke allein gelassen werden, wo sie sich als Last fühlen müssen, ohne Chance an ihrer Situation selbst etwas ändern zu können. Viele alte Menschen haben manifeste Depressionen und die Suizidrate ist ihnen ungleich höher als bei anderen Altersgruppen. Pflegeheime stehen drohend vor ihnen. Daß die Lebenssituation in diesen Versorgungs- und Verwahrungsanstalten durch institutionelle Zwänge, durch Rücksichtslosigkeit gegenüber individuellen Bedürfnissen und dem politischen Unwillen, mehr Pflegepersonal zu finanzieren, eine unwürdige ist, hat sich schon längst herumgesprochen. Die "Euthanasie"-BefürworterInnen ignorieren jedoch hartnäckig die Forderungen der Interessensvertretungen alter und behinderter Menschen nach einem selbstbestimmten Leben. Statt dessen propagieren sie im Umkehrschluß das selbstbestimmte Sterben. Die unwürdigen Umweltbedingungen werden in Menschen hineinprojeziert, um sie dann für die Tötung freigeben zu können. Lebensqualität ist eines der Zauberwörter. Eigentlich orientiert sich Lebensqualität an subjektiven Vorstellungen der Betreffenden. Dort aber, wo der Begriff ein Kriterium im Entscheidungsprozeß über den Abbruch einer Therapie oder das aktive Töten ist, wird er mittels statistisch genormten Berrechnungsmodi, die keinen subjektiven und individuellen Vorstellungen Raum lassen, objektiviert. Lebensqualität ist somit nicht mehr etwas, das vom Individuum selbst definiert und gestaltet, sondern von Fremden ermittelt wird. Sie wird zurechtgestutzt auf eine rechnerische Größe, um sie in einer Kosten-Nutzen-Analyse verwenden zu können. Wenn die Kosten einer Therapie die zu erwartende Lebensqualität übersteigen, wird sie hinfällig. Der Tod der PatientIn ist damit errechnet. Auffallend ist auch, daß die Begriffskonstruktion Lebensqualität eine starke Akzentsetzung auf die geistigen Fähigkeiten des Menschen aufweist. Es ist somit auch ein Instrument der Selektion geistig behinderter Menschen, denen eine geringere Lebensqualität zugeschrieben wird. Die "Euthanasie" hat immer auch eine eugenische Komponente, die durch eine Unsäglichkeit des australischen Vorkämpfers für das ärztliche Morden, Peter Singer, drastisch zum Ausdruck kommt, wenn er beklagt, daß von den GegnerInnen der Euthanasie "selbst das Leben des hoffnungslosesten und unheilbar hirngeschädigten menschlichen Wesens über das Leben eines Schimpansen (ge)stellt" wird. In der ganzen "Euthanasie"-Diskussion wird der behinderte Mensch lediglich als finanzielle, psychische und soziale Last gesehen. Es wird unterstellt, daß er sich selbst nichts als eine Qual sei - und auch der Allgemeinheit. Behinderung wird als Übel definiert. Eltern sind nach dieser Doktrin von diesem Übel zu befreien, d.h. ein behindertes Neugeborenes soll keine medizinische Hilfe zum Überleben erhalten, oder auch - in der extremeren Variante - wenn diese Hilfe nicht notwendig ist, umgebracht werden. Die Tötung des Kindes soll auch die Eltern motivieren, ein weiteres Kind zu zeugen, das dann vielleicht der Norm entsprechend auf die Welt kommt.(1) 42 Durch diese Argumentation sehen sich behinderte Menschen ständig damit konfrontiert, daß ihnen die Existenzberechtigung abgesprochen wird. Wenn in die Debatte die Formel vom selbstbestimmten Sterben eingeworfen wird, so ist das purer Zynismus. Die "Euthanasie" ist keine Serviceleistung, sondern ein mörderisches Mittel der Selektion. Jene, denen kein Nutzen mehr abgerungen werden kann, werden aussortiert. Auf die dabei erreichte Kostenersparnis wird schamlos hingewiesen. Das Leben von Menschen, die der Assistenz und Pflege bedürfen, wird gegen angebliche und tatsächliche finanzielle Belastungen aufgewogen. Einzelinteressen und individuelle Handlungen werden nach ihrer objektiven Nützlichkeit untersucht, diese Nützlichkeit wird gegen ein unterstelltes Allgemeininteresse aufgewogen. Utilitarismus oder praktische/angewandte Ethik nennt sich dieser Prozeß, an dessen Ende ein Todesurteil stehen kann. Sollte es zu einer gesetzlichen Legalisierung des ärztlichen Tötens kommen, so wird es aller Voraussicht nach eine in der ganzen EU vereinheitlichte und gültige Regelung sein. Daher lohnt es, sich die Gegebenheiten in anderen EU-Staaten anzusehen, um die Bedingungen zu begreifen, aus denen ein solches Gesetz entstehen könnte. Exemplarisch soll das hier anhand dreier Beispiele geschehen. Großbritannien Durch Budgetkürzungen beim britischen National Health Service, dem öffentlichen Gesundheitsdienst, sind ÄrztInnen angehalten, teure Leistungen nach bestimmten Kriterien, vornehmlich Alter, aber auch geistige und körperliche Behinderung, Diabetes oder mangelnde familiäre Unterstützung, zu verordnen. Der Wert einer Behandlung wird gegen ihre Kosten aufgewogen, die medizinischen Handlungsrichtlinien werden durch Ökonomische ersetzt. Der Wert einer Therapie wird errechnet mittels der dadurch zu erwartenden Lebensqualität(2) in Verbindung mit den gewonnenen Lebensjahren. Das nennt sich dann Qualy (quality adjusted life year), etwa mit Qualitätsjahren zu übersetzen. Sind bei einer Behandlung nur wenige Qualitätsjahre zu erreichen, so wird sie aufgrund der Kosten unterlassen und oft der Tod der PatientIn festgelegt. Niederlande Die Niederlande nehmen hinsichtlich des ärztlichen Tötens eine internationale Vorreiterrolle ein. Die aktive Tötung, also nicht nur die Verweigerung oder der Abbruch einer Therapie, ist zwar prinzipiell verboten, wurde aber bis Anfang der 90'er Jahre nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Eine Regierungskommission zählte 1991 7000 Fälle, bei denen PatientInnen ohne ihre Einwilligung oder ihr Wissen getötet wurden. Das sind mehr als 5% der jährlichen Todesfälle in ganz Holland. Soviel zum Stichwort selbstbestimmtes Sterben. Zwei Jahre später wurde ein "Euthanasie"-Gesetz erlassen. Dieses erlaubt unter bestimmten Voraussetzungen (u.a. Einwilligung der Patientin) die Tötung durch die ÄrztIn und macht sie meldepflichtig. Dieses Gesetz wäre schon schlimm genug. Es gibt aber auch eine Menge begründeter Befürchtungen, daß die Voraussetzungen oft nicht gegeben sind und die 43 Meldepflicht nicht eingehalten wird. Deutschland Die explizite Tötung einer PatientIn ist in Deutschland strafbar, sowie es der Abbruch bzw. die Verweigerung einer lebenserhaltenden medizinischen Behandlung im Sinne der Unterlassung ist. Die Bundesärztekammer hat in ihrem 1997 erlassenen standesrechtlichen Kodex Richtlinien zur ärztlichen Sterbebegleitung und Grenzen zumutbarer Behandlung die Behandlungsbegrenzung, wie sie es nennen, und die daraus resultierende Tötung zur therapeutischen Maßnahme erklärt. Das Behandlungsende kann also genauso wie eine Behandlung ärztlich verordnet werden. Damit wurde die "Euthanasie" faktisch legalisiert, ohne daß sie gesetzlich erlaubt wäre, da das Beenden einer Therapie keine strafbare Unterlassung mehr ist, sondern zur medizinisch indizierten Maßnahme umgedeutet wurde.(3) Nicht nur bei Sterbenden darf eine weitere Behandlung als unzumutbar definiert werden, sondern auch bei unheilbar Kranken, die, wie ausdrücklich festgehalten wird, "vor der Finalphase menschlichen Lebens stehen". Unheilbare Krankheiten gibt es im klinischen Sinne viele: einige Krebsarten, Multiple Sklerose etc. Der Zeitpunkt der Behandlungsbegrenzung ist nicht fixiert, er könnte also bis zur Diagnose vorverlegt werden. Unheilbar Kranke werden in den Richtlinien noch in drei Gruppen unterteilt, deren Definition aber sehr schwammig bleibt. So gibt es eine große Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten. Es sind "PatientInnen mit infauster (=aussichtsloser; Anm.) Prognose und rasch fortschreitendem Krankheitsprozeß", Menschen im Wachkoma(4) und "Neugeborene mit schwersten kongenitalen (=angeborenen; Anm.) Fehlbildungen", deren Leben nur mit technischen Hilfsmitteln erhalten werden kann. Bei diesen drei Gruppen müssen für die Tötung durch den Therapieabbruch zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Die Einwilligung der PatientIn muß vorliegen, und eine sogenannte Basisversorgung muß geleistet werden. Diese umfaßt Zuwendung, Körperpflege, Schmerzlinderung, Flüssigkeitszufuhr, Freihalten der Atemwege und natürliche Ernährung. Die medizinische Fachliteratur schließt nicht nur die Nährinfusion, sondern auch die Sondenkost über den Magen von der natürlichen Ernährung aus. D.h. die PatientIn darf, wenn sie nicht essen kann, durch Verhungernlassen getötet werden. Bei den Sterbenden wird nicht auf die Einwilligung und die Basisversorgung hingewiesen. Der Tod kann hier also auch durch Ersticken- und Verdurstenlassen provoziert werden. Regelung bezüglich der Erklärung des Willens der Betreffenden: Für Neugeborene wird diese wohl von den Eltern gegeben. Bei einwilligungsunfähigen Personen ist die ÄrztIn aufgefordert, ihren mutmaßlichen Willen (sic!) festzustellen. Dabei sollen religiöse Überzeugung und allgemeine Lebenseinstellung der Betreffenden in Betracht gezogen werden, "als auch Gründe, die die Lebenserwartung und die Risiken bleibender Behinderung sowie Schmerzen betreffen". Ist der mutmaßliche Wille nicht feststellbar, so kann über Gericht eine Person bestellt werden, die die Einwilligung zur Tötung geben darf. 44 Es wurde hier versucht zu zeigen, daß die "Euthanasie" keine Zukunftsvision ist. Sie ist bereits betriebene Praxis. Sie steht in einer langen Kontinuität (vgl. ökonomische und eugenische Argumentationsmuster), die im deutschen Faschismus ihren Höhepunkt erreicht hat, aber bis ins Ende des 19. Jh. zu verfolgen ist. Ist die Tür einmal geöffnet und die Tötung nur weniger legitimiert, kann die Argumentation unbegrenzt erweitert werden. Das ärztliche Morden wird nicht nur von ein paar Leuten mit Allmachtsphantasien, sondern von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen. Diesen gilt es zu brechen. Für ein selbstbestimmtes Leben! ausgewählte Literatur: BioSkop e.V. "Umgepolte Berufsmoral" in: die randschau 2/97 O. Tolmein "Der vermessene Mensch" in: ders. "Wann ist der Mensch ein Mensch?" U. Sierck "Die neue 'Euthanasie'-Diskussion" in: ders. u. D. Danquart "Der Pannwitzblick" Fußnoten: 1.) In den USA klagten Eltern ein Spital auf Schadenersatz, weil dieses die lebenserhaltenden Maßnahmen nach der Geburt des schwer behinderten Kindes nicht verweigerten. Das Geschworenengericht gab den Eltern recht und das Spital mußte an sie 166 Mio. öS zahlen, weil es die Tötung des Kindes verweigerte. (Standard 19.1.98) [zurück] 2.) Die Lebensqualität wird in GB mit der Rosser-Matrix ermittelt. Die Idealnote 1 erhält ein Leben ohne Schmerzen und Behinderung. Ein Leben im Rollstuhl mit starken Schmerzen wird mit dem Tod gleichgesetzt. Beides wird mit Null benotet. Bettlägrige PatientInnen liegen mit minus 1,486 darunter. Dies läßt leicht erkennen, wie hier das Leben relativiert wird. [zurück] 3.) Auf diese Weise sparte mensch sich die mühevollen demokratiepolitischen Instanzen und störende öffentliche Debatten, die es bei einer gesetzlichen Regelung gegeben hätte. Die Richtlinien wurden von einem nicht-gewählten siebenköpfigen Gremium unter Ausschluß der Öffentlichkeit beschlossen. [zurück] 4.) Wachkoma (apallisches Syndrom) ist eine spez. Art der Bewußtlosigkeit, die ev. sehr lang dauern kann. Manche Menschen wachen überhaupt nicht mehr auf, andere erholen sich sehr gut. xxvi [zurück] aus: TATblatt Nr. +93 (5/98) vom 12. März 1998 (c)TATblatt Alle Rechte vorbehalten Nachdruck, auch auszugsweise, nur in linken, alternativen und ähnlichen Medien ohne weiteres gestattet (Belegexemplar erbeten)! In allen anderen Fällen Nachdruck nur mit Genehmigung der Medieninhaberin (siehe Impressum) 45 Oder: Verwissenschaftlichung der Rationierung Wer zahlt schon gern für andere mit, wenn es nicht sein muß. Der Verursacher von Schäden soll für ihre Beseitigung selbst geradestehen. Dieses Verursacher-Prinzip harmoniert mit der Sichtweise von Gesundheit als Konsumgut. Damit kombinieren lassen sich Konzepte, die an der Effektivität des Gesundheitswesens ansetzen: Wie läßt sich mit einem begrenzten Mitteleinsatz ein möglichst großer Output an Gesundheit erwirtschaften, lautet die Frage. Sie mündet folgerichtig in die Aufstellung von “Hit-Listen” der effektivsten medizinischen Leistungen und der aussichtsreichsten Patienten. Dafür muß Gesundheit berechenbar gemacht werden. Gesundheitsökonomen arbeiten daran, den Erfolg des Gesundheitswesens unabhängig vom Urteil der Patienten und Patientinnen meßbar zu machen. Auf dieser Grundlage ließen sich dann Entscheidungen wissenschaftlich unterfüttern, welche medizinischen Behandlungen grundsätzlich notwendig und welche verzichtbar sein sollen. Ein bekanntes Verfahren, das angewandt wird, um den Erfolg medizinischer Eingriffe zu beziffern, beruht auf der Berechnung “qualitätskorrigierter Lebensjahre”, sogenannter QUALYs. Demnach läßt sich jedes menschliche Leben durch zwei Dimensionen beschreiben: die “Lebensqualität” und die “Restlebenserwartung”. Die Lebensqualität kann zwischen 0 (=Tod) und 1 (=bestmöglicher Gesundheitszustand) variieren. So läßt sich - in der Tradition von Kosten-Nutzen-Analysen, wie sie in der Finanzwissenschaft entwickelt wurden - darstellen, mit welchem Mitteleinsatz wieviel “Lebensqualität” zu erwirtschaften ist. (Graf von der Schulenburg u.a. 1994) Operationen, die auf Dauer ein schmerzfreies Leben ohne Behinderung ermöglichen, haben demnach eine höhere Priorität, finanziert zu werden als solche, die Schmerzen bloß lindern und Behinderungen nicht verhindern. Die Unterscheidung in lebenswertes und lebensunwertes Leben kleidet sich in Wissenschaftlichkeit. In der “Rosser-Matrix”, die in Großbritannien benutzt wird, um den Sinn medizinischer Behandlungen einzuschätzen, hat beispielsweise das Leben eines unter starken Schmerzen leidenden Rollstuhlfahrers den Wert Null - genauso wie der Tod. (Kurbjuweit 1992, 38) Deutsche Gesundheitsökonomen verweisen seit einigen Jahren vermehrt auf Vorbilder im Ausland, von denen es zu lernen gelte. Ihre wissenschaftlichen Ansätze sind in der Tat praktikabel, anwendungsnah, entscheidungsleitend, gesellschaftsgestaltend. Drei solcher “Vorbilder” seien hier kurz vorgestellt: * Die US-amerikanische Studie “The Economics of Dying” kommt zu dem Schluß, daß die höchsten Kosten, die ein Patient durch seine gesundheitliche Betreuung verursacht, im letzten Jahr seines Lebens anfallen. Drei Wege 46 stellen die Autoren der Studie zur Diskussion: Die Pflege in einem Hospiz statt in einem teuren Krankenhaus; die Formulierung von “Richtlinien für die Vermeidung vergeblicher medizinischer Maßnahmen” und die Abgabe von Erklärungen, daß man im Falle aussichtloser Krankheit keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünscht (living will). 29,7 Milliarden Dollar, rechnen die Wissenschaftler vor, ließen sich durch Kombination dieser drei Wege einsparen. Diese Kostensenkung durch die billigere Behandlung Sterbender sei allerdings zu gering, um damit die Gesundheitsreform zu finanzieren. (Emanuel/Emanuel 1994, 540 ff.) * In Großbritannien gibt es Altersgrenzen für Dialyse. Wer mit sechzig Jahren schwer an den Nieren erkrankt und die teure Blutwäsche nicht privat zahlen kann, muß sterben. (Kurbjuweit 1992, 37) * In Oregon stellte eine von der Regierung beauftragte Kommission für die Mitglieder der Armenversicherung “Medicaid” eine Prioritätenliste medizinischer Leistungen zusammen. An oberster Stelle stehen präventive Leistungen. Sie sollen am meisten Gesundheit zu den geringsten Kosten bringen. Nach Position 565 der insgesamt 696 Leistungen setzte die Kommission den Rotstift an. Diese Leistungen werden von der Versicherung nicht finanziert. Der Direktor der Kommission betont, daß die Liste unter Bürgerbeteiligung demokratisch erstellt wurde und in vorbildlicher Weise medizinische Fakten und Wertvorstellungen der Bevölkerung in Einklang bringe. Über Anhörungen und eine Telefonumfrage hatte man 3.500 BürgerInnen ins medizinische “ranking” einbezogen. Die Kommission war eingesetzt worden, nachdem es 1987 zu Protesten gekommen war, weil Organtransplantationen ohne öffentliche Debatte aus finanziellen Gründen verweigert worden waren. (Sipes-Metzler 1994, 305 ff.) Service-Ethik für die Rationierung Das “moralische Erlaubnis” dieser Rationierungen erteilt die utilitaristische Güterethik, ein Zweig der Bioethik, der in den letzten Jahren Karriere gemacht hat. Sie definiert ein Ziel, etwa das großtmögliche Lebensglück für die größtmögliche Patientenzahl, und beurteilt alle möglichen Maßnahmen danach, ob sie diesem Ziel nützen. Der Ansatz eignet sich zur Legitimation für jede Art von bevölkerungsbezogenen Maßnahmen. Denn er abstrahiert vom Individuum; anders als ein Arzt, der das Wohl eines konkreten Patienten im Blick haben muß. Dadurch wird es möglich, “Leben” und “Glück” verschiedener Menschen miteinander zu verrechnen. Aufgestellt werden etwa Rechnungen zwischen den “Kosten”, die ein möglicherweise behindertes Kind verursachen würde, indem es das Glück der Eltern und Geschwister mindert, sowie dem zu erwartenden Nutzen seiner Geburt. Stets urteilen Bioethiker 47 aus großer Distanz, aus der Vogelperspektive blicken sie auf die Gesundheitsstrukturen herab. Verteilungsprobleme gehören zu ihren Forschungsfragen, etwa die, nach welchen Kriterien “gerecht” entschieden werden soll, wer zuerst eine Niere oder ein Herz transplantiert bekommt. Gewissenskonflikte kann ein Utilitarist nicht kennen. Erlaubt die Nützlichkeits-Ethik es doch, stets eine in sich schlüssige, bestechende und eindeutige Argumentation, ein ethisches “Patentrezept”, zu liefern. Solche einfachen Problemlösungen bestätigen die immanente Logik und Dynamik der ökonomischen und technischen Sachzwänge. So leisten die Bioethiker die Anpassung der Moral an die - vermeintlich unabänderliche - technische “Entwicklung” und die Rationierung. Wo aber allein Sachzwänge regieren, endet die Politik. Doch so muß es, so soll es unserer Meinung nach nicht kommen. Einige unserer persönlichen und politischen Wünsche, Ideen und Anregungen finden Sie im folgenden, abschließenden Kapitel.xxvii Oder: F Die ROSSER-MATRIX zur Bewertung von Lebensqualität kein Behinderungsgrad Schmerz milder mäßiger schwerer Schmerz Schmerz Schmerz Keine Behinderung 1,000 0,995 0,990 0,967 Geringfügige gesell. Behinderung 0,990 0,986 0,973 0,932 Schwere gesell. Beh. u./od. Beeinträchtigung bei der bei der Arbeitsverrichtung 0,980 0,972 0,956 0,912 Starke Beeinträchtigung bei der Arbeitsverrichtung 0,964 0,956 0,942 0,870 Keine Möglichkeit zur Ausübung bezahlter Tätigkeiten. Alte Leute sind bis auf kurze Spaziergänge an das Haus gebunden, sie können nicht mehr alleine einkaufen gehen. 0,946 0,935 0,900 0,700 An den Stuhl oder den Rollstuhl gebunden, häusliche Bewegung ist nur noch mit Unterstützung möglich 0,975 0,845 0,680 0,000 An das Bett gebunden 0,677 0,564 0,000 -1,486 --- --- --- Bewusstlos -1,028 48 D:\68617081.doc Abbildung 1: Rosser-Matrix-Tabellebb 8. Vorlesung: 29.11.2005 Wiederholung letzte Vorlesung Naturwissenschaftliche Medizin Genetik Humangenetik Wiederholung mit Überleitung Wohin kann die naturwissenschaftliche Medizin hinführen? - wo die Krankheit zum Objekt wird - wo der Fokus auf dem Menschen als Objekt liegt: Vergegenständlichung Subjektverlust Depersonalisierung Naturwissenschaftliche Medizin bis 1933 a) Naturwissenschafter Es wäre völlig einseitig dargestellt, würde nicht zumindest erwähnt werden, dass die ersten beiden Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts auch jene historische Zeitspanne war, in der Naturwissenschafter wie Max Planck (Quantentheorie), Albert Einstein (Relativitätstheorie), Ernest Rutherford (Beschreibung des radioaktiven Zerfalls und des Atomkerns) und Niels Bohr (Atommodell) sowie Sigmund Freud (Psychoanalyse) das Weltbild und Selbstverständnis des modernen Menschen änderten. Es waren auch jene Jahre, in denen beispielsweise Martin Buber sein Dialogisches Prinzip niederschrieb, das als Gegenentwurf zum materialistischen Welt- und Menschenverständnis der Zeit verstanden werden muss. (Strachota 2002, 167) b) Entdeckungen/Erfindungen Ganz wesentliche Entdeckungen und Erfindungen sollten bald den medizinischen Alltag verändern, einige wenige seien an dieser Stelle exemplarisch genannt. 1901 gelang dem Serologen Karl Landsteiner (war früher auf den „1000-Schilling-Scheinen“ abgebildet) die exakte Beschreibung des Blutgruppensystems „ABO“, was vor allem für die Chirurgie folgenreich wurde (OP’s wurden dadurch viel leichter möglich gemacht, oder zum Beispiel Blutersatzsachen). 1902/03 wurden vom Holländer Einthoven erstmals die elektrischen Herzströme apparativ aufgezeichnet (Elektrokardiogramm – EKG), der erste Stromelektrokardiograph kam 1911 zur Anwendung. 1924 gelang dem Deutschen Berger erstmals die Messung der Gehirnströme (Elektroencephalogramm – EEG). Bereits um die Jahrhundertwende beobachteten so manche Bakteriologen, „dass einige der Krankheitserreger so klein waren, dass man sie weder mikroskopisch erkennen, noch mit dem von Charles E. Chamberland (1853-1933) entwickelten und nach ihm benannten Bakterienfilter gewinnen konnte. Solche Erreger galten als „ultraversibel“ und man gab ihnen die Namen „Viren“ (Eckart 1994, 280; Hervorhebung im Original, n. Strachota 2002, 167). Das erste dieser Viren, das sich aufgrund seiner Größe gerade noch mit Hilfe normaler Lichtmikroskopie (diese technische Errungenschaft, wie gegen Ende der 20er Jahre auch die Elektronenmikroskopie, machte eine Analyse von subzellulären Strukturen möglich. Die naturwissenschaftliche Medizin dringt also in immer kleiner werdende Einheiten des menschlichen Organismus vor) darstellen ließ, war der 49 D:\68617081.doc Pockenerreger (Violavirus), dessen Nachweis 1906 dem Bakteriologen Enrique Paschen gelang; mit dieser Entdeckung wurde die Ära der Virologie eingeleitet. Ganz entscheidende Fortschritte in diesem Forschungsbereich wurden wiederum durch die technische Verbesserung der Mikroskopie ermöglicht: Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts gelang einer Forschergruppe um Max Knoll „eine neue überraschende Entdeckung, die Elektronenmikroskopie, die abermals die Erweiterung um eine ganze Dimension ins Spiel brachte und damit den Zugang zu einer völlig neuen Welt“ (Schipperges 1990, 44, zit. n. Strachota 2002, 168). Die neue Dimension bestand in der nunmehr möglichen Analyse subzellulärer Strukturen: Der forschende Blick drang mit apparativer Hilfe immer tiefer in den menschlichen Organismus ein; um 1930 war eine Vergrößerung um das 12 000fache möglich, heute sind „bereits Vergrößerungen um das 100 000fache an der Tagesordnung“ (a.a.O.). Eine der bedeutendsten Entwicklungen vollzog sich im Bereich der Erblehre, daher wird die Geschichte der (Human-)Genetik im folgenden ein wenig ausführlicher dargestellt.(Strachota 2002, 168). Die Genetik gilt als die Jahrhundertwissenschaft und ihre Erkenntnisse haben neue Dimensionen und einen neuen Zugriff eröffnet. Genetik8 Die Geschichte der Genetik beginnt um die Jahrhundertwende, und zwar mit der Wiederentdeckung der Mendelschen Erblehre9, womit zugleich die „Geschichte der Jahrhundertwissenschaft“ beginnen konnte (Fischercc1988, 26, zit. n. Strachota 2002, 168). Die Entwicklung von der Erbsenlehre zur Menschenerblehre vollzog sich in mehreren Schritten, welche an dieser Stelle nicht ausführlich dargestellt, sondern allenfalls angedeutet werden können. Zunächst musste nachgewiesen werden, dass die Mendelschen Regeln auch für Tiere Gültigkeit besaßen; mit der Erkenntnis, dass die Vererbungsmechanismen bei Tieren und Pflanzen im Prinzip die gleichen sind, wurde die „altehrwürdige Unterscheidung zwischen Zoologie und Botanik“ (Vogeldd1989, 2, zit. n. Strachota 2002, 168) für die Genetik aufgehoben. Die Genetik ging aber auch mit der Zellforschung (Zytogenetik), Physik und Chemie und letztlich mit der Molekularbiologie eine sehr fruchtbare Verbindung ein, die weitreichende Konsequenzen haben sollte.(Strachota 2002, 168). Warum „Genetik“? Im Jahre 1906 hat diesen Begriff ein Engländer namens William Bateson vorgeschlagen. Genetik (-> Genese = Entwicklung, Genesis = Ursprung, Gattung, Gesamtheit der Nachkommenschaft => Generation). Der Begriff Genetik hat sich durchgesetzt letztlich. Däne Johansson -> 1909: Vorschlag der materiellen Basis eines … als Gen vorzuschlagen. 8 Die Geschichte der Rassenhygiene und Genetik vgl. Weingart u.a. (1992, 320 ff., zit. n. Strachota 2002, 168) sowie zur Beziehung der Rassenhygiene und Genetik im NS-Regime ebenfalls Weingart u.a. (a.a.O., 543 ff.) 9 Bereits 1866 veröffentlichte Pater Gregor Mendel die Ergebnisse seiner heute berühmten Erbsenversuche, womit er die Regeln angab, nach denen die Vererbung vor sich geht. Mendel entdeckte darüber hinaus auch auf Grund seiner Ergebnisse die später so genannten Gene – er selbst nannte sie „Elemente“ und gab einige ihrer Eigenschaften an (Fischer, 1988, 23, zit. n. Strachota 2002, 168). Nach Abschluss seiner Experimente wurden Mendels Erbsen von einem Käfer befallen, er selbst wenig später zum Klosterabt gewählt, weshalb er seine Kreuzungsversuche aufgab. Mendel starb im Jahre 1884, seine Arbeiten waren zu diesem Zeitpunkt bereits vergessen (a.a.O., 24). 50 D:\68617081.doc Heute ist „Gen“ der biologische Fachausdruck für die in den Chromosomen befindlichen Erbanlagen. Also die Chromosomen sind die Träger der Erbanlagen. Weiter Strachota (169 f.): Schon zu Beginn des 19.Jahrhunderts war die Zelle als Grundbaustein aller lebenden Organismen erkannt worden. In der Zwischenzeit hatte man „mit dem Mikroskop im Zellinneren Gebilde entdeckt, die sich unmittelbar vor einer Zellteilung selbst der Länge nach spalteten und anschließend in gleicher Zahl den beiden Tochterzellen zugeordnet wurden. Diese Strukturen waren entdeckt worden, weil sie sich gut anfärben ließen. So erklärt sich auch ihr Name: ‚Chromosom’, ‚färbige Körperchen’“ (Fischer 1988, 26, zit. n. Strachota 2002, 169). Bereits 1903 wurde erkannt, dass sich diese seltsamen Bewegungen der Chromosomen dann erklären ließen, wenn man sie als Träger der von Mendel postulierten Erbanlagen – der ‚Gene’, wie sie später genannt wurden – annimmt (Vogel 1989, 3, zit. n. Strachota 2002, 169). Im Jahre 1910 veröffentlichte der Amerikaner Thomas H. Morgan seine erste Abhandlung über die Fruchtfliege Drosophila, einer Fliege, die sich als ideales Studienobjekt der Genetiker erweisen sollte und mit deren Hilfe es gelang, die klassische Genetik in den folgenden 20 Jahren zu perfektionieren (Fischer 1988, 29, zit. n. Strachota 2002, 169). Hermann Muller, ein Schüler Morgans, stellte 1927 nach Versuchen an der Drosophila fest, dass mit Hilfe von Röntgenstrahlen erstens künstliche Mutationen hervorgerufen werden konnten, und zweitens die Zahl der Mutationen in der Fliege vergrößert werden konnte. Damit wurde deutlich, dass „Gene offenbar Bauteile der Zellen sind, die von Strahlen getroffen werden können“ (a.a.O., 34). Ende der 30er Jahre wusste man im Grunde fast alles über die Gene (Ort in der Zelle, Wirkung im Organismus, Veränderbarkeit etc.). Was man aber nicht wusste, war, was die Gene selbst sind: Sie waren immer noch hypothetische Gebilde, denn man konnte nur die Chromosomen unter dem Mikroskop sehen, nicht die Gene. Die Analyse der Chromosomen ergab, dass sie verschiedene Proteine und Nukleinsäuren enthielten, beide Substanzen waren damals allerdings bloße Namen, man wusste nicht allzu viel von ihnen. Der chemische Name „Nukleinsäure“ kommt daher, weil diese Substanz zuerst aus Zellkernen (lateinisch: nucleus) isoliert werden konnte und sich chemisch wie eine Säure verhält. 1952 wurde dann bewiesen, dass Nukleinsäuren „der Stoff sind, in dem die Natur unser Erbe angelegt hat“ (Fischer 1988, 42, zit. n. Strachota 2002, 169); jene Nukleinsäure, „die die Natur als Erbanlage verwendet“, heißt: Desoxyribonukleinsäure (DNS). Die DNS ist „der Stoff, aus dem die Gene sind“ (a.a.O.). Die Struktur der DNS wurde 1953 von James Watson und Francis Crick entdeckt: Es ist die Doppelhelix. Die molekularbiologischen Forschungsergebnisse hinsichtlich des biochemischen Aufbaus der DNS ergaben, dass ein DNS-Molekül aus vier verschiedenen Blöcken besteht, die sich untereinander durch sog. Basen unterscheiden; sie sind im Innern des DNSFadens aneinandergereiht, ihre Reihenfolge und Anordnung nennt man heute: Sequenz der DNS. Die Basensequenz dient zur Anleitung für den Bau von chemischen Stoffen, den Proteinen, die wie die DNS kettenförmig gebaut sind. An die Stelle der Basensequenz tritt allerdings bei den Proteinen eine Folge von sogenannten Aminosäuren. In den Zellen gibt es nun einen molekularen Apparat, der die eine Sequenz in die andere überträgt und dabei Proteine herstellt, wobei er dazu eine andere Form der Nukleinsäuren verwendet, die Ribonukleinsäure (RNS). Bei der Übersetzung der Basensequenz (DNS) in die Reihenfolge der Aminosäuren hilft der „genetische Code“, der in den 60er Jahren entschlüsselt wurde (Fischer 1988, 44, zit. n. Strachota 2002, 170). 51 D:\68617081.doc Mit der Entschlüsselung des genetischen Codes wurde die Genetik „eigentlich langweilig. Plötzlich war der Dampf raus. Das genetische Rätsel des Lebens schien gelöst und alle Spannung war wie weggeblasen“ (a.a.O., 45, zit. n. Strachota 2002, 170). Spannender wurde es wieder mit der Entdeckung der so genannten RestriktionsEndnukleasen10 Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. Mit dieser Entdeckung waren die Voraussetzungen für die sensationellen Entwicklungen der Gentechnik gegeben, auf die im weiteren nicht eingegangen werden kann. (Strachota 2002, 170) All diese Entwicklungen und Entdeckungen haben also dazu geführt, dass es zu einer schlagartigen Verbreitung der Gentechniken und Forschungsgebiete kam: Neue Techniken (siehe auch Folie im Anhang) „Wir haben zwar noch nicht alle geklärt, wissen aber, dass wir alle Antworten finden werden“ (aus: Qualtinger: „Da Wüde mit seina Maschin’“) Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms (Genom = die Gesamtheit aller Gene im einfachen Chromosomensatz einer Zelle, Quelle: Strachota). „Human Genome Organisation“, kurz „HUGO“: ist ein öffentliches Humangenomprojekt (heute eingestellt, war weltweit). HUGO wurde 1989 gegründet und organisierte verschiedene nationale Projekte. Im Oktober 1990 wurde es offiziell gestartet. Es war ausgestattet mit 3 Mrd. Dollar (v.a. Steuergelder, Pharmakonzerne). Ziel: bis 2005 die vollständige Entschlüsselung des Genoms! Man führe sich hierfür vor Augen, dass das Genom – oder der „Text des menschlichen Genoms“ – aus ca. 3 Milliarden Buchstaben besteht. Diese 3 Milliarden sollten bestimmt werden (alleine schon ,wenn man nur von 1 – 3 Milliarden zählen würde, das heißt jede Sekunde eine Zahl, dann würde man alleine schon 80 Jahre brauchen, um bei dieser riesigen Zahl anzugelangen). Was man auch weiß ist, dass in jeder Zelle etwa 2m DNA sind: also die gesamte DNA aller Zellen, die gesamte DNA eines erwachsenen Menschen: würde man diese nun auseinanderziehen, dann ergäbe das eine unglaubliche Entfernung. Ein kurzer Blick zurück zur „Entschlüsselung“ allgemein: Diese ginge viel schneller und zwar deswegen, weil ein Amerikaner namens Venter ein Privatunternehmen „Celeral Genomics“ gegründet hatte. Er und sein Team haben das menschliche Genom mit einer abweichenden Methode sequenziert. Es kam zu einem enormen Wett- und Konkurrenzkampf, jeder wollte „es schneller schaffen“. „HUGO“ sollte sich das nicht nehmen lassen und arbeitete auf Hochtouren. Eine Einigung konnte man mit der Konkurrenz erzielen: Man wollte die Ergebnisse gleichzeitig publizieren, und tat dies auch im Februar 2001 - hier wurde die 1. Arbeitsversion veröffentlicht: Ergebnis war: „HUGO“ sequenzierte 90%, Venter und sein Team sequenzierten 99%, 1% war nicht sequenzierbar. 10 Die Restriktions-Endnukleasen sind so zu sagen molekulare Scheren, die den DNS-Faden so durchtrennen, dass an der Schnittstelle zwei winzige Einzelstränge an den Enden zurückbleiben (bei einem Schnitt durch eine Doppelhelix erhält man zwei Stücke). Da beide Schnittstellen wieder verbunden werden können, werden diese als „klebrige Enden“ bezeichnet. Wenn man „zwei verschiedene genetische Moleküle aus DNS mit demselben Scherenprotein durchtrennt, lassen sich nicht nur die klebrigen Enden aus einem DNS-Molekül zusammenleimen, sondern auch die aus den beiden unterschiedlichen Molekülen. DNS lässt sich auf diese Weise neu kombinieren“ (Fischer 1988, 48 f., zit. n. Strachota 2002, 170). 52 D:\68617081.doc Heute ist das Projekt abgeschlossen. Eine komplette Entzifferung des menschlichen Genoms ist somit keinem gelungen (mehr dazu im Anhang). Man hatte zwar Daten, aber man kennt die funktionelle Zuordnung nicht. Diese Dekodierung (wo es um die „Sinne des Textes“ geht => wird noch viele Jahrzehnte dauern) des Projekts. Ziel ist es in Zukunft Krankheiten abzuschaffen und in weiterer Folge eine „optimale Entwicklung von Therapien“ zu finden, die natürlich auch wirksam sind (=> „Gentherapien“) Ad Therapeutische Konsequenz Man hat schnell erkannt, dass das menschliche Erbgut auch im lebenden Menschen zu verändern ist: Gentherapie => Direkte Einwirkung oder direkter Eingriff in die menschliche Zelle. Somatische Gentherapie: ist auf die Keimzellen beschränkt. Keimbarentherapie. Veränderungen aufgrund eines Eingriffs werden auf die Nachkommen weitergegeben. Krankheiten, die über diese Therapien entdeckt werden sind oftmals genetisch-bedingte Krankheiten. Etwa 4% aller Neugeborenen: haben eine Teil- oder Ganzbedingte genetische Fehlbildung/Veranlagung, die zahlen schwanken jedoch. Das heißt, dass jene 1% : Monogene Erbkrankheiten sind, d.h. ein Gen verursacht bestimmte durch oben genannte Krankheiten. Weiters ausgemacht werden ca. 0,5% : Chromosomenstörungen => spontane Mutationen (Bsp.: „Down-Syndrom“11ist keine Erbkrankheit)-> betreffen 98% der menschlichen Krankheiten nicht. Und 1,5% : sind Multifaktorielle Erkrankungen, d.h. teilweise genetisch verursacht. Ad Gentherapie: Diese erschien Forschern als erfolgreich, da es sich um Monogene handelte. Die „Zystische Fibrose“ oder „Mukoviszidose“ = Monogene Erbkrankheit = Stoffwechselstörung, bei der es zu einer Verschleimung der Lungen kommt. Die Mukoviszidose galt oder gilt als „Modellerkrankung“ für die Gentherapie, sie, also die Krankheit wurde bereits 1985 entdeckt. Sie ist nicht gentherapeutisch behandelbar. Mittlerweile gibt es mehrere 100 (ca. 500) Mutationen davon (dieses cystischen Fibrinogens). Weiters ist auch bekannt, dass (500) Personen mit derselben Mutation schon in der Kindheit sterben oder über 40 werden oder gar nicht daran erkranken. Das ist eine große Komlexität und das bei monogenentisch verursachten Krankheiten. Was bewirkt eine Genveränderung? Gibt bis heute ein ziemliches Rätsel auf. Behandlungen liefen bisher ohne nennenswerten Erfolg. 11 1866 hat der Engländer John Langdon-Down die später nach ihm benannte Merkmalskombinationen in klassischer Weise beschrieben: rundlicher Minderwuchs, kurzer kleiner Schädel, schräge Augenstellung bei weitem Augenabstand, Hautfalte über dem inneren Lidwinkel (Epikanthus), breite Nasenwurzel, tief sitzende Ohren, grob gefurchte und auffallend große Zunge, kurze Finger bei breiter Hand mit tiefer Vierfingerfurche quer durch die Hohlhand. (Hensle & Vernoiij 2000, 159). 53 D:\68617081.doc Es werden viele Forschungsgelder in dieses Projekt gesteckt. Genetisch-Mitbedingt Gen für … Schizophrenie oder Fettleibigkeit. Immer mehr Krankheiten scheinen laut Genetik als genetisch (mitbedingt) verursacht zu sein. Wenn man heute sieht, für welche Krankheiten oder Macken und Maroden sogar Gene verantwortlich gemacht werden, dann muss man die Ernsthaftigkeit dieser Behauptungen tatsächlich einmal hinterfragen. Homosexualität wird übrigens auch auf ein Gen zurückgeführt. Exkurs 17.Jahrhundert - Ende des 17. Jahrhunderts waren „Theatromechanistische Vorstellungen“ über Krankheit sehr zentral. Und genau hier, in diesen Vorstellungen wurzelt so manches heutiges Denken. Dieses Ursache-Wirkungs-Gefüge ist ganz stark zu spüren. Um kurz zusammenzufassen: Bei dieser Sichtweise wird von mechanischen Gesetzesmäßigkeiten ausgegangen (-> d.h. „Reparatur an der Menschmaschine“), d.h. Reparatur von defekten Genen. Heute ist das Ganze molekularbiologisch erklärbar. - => Erkennend/konstruierend (man kann Vorgänge gestalten, also konstruieren => „Genmanipulation“) oder regulierend eingreifen . - Revolutionierung der medizinischen Diagnostik (hier gibt es ein großes Angebot) und Therapie (nur wenige Möglichkeiten des Therapierens). Die Entwicklungen der letzten Jahre - Genmanipulation: bedeutet einen direkten Eingriff in das Erbgut. Zuerst bei Mikroorganismen erprobt: diese werden zur Produktion von bestimmten Substanzen hergestellt, die für den Menschen nützlich sein können.12 Diese Mikroorganismen werden gentechnisch verändert. Als Beispiel hier anzuführen wäre das „Humaninsulin“: Hier wird ein Bakterium iniziiert (mit der gewünschten Eigenschaft – vgl. künstliche Befruchtung/Samenbanken, wo Frau sich die Samenzellen mit den für sie optimalen „Eigenschaften“ einsetzen lässt, also iniziieren lässt). Anmerkung: Auf dem Markt gibt es kein Tierinsulin mehr, sondern nur mehr Humaninsulin (dieses ruft aber bei manchen Diabetikern Allergien hervor. Eine Unterzuckerung kann nicht wahrgenommen werden. Denn: durch das Insulin kann sich eine schlagartige Unterzuckerung einstellen; insgesamt gibt es seit 1982 in Deutschland 92 Todesopfer). - Weitere Entwicklungen – an obigen Punkt anknüpfend: 1984: Herstellung des ersten Transgenen Tieres: eine Ziege + Schaf / der Embryo wurde einer Leihmutter eingesetzt, diese trug dann eine „SCHIEGE“ aus. 1996: Erstes transgenes Tier geboren => für pharmazeutische Produkte, die Ziege namens „Grace“. Diese war mit Antikörpern ausgestattet: soll(te) zum Einsatz bei der Behandlung von z.B. Tumoren kommen. Kurz darauf wurde „Rosie“, ein transgenes Kalb geboren (sollte Milch für Neugeborene bringen, die nicht gestillt werden können) Oder transgene Schweine: für Hämoglobin Klonen: 1981 -> Mäuse kloniert Februar 1997: „Dolly“, das erste geklonte Schaf (das erste geklonte Erwachsene Säugetier, Dolly war nicht das erste geklonte Tier!). Ausgangspunkt für „Dolly“ war die Enterzelle eines 6jährigen alten Schafes (Dolly hat also natürlich auch die Gene/das Erbmaterial dieses 6jährigen Schafes mitbekommen, d.h. Dolly – so kann man sagen – war zum Zeitpunkt ihrer Geburt eigentlich schon 6 Jahre alt). Ein 12 Auch Makroorganismen/Transgene Organismen, die verwendet werden, um für den Menschen nützliche Substanzen zu erzeugen. 54 D:\68617081.doc Kuriosum zu Dolly: Warum heißt Dolly eigentlich Dolly? Ihren Namen hat Dolly einem Zufallsereignis zu verdanken, bei dem es um eine bekannte Person namens „Dolly Parson“ ging. 1997 wurde Dolly sogar zur bedeutendsten Frau Englands gewählt an die 6.Stelle, nur knapp vor der Queen, gereiht. Humangenetik Die Humangenetik ist ein Teil der Genetik. Gegenstand ist der Mensch. Ihr (der Humangenetik) wurde schon sehr früh der Vorwurf der „Eugenischen Tradition“ gemacht. Waldschmidt: bezeichnete die „Eugenik als einen Vorläufer der Humangenetik“. Humangenetiker weisen diese Vorwürfe zurück: Vogel: schrieb Ende der 80er (1989) ein Werk mit dem Namen: Humangenetik in der Welt von heute. 12 Salzburger Vorlesungen“: „Die Humangenetik möchte nicht nur wissenschaftlich sein, sondern möchte auch ein Stück Praxis sein …“(1989) -> mehr dazu im Anhang. Mit dem „Bewirken-Können“ musste man allerdings noch ein paar Jahre warten. Auf dem Weg dorthin: Analysemöglichkeiten der menschlichen Chromosome. 1956 hat man die Anzahl der Chromosomen mit 46 bestimmt. 1959 entdeckte man erste Chromosomenanomalien (z.B. Trisomie 21, dessen Ursache darin lag, dass es 3 Chromosomen und nicht 2 des Chromosom 21 gibt). Dies war eine Sensation, obwohl damit keine praktische Anwendung verknüpft war. Es gab keine Abteilung für praktische Konsequenzen. Zytogenetische Forschungsergebnisse: siehe im Anhang! 1962 London: gab es ein Symposium mit 27 Wissenschaftern. Die Referate und Diskussionen dieses Symposiums sind unter dem Titel „Umstrittenes Experiment: Der Mensch“ publiziert. Ein großartiges Buch, sehr empfehlenswert. Auf diesem Symposium war Hermann Muller: „Zunehmende Verschlechterung der genetischen Konstitution des Menschen“. Muller sprach von einem Lösungsansatz, der einem anderen Ansatz ziemlich ähnlich ist (vgl.: mit der „Minderwertigkeitstheorie“): Muller sprach von einem „Eingriff in das Fortpflanzungsverhalten“ (eine Utopie von Muller). „Menschenzucht mit Samen von Männern – nach bestimmten Kriterien ausgesucht: Realität in den USA! 55 D:\68617081.doc Anhang 56 D:\68617081.doc Vorlesung: 06.12.2005 Hermann Muller Ad Filmausschnitt „Wunderkinder“ Ad Peter Singer: Moralphilosoph Krankheitsbegriff 20.Jahrhundert Exkurs Entschlüsselung des Genoms Rückblick: Letzte Folie -> siehe Folie Symposium: „Man and his future“ (1962, London) Hermann Muller: Konsequenz für ihn: „Steuerung im Fortpflanzungsprozess“: Menschenzucht mit eugenisch gezeugten Samen“ (durch Samenbanken) Ein deutscher Genetiker: „Es sei problematisch, dass beim Menschen auch minderwertiges Sperma….“ -> es geht genauer gesagt oder es geht diesem Genetiker nicht ein, dass auch minderwertiges Sperma mit schlechtem Erbmaterial weitergegeben werde. Ad Filmausschnitt: „Wunderkinder“ In dem Film, den wir leider nicht sehen konnten, geht es um einen Pionier – in Bezug auf die Zeugung von Embryonen in Samenbanken – der über die Entstehung dieser Samenbanken, also wie das ganze aufgekommen ist, spricht, und weiters über „bereitwillige Nobelpreisträger“ und andere bekannte Leute, die ihr „hochwertiges Material“ zur Verfügung stellen. Es geht also insgesamt um den bestmöglichen Samen und die bestmöglichen Eizellen => „eugenische Selektion“ (hochwertiges Material). Rückkehr zu Muller und seinem Begriff des „Steuernden Eingriffs“ Zitat: 1961: „Verstärkung der genetischen Selektion“: „Was wir in diesem Augenblick brauchen, wäre eine Verstärkung der genetischen Selektion“ (Muller 1966, 284; Hervorhebung im Original n. Strachota). Weiters: Ad „Vermeidung der genetischen Verschlechterung“: Wenn man nun, so Muller weiter (1966, 282, Hervorhebung n. Strachota), genetische Verschlechterungen vermeiden will, dann dürfen in jeder Generation jene Menschen, „die schwerer als der Durchschnitt mit genetischen Fehlern belastet sind, entweder nicht bis zur Geschlechtsreife gelangen; wenn sie aber leben, so dürfen sie sich nicht fortpflanzen. Sonst muss die Belastung durch genetische Fehler, die diese Population aufweist, zwangsläufig größer werden.“ => Eine versteckte Forderung nach Zwangssterilisationen ist hier mehr als erkennbar. Fassen wir diese obigen Überlegungen also zusammen: Das heißt also, dass solche Menschen, die mit „genetischen Fehlern“ belastet sind, entweder nicht älter als 12, 13 oder vielleicht 14, 15 werden dürfen, oder aber einem Leben in Monogamie fristen, oder? Welche Möglichkeit bleibt da noch??? Ich würde sagen, diese Aussagen sind mehr als nur ein schlechter Witz. Gedanken hat man sich viele gemacht, besonders oder auch in Europa: In Deutschland erfuhren die obigen Überlegungen eine große Ablehnung. Allerdings die deutsche Humangenetik vor 1945 war in ihrem (fragwürdigen) Kurs vom NS-Regime klarerweise gefördert worden, setzte diese sich doch vehement für die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ ein. Und für Zwangssterilisation – zur Vermeidung der Fortpflanzung „kranken Erbgutes“. Unter den damaligen deutschen Humangenetikern befanden sich Namen wie Fritz LENZ (1947), Eugen FISCHER, O. Freiherr v. VERSCHUR (1951) -> diese hatten den eugenischen Kurs wesentlich mitgeprägt. Nach 1945 hatten nachfolgende Humangenetiker große Mühe sich von vorangegangenen eugenischen Inhalten zu distanzieren. Die Distanzierung war nötig, 57 D:\68617081.doc da, weil auch der Wunsch anderer („feinerer“) Verhütungsmethoden da war. 1976 -> Widukind LENZ -> „Medizinische Genetik“: Erinnern wir uns noch mal an folgende Stichworte (1926 – siehe auch Folie), wo es in etwa um „die überproportionale Fortpflanzung/Vermehrung von Minderbegabten“ ging: und jetzt halten wir uns folgendes aus dem Jahre 1976 stammende Zitat vor Augen, von oben genannten Herrn Lenz, einem Rassenhygieniker: „Auch wenn die erreichbare Verminderung von Erbleiden für die Bevölkerung nicht wesentlich ins Gesicht fällt, so kann für das Schicksal einer Familie eugenische Beratung segensreich sein (vgl. auch später Peter Singers dazu). Mit zunehmender genetischer Aufklärung der Bevölkerung scheint die überdurchschnittliche Fortpflanzung der Minderbegabten, die früher zu Sorgen Anlass gab, zu verschwinden, ja von einer eugenisch gewünschten überdurchschnittlichen Fortpflanzung der Begabten abgelöst zu werden …“ (Lenz 1976, 337f., zit. n. Strachota). Ich glaube ein Kommentar erübrigt sich hier. Eine kleine Zusammenfassung in unterem Punkt erlaub ich mir aber trotzdem: Zusammenfassung: Anliegen oder Forderung geht nach einer „Handlungstat“, in Richtung „Genetischer Aufklärung“ oder „Eugenischen Beratung“. Es geht um ein Ziel, das verfolgt werden müsse: Das Ziel lautet: „Die überdurchschnittliche Fortpflanzung der Begabung“. Wir sprechen hier von einer so genannten Individualhygiene, d.h. es geht um die „Freiwilligkeit“, den freiwilligen „Verzicht“ (was auch immer) und die Einsicht (dass die Vermeidung der Fortpflanzung Minderbegabter unabdinglich sei). Der inhaltlichen Kontinuität entsprach eine Personelle Kontinuität: Humangenetiker wie LENZ oder VERSCHUR erhielten meist auf sehr schnellem Wege Lehrstühle. 1. Humangenetik Tagung 1969 in Marburg Ziel: Ein neues Bild der Humangenetik schaffen (im Zusammenhang mit dem Symposium und der bereits genannten gewollten Distanzierung) -> es ging um eine „verbale Distanzierung“ (zur Vergangenheit) Thema: „Genetik und Gesellschaft“ (unter dem Übertitel „Erbgesundheit“) Kieler Sozialtheologe: JÜRGENS mit seinem „Sozialgenetischen Programm“ (zum „Ausmerzen von Erbkrankheiten“ und zur „Fortpflanzung der sozialen Oberschicht“ – auf gut Deutsch) Anlass dieses sozialgenetischen Programms: Die moderne Medizin vermindere den natürlichen „Selektionsdruck“, (angeblich) erbliche Leiden sowie endogene Psychosen, Schizophrenie oder Depressionen würden sich daher unbemerkt auf breite Bevölkerungsschichten verteilen etc. Daraus wiederum ergibt sich folgende oder ergab sich folgende Handlungsnotwendigkeit: Humangenetische Beratungs- und Untersuchungsstellen und - wie konnte es anders kommen: Forderung einer breiteren Anwendung der eugenischen Sterilisation! 1969/70: 2 Modellversuche v. Humangenetischen Beratungsstellen: Der 1. Versuch startete in Marburg und der zweite in Frankfurt. 1972: Erste „Humangenetische Beratungsstelle“: in Marburg (zugänglich für die Allgemeinheit) eröffnet. Natürlich war das ganze auch eine Geldfrage: Um die notwendigen Finanzierungsmittel zu legitimieren, stützte sich der Leiter dieser Beratungsstelle auf „Kosten-NutzenÜberlegungen“, die auf eine „Senkung der Kostenexplosion“ abzielten: WENDT: „Wenn die Geburt … Kindern mit erheblichen Erbschäden verhindert werden kann, fallen die jährlichen Kosten für die ärztliche und heilpädagogische Versorgung fort, die ‚Eingliederungshilfe“ für Behinderte einbezogen. Allein für die ‚Eingliederungshilfe’ wurden im Jahr 1974 mehr als eine Milliarde Mark ausgegeben …Eine genetische Beratungsstelle, mit einem Einzugsgebiet von 1,2 58 D:\68617081.doc Millionen Einwohnern, kostet …650 000 Mark, erbringt aber eine Ersparnis von 20 bis 25 Millionen jährlich“ (Wendt zit. n. Walter 1989, 43; Hervorhebung Strachota). => Ökonomische Sichtweise. Im Anhang der letzten VO ist eine „Kosten-NutzenTabelle“ oder „Rosser-Matrix“-Tabelle zu sehen. Im Laufe der Jahre kamen immer mehr solcher Beratungsstellen auf. Auch in Österreich. Neben der (klassischen) „Ökonomischen Sichtweise“, sind lange nach 1945 auch noch klassische „eugenische Argumente“ zu finden: WENDT 1974: „Vererbung und Erbkrankheit haben für unsere moderne Gesellschaft eine Aktualität, die vor 50 oder gar 100 Jahren noch nicht vorherzusagen war. Diese Aktualität beruht in erster Linie auf der zunehmenden Gefährdung unserer Erbanlagen durch die Erhöhung der Mutationsrate und durch die laufende Verminderung der früher wirksamen Auslese. Die Aktualität hängt aber auch zusammen mit der Entwicklung zum modernen Sozialstaat, mit dem enormen Fortschritt der ärztlichen Kunst und mit dem beängstigenden Tempo, in dem wir unsere Umwelt verändern“ (Wendt 1974 zit. n. Waldschmidt 1996, 174; Hervorhebung Strachota). Zusammenfassend geht es: um eine „Progressive Gefährdung unserer Erbanlagen“ -> durch die laufende Verminderung der früher wirksamen Auslese. Wenn keine Entgegensteuerung – was dann? Ein realistischer Ausweg wurde damals in den 70ern in der „Humangenetischen Beratungsstelle“ gesehen => wir erinnern uns an die „verbale Distanzierung“ – demgegenüber stand der Wunsch oder Wille: „Eugenische Inhalte in neuem Gewand mit verfeinerter Methode“ (neuere Methoden der „Verhütung“/Prävention). Beginn der 80er: Es kam eine neue Dynamik hinein, weil sich die Kritik an alten eugenischen Inhalten sehr stark intensiviert hatte – von unterschiedlichen Seiten. Es kam zu Diskussionen mit der Folge: Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (innerfachliche Auseinandersetzung der Humangenetiker selbst) 1986: Naturwissenschaftlicher Kongress: ein internationaler Kongress, im Rahmen dieses Kongresses wurde ein „Vortrag über Rassenhygiene“ gehalten -> dies war der erste Beleg einer innerfachlichen Auseinandersetzung. Gleichzeitig 1986: Ein Kongress, bei dem einem sehr strittigen Moralphilosophen – Peter Singer – ein Forum geboten wurde, um seine philosophisch-utilitaristischen Gedanken zum Besten zu geben (zusammen mit Helga Kuhse): Dies war der erste Vortrag in deutschsprachigen Raum. Hier stellte er seine „Tötungsphilosophie“ (od. „Praktische Ethik“) vor und ging hierbei der „Frage nach dem Lebensrecht bestimmter Menschengruppen“ nach (vgl. lebenswert/lebensunwert-Diskussion). Mit diesem Vortrag wurde gleichzeitig eine Neue Euthanasiedebatte in Gang gebracht. Die Intensität ist noch immer sehr groß: Hier unten ein Zitatekasten mit Singers mehr als fragwürdigen Anschauungen: Singer knüpft an den klassischen Utilitarismus an: „Der Kern der Sache ist freilich klar; die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht“. (Singer 1994, 244) Der meist zitierte und noch öfter diskutierte Satz von Singer: „Sofern der Tod eines geschädigten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird. Der Verlust eines glücklichen Lebens für den ersten Säugling wird durch den Gewinn eines glücklicheren Lebens für den zweiten Säugling aufgewogen“. (Singer 1994, 238) 59 D:\68617081.doc Singer steht für eine Denkrichtung des Philosophischen Utilitarismus „Es gibt keine logische Grundlage dafür, dass die Wahlmöglichkeit der Eltern auf die besonderen (vorgeburtlich diagnostizierbaren; AS) Behinderungen beschränkt bleibt. Würden behinderte Neugeborene bis etwa eine Woche oder einen Monat nach der Geburt nicht als Wesen betrachtet, die ein Recht auf Leben haben, dann wären die Eltern in der Lage, in gemeinsamer Beratung mit dem Arzt und auf viel breiterer Wissensgrundlage in Bezug auf den Gesundheitszustand des Kindes, als dies vor der Geburt möglich ist, ihre Entscheidung zu treffen“. (Singer 1994, 243) Präferenz-Utilitarismus: Singers Thesen Singer unterscheidet zwischen Menschen und Person. Die biologische Zugehörigkeit zur Gattung homo (sapiens) reicht dazu nicht aus, Person zu sein. Rationalität, Autonomie und Selbstbewusstsein sind die entscheidenden Kennzeichen menschlicher Personenhaftigkeit. Embryonen, Säuglinge und schwerstbehinderte Kinder entsprechen diesen Kriterien nicht – und sind daher (noch) keine Personen. Unpersonen bzw. Noch-Nicht-Personen dürfen nicht denselben Rechtsschutz beanspruchen wie Personen. Sie sind diesbezüglich (sogar) vergleichbar mit Hühnern, Schweinen, Gorillas und anderen Tieren. Derartige Wesen müssen zwar nicht, können jedoch getötet werden, ohne dass damit zwangsläufig Unrecht verbunden ist. (Behinderte) Embryonen und Säuglinge sollen mit Einwilligung bzw. auf Wunsch der Eltern getötet werden dürfen, zumal dann, wenn keine äußeren Gründe (wie Gefühle nahe stehender Menschen) dagegen sprechen und sich niemand findet, der ein solches Kind zu adoptieren bereit ist (sozialer Tod). Schwere Behinderungen (genannt werden geistige Behinderungen, Spina bifida und Hämophilie) sind mit Unglück und Leid verbunden: dies sowohl für die unmittelbar Betroffenen wie auch für ihre Angehörigen. Eltern soll es daher nicht verwehrt sein, eine behinderte Person zu ersetzen, d.h. durch Tötung quasi Platz zu schaffen für ein gesundes, glückliches und beglückendes Kind. Exkurs: 20er - In den 20ern brachten „Binding & Hoche“ (vgl. vorangegangene Vorlesungen) die 1.Euthanasiedebatte über „lebensunwertes Leben + die moralische Legitimation der Vernichtung desselben“ in Gang. - Anmerkung: Singers „Praktische Ethik“ wurde als 1.Auflage 1984 publiziert, die 2.Auflage 1994. Den Inhalt kennen wir. Ergänzend zu Singer ist zu sagen, dass er nicht der Einzige mit derartigen Argumenten ist. „Wenn es moralisch legitim, Menschen mit Behinderungen vorgeburtlich zu töten. Warum soll es nicht moralisch sein, Menschen mit Behinderungen nachgeburtlich zu töten.“ (Hervorgehoben – nicht im Original). All dies hat Singer also 1986 vorgestellt und damit für einen Aufschrei und Aufruhr gesorgt. - Ein Zitat (könnte von Singer stammen) sollte hier noch zum Nachdenken angebracht werden: „Die Hummel hat 0,7 mm Flügelfläche,…; …Nach aerodynamischen Gesetzen ist es unmöglich zu fliegen, aber sie tut es dennoch.“ Noch ein Kommentar?? Ad Humangenetik - Tradition: Die Humangenetik steht eher in der Tradition der >>linken<< (der freiwilligen Sozialeugenik bzw. Individualhygiene -> siehe weiter oben die Erklärung) des frühen 20. Jahrhunderts (keine staatlich gelenkten Zwangsmaßnahmen) – Richtlinien genetischer Beratung (Leitbild der non-direktiven Beratung -> wird zum Leitbild der Genetischen Beratung, d.h. Berater gibt keine Diagnose mit Rat zur Abtreibung), die der „Berufsverband medizinische Genetik e. V.“ 1990 wie folgt beschreibt: Genetische Beratung soll „den Ratsuchenden helfen, auf der Basis der erforderlichen Informationen zu einer eigenen, für sie tragbaren Entscheidung zu 60 D:\68617081.doc gelangen … der Berater unterstützt die individuelle Entscheidungsfindung der Ratsuchenden ohne direkte Einflussnahme auf die Entscheidung selbst“ (Berufsverband medizinische Genetik zit. n. Beck-Gernsheim 1995, 111; Hervorhebung n. Strachota). - Was nicht bedacht wurde: a) die emotionale Lage und die Erwartungen der schwangeren Frauen, wenn sie die Beratungsstellen aufsuchen – in dieser belastenden Situation und b) gesellschaftliche Erwartung nur „gesunde“, nicht-behinderte Kinder in die Welt zu setzen -> Druck immer größer (Direktive Einflüsse) werden in diesem „Prinzip der Non-Direktivität“ ausgeblendet. c) Konsequenz: Die Gesellschaftlichen Erwartungen werden auf die individuellen Entscheidungen der (schwangeren) Frauen - genannt Individualisierte Verantwortung – aufgebürdet. Und: Die Möglichkeit (eines willkürlichen Eingreifens in die Natur) kann sehr schnell zur Pflicht werden! Dies war der Erste Zugang zur Humangenetik! Und nun zum Krankheitsbegriff des 20. Jahrhunderts: Der Naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff Der eigentliche Fortschritt der Medizin im 20.Jahrhundert lag im diagnostischtherapeutischen Bereich (besonders im technischen und apparativen Bereich). Die Krankheitskonzepte haben sich nicht geändert. Wir blenden zurück auf das 19. Jahrhundert : „Lokalisierte oder Lokalisierbare Krankheit“ -> Organisch-somatisch-Krankheit -> Sitz der Krankheiten wird in den Organen festgemacht – und aus ihrem sozialen Kontext herausgelöst -> Erinnerung: „Kausalitätsprinzip“ (Ursache-Wirkungs-Prinzip). Man spricht bereits gegen Ende des von einem „Methodenmonismus“ (monismus = „am einzelnen Individuum lokalisiert“) -> oder ein „Lokalistisches Krankheitsverständnis“, d.h. alle Erscheinungen der Natur werden auf oder anhand physikalischer Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien reduziert und erklärt. „Diese Reduktion auf rein kausalgesetzliche Zusammenhänge musste geradezu eine Reihe von kompensatorischen Krankheitskonzepten provozieren“(Strachota 2002, 178). Im Falle der ersten Jahrzehnte (siehe Foliensatz zur 9.VO) des 20. Jahrhunderts waren dies, um einige zu nennen, jene der: Psychoanalyse Psychosomatik Homöopathie und Anthropologischen Medizin. Gemeinsamkeit: Dem mechanistischen und lokalistischen Verständnis von Krankheit als rein körperliches Geschehen treten Vorstellungen entgegen, die den Menschen selbst, das Verhältnis des Menschen zu seiner (sozialen) Umwelt sowie das psychische Erleben des Menschen ins medizinische Denken und Handeln miteinbezieht (siehe auch Foliensatz Strachota). Kehren wir zurück ins späte 20. Jahrhundert: Wir haben ja bereits in der letzten Vorlesung gehört, dass wir vom Krankheitsverständnis + Krankheitsbegriff her uns vom Organismus, zum Organ bis hin zu den kleinsten „Gebieten“ unseres Körpers vorgetastet haben. Während zwar der Krankheitsbegriff im 19. Jahrhundert schon ein lokalistischer war, war der Sitz der Krankheiten hier aber noch das Organ/oder nur das Organ. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben wir es schließlich bis zum 61 D:\68617081.doc „Chromosom“ geschafft, zu unseren Erbanlagen, den Genen. In ihnen oder an ihnen wird Krankheit ausgemacht. Der Sitz der Krankheit ist nicht (mehr) das Organ, sondern das Chromosom. Die Humangenetik hat also mit den Chromosomen ihr „Organ“ gefunden, so Strachota. Weiter: „Aus genetischer Sicht wird Krankheit als molekularbiologisch und –genetisch begründete pathologische Strukturveränderung verstanden.“ Das „Gen“ als Sitz von Krankheit(en) zu machen, hat aber auch in vielen Fällen zu „bequemen Diagnosen“ geführt – was heute schon alles „genetischbedingt“ ist – na ja. Wollen wir noch mal zusammenfassen, bzw. ergänzen: 20. Jahrhundert Krankheit lokalisierbar – biologisch, organisch-somatisch (organ-verändernd) In weiterer Folge, mit der Genetik: Sitz der Krankheit = das Chromosom Erweiterung: Vom „Objekt-Krankheit“ zum „Subjekt Krankheit“: Krankheit wird nicht aus dem sozialen Kontext herausgelöst „behandelt“, sondern bezieht den Menschen in Bezug zu seiner sozialen Umwelt, sowie sein psychisches Erleben, in das Verständnis von Krankheit ein. In weiterer Folge: Es kommt zu einer „Wiedereinführung des Subjektes“! Anmerkung: In den 20/30/40ern bis Ende des 2. Weltkriegs und Nachfolgende Zeit gab es keine Veränderung des „lokalisierten Krankheitsbegriffes“ – no na. Exkurs: Entschlüsselung des Genoms Krankheit: genetisch-bedingt genetisch-mitbedingt genetische Disposition (bei Allergien z.B.) Definitionen Krankheitsbegriff erfährt eine Ausweitung, d.h. unter anderem, dass eine „Reduktion dessen erfolgt, was man unter Gesundheit versteht. Fragt sich noch: „Wer ist überhaupt noch gesund“? Das Gen wird heute für so ziemlich jede („blöde“) Krankheit als Definition oder Ursache herangezogen. Heute gibt es bereits ein Gen für „Alkoholismus“, für Schizophrenie, oder das „Morgenmuffelgen“, das „Fettgen“, Gen für „Nikotinsucht“. Was steckt dahinter? Was bisher ausgespart wurde: Die Genforschung verfolgt natürlich ein Ziel, und das ergibt sich ja schon irgendwie aus den oben genannten Punkten: Mit der Genforschung soll vieles anders werden, vor allem aber will man den „Weg zur Präventivmedizin“ finden – mit Hilfe der Entschlüsselung des Genoms – in dem man so zu sagen mit Hilfe des „offenliegenden“ „genetischen Programms“ des Menschen versuchen möchte, Krankheiten praktisch noch vor ihrer Entstehung auszumachen, um sie so erst gar nicht entstehen zu lassen -> Hoffnung, Krankheit eines Tages abschaffen zu können. Die Praxis soll z.B. in der vorgeburtlichen Diagnose liegen, bei der oder durch die man „präventiv“ Krankheit“ verhindern will! Und hier zum Abschluß noch ein paar absurde Auswüchse zu „Genetisch-(mit)bedingt: Homosexualität - genetisch bedingt Fettleibigkeit – festgehalten an einer „Infektionstheorie“: mit der These, ein Virus könnte Auslöser von Fettleibigkeit sein, ist – von 2 Forschern für Fettleibigkeit erkundet – treibt wohl den Eisberg mächtig an die Spitze der „fragwürdigen Glaubwürdigkeit“. Der Artikel befand sich in einer Fachzeitschrift! 62 D:\68617081.doc Es geht aber noch dicker: Adipositas als Infektionskrankheit – schuld soll wieder ein Gen sein, und das allerschlimmste: vielleicht auch noch eine „Schutzimpfung“ dagegen auch???!! Notwendige Konsequenz: „Virusforschung“ spricht von einer „Fettschutzimpfung“ Übrigens: Detail am Rande: Fettleibigkeit ist nicht pränataldiagnostisch feststellbar!!! Warum ich das erwähne? Eine Umfrage unter deutschen Studenten hatte zur Frage: Was würden sie tun, wenn bei ihnen festgestellt würde, dass ihr Ungeborenes „im Besitz eines Fettleibigkeitsgens“ ist? Antwort: Es wäre ein Abtreibungsgrund! Um uns wieder ernsteren Problemen zuzuwenden: All diese Entwicklung hatten oder haben zur Folge, dass sich zwischen Diagnose und Therapie eine große Kluft aufgetan hat! Verwunderlich – nein! 9. Vorlesung: 13.12.2005 Wiederholung letzte VO Jahrhundertwissenschaft Genetik Bereich Therapie Weitere Entwicklungen – Medizin Wiederholung letzte VO Jahrhundertwissenschaft Genetik: Sitz der Krankheit in den Chromosomen Ausweitung des Krankheitsbegriffes vs. Einengung des Gesundheitsbildes Erscheinungsbilder: genetisch bedingt, genetisch-mitbedingt oder genetische Disposition. Beispiele: Diverse Abnormitäten, Krankheiten, Störungen, wie z.B. Fettleibigkeit, Schizophrenie,… werden auf ein „Gen“ zurückgeführt. Als Ursache/Auslöser festgemacht. Biologisierung + Genetisierung als zukunftsweisende/richtungsweisende, weil lösungsorientierte (wirklich?) Medizin. Polarisierung der Gesellschaft: „genetisch-überlegend“/“genetisch-unterlegend“ Exkurs: - Gutes Beispiel für eine „Idealwelt“: Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ und - George Orwells „1984“ - Beide Werke beziehen sich auch grundlegend auf das Problem „geteilte Menschheit“ Weiters: Absurdium -> „Genetik im Liebesleben“ Ein Artikel aus dem „TAZ“: „Homosexualität im medizinischen Kontext“ Es geht genauer um eine von 2 Kanadiern durchgeführte Untersuchung zum Beweis des Zusammenhangs „Homosexualität“ und genetische Bedingtheit: Es wurden „Fingerlinien“ von 66 Schwulen und 22 Heterogenen Personen genommen. Im Zuge der Ergebnisse: Methoden zur „Bekämpfung“, wie z.B. a) Die Aversionstherapie: Die Lust am Mann soll mit Hilfe von Elektroschocks abgetan werden. Rückkehr zur „Entschlüsselung des Genoms: Erkenntnisse aus dem Projekt – wir erinnern uns – sollen zur Diagnostik und Prävention beitragen. 63 D:\68617081.doc Dadurch entsteht – wie auch bereits angedeutet – eine Kluft zwischen Diagnose und Therapie! Wie bereits erwähnt, schritt die Medizin des 20. Jahrhunderts vor allem im technischen + apparativen Bereich (ad medizinisches Handeln) voran. „So entwickelte sich die Medizin des (späten) 20. Jahrhunderts fast zwangsläufig weiter zu einer „Maschinenmedizin“ (Strachota 2002, 183)“: „Medizinischer Fortschritt ist immer, und dies gilt insbesondere für die Entwicklung der letzten Jahrzehnte [des 20. Jahrhunderts; A.S.], ein dialektisches Fortschreiten. So gestattet etwa die großtechnisch-apparative Medizin des späten 20. Jahrhunderts ganz neue Zugriffe in den Bereichen Krankheitserkennung und Krankheitstherapie; sie fördert aber auch gleichzeitig die Entfremdung zwischen Arzt und Patient, zwischen Mensch und Medizin, wie sie bereits in der Labormedizin fassbar wurde und sich in unserer Maschinenmedizin vollends entfaltet hat“ (Eckart 1994, 270; Hervorhebung im Original durch Strachota 2002). Es ist natürlich auch eine ganz klare Folgerung, dass diese Art von Medizin einen ganz neuen Zugang zur Diagnose erlaubt. Diagnose: Diagnose - 20. Jh.: a) röntgendiagnostische Verfahren: Das "jüngste Kind des klassischen Röntgenverfahrens" (Eckart 1994, 295) ist die Computer-Tomographie (CT): ein Schichtaufnahmeverfahren, das in die klinische Diagnostik in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eingeführt worden ist. Die erste Hirnschichtaufnahme gelang im Jahre 1973, das erste Ganzkörperbild ein Jahr später, 1974. b) strahlendiagnostische Verfahren Szintigraphie (Anfang der 1960er Jahre entwickelt): Durch die Einnahme radioaktiver Isotope werden Einblicke in die Gestalt und Funktion sonst verborgener Organe möglich (z. B. in die Schilddrüse und in die Bauchspeicheldrüse). Mit dieser Methode gelingt der Nachweis von Tumoren oder Metastasen, die durch Röntgenverfahren schwer lokalisierbar sind. c) elektrographische Verfahren: 1902/03: Elektrokardiographie (EKG) - seit den 1930er Jahren als Routineverfahren zur Erkennung von Herzkrankheiten eingesetzt. 1924: Elektroencephalogramm (EEG) - Messung der Gehirnströme d) schalldiagnostische Verfahren: Ultraschall-Echoverfahren (Ende der 1950er Jahre erstmals beschrieben) - zählt zur "wohl folgenreichsten Untersuchungsmethode innerer Organe" (Seidler 1993, 241); frühe Untersuchungsobjekte waren Schädel, Herz und Augen -> erst in weiterer Folge wurde das Ultraschall-Verfahren in der Geburtshilfe eingesetzt. Audiometrie (die elektroakustische Hörprüfung) - ermöglichte beispielsweise schon in den 1930er Jahren, Mittelohrschwerhörigkeit differentialdiagnostisch von Innenohrschwerhörigkeit zu unterscheiden. e) endoskopische Verfahren: diagnostische Betrachtung von Körperhöhlen und Hohlorganen - heute sind der Endoskopie sämtliche Hohlorgane sowie deren angrenzende Gewebe zugänglich geworden. 64 D:\68617081.doc e) klinisch-chemische Diagnostik: Entwicklung von der einfachen Uroskopie zur hochtechnisierten Harn- und Blutanalyse (frühe 30er Jahre des 20. Jahrhunderts) -> klinisch-chemische Laboratorien mit vollmechanisierten Analyseapparaten ausgestattet f) vorgeburtliche Verfahren: Pränatale Diagnostik bedeutet vorgeburtlicher Nachweis oder Ausschluss genetisch bedingter Krankheiten,Behinderungen sowie Fehlbildungen. Ziel der Pränataldiagnostik ist "eine möglichst frühe intrauterine Diagnose schwerer kindlicher Erkrankungen, um diese zu behandeln" (Miny u.a. 1995, 792). Zu den wichtigsten Methoden vorgeburtlicher Diagnoseverfahren zählen • das Ultraschallverfahren • die Amniocentese (Fruchtwasserentnahme) • die Chorionzottenbiopsie Quelle: Strachota, Foliensatz – 9.VO; Der Mensch wird immer mehr zum „Gläserenen Menschen“ – er wird immer „durchschaubarer“! Bereich Therapie: - Im Medikamentösen Bereich: Bereits um die Jahrhundertwende begann man mit der Herstellung von Heilmitteln im industriellen Maßstab, die Arzneimittel wurden zunehmend von einer Gruppe von „Hochleistungsspezialisten“ (Schipperges 1990, 127; Hervorhebung im Original durch Strachota 2002) hergestellt: „Hierzu zählen neben den Pharmakologen auch Biologen, Physiker und Chemiker verschiedener Provenienz, ferner Biometriker, Nuklearmediziner, Elektronenmikroskopiker, Pathologen und Toxikologen, schließlich Juristen, Patentanwälte, Techniker und Apotheker, ganz abgesehen von einem eigenen, wiederum durchspezialisierten Team des modernen Managements und moderner Informatik.Es ist kein Zufall, dass es gerade in der modernen Laboratoriumsmedizin zu jener interessanten Kombination von Mikrobiologie, Pathologie und klinischer Chemie kommen konnte, die – mit Mitteln der Gerinnungsphysiologie, Serologie und Hämatologie – einen pharmazeutischen Großeinsatz erst ermöglichte.“ Eine der weitreichendsten Entdeckungen war jene der Antiobiotika. Ende des 19. Jahrhunderts konnte wohl eine Vielzahl von Krankheitserregern nachgewiesen werden, aber es fehlte eine spezifisch wirksame antibakterielle Therapie. Klimawechsel bei Tuberkulose konnte dieser Infektionskrankheit nicht wirklich Einhalt gebieten, Arsen konnte im Falle einer Syphiliserkrankung zwar einigermaßen wirksam eingesetzt werden, schädigte aber den Organismus insgesamt (Eckart 1994, 272 f.; zit. n. Strachota 2002, 188). Auch die Serumtherapie war keine antibakterielle, sondern eine antiinfektiöse Therapie, deren Wirkung nicht immer sicher war; worum es nunmehr ging, war eine Therapiemöglichkeit zu finden, welche die Krankheitserreger selbst angriff (a.a.O. 273 f.; zit. n. Strachota 2002, ebd;). Erste Schritte auf diesem Weg gelang dem Behring-Schüler Paul Ehrlich, auf den die erste Grundlegung der Chemotherapie zurückzuführen ist.(Strachota 2002, 188). 65 D:\68617081.doc weitere Entwicklungen: Bereits 1924 gelang dem schottischen Arzt Alexander Fleming die Entdeckung des körpereigenen antibakteriellen Enzyms Lysozym. Im Rahmen seiner Forschungen hatte er auch die bakterienkulturvernichtende Wirkung des Pinselpilzes, genannt Penicillium notatum , fast nebenbei beobachtet und diese Beobachtung in einer kleinen Publikation veröffentlicht. Erst 1939 wurden in England von Howard W. Florey und Ernst B. Chain Flemings Lysozym-Forschungen wieder entdeckt und damit auch seine Penicillinbeobachtung. „Bald zeigte sich die bakteriozide und breitbandige Wirkung des Pilzes, an dessen Reindarstellung man fieberhaft arbeitete. Sie gelang in den frühen vierziger Jahren, und die Reinproduktion in hinreichend großen Menden konnte beginnen“ (Eckart 1994, 278; zit. n. Strachota 2002, 189). 1941 gelang die erste wirksame Anwendung von Penicillin am Menschen, 1945 erhielten Fleming, Chain und Florey dafür den Nobelpreis (Schipperges 1990, 128; zit. n. Strachota 2002, 189). Seit der Einführung des Penicillins wurden etwa 20 000 verschiedene Antibiotika entwickelt, die allerdings nur teilweise im Kampf gegen Krankheitserreger wirksam wurden, zudem sind viele Erreger gegen das Penicillin resistent geworden (a.a.O., 14; zit. n. Strachota 2002, ebd.;) Die nüchternen Fakten der großindustriellen Pharmaindustrie lesen sich wie folgt: „Sieben bis zehn Jahre dauert es zur Zeit, bis ein Arzneimittel marktreif wird; die Erfolgsquote bei der Entwicklung eines neuen Medikaments beträgt 1:6000. Von den ersten Synthesen bis zum fertigen Medikament sind rund 800 Arbeitsschritte notwendig. Der Gesamtaufwand für einen einzigen neuen Wirkstoff beläuft sich auf 250 Millionen DM“ (a.a.O., 128). Zusammenfassend: Antibiotika entwickelt Anfang 40er – Penicillin eingeführt Seitdem 20 000 verschiedene Antibiotika entwickelt Entwicklung Medikamente: Mittelalter: „Heilmittel“ – anders als heute. Mönche legten in Klöstern Kräuter mit heilsamer Wirkung an -> sie entwickelten Heilmittel. Bis zum 20. Jahrhundert hat sich dies natürlich verändert, weiterentwickelt. Wie wir gesehen haben, erfolgte im 19./20. Jahrhundert zunehmend eine Herstellung in industriellen Maßstab; Chirurgischer Bereich: Die moderne Chirurgie basiert auf 3 Säulen: 1) Einführung anti- und aseptischen Operationsverfahren: sepsis = „Fäulnis“, septisch = „fäulniserregend“; aseptisch = keimhemmende Mundbehandlung; Bsp.: Semmelweis: wollte Zusammenhang herstellen, dass Wöchnerinnen, die mit schmutzigen Händen zu einer Geburt kamen und darauf folgende Wundinfektionen nicht von ungefähr herrührten. 2) Anästhesie: ermöglichte längere Operationen ohne Komplikationen und Zeitdruck. 3) Entdeckung des Blutgruppensystems – AB0 - durch den Serologen Karl LANDSTEINER 1901. Das damit bisher ungelöste Problem des Blutersatzes bei Blutverlust, war damit gelöst. 66 D:\68617081.doc Die lokal- und organbezogene Krankheitsvorstellung … … führte schon Ende des 19. Jahrhunderts zu Organoperationen zunächst im Bauchund Beckenraum (1881 führte Theodor Billroth erstmals eine Magenresektion, 1884 Ludwig Rehn eine Schilddrüsenoperation durch, 1896 gelang Rehn die erste erfolgreiche Herznaht, 1887 schnitt George T. Morton erstmals einen perforierten Blinddarm heraus), zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann im Brustbereich. Hier bediente sich 1903 „Ferdinand Sauerbruch des Druckdifferenzierungsverfahrens bei Operationen im Brustkorb“ (Schipperges 1990, 144; zit. n. Strachota 2002, 190). Ebenfalls bereits Ende des 19. Jahrhunderts führte der Lokalismus zu gezielten hirnchirurgischen Eingriffen; diese wurden ja erst möglich, nachdem Geisteskrankheit als Hirnkrankheit definiert wurde. Der sich hier zeigende Zusammenhang von diagnostischen Entwicklungen und therapeutischen Möglichkeiten lässt sich auch am Beispiel der Herzchirurgie verdeutlichen. Erst mit der Entwicklung des Seitengalvanometers durch Einthoven im Jahre 1903 (Elektrokardiographie, EKG) und mit der Herzkatheterisierung zur Messung des Druckes in den Herzhöhlen (W. Flossmann, 1929) waren die diagnostischen Voraussetzungen für eine systematische Herzchirurgie gegeben (Schipperges 1990, 145; zit. n. Strachota 2002, 190). So konnten beispielsweise immer genauer krankhafte Veränderungen an den Herzkranzgefäßen diagnostiziert werden; die Herzkranzgefäße versorgen den Herzmuskel mit Blut, die Bildung arteriosklerotischer Polster führt zu einer Einengung des Gefäßvolumens und daher zu einer Unterversorgung des Blutes vor allem mit Sauerstoff – zur Entlastung kann die Blutversorgung, das war die therapeutische Konsequenz dieser diagnostischen Erkenntnis, „durch eine N ebenleitung (engl. bypass) gewährleistet werden. Eine solche Bypassoperation … wurde erstmals 1964 durch Garrett ausgeführt; 1967 wurde sie von Favoloro und Effler erheblich verbessert“ (a.a.O. 165; Hervorhebung im Original durch Strachota 2002). Eine weitere Konsequenz der immer genaueren diagnostischen Sondierung der Herzfunktion ist der Herzschrittmacher, ein elektronischer Impulsgeber zur Herzrhythmussteuerung, 1956 erstmals in Schweden eingesetzt. „In der Zwischenzeit gibt es schätzungsweise mehr als eine Million Menschen, die einen Herzschrittmacher tragen (a.a.O., 166; zit. n. Strachota 2002, 191). Die erste Herztransplantation gelang 1967 dem Südafrikaner Christiaan Bernard. Ende 1985 sind „bereits insgesamt 2577 Herzen erfolgreich transplantiert. Für den Zeitraum zwischen 1984 und 1988 liegt die Zahl der Herztransplantationen bei 8000“ (Eckart 1994, 310; zit. n. Strachota 2002, 191). Die Methode der Nierentransplantation wurde schon früher erforscht und bereits 1950 erstmals erfolgreich durchgeführt, sie ist heute eine Routineoperation (a.a.O.). Nach den ersten Herztransplantationen sind Transplantationen von „Herz- und Lungenpaketen und einer ganzen Reihe anderer Organe“ (a.a.O., 311; zit. n. Strachota 2002, 191) vorgenommen worden. White gelang mit Kollegen bereits 1970 der erste Austausch bei einem Säugetier: Er verpflanzte den Kopf eines Rhesusaffen auf den Körper eines anderen, dessen Kopf er zuvor entfernt hatte: „Als der Affe aus der Narkose erwachte, erlangte er das Bewusstsein vollständig wieder, und die Nerven im Kopf funktionierten“ (a.a.O.). Auf Grund der verbesserten Techniken kann man nun, so White (a.a.O.) weiter, „Kopftransplantationen auch beim Menschen ins Auge fassen.“ Die chirurgische Vorgehensweise wird sich dabei kaum von der an den Affen erprobten unterscheiden. Schritte (wie die Entwicklung entsprechender Geräte und Pumpen) zur menschlichen Kopftransplantation wurden von White und seinem Team bereits unternommen. 67 D:\68617081.doc Die Transplantation von menschlichen Köpfen (bzw. Gehirnen) stellt aber nur einen Teil einer künftigen Körper-Ersatzteil-Medizin dar: Zu denken ist beispielsweise an das Erzeugen und Weiterzüchten embryonaler Stammzellen als Regenerationshilfe (Pederson 1999) oder an die Züchtung biologisch-synthetischer Ersatzteile wie Knorpel, Haut, Knochen, Bänder und Sehnen bis hin zu inneren Neo-Organen wie Leber, Niere oder Herz13 (Mooney u.a. 1999). Diese lässt, wie Schipperges bereits im Jahre 1990 schrieb, den künstlichen Organersatz als Routineoperation erwarten. „Die Chirurgie ist auf dem Wege von einer statisch-operativen Technik zu einem dynamisch-funktionellen Totalservice, bei dem die Vorbereitungsphase und die Nachbehandlung neben der Operation eine immer größere Rolle spielen. Starkes Anwachsen der technischen Hilfsdienste und vermehrter Einsatz medizinischer Assistenzberufe lassen den Aufbau chirurgischer Großorganisationen erwarten“ (Schipperges 1990, 150; Hervorhebung im Original Strachota 2002, 192). Ein entscheidender Faktor für die vergangene sowie zukünftige Entwicklung (nicht nur) der Chirurgie war, ist und wird immer mehr der moderne Krankenhausbau sein, der schon bislang „nicht nur die chirurgische Werkstatt mit vielen Details vom konvertiblen Operationstisch bis zum adäquaten Klima- und Keimgehalt verbessert hat, sondern auch die räumliche Verbindung des Operationssaals mit Narkose-, Aufwachund Intensivpflegeeinheiten rationalisiert hat“ (Schipperges 1990, 149; zit. n. Strachota 2002, 192). Der Trend der Integration von Telekommunikation in die Medizin wird ein Krankenhaus kreieren, das durch die Digitaltechnik geprägt ist und nicht ein auf ein Gebäude beschränktes, sondern ein virtuelles Krankenhaus sein wird (Hutten 1999ee, 8; zit. n. Strachota 2002, 192). Im Zeitalter der Digitaltechnik wird die Maschinenmedizin des 20. Jahrhunderts zur Telemedizin: „Bereits heute ist die Zahl der Teilgebiete, die der Telemedizin zugeordnet werden, fast unübersehbar groß und reicht von der Telechirurgie bis zur klinischen Telekonferenz, von der Teleradiologie bis hin zur Teleheimpflege“ (a.a.O.). Von den sensationellen Entwicklungen der Digitaltechnik profitiert ebenfalls die sog. Robotik, die ja bereits gegenwärtig in der Medizin vielfältige Anwendungen findet: „Inzwischen sind Operationsroboter in Entwicklung, die hinsichtlich der Präzision, etwa bei stereotaktischen Eingriffen, Hornhautoperationen und mikrochirurgischen Eingriffen, dem menschlichen Operateur überlegen sind. Auch Pflegeroboter, die einfache Handreichungen und Pflegemaßmaßnahmen vornehmen, befinden sich in Entwicklung“ (Hutten 1999, 9; zit. n. Strachota 2002, 193). Das Konzept eines künftigen Operationssaals, OP 2000, wird an der Robert-RössleKlinik am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Universitätsklinikum Charite der Humboldt-Universität zu Berlin von einer Forschungsgruppe um Peter Schlag entwickelt: Klinisches Ziel ist die Optimierung von Diagnose und Therapie durch die Nutzung von Video-, Computer-, Kommunikations- und Lasertechnologie. Bestandteile dieses Konzeptes sind daher intraoperative Telekonsultation („interaktive Telemedizin“), VR.Techniken (VR steht für Virtuelle Realität), Fernsteuerung und Manipulatoren (Robotersysteme) (Schlag 1999ff, 98; zit. n. Strachota 2002, 193). Manipulatoren, eine neutralere, aber bedeutungsgleiche Bezeichnung für Roboter, sollen als „perfektes automatisches und intelligentes Werkzeug“ (a.a.O.) die Arbeit der „Komplette Neo-Herzen sind allerdings erst in zehn oder zwanzig Jahren zu erwarten. Teilstrukturen wie Herzklappen oder Blutgefäße hingegen könnten schon früher verfügbar sein. (…) Daß in fünf Jahren voll funktionsfähige Haut existiert, halten … viele Experten für eine durchaus vernünftige Annahme. Bei einer NeoLeber wären aber eher etwa 30 Jahre anzusetzen“ (Mooney u.a. 1999, 11; zit. n. Strachota 2002, 192). 13 68 D:\68617081.doc operierenden Personen erleichtern und die Behandlung der Patientinnen und Patienten verbessern: „Interaktiv geführte Operationssysteme (Roboter- oder Manipulationsgestützte Chirurgie) werden mittelfristig die Therapiequalität entscheidend verbessern, zugleich das Risiko für den Patienten mindern. Sie sollen Fähigkeiten und Präzisionen des Chirurgen sinnvoll unterstützen und ihn von kraftraubenden oder ermüdenden Prozeduren entlasten. (…) Für weitere gerätetechnische Entwicklungen und schließlich den Übergang zur ‚EinMann-Operation’ (Solo-Surgery) mittels interaktiv geführter Manipulatoren oder Roboter sind eine vollkommene Störsicherheit, höchste Genauigkeit beim Positionieren und Reproduzierbarkeit Voraussetzung. Hierfür sind aber bisher noch viele grundlegende Anforderungen zu lösen“ (Schlag 1999, 103; zit. n. Strachota 2002, 193). Mit diesen Blitzlichtern möchte ich die Darstellung der Entwicklung der Medizin im 20. Jahrhundert und damit zugleich jene der Geschichte der Medizin und ihres Krankheitsbegriffes beenden (Textquelle: Strachota 2002, 190-193). Ergänzend und zusammenfassend: - - - Verlust des Subjekts: von einer subjektorientierten Heilkunst zu einer objektorientierten Heiltechnik! Vom Flüssigen zum Ganzen – vom Ganzen zu den Teilen (den Organen)! Abstrakte Vorstellung: „Prävention v. Down-Syndrom“ und nicht „Prävention von Menschen mit Down-Syndrom“ -> ist ebenfalls „Folge“ der „objektorientierten Heiltechnik“. Exkurs: „Mehrlingsschwangerschaften“: Beispiel, eine Frau erwartet 4 Kinder, was erstens schon sehr ungewöhnlich ist und zu dem sowohl für die werdende Mutter und auch die Ungeborenen nicht unkompliziert. Die Kinder können sich nicht voll entwickeln vielleicht – abgesehen von den oben genannten Dingen. Es wird dann meistens oder oftmals eine Fätale Reduktion vorgenommen, d.h. 2 oder 3 Feten werden noch im Mutterleib getötet => „Verlust des Subjekts“. Entmenschlichung/Depersonalisierung steht im Gegensatz zur Vermenschlichung! 10. Vorlesung: 10.01.2006 Heilpädagogische Relevanz im 19. und 20. Jahrhundert Ein Überblick – Vorlesungsmitschrift zum größtenteil basierend auf dem Lehrbuch „Heilpädagogik und Medizin“. Das erste Drittel des 19. Jahrhunderts Bereits in einem vorangegangenen Kapitel wurde herausgearbeitet, dass der Grundgedanke der Erziehung zur Brauchbarkeit im Zeitalter der aufklärerischen Vernunft einerseits bewirkte, bestimmte Behinderungsgruppen durch das Bildungssystem zu erfassen, dass er aber anderseits auch dazu führte, jene Kinder mit Behinderungen, welche den Erwartungen der Brauchbarmachung nicht entsprechen konnten, aus demselben weiterhin auszuschließen. Die Hoffnung auf ökonomischen Nutzen als 69 D:\68617081.doc handlungsleitendes Motiv findet sich auch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wieder, einer Zeit, die von den Folgen der Revolutionskriege und der beginnenden Industrialisierung geprägt war: „Diebstahl aus Not und Bettel waren verbreitet. Viele Väter waren im Krieg getötet worden, Höfe lagen wüst, Nachbarn und Verwandte, die den Waisen hätten helfen sollen, gerieten selbst in Not. Falk gründete 1813 zusammen mit dem Stiftsprediger Karl Friedrich Horn aus Weimar die ‚Gesellschaft der Freunde in Not’. Er begann, verwahrloste Kinder jeweils für kurze Zeit in sein Haus aufzunehmen, und vermittelte sie in Handwerkerfamilien. Damit begann die Rettungshausbewegung, wie sie später genannt wurde. Anders als die Waisenpflege seiner Zeit ließ Falk es nicht bei Bekleidung, Pflege und Unterbringung bewenden, sondern versammelte die Kinder regelmäßig in der Sonntagsschule, die meist wöchentlich, die entfernt wohnenden monatlich einmal. Handwerkliche Ausbildung und Unterricht standen im Zusammenhang und stützten sich gegenseitig. Die für die Ausbildung der Kinder benötigten Geldmittel sammelte die ‚Gesellschaft der Freunde in Not’ im ganzen Land. (…) Ein zentraler Gedanke von Pestalozzi, die Hilfe zum Erlernen eines ehrbaren Handwerks, stand im Mittelpunkt der Rettungshausbewegung“ (Möckel 1988, 75, zit. n. Strachota 2002, 254). Noch mit der Rettungshaus in Verbindung stehende Namen: - Johannes Falk -> regte unter anderem - Adalbert von der Recke, - Christian Heinrich Zeller und - Johann Heinrich Wichern ebenfalls zu Rettungshausgründungen an. - Phillip von der Recke: auf ihn geht vermutlich die Gründung der Rettungshausbewegung zurück (1820 „Gesellschaft der Menschenfreunde in Deutschland“, eine philanthropische Gesellschaft. Anm.: Ein Philanthrop ist ein „Menschenfreund“. Ziel der Rettungshausbewegung - Verwahrlosten Kindern zu einer Existenz zu verhelfen - Kinder zur Führung eines eigenen „Hausstandes“ zu verhelfen - Die Jugendlichen zu Mitgliedern einer Gemeinde zu machen Worin wurde die Armut gesehen - im Sittenverfall und dem Nachlassen christlicher Erziehung - Daher bezieht sich der Begriff „Rettung“ eher auf die „Bekehrung zu einem eigenen persönlichen Glaubens, also die Bildung eines eigenen Glaubens“. Aufgabe der Industrieschulen - standen der Rettungshausbewegung zur Seite - ein weiterer Ausdruck in der Suche nach einem Mittel gegen die Armut - 1816: Gründung eines Wohltätigkeitsvereins mit dem Ziel der „Hebung des Wohlstandes“. - Schulen waren: Arbeitsanstalten + Schulen gleichermaßen Weitere Entwicklungen - 1833: Gründung einer Erziehungsanstalt für arme verkrüppelte Kinder durch J. Nepomuk v. Kurz: Es handelte sich auch hier um eine Industrieschule (f. 12-14 jährige): Erster Versuch, kurz vor dem Erwerbsleben stehenden 70 D:\68617081.doc - - - - „verkrüppelte“ Jugendliche einen Zugang zu einem Beruf zu ermöglichen, der ihnen durch ihre körperlichen Gebrechen erschwert wurde. Ende 18. Jahrhunderts, Beginn 19. Jahrhundert: Verschiedene Intentionen zur Institutionalisierung von zuerst gehörlosen und blinden und dann um körperbehinderte Kinder: Dies waren -> ökonomische, caritative und seelsorgerische Intentionen -> Taubstummen-, Blindenschulen, Rettungshäuser und schließlich Industrieschulen. Motive waren also: caritative, seelsorgerische und ökonomische. Grundgedanke: Erziehung zur Brauchbarkeit. Haltung: Erziehung als Akt der Wohltätigkeit. Erziehung als Akt der Wohltätigkeit und Erziehung zur Brauchbarkeit als handlungsleitende Motive. Erste Erziehungsversuche um geistig behinderte Kinder Ende des 18. Jahrhunderts: Pestalozzi: Dieser bewies die Bildbarkeit von schwachsinnigen Kindern. Bekannt durch seine „Erziehungsanstalt in Neuhof und Stans“. Beginn 19. Jahrhundert: 1801: Jean Itard -> frz. Arzt + ein Schüler von Pinel; begann „Victor“ das ‚wilde Kind von Aveyron’ zu erziehen, welches verwildert in einem Wald aufwuchs und von Pinel als ‚unheilbarer Idiot’ betitelt wurde. Selbe Zeitspanne: 1816: Guggenmoos richtete Ansuchen an zuständige Behörde in Salzburg: ging um Errichtung einer Lehranstalt für Taubstummen und Kretinen. Nachdem er hier auf taube Ohren stieß, unternahm er einen Selbstversuch: 1829 Privatanstalt in Hallein mit 4 Schülern. 1835 Schließung seiner Anstalt. Was viele wie Guggenmoos gemeinsam hatten, war nicht nur der Gedanke der „Förderung geistig behinderter Kinder in dafür vorgesehenen Institutionen“, sondern auch deren Erfolglosigkeit in deren meist eigenverantwortlichen Vorhaben, auf Grund des „fehlenden institutionellen Schutzes und Unterstützung“. Ein neuer Impuls war erforderlich, und der kam von … …Der Medizin und ihrer Relevanz für geistig behinderte Kinder Zweites Drittel 19. Jahrhundert: zum Krankheitsbegriff - naturalistische Krankheitsvorstellung: im Gegensatz zur supra-naturalistischen Vorstellung (in übernatürlichen Kräften gesehen) wird Krankheit hier als Naturerscheinung und damit Gegenstand der Erfahrung. - Grund für Krankheit: im Einwirken natürlicher Kräfte: Schauplatz ist der menschliche Leib bzw. Körper. - Krankheit als Ausdruck pathologischer Veränderungen körperlicher Gegebenheiten Relevanz für die „Geistige Behinderung“ Erkennens von geistiger Behinderung als „natürliche Krankheiten“ mit Schauplatz im Körperlichen. - Bereits Ende 18. Jhdt.: erstes wissenschaftl. Interesse an „Blödsinnigen“, vor allem, die mit „organischem Defekt“: Hierzu einige Namen oder Interessen in Verbindung damit: Beobachtungen + Veröffentlichungen am „Kretinismus“: Guggenbühl: Kretinismus als „ein Leiden des Cerebro-Spinalsystems“, spricht von „kranken Gehirn“ (krankhafte Beschaffenheit des Gehirns, Idiotie in mangelhafter Gehirnentwicklung begründet) Saegert: „Blödsinn verursacht durch Schwäche des kortikalen ‚Centralorgans’“ - 71 D:\68617081.doc Ursache für diese Sichtweise, dass Geistige Behinderung als Krankheit gesehen wurde: Versuchen wir dem auf den Grund zu gehen: Diese Krankheitskonzepte, die das 18. Jahrhundert prägten, wirkten ins 19. Jahrhundert hinein: - humoralpathologisches Konzept: jahrtausendealte Krankheitslehre-> „4 Körpersäfte“, hier noch immer starke Geltungskraft. - (psycho-)dynamistisches Konzept: populär Ende des 18.en/Beginn 19.Jhdt.; dazu gehörten Animismus (Stahl), Lebenskrafttheorien (z.B. Hufeland), Brownianismus (Brown): Ausgang von einem dynamischen Ineinanderwirken von Leib und Seele. Nach Stahl werden die Organe des Organismus von der Seele vitalisiert. Krankheit als Störung der Organfunktionen und des Zusammenwirkens der Körperteile, wobei die Störung psychogen verursacht sei. Hufeland als „Innersten Grund aller Lebensvorgänge die Lebenskraft an. Hallers Lehre war die von der Reizbarkeit und des Empfindungsvermögens. Auch Brown sprach von inneren und äußeren Reizen, welche den Zustand Leben aufrechterhalten. - solidarpathologisches Krankheitskonzept Fassen wir zusammen: Kurz zusammengefasst: - Humoralpathologische Auffassung: Krankheit als Folge einer schlechten Mischung der 4 Körpersäfte gesehen. Krankheit fließt im ganzen Körper herum. - Psychodynamische Auffassung: Krankheit als pathologische Reaktionsweise des Gesamtorganismus auf Umwelteinwirkungen. - Solidarpathologische Auffassung: Krankheit als Folge einer fehlerhaften Struktur der morphologischen Elemente des Körpers. Krankheit hat nach dieser Auffassung ihren „festen Sitz“. Welches Krankheitskonzept wirkt ins Krankheitsverständnis von Guggenbühl und Saegert? Sie verstanden ja geistige Behinderung als Krankheit ad Guggenbühl: - 1853: Guggenbühls Schrift: „Die innerliche Behandlung“, welche laut ihm zunächst die „so häufigen Anomalien in der Säftemischung zu berücksichtigen habe.“ Nach Strachota (2002) sind kaum Hinweise auf humoralpathologische und solidarpathologisches Verständnis bei Guggenbühl zu finden. Jedoch: einige Hinweise auf psychodynamistisches Krankheitsverständnis, und zwar folgende: - Krankheit als Reaktionsweise des Organismus auf Umwelteinflüsse - In guter Gesellschaft mit Saegert und Itard fand sich Guggenbühl bei der Sichtweise davon, dass Kretinismus und Idiotie eine Form (oder Reaktion) der erzieherischen 72 D:\68617081.doc Vernachlässigung (Vernachlässigung in Bezug auf nicht entsprechend „zugeführte physiologische Reize) sei. ad Saegert: - Sah Blödsinn verursacht durch Schwäche des kortikalen Zentralorgans (= Naht- und Verbindungsstelle zw. Sensorischem und motorischem System. - Er ging von einer Entwicklungsmöglichkeit geistig behinderter Kinder aus. - Forderung: Stärkung des Physischen, speziell des kortikalen Zentralorgans – durch „Anwendung geeigneter sinnlicher Reizmittel“ (Strachota 2002, 261) - Annahme nicht von einer „Seelenlosigkeit“, sondern einer „Seelenuntätigkeit“, daher müsse deren Tätigkeit angeregt werden – über Anregung der Sinne. Zurück zu Guggenbühl - er ließ sich scheinbar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seiner Ansicht nach von Max v. Pettenkofer beeinflussen. Dieser war Vertreter der Hygienebewegung: dieser meinte oder wollte wissen, dass und in welcher Weise Umwelt auf Gesundheit und Krankheit einwirke. Thematisierung von sozialem Charakter von Krankheit, Entstehung von Krankheit durch die soziale Umwelt beeinflusst, d.h. schlechte Lebens- und Arbeitbedingungen -> führte in weiterer Folge zu Schaffung gesunder Wohn- und Ernährungsverhältnissen, Verbesserung ersterem genannten. Entwicklung einer wissenschaftl.-begründeten Kommunalhygiene + zu wissenschaftl. Untersuchungen zu Epidemologie der wichtigsten Seuchen (Typhus + Cholera). Pettenkofers theoretischer Ansatz solcher seuchenhafter Krankheiten: Miasmatische Bodentheorie (-> Entstehung von Seuchen durch schlechte Ausdünstungen des Bodens, des Wassers, der Luft,…) - Explizit berief sich Guggenbühl auf Sassure: dieser machte Beobachtung, dass Kretinismus eine bestimmte „Elevationsgrenze“ haben soll, z.B. in d. Schweiz: 1000m oder ca. 3000 über dem Meer. - Daß der Kretinismus in der Schweiz allerdings auch oberhalb jener Grenze liegt, habe für Guggenbühl diese Ursachen: a) jenes Dorf liege auf Granit, wodurch Abzug des Wassers verhindert, b) Lage des Dorfes (d.h. hochgelegene Ortschaft, von Bergen eingekesselt), c) physische und psychische Zustände der Eltern während des Zeugungsvorgangs -> führe zu „unvollkommener Entwicklungsfähigkeit“ und d) örtliche Ursache bilde allgemeine Prädisposition zum Kretinismus,…; Ergänzung noch kurz zusammengefasst - Generell: 2. Drittel des 19. Jahrhunderts die Auffassung, dass geistige Behinderung eine Krankheit sei. - Dazu mischten sich aber noch vereinzelt humoralpathologische, solidarpathologische und vorwiegend psychodynamistische Annahmen. - Man ging von einer Heilbarkeit, Guggenbühl sogar von einer Vermeidung dieser Krankheit aus. - Aus obiger Annahme folgte die Konsequenz der Hoffnung auf Heilung. Hoffnung auf Heilung - Hoffnung auf medizinische Heilung: Nach Möckel und auch nach Speck eine Besonderheit der ersten Heil- und Pflegeanstalten. - Einige Werke dazu: Saegert 1845/46 „Die Heilung des Blödsinns auf intellektuellem Wege“, Rösch 1845 „Über die Heilung und Erziehung unentwickelter und kretinischer Kinder“, Guggenbühl 1853 „Die Heilung und Verhütung des Kretinismus“. 73 D:\68617081.doc Worin bestand die (Aus-)Heilung des Kretinismus oder des Blödsinns Weder in Sekundar- noch in Originalliteratur gibt es konkrete Aussagen darüber. Worin lagen die Maßnahmen: 2 Methoden - Methode der Vermeidung: Guggenbühls „prophylaktische Maßregeln“: Eine „sorgfältige Bearbeitung des Bodens der Kretinendistrikte“, dadurch könnten die „miasmatischen Erdexhalationen zerstört werden“, so Guggenbühl. Weiters: Bessere Wohnungen und geeignete Baugesetze für die Zukunft. Häuser an trockenen, sonnigen Orten errichten, nicht zu dicht und auch nicht zu hoch, nicht von Bäumen eingeschlossen, ein gesundes Baumaterial,…; weiters: „Vervielfältigung der Nahrungsmittel, Beschränkung des Brandtweines, gutes Trinkwasser, Verhinderung der blutsverwandten Ehen und Verbindung von bereits von Kretinismus betroffenen Individuen“. Er spricht auch von einer Errichtung so genannter „Musterdörfer“. - Methode der Behandlung: „heilende Maßnahmen“: 74 D:\68617081.doc i Strachota, Andrea (Hrsg.): Heilpädagogik und Medizin, Eine Beziehungsgeschichte; 2002 Orth, E., W. (1979): Theoretische Bedingungen und methodische Reichweite der Begriffsgeschichte. 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