Wolfgang Praschak Nein, meine Suppe esse ich nicht! Essprobleme mit behinderten Kindern Der Kaspar, der war kerngesund, Ein dicker Bub und kugelrund. Er hatte Backen rot und frisch; Die Suppe aß er hübsch bei Tisch. Doch einmal fing er an zu schrein: "Ich esse keine Suppe! Nein! Ich esse meine Suppe nicht! Nein, meine Suppe ess ich nicht!" Am nächsten Tag - ja sieh nur her! Da war er schon viel magerer. Da fing er wieder an zu schrein: "Ich esse keine Suppe! Nein! Ich esse meine Suppe nicht! Nein, meine Suppe ess ich nicht!" Am Am dritten Tag, o weh und ach! Wie ist der Kaspar dünn und schwach! Doch als die Suppe kam herein, Gleich fing er wieder an zu schrein: "Ich esse keine Suppe! Nein! Ich esse meine Suppe nicht! Nein, meine Suppe ess ich nicht!" Am vierten Tage endlich gar Der Kaspar wie ein Fädchen war. Er wog vielleicht ein halbes Lot Und war am fünften Tage tot. 1. Das Essen aus kultureller Sicht Viele kennen ihn noch, den „Suppen-Kaspar“ aus dem „Struwelpeter“, jener Kindergeschichtensammlung, in der Heinrich Hoffmann (1801-1894) schon vor fast zweihundert Jahren kindliche Verhaltensweisen beschrieb, die uns heute noch auf den Nägeln brennen. In den Geschichten vom „Suppen-Kaspar“, vom „bösen Friederich“, vom „Zappelphilipp“, von „Hans-guck-in-die-Luft“, von der „ZündelPauline“ konfrontiert er uns mit Verhaltensweisen, die wir auch heute noch gut und gerne als problematisch beschreiben. In der Geschichte vom „Suppen-Kaspar“ erzählt er von einem trotzigen und magersüchtigen Kind, das seinen Tod inszeniert und dabei gehörig mit den Ängsten seiner Eltern spielt. Diese Inszenierung finden wir auch heute noch in allen Schichten unserer Gesellschaft. Sie hat offensichtlich nichts mit der Herkunft der Betroffenen zu tun, auch nichts mit dem Intelligenzgrad, oder dem Körper mit dem sie ausgestattet sind. Hinter diesem Problem verbirgt sich in der Regel ein familiäres Problem, das nur selten auf organische Defekte, oder auf Charaktereigenschaften zurück zu führen ist. Ob das Heinrich Hoffman schon wusste, bleibt ungewiss, aber für die betroffenen Eltern ist es schwer, zu akzeptieren, dass das Essproblem ihres Kindes mit der Familiengeschichte verwoben ist. Der Kaspar macht es deutlich. Kinder mit einem manifesten Essproblem wollen uns etwas sagen. Etwas, worüber sie selbst nicht Bescheid wissen müssen. Aber etwas, das verschlüsselt mit den lebensgeschichtlichen Bedingungen verbunden ist. Was uns den Umgang mit Essproblemen heute zusätzlich erschwert, ist das eigenartige Phänomen, dass diese in unserer Gesellschaft schon fast zur Normalität gehören. Nicht wenige Menschen schlagen sich mit Essproblemen herum, besessen von dem Wunsch, ihre Konfektionsgröße immer weiter nach unten schrauben zu können. Sie geraten in Panik, wenn die Waage eine andere Sprache spricht und sie indirekt dazu zwingt, ihr Gewicht und die Körpermaße manipulieren zu wollen. Nicht wenige zerreißen sich zwischen einer Nulldiat, um dann immer wieder enttäuscht im Jojoeffekt zu versinken. Die Jagd nach dem Idealgewicht, der Idealgröße und den Idealmaßen bestimmt ihren Alltag, in dem das genussvolle Essen zum Problem geworden ist. Einerseits wird im Übermaße kontrolliert, andererseits gehen in den Fressorgien die Wertorientierungen und Vorsätze wieder verloren. Schönheitschirurgen und Gymnastikstudios leben gut in diesem Trend, der schon lange kein Frauenproblem mehr ist. Mittlerweile sitzen auch die Männer im Boot. Tragisch ist, dass unsere Kinder in diesem Wirrwarr die Orientierung verlieren und schon sehr früh entweder übergewichtig werden, oder in den Fallstricken eines problematischen Schönheitswahns gefangen sind. Es scheint so: Wir gehen immer verkrampfter mit dem Essen um, malträtiert von geheimen Verführern. Überspitzt, unsere Gesellschaft hat ein Essproblem, das in die Erziehung unserer Kinder schon eingedrungen ist. Bedroht von einem kulturellen Wandel, steht die Volksgesundheit auf dem Spiel. 2. Die versteckte Symbolik des Problems Die Fachleute, die sich mit diesen Problemen beschäftigen, sehen Verbindungen zur frühen Kindheit und zum Bindungsaufbau. Sie sehen einem gestörten Selbstwert der Betroffenen, der es verhindert, dass sie zu einer normalen Genussfähigkeit finden können. Sie sehen Leistungsängste und Partnerprobleme, die in die familiären Auseinandersetzungen eingewoben sind. Sie sehen Nöte in der Entfaltung einer befriedigenden Körperlichkeit. Essprobleme sind also nur selten individuell. Sie betreffen die Lebensgeschichte und damit das ganze familiäre System, in dem die Nahrungsaufnahme regelmäßig zum Problem geworden ist, das das Wohlbefinden aller Beteiligten untergräbt. Weil die Kinder beim Essen Schwierigkeiten machen, gelingt es nur schwer, eine tragende Säule unserer Kultur wirklich schmackhaft zu machen. Die lebenstragende Genussfähigkeit wird zerstört. Die Freude am gemeinsamen Essen stellt sich nicht ein. Verhaltensweisen entstehen, die das Kind und die Eltern verändern. Das Kind driftet eventuell in die Verweigerung, oder antwortet mit übermäßiger Gier. Manche gehen den Weg in die Bulimie, wobei jedes Verhalten für sich zu einer Zerstörung des Körpers führt, der in seinem individuellen Wert und in seiner sozialen Bedeutung verleugnet wird. Der „Suppen-Kaspar“ sagt uns also mit aller Vehemenz, dass er sich gegen die Beziehung zu seiner Mutter wehrt, die das Essen in einer Weise gestaltet wie er es nicht mehr will. Das zu akzeptieren ist schwer. Diese Verweigerung kränkt und sie bindet eine zerstörerische Macht, die gegenseitig immer wieder ausgespielt werden kann. Letztlich übersteigt sie die Grenzen der Toleranz. Sie macht Angst. Sie überfordert die liebende Kraft. Ein Machtkampf entsteht, der unausweichlich die gegenseitige Annäherung untergräbt. Stress und Frust wechseln sich ab, weil die üblichen pädagogischen Maßnahmen keine Wirkung erzielen. Verzweiflung nimmt überhand, was so viel bedeutet, dass eine Veränderung nur noch langfristig möglich ist. Und das auch nur dann, wenn die Eltern wieder Mut schöpfen können und das Kind wieder zu sich selbst finden kann. Nicht nur bei den magersüchtigen Kindern ist das so, denn auch die, die viel zu dick geworden sind, also ihr Zerplatzen inszenieren, sagen insgeheim, dass ihnen am Wert des Essens nichts mehr liegt. Sie schaden ihrem Körper und haben die Kontrolle über das Essen verloren. Sie entwerten sich selbst und damit auch diejenigen, die mit ihnen verbunden sind. Mit ihrer Gier und ihrem Übermaß geraten sie in einen Teufelskreis, der zerstörerisch wirkt. Weil sie zu dick sind, bewegen sie sich wenig. Weil sie sich wenig bewegen, verbrauchen sie zu wenig Energie. Und immer wieder saugen sie Essbares in sich auf, ohne wirklich befriedigt zu sein. Weil kein Hungergefühl mehr entsteht, geht die Genussfähigkeit kaputt. Weil ein psychischer Mangel kompensiert werden muss, verfestigt sich ein Zwang, der im Extremfall so weit geht, dass selbst Ungenießbares verschlungen wird. Das Kind stopft sich voll, um wenigstens für kurze Zeit zur Ruhe zu kommen, verstärkt dabei aber seine Lethargie, aus der es alleine nicht mehr heraus finden kann. Diese Spirale bringt die Eltern in Not. Möglicherweise verbunden mit dem Gefühl, sie hätten gänzlich versagt, führt das dazu, den Zwang zu verstärken. In diesem Fall zumeist der Zwang zu irgendeiner Diät. Doch die vergrößert in der Regel das Problem, oder hilft nur für ganz kurze Zeit. Das Kind beginnt mit seiner Sucht die Umgebung zu tyrannisieren. Es fordert Machtkämpfe heraus, in denen es um Sieg und Niederlage geht. Dabei wird Machtkampf für Machtkampf der familiäre Frieden zerstört, häufig begleitet von Resignation, was dann die problematischen Verhaltensweisen stabilisiert, die ganz allmählich alle Lebensbereiche durchdringen. 3. Organische Zusammenhänge bei einer Hirnschädigung Wenn ein Kind mit einer Schädigung des Zentralen Nervensystems leben muss, oder aufgrund eines genetischen Defekts in seiner Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt ist, verbinden sich die Probleme in der Auseinadersetzung mit den Gegebenheiten des Lebens häufig auch mit Problemen bei der Gestaltung des Essens. Weil die Kinder Schwierigkeiten bei der Koordination der Motorik des Mundund Rachenraumes haben, ist das Saugen, das Schlucken, das Beißen und Kauen oft erheblich erschwert. Die Kinder erleben aufgrund dieser Probleme häufig Stress und Überforderung, weil sie sich beim Essen und Trinken übermäßig anstrengen müssen. Das Essen gerät zu einer Tortur, die den Genuss untergräbt. Häufig stellen sich auch Verdauungsprobleme ein, die dann die Nahrungsaufnahme wieder indirekt erschweren. Werden dann verdauungsfördernde Medikamente gegeben, entsteht schnell ein Teufelskreis. Die Darmtätigkeit stellt sich auf die Medikamente ein und wird sogar noch träger als zuvor, was dann wieder zur Erhöhung der Dosierung führt. Nicht selten entstehen Stoffwechselprobleme, die Nahrungsunverträglichkeiten hinterlassen und die Gesundheit des Kindes bedrohen. Schwächen des Immunsystems führen zu Nahrungsallergien, die nur schwer zu heilen sind. Eine sorgfältige medizinische Diagnostik und eine individuelle Ernährungsberatung, die nach Möglichkeiten sucht, eine Nahrung zu bieten, die dem Kind schmeckt, seinem Stoffwechsel und seinen motorischen Möglichkeiten angepasst ist, kann in solchen Fällen hilfreich sein. 3.1. Voraussetzungen in der Bewegungsentwicklung Grundsätzlich muss jedes Kind in seiner motorischen Entwicklung verschiedene Stufen durchlaufen, damit sich das Saugen sich zum Kauen erweitern kann. Erst wenn sich durch die Saugtätigkeit der Mundraum vergrößert, kann auch der Unterkiefer sich so verändern, dass Raum für die Zahnbildung geschaffen wird. Durch das Wachstum der Nasenwege und des Nasenhohlraumsystems vergrößert sich der Kehlkopfraum. Das Zäpfchen zieht sich zurück, was notwendig ist, damit sich das willkürliche Schlucken entwickeln kann. Die Koordination der Nacken-, Mund- und Kehlkopfmuskulatur führt zur Kopfkontrolle, die wieder Voraussetzung für das freie Essen ist. Damit einher geht die Seitbewegung der Zunge, die Voraussetzung für den Transport der Nahrung im Mundraum ist und mit dem aktiven Schlucken verbunden wird. Erst im Zusammenhang mit der Rotationsbewegung des Unterkiefers kann ein Nahrungsbällchen ausgeformt werden, um es nach hinten in den Rachenraum schieben zu können, so dass es willkürlich geschluckt werden kann. Die Differenzierung der Zungenbewegung, die Ratation des Unterkiefers, im Zusammenhang mit der Differenzierung des Nahrungstransports führen dann zum eigentlichen Essen, das mit dem Kauvorgang verbunden ist. Dieser wird nicht von allen Kindern gelernt, denn die frühkindlich erworbenen neuronalen Störungen ziehen immer unökonomische Anpassungsleistungen der Motorik nach sich, die auch die Muskeln des Nacken- und Schulterbereiches betreffen. Sie können dann die notwendige Stützfunktion beim Essen nicht übernehmen. Aufgrund der Über- oder Unterspannung der beteiligten Muskulatur kommt es zu Deformationen des Kiefers und des Gaumens. Ein mangelnder Mundschluss entsteht, der die fein abgestimmte Balance zwischen dem Außen- und Innendruck des Mundraumes erschwert. Die Folge sind Erschwernisse beim Schlucken. Es kommt zu einer übermäßigen Speichelproduktion. Die nach vorne verlagerte Zunge hinterlässt einen mangelnden Sog, der durch eine kompensatorische Ausbildung der beteiligten Weichteile wieder ausgeglichen wird und nur durch esstherapeutische Maßnahmen zu lindern ist. 4. Psychologische und pädagogische Hintergründe In psychologischer Hinsicht ist die Essenssituation als soziale Situation gestört. Zumeist sind es unklare und widersprüchliche Anforderungen an das Kind, oft verbunden mit Kommunikationsstörungen, die zu einer mangelnde Orientierung führen und problematische Verhaltensweisen provozieren. Mehrere Male am Tage entsteht eine Form der Zusammenarbeit, die sehr brüchig ist und schließlich überhaupt nicht mehr funktioniert. Die Versuche das Kind zu tadeln, zu loben, zu unterstützen, ihm Grenzen zu setzen, helfen nichts. Weil das Kind schlecht isst, werden immer mehr Handlungen stabilisiert, die für beide Seiten unbefriedigend sind. Die Familie gerät immer mehr unter Druck. Alle guten Ratschläge haben versagt. Die üblichen Tricks funktionieren nicht. Allgemeiner formuliert: Die Familie und das Kind haben ein gemeinsames Problem, das regelmäßig wiederkehrt. Es entsteht ein so genanntes Problemsystem, das zur Folge hat, dass immer mehr Energie investiert werden muss. Schließlich dreht sich alles um dieses System. Weil das Kind mit seiner Widerständigkeit seine Eltern manipuliert und diese mit Gegenmanipulationen reagieren, entsteht eine zerstörerische Dynamik, die nicht selten mit seltsamen Ritualen beantwortet wird. Das Kind wird z.B. nur noch mit Yoghurt gefüttert, weil das in manchen Situationen erfolgreich war. Oder die Mutter geht mit einem gefüllten Löffel stetig zwischen der Küche und dem Wohnzimmer hin und her, weil das Kind nur unter dieser Voraussetzung schon mal ein paar Häppchen isst. Eine explosive Mischung aus Wut, Verzweiflung, Hilflosigkeit entsteht, oft noch mit Schuldgefühlen gepaart, die irgendwann in der Verzweiflung enden. Das Karussell steht nicht mehr still. Die gegenseitige Zuwendung wird zum K(r)ampf, in dem das Kind seine Stärke aus dem Widerstand bezieht. Die soziale Situation wird zunehmend paradox. Eltern, die in diese Beziehungsfalle stecken, sind zugleich in einer Stressfalle gefangen, die ihre Identität bestimmt. Fragen, die nach dem oder den Schuldigen fanden, sind deshalb sinnlos, weil unproduktiv. Sie ändern an dem Geschehen nichts, vielmehr verstärken sie das Problem. Es gilt eine neu gestaltete Zukunft zu suchen, in der weitere Eskalationen verhindert sind und der ständige Machtkampf eine Linderung erfährt. Dieser wird zwar auf längere Zeit hinaus nicht gänzlich zu verhindern sein, aber neu zu regulieren ist er doch. Weil die Probleme nicht von heut auf morgen verschwinden, wird die Gestaltung des Essens weiterhin störanfällig sein. Dennoch lohnt es sich einer neuen und produktiven Gemeinsamkeit den Weg zu öffnen. Dennoch macht es Sinn, einen Raum zu schaffen, in dem mit genügend Zeit und der notwendigen Ruhe wenigstens einmal am Tag an der Veränderung der Esssituation gearbeitet werden kann. Denn das Kind und die Mutter müssen wieder zu ihren Möglichkeiten finden und ihren Selbstwert neu stabilisieren. Das wird geschehen, wenn ihnen Druck und Überforderung genommen wird. Gefragt ist demnach eine Neugestaltung der Ausgangssituation, ebenso wie Verständnis für die Not, in der alle zusammen befangen sind. Jede Besserwisserei wird das verhindern, denn das neue Arrangement ist nur gemeinsam zu finden. Konsequentes Handeln muss sich mit wertschätzender Bestätigung vereinen und zu einer langfristigen Beruhigung der familiären Situation beitragen können. Grundlegend dazu ist die Einhaltung von bewährten Regeln zur Gestaltung der Esssituation, die ich kurz vorstellen will. 4.1. Sorgen Sie für Regelmäßigkeit Feste Zeiten, an denen Mahlzeiten stattfinden, sind nicht so einfach zu realisieren. Dennoch lässt sich bei entsprechendem Bemühen erreichen, dass eine oder zwei Mahlzeiten am Tag zu festgelegten Zeiten stattfinden können. Das gibt dem Kind Sicherheit und Orientierung, und auch wir Erwachsenen profitieren davon. Regelmäßige Mahlzeiten beugen am ehesten einem unkontrollierten Essen vor. Beim „Hunger zwischendurch“ kann auf die jeweils nächste Mahlzeit verwiesen werden. Essen sollte keinesfalls nebenbei, beim Spielen, beim Hausaufgabenmachen, mal eben am Küchenschrank geschehen. 4.2. Achten Sie auf „Ess-Kultur“ Ein schön gedeckter Tisch - bei besonderen Gelegenheiten auch ein festlich gedeckter Tisch – vermittelt dem Kind (und auch dem Erwachsenen) die Erfahrung, dass Essen mehr ist als bloße Nahrungsaufnahme. Zur Kultur des Essens gehören auch bestimmte Regeln oder Rituale, sei es der feste Platz am Esstisch, den Kinder in der Regel bevorzugen. Sei es die Höflichkeitsregel, erst mit dem Essen zu beginnen, wenn alle etwas auf dem Teller haben, nicht zuletzt das Ritual, wie z.B. ein gemeinsames Tischgebet. 4.3. Machen Sie das Essen zu einer positiven Gemeinschaftserfahrung Optimal ist, wenn das gemeinsame Essen in einer Atmosphäre von Ruhe und Entspannung verlaufen kann. Das ist nicht immer möglich; es gibt Streit zwischen den Geschwistern, dicke Luft in der Familie.... Sie können als Erwachsene allerdings dafür sorgen, dass die Konflikte nicht während der Mahlzeiten ausgetragen werden. Nutzen Sie Ihre elterliche Richtlinienkompetenz. Beim Essen sollte wirklich nur gegessen werden, nicht gleichzeitig Spiele gespielt, Hausaufgaben gemacht, gelesen, Fernsehen geschaut. Hier ist das gute Beispiel der Erwachsenen angesagt. 4.4. Lassen Sie Ausnahmen gelten So wichtig klare Regelungen und Ordnungen beim Essen sind, Ausnahmen bestätigen die Regel. Sie sind das Salz in der Suppe, wenn man sie als deutliche Ausnahmen deklariert. Wie diese Ausnahmen aussehen, hängt von den jeweiligen Ess-Regeln in der Familie ab. So kann es vielleicht sogar einen „Schmatztag“ geben oder einen Tag, an dem mit den Fingern gegessen wird oder man den Nachtischteller ablecken darf. Kinder genießen diese Ausnahmen und können ohne weiteres wieder zum normalen Ablauf zurückkehren. 4.5. Geben Sie der kindlichen Eigenbestimmung Raum Lassen Sie das Kind selbst die Menge der Nahrung bestimmen, auch wenn es manchmal noch Hilfe braucht. Laden Sie es ein, Ungewohntes wenigstens zu kosten. Sollte Ihr Kind entscheiden, bei einer Mahlzeit nichts oder sehr wenig zu essen, müssen sie das akzeptieren, aber dennoch mit sanftem Nachruck dafür sorgen, dass es die aufgestellten Regeln einhält. Wenigstens ein bisschen….. 4.6. Beteiligen Sie die Kinder an Auswahl und/oder Zubereitung Kinder wie Erwachsene haben Vorlieben und Abneigungen beim Essen. Nun kann natürlich nicht für jede und jeden täglich die jeweilige Lieblingsspeise gekocht werden. Manche Familien machen gute Erfahrungen damit, dass an einem bestimmten Wochen(end)tag ein Essen nach den Wünschen der Kinder gekocht wird. Schön ist es für Kinder, sie bei entsprechendem Alter mit Einkäufen für das Essen und auch mit der Zubereitung des Essens bzw. Teilen des Essens zu betrauen. Gemeint sind hier nicht Handlangerdienste, sondern die eigenständige Zubereitung eines Teils der Mahlzeit. Schon sehr kleine Kinder können z.B. eine Quarkspeise rühren, größere einen Salat machen... Es stärkt das Selbstbewusstsein und fördert die soziale Kompetenz. Das Kind erbringt eine Leistung für die Gemeinschaft und fördert die Freude am Essen. 5. Paradoxe Interventionen Es wird sie vielleicht irritieren, wenn ich nun eine Frage stelle, die mit dem Ausgangsproblem zunächst keine Verbindung hat. Die Frage lautet: „Wie bringt man eine Kuh am besten in den Stall? Spontan fallen uns zwei Möglichkeiten ein. Entweder wir ziehen die Kuh von vorne am Halsband, oder wir treiben sie von hinten in den Stall. Doch was ist, wenn beides nicht funktioniert und diese Maßnahmen nicht greifen? Dann ist der Fall eingetreten, für den der Verhaltensforscher Milton Erickson folgenden Vorschlag entwickelt hat. Er meint, am besten wäre es, wir zögen die Kuh am Schwanz, denn dann wird sie sich notgedrungen nach Vorne bewegen. Sie läuft dann ganz von selbst in den Stall. Dies ist ein Beispiel für eine „paradoxe Intervention“, die also für ein Verhalten steht, das Veränderung will, aber die üblichen Erwartungen, die die Beteiligten voneinander haben, nicht mehr erfüllt. Eine solche Maßnahme soll zu Reaktionen verleiten, die zwar nicht üblich sind, aber auf das Ziel hinführen können. Das Problem bei „paradoxen Interventionen“ ist jedoch, dass sie manipulieren können und deshalb hoch verantwortlich eingesetzt werden müssen. Der Vorteil ist, sie führen häufig zum Erfolg. Lassen sie mich das an einem Beispiel erläutern. Sie kennen sicher Menschen, die in bestimmten Situationen rot werden, weil sie sich in einer Situation glauben, die ihnen peinlich ist. Das kann so weit gehen, dass Panik entsteht, die die Betroffenen paralysiert und die dazu bringt, sozialen Anforderungen aus dem Weg zu gehen. Diese Menschen sind häufig in „Sich-selbst-erfüllendeProphezeiungen“ verstrickt. Weil sie in diesen Situationen ein Verhalten zeigen, das sie von sich selbst erwarten, reagieren sie immer wieder aufs Neue stereotyp. In solchen Fällen helfen „paradoxe Interventionen“, zum Beispiel dadurch, dass wir ihnen folgenden Ratschlag geben: a) b) c) Sorge ganz bewusst dafür, dass sich an der Häufigkeit des „Rotwerdens“ nichts ändert! Versuche in den entspannten Momenten (in den nicht roten Momenten!) ganz bewusst rot zu werden und schreibe in allen Details auf, wo das Rotwerden im Körper beginnt, wie es sich dort allmählich verbreitet und wo es sich dann am deutlichsten zeigt. Gehe dann mit der ganzen Kraft deiner Gedanken in diese Stellen hinein. Erstaunlich, in den meisten Fällen nimmt das Rotwerden tatsächlich ab. Der Betroffene programmiert seine Erwartungen um, so dass er sein Verhalten zunehmend besser kontrollieren kann. Die Selbstsicherheit steigt, und manchmal verschwindet das Rotwerden ganz. Das hat mit unserem Ausgangsproblem zu tun, denn es häufig sind auch misslungene Esssituationen mit solchen „Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiungen“ verbunden, die immer wieder das Problem stabilisieren. Das zu verändern ist anstrengend und es dauert in der Regel recht lang, aber es ist zumindest eine Möglichkeit, die gewohnte Inszenierung neu zu gestalten. 5.1. Neurobiologische Aspekte Schuld an dieser Widerständigkeit unseres Verhaltens ist die Arbeitsweise des Gehirns. In diesem Organ sind ca. zehn Milliarden Neuronen mit Millionen von Synapsen verkoppelt und zu ganz eigenständigen Netzwerken ausgeformt. Diese Netzwerke sind nur sehr schwer zu verändern. Sie haben sich im Laufe der Lebenszeit so verfestigt, dass sie aus sich heraus funktionieren. Zudem werden sie ständig mit biochemischem Botenstoffen, Neurotransmittern und Hormonen, versorgt, die die Grundlage der Bewertung des Handelns sind. Weil die Netzwerke in ihrer Tätigkeit auf positive Bewertungen angewiesen sind, müssen sie von guten Gefühlen begleitet sein. Das heißt, das Handeln muss sich im Leben bewähren. Bewähren bedeutet Bestätigung. Dieses Gefühl wird von den entsprechenden Botenstoffen bewirkt, die dann die Tätigkeit wieder aktivieren. Angst und Zwang helfen hier nicht weiter. Denn als Bewertungsgrundlage sind sie kontraproduktiv. Als Grundgefühle sind sie für die Stabilisierung der Netzwerke nicht optimal. Sicher, auch unter Angst und Zwang wird gelernt, aber eben nicht in einer genügend dynamischen Weise. Dieses Lernen wird schlechter verankert und es verbraucht zu viel Energie, weil das Gehirn ständig mit der Abwehr der Begleiterscheinungen der unguten Gefühle beschäftigt ist. Das Lernen funktioniert dann am besten, wenn der Mensch etwas Befriedigendes und für ihn Sinnvolles tut. Das heißt, wenn er bei seinen Aktivitäten selbst etwas regelt und dabei gute Gefühle entwickelt. Wird diese Auseinandersetzung von wohlgesinnten und kooperativen Menschen begleitet, wird die Grundlage des Lernens stabilisiert. Selbstwert entwickelt sich und zugleich die Achtung vor dem Wert der Kultur, die wir brauchen, um uns weiter anstrengen zu wollen. Ist das Lernen blockiert, müssen wir dem Gehirn folglich ein Schnippchen schlagen, das es dann dazu veranlassen wird, allmählich umlernen zu wollen. Und genau hier setzt die Idee der „paradoxen Intervention“ von Milton Erickson an. Kurz ein Beispiel, um eine Blockierung des Lernens verdeutlichen zu können. Eine Mutter schenkt ihrem Sohn zwei neue Sporthemden. Als er zum ersten Mal eines davon trägt, blickt sie ihn ganz traurig an und sagt: „Das andere gefällt Dir wohl nicht?“ Wenn man diese Situation genauer betrachtet, wird man erkennen, dass die Mutter ihrem Jungen eigentlich keine Chance gibt, ihr seine Dankbarkeit zu zeigen. Denn er kann nicht beide Hemden gleichzeitig tragen. Trotzdem reagiert seine Mutter mit Enttäuschung. Das prägt sich dem Jungen ein. Das Verhalten der Mutter gibt ihm das Gefühl, dass er es ihr eigentlich nicht recht machen kann. In diesem Fall lautet die „Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiung“: „Egal, was du machst, der Mutter genügt es nicht.“ Auf der Seite der Mutter: „Mein Junge ist nicht dankbar. Er belohnt meine Zuwendung nicht.“ Eine Beziehungsfalle bildet sich aus, aus der beide vielleicht nicht mehr herausfinden können. 6. Analyse einer Alltagssituation Die Mutter eines körperlich und geistig schwer beeinträchtigten Kindes hilft ihrem Kind beim Essen. Sie versucht immer wieder den gefüllten Löffel in den geschlossenen Mund des Kindes zu schieben. Sie merkt zwar, dass sich das Kind dagegen wehrt, geht aber nicht wirklich darauf ein. Sie sagt zwar: „Schmeckt es Dir nicht?“, schiebt aber fast zugleich den nächsten Löffel hinterher. Das Kind reagiert auf dieses Verhalten, und tut das, was aus seiner Sicht vernünftig ist. Es presst die Lippen zusammen und erhöht so seinen Widerstand. Das Kind handelt funktional, denn alles andere würde ihm den Rest seiner Selbständigkeit rauben. Aber genau das ist für beide fatal. Die Mutter verstärkt den Zwang. Das Kind seinen Widerstand. Es weiß nicht, dass die Mutter die tief sitzende Angst in sich trägt, das Kind könnte möglicherweise sterben, was als Handlungsmotiv einer tiefer greifenden Veränderung immer wieder entgegen steht. Die Mutter will zwar das Beste für ihr Kind, handelt sich dadurch aber seinen Widerstand ein. Hier wäre also Platz für eine „paradoxe Intervention“. Die Mutter müsste aus ihrem Aktionismus aussteigen und lernen, Druck aus der Situation heraus nehmen zu können. Das heißt, sie müsste warten, bis das Kind etwas macht, was sie dann positiv bestätigen kann. Dem steht jedoch ihre Angst entgegen, die sie nicht überwinden kann, und die sie dazu zwingt, immer wieder den Löffel in den Mund einführen zu wollen. Wenn sie akzeptieren könnte, dass das Kind nicht so schnell stirbt, könnte sie sich diesem inneren Zwang entziehen. Möglicherweise würde es ihr helfen, wenn sie sicher sein könnte, dass das Kind nicht verhungern wird. In diesem Fall wäre es angebracht, das Kind für eine bestimmte Zeit mit einer Magensonde (nicht mit einer Nasensonde!) zu versorgen, so dass sie sich voll und ganz darauf konzentrieren könnte, parallel dazu eine Esssituation zu gestalten, in der sie entspannt auf die kleinste Aktivität des Kindes eingehen könnte. Wenn es dabei gelänge aus dem verfestigten Anforderungszirkel aussteigen zu können, und sie es schaffen würde, ganz bewusst darauf zu warten, bis das Kind eigene Ansätze der Initiative zeigt, wäre ein wichtiger Schritt in die Veränderung gemacht. Die Mutter könnte z.B. in Gegenwart des Kindes selbst genussvoll essen und zwar etwas, was auch das Kind gerne mag. Sie könnte gegenwärtig sein und dennoch Gelassenheit üben. Sie könnte dem Kind vermelden, dass sie seine Initiative wahrgenommen hat und dann ein Angebot machen, dem sich das Kind auch verweigern darf. Damit wäre eine neue Grundhaltung geschaffen, in der auch der Widerstand des Kindes positiv aufgehoben ist. Ein nächster Schritt wäre bei diesem Angebot zu bleiben, bis das Kind irgendwann von sich aus eine Zuwendungshandlung zeigt und von sich aus eine Berührung der Mutter herstellen will. Wenn das ohne weiteren Zwang geschieht, wird das Kind seinen Selbstwert wieder stabilisieren. Virginia Satir, eine amerikanische Familientherapeutin, hat den Selbstwert einmal mit einem Topf verglichen, der in zweierlei Hinsicht gefüllt sein kann. Entweder mit guten Gefühlen, wie Freude, Neugier, Vertrauen und Sicherheit, oder aber mit Gefühlen, wie Angst, Trauer, Scham und Wertlosigkeit. Im ersten Fall ist die kindliche Entwicklung gefühlsmäßig bestens eingebaut, im zweiten, wird sie auf Dauer zerstört. Natürlich ist eine gute Mischung notwendig, was soviel bedeutet, dass in dem Topf die guten Gefühle überwiegen. Diese entscheiden nämlich darüber, ob das Kind seine eigenen Geschicke in die Hand nehmen will, oder ob es seine Kräfte verliert, also mutlos, apathisch und freudlos wird. Ist das so, verstärkt das seine Einsamkeit. Seine Isolation wird vergrößert. Dass es dann nicht mehr besonders liebenswert ist, macht die eigentliche Tragik dieser Problematik aus. Ist der Selbstwert-Topf jedoch mit guten Gefühlen gefüllt, weiß das Kind, dass es (sich) etwas bedeutet und dass es die Welt durch seine Anwesenheit ein kleines Stück reicher macht. Dann glaubt es an seine Gestaltungskraft und kann für andere Menschen nützlich sein. Seine Fähigkeit zu eigenständigem Handeln steigt. Es strahlt Vertrauen, Würde und Hoffnung aus. Es wird von anderen Menschen geliebt, weil es freundlich und ausgeglichen ist. Dass das auch beim Essen so ist, mag zunächst erstaunlich sein. Aber der Volksmund weiß schon lange, dass die Liebe auch durch den Magen geht.