Blickwinkel 15.3.05

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Wolfgang Praschak
Nein, meine Suppe esse ich nicht!
Essprobleme mit behinderten Kindern
Der Kaspar, der war kerngesund,
Ein dicker Bub und kugelrund.
Er hatte Backen rot und frisch;
Die Suppe aß er hübsch bei Tisch.
Doch einmal fing er an zu schrein:
"Ich esse keine Suppe! Nein!
Ich esse meine Suppe nicht!
Nein, meine Suppe ess ich nicht!"
Am nächsten Tag - ja sieh nur her!
Da war er schon viel magerer.
Da fing er wieder an zu schrein:
"Ich esse keine Suppe! Nein!
Ich esse meine Suppe nicht!
Nein, meine Suppe ess ich nicht!"
Am Am dritten Tag, o weh und ach!
Wie ist der Kaspar dünn und schwach!
Doch als die Suppe kam herein,
Gleich fing er wieder an zu schrein:
"Ich esse keine Suppe! Nein!
Ich esse meine Suppe nicht!
Nein, meine Suppe ess ich nicht!"
Am vierten Tage endlich gar
Der Kaspar wie ein Fädchen war.
Er wog vielleicht ein halbes Lot Und war am fünften Tage tot.
1. Das Essen aus kultureller Sicht
Viele kennen ihn noch, den „Suppen-Kaspar“ aus dem „Struwelpeter“, jener
Kindergeschichtensammlung, in der Heinrich Hoffmann (1801-1894) schon vor fast
zweihundert Jahren kindliche Verhaltensweisen beschrieb, die uns heute noch auf
den Nägeln brennen. In den Geschichten vom „Suppen-Kaspar“, vom „bösen
Friederich“, vom „Zappelphilipp“, von „Hans-guck-in-die-Luft“, von der „ZündelPauline“ konfrontiert er uns mit Verhaltensweisen, die wir auch heute noch gut und
gerne als problematisch beschreiben. In der Geschichte vom „Suppen-Kaspar“
erzählt er von einem trotzigen und magersüchtigen Kind, das seinen Tod inszeniert
und dabei gehörig mit den Ängsten seiner Eltern spielt.
Diese Inszenierung finden wir auch heute noch in allen Schichten unserer
Gesellschaft. Sie hat offensichtlich nichts mit der Herkunft der Betroffenen zu tun,
auch nichts mit dem Intelligenzgrad, oder dem Körper mit dem sie ausgestattet sind.
Hinter diesem Problem verbirgt sich in der Regel ein familiäres Problem, das nur
selten auf organische Defekte, oder auf Charaktereigenschaften zurück zu führen ist.
Ob das Heinrich Hoffman schon wusste, bleibt ungewiss, aber für die betroffenen
Eltern ist es schwer, zu akzeptieren, dass das Essproblem ihres Kindes mit der
Familiengeschichte verwoben ist. Der Kaspar macht es deutlich. Kinder mit einem
manifesten Essproblem wollen uns etwas sagen. Etwas, worüber sie selbst nicht
Bescheid wissen müssen. Aber etwas, das verschlüsselt mit den
lebensgeschichtlichen Bedingungen verbunden ist.
Was uns den Umgang mit Essproblemen heute zusätzlich erschwert, ist das
eigenartige Phänomen, dass diese in unserer Gesellschaft schon fast zur Normalität
gehören. Nicht wenige Menschen schlagen sich mit Essproblemen herum, besessen
von dem Wunsch, ihre Konfektionsgröße immer weiter nach unten schrauben zu
können. Sie geraten in Panik, wenn die Waage eine andere Sprache spricht und sie
indirekt dazu zwingt, ihr Gewicht und die Körpermaße manipulieren zu wollen. Nicht
wenige zerreißen sich zwischen einer Nulldiat, um dann immer wieder enttäuscht im
Jojoeffekt zu versinken. Die Jagd nach dem Idealgewicht, der Idealgröße und den
Idealmaßen bestimmt ihren Alltag, in dem das genussvolle Essen zum Problem
geworden ist. Einerseits wird im Übermaße kontrolliert, andererseits gehen in den
Fressorgien die Wertorientierungen und Vorsätze wieder verloren.
Schönheitschirurgen und Gymnastikstudios leben gut in diesem Trend, der schon
lange kein Frauenproblem mehr ist. Mittlerweile sitzen auch die Männer im Boot.
Tragisch ist, dass unsere Kinder in diesem Wirrwarr die Orientierung verlieren und
schon sehr früh entweder übergewichtig werden, oder in den Fallstricken eines
problematischen Schönheitswahns gefangen sind. Es scheint so: Wir gehen immer
verkrampfter mit dem Essen um, malträtiert von geheimen Verführern. Überspitzt,
unsere Gesellschaft hat ein Essproblem, das in die Erziehung unserer Kinder schon
eingedrungen ist. Bedroht von einem kulturellen Wandel, steht die Volksgesundheit
auf dem Spiel.
2. Die versteckte Symbolik des Problems
Die Fachleute, die sich mit diesen Problemen beschäftigen, sehen Verbindungen zur
frühen Kindheit und zum Bindungsaufbau. Sie sehen einem gestörten Selbstwert der
Betroffenen, der es verhindert, dass sie zu einer normalen Genussfähigkeit finden
können. Sie sehen Leistungsängste und Partnerprobleme, die in die familiären
Auseinandersetzungen eingewoben sind. Sie sehen Nöte in der Entfaltung einer
befriedigenden Körperlichkeit.
Essprobleme sind also nur selten individuell. Sie betreffen die Lebensgeschichte und
damit das ganze familiäre System, in dem die Nahrungsaufnahme regelmäßig zum
Problem geworden ist, das das Wohlbefinden aller Beteiligten untergräbt. Weil die
Kinder beim Essen Schwierigkeiten machen, gelingt es nur schwer, eine tragende
Säule unserer Kultur wirklich schmackhaft zu machen. Die lebenstragende
Genussfähigkeit wird zerstört. Die Freude am gemeinsamen Essen stellt sich nicht
ein. Verhaltensweisen entstehen, die das Kind und die Eltern verändern. Das Kind
driftet eventuell in die Verweigerung, oder antwortet mit übermäßiger Gier. Manche
gehen den Weg in die Bulimie, wobei jedes Verhalten für sich zu einer Zerstörung
des Körpers führt, der in seinem individuellen Wert und in seiner sozialen Bedeutung
verleugnet wird.
Der „Suppen-Kaspar“ sagt uns also mit aller Vehemenz, dass er sich gegen die
Beziehung zu seiner Mutter wehrt, die das Essen in einer Weise gestaltet wie er es
nicht mehr will. Das zu akzeptieren ist schwer. Diese Verweigerung kränkt und sie
bindet eine zerstörerische Macht, die gegenseitig immer wieder ausgespielt werden
kann. Letztlich übersteigt sie die Grenzen der Toleranz. Sie macht Angst. Sie
überfordert die liebende Kraft. Ein Machtkampf entsteht, der unausweichlich die
gegenseitige Annäherung untergräbt. Stress und Frust wechseln sich ab, weil die
üblichen pädagogischen Maßnahmen keine Wirkung erzielen. Verzweiflung nimmt
überhand, was so viel bedeutet, dass eine Veränderung nur noch langfristig möglich
ist. Und das auch nur dann, wenn die Eltern wieder Mut schöpfen können und das
Kind wieder zu sich selbst finden kann.
Nicht nur bei den magersüchtigen Kindern ist das so, denn auch die, die viel zu dick
geworden sind, also ihr Zerplatzen inszenieren, sagen insgeheim, dass ihnen am
Wert des Essens nichts mehr liegt. Sie schaden ihrem Körper und haben die
Kontrolle über das Essen verloren. Sie entwerten sich selbst und damit auch
diejenigen, die mit ihnen verbunden sind. Mit ihrer Gier und ihrem Übermaß geraten
sie in einen Teufelskreis, der zerstörerisch wirkt. Weil sie zu dick sind, bewegen sie
sich wenig. Weil sie sich wenig bewegen, verbrauchen sie zu wenig Energie. Und
immer wieder saugen sie Essbares in sich auf, ohne wirklich befriedigt zu sein. Weil
kein Hungergefühl mehr entsteht, geht die Genussfähigkeit kaputt. Weil ein
psychischer Mangel kompensiert werden muss, verfestigt sich ein Zwang, der im
Extremfall so weit geht, dass selbst Ungenießbares verschlungen wird. Das Kind
stopft sich voll, um wenigstens für kurze Zeit zur Ruhe zu kommen, verstärkt dabei
aber seine Lethargie, aus der es alleine nicht mehr heraus finden kann.
Diese Spirale bringt die Eltern in Not. Möglicherweise verbunden mit dem Gefühl, sie
hätten gänzlich versagt, führt das dazu, den Zwang zu verstärken. In diesem Fall
zumeist der Zwang zu irgendeiner Diät. Doch die vergrößert in der Regel das
Problem, oder hilft nur für ganz kurze Zeit. Das Kind beginnt mit seiner Sucht die
Umgebung zu tyrannisieren. Es fordert Machtkämpfe heraus, in denen es um Sieg
und Niederlage geht. Dabei wird Machtkampf für Machtkampf der familiäre Frieden
zerstört, häufig begleitet von Resignation, was dann die problematischen
Verhaltensweisen stabilisiert, die ganz allmählich alle Lebensbereiche durchdringen.
3. Organische Zusammenhänge bei einer Hirnschädigung
Wenn ein Kind mit einer Schädigung des Zentralen Nervensystems leben muss, oder
aufgrund eines genetischen Defekts in seiner Persönlichkeitsentwicklung
beeinträchtigt ist, verbinden sich die Probleme in der Auseinadersetzung mit den
Gegebenheiten des Lebens häufig auch mit Problemen bei der Gestaltung des
Essens. Weil die Kinder Schwierigkeiten bei der Koordination der Motorik des Mundund Rachenraumes haben, ist das Saugen, das Schlucken, das Beißen und Kauen
oft erheblich erschwert. Die Kinder erleben aufgrund dieser Probleme häufig Stress
und Überforderung, weil sie sich beim Essen und Trinken übermäßig anstrengen
müssen. Das Essen gerät zu einer Tortur, die den Genuss untergräbt. Häufig stellen
sich auch Verdauungsprobleme ein, die dann die Nahrungsaufnahme wieder indirekt
erschweren.
Werden dann verdauungsfördernde Medikamente gegeben, entsteht schnell ein
Teufelskreis. Die Darmtätigkeit stellt sich auf die Medikamente ein und wird sogar
noch träger als zuvor, was dann wieder zur Erhöhung der Dosierung führt. Nicht
selten entstehen Stoffwechselprobleme, die Nahrungsunverträglichkeiten
hinterlassen und die Gesundheit des Kindes bedrohen. Schwächen des
Immunsystems führen zu Nahrungsallergien, die nur schwer zu heilen sind. Eine
sorgfältige medizinische Diagnostik und eine individuelle Ernährungsberatung, die
nach Möglichkeiten sucht, eine Nahrung zu bieten, die dem Kind schmeckt, seinem
Stoffwechsel und seinen motorischen Möglichkeiten angepasst ist, kann in solchen
Fällen hilfreich sein.
3.1. Voraussetzungen in der Bewegungsentwicklung
Grundsätzlich muss jedes Kind in seiner motorischen Entwicklung verschiedene
Stufen durchlaufen, damit sich das Saugen sich zum Kauen erweitern kann. Erst
wenn sich durch die Saugtätigkeit der Mundraum vergrößert, kann auch der
Unterkiefer sich so verändern, dass Raum für die Zahnbildung geschaffen wird.
Durch das Wachstum der Nasenwege und des Nasenhohlraumsystems vergrößert
sich der Kehlkopfraum. Das Zäpfchen zieht sich zurück, was notwendig ist, damit
sich das willkürliche Schlucken entwickeln kann. Die Koordination der Nacken-,
Mund- und Kehlkopfmuskulatur führt zur Kopfkontrolle, die wieder Voraussetzung für
das freie Essen ist. Damit einher geht die Seitbewegung der Zunge, die
Voraussetzung für den Transport der Nahrung im Mundraum ist und mit dem aktiven
Schlucken verbunden wird. Erst im Zusammenhang mit der Rotationsbewegung des
Unterkiefers kann ein Nahrungsbällchen ausgeformt werden, um es nach hinten in
den Rachenraum schieben zu können, so dass es willkürlich geschluckt werden
kann. Die Differenzierung der Zungenbewegung, die Ratation des Unterkiefers, im
Zusammenhang mit der Differenzierung des Nahrungstransports führen dann zum
eigentlichen Essen, das mit dem Kauvorgang verbunden ist.
Dieser wird nicht von allen Kindern gelernt, denn die frühkindlich erworbenen
neuronalen Störungen ziehen immer unökonomische Anpassungsleistungen der
Motorik nach sich, die auch die Muskeln des Nacken- und Schulterbereiches
betreffen. Sie können dann die notwendige Stützfunktion beim Essen nicht
übernehmen. Aufgrund der Über- oder Unterspannung der beteiligten Muskulatur
kommt es zu Deformationen des Kiefers und des Gaumens. Ein mangelnder
Mundschluss entsteht, der die fein abgestimmte Balance zwischen dem Außen- und
Innendruck des Mundraumes erschwert. Die Folge sind Erschwernisse beim
Schlucken. Es kommt zu einer übermäßigen Speichelproduktion. Die nach vorne
verlagerte Zunge hinterlässt einen mangelnden Sog, der durch eine
kompensatorische Ausbildung der beteiligten Weichteile wieder ausgeglichen wird
und nur durch esstherapeutische Maßnahmen zu lindern ist.
4. Psychologische und pädagogische Hintergründe
In psychologischer Hinsicht ist die Essenssituation als soziale Situation gestört.
Zumeist sind es unklare und widersprüchliche Anforderungen an das Kind, oft
verbunden mit Kommunikationsstörungen, die zu einer mangelnde Orientierung
führen und problematische Verhaltensweisen provozieren. Mehrere Male am Tage
entsteht eine Form der Zusammenarbeit, die sehr brüchig ist und schließlich
überhaupt nicht mehr funktioniert. Die Versuche das Kind zu tadeln, zu loben, zu
unterstützen, ihm Grenzen zu setzen, helfen nichts. Weil das Kind schlecht isst,
werden immer mehr Handlungen stabilisiert, die für beide Seiten unbefriedigend sind.
Die Familie gerät immer mehr unter Druck. Alle guten Ratschläge haben versagt. Die
üblichen Tricks funktionieren nicht.
Allgemeiner formuliert: Die Familie und das Kind haben ein gemeinsames Problem,
das regelmäßig wiederkehrt. Es entsteht ein so genanntes Problemsystem, das zur
Folge hat, dass immer mehr Energie investiert werden muss. Schließlich dreht sich
alles um dieses System. Weil das Kind mit seiner Widerständigkeit seine Eltern
manipuliert und diese mit Gegenmanipulationen reagieren, entsteht eine
zerstörerische Dynamik, die nicht selten mit seltsamen Ritualen beantwortet wird.
Das Kind wird z.B. nur noch mit Yoghurt gefüttert, weil das in manchen Situationen
erfolgreich war. Oder die Mutter geht mit einem gefüllten Löffel stetig zwischen der
Küche und dem Wohnzimmer hin und her, weil das Kind nur unter dieser
Voraussetzung schon mal ein paar Häppchen isst. Eine explosive Mischung aus Wut,
Verzweiflung, Hilflosigkeit entsteht, oft noch mit Schuldgefühlen gepaart, die
irgendwann in der Verzweiflung enden. Das Karussell steht nicht mehr still. Die
gegenseitige Zuwendung wird zum K(r)ampf, in dem das Kind seine Stärke aus dem
Widerstand bezieht. Die soziale Situation wird zunehmend paradox.
Eltern, die in diese Beziehungsfalle stecken, sind zugleich in einer Stressfalle
gefangen, die ihre Identität bestimmt. Fragen, die nach dem oder den Schuldigen
fanden, sind deshalb sinnlos, weil unproduktiv. Sie ändern an dem Geschehen
nichts, vielmehr verstärken sie das Problem. Es gilt eine neu gestaltete Zukunft zu
suchen, in der weitere Eskalationen verhindert sind und der ständige Machtkampf
eine Linderung erfährt. Dieser wird zwar auf längere Zeit hinaus nicht gänzlich zu
verhindern sein, aber neu zu regulieren ist er doch.
Weil die Probleme nicht von heut auf morgen verschwinden, wird die Gestaltung des
Essens weiterhin störanfällig sein. Dennoch lohnt es sich einer neuen und
produktiven Gemeinsamkeit den Weg zu öffnen. Dennoch macht es Sinn, einen
Raum zu schaffen, in dem mit genügend Zeit und der notwendigen Ruhe wenigstens
einmal am Tag an der Veränderung der Esssituation gearbeitet werden kann. Denn
das Kind und die Mutter müssen wieder zu ihren Möglichkeiten finden und ihren
Selbstwert neu stabilisieren. Das wird geschehen, wenn ihnen Druck und
Überforderung genommen wird. Gefragt ist demnach eine Neugestaltung der
Ausgangssituation, ebenso wie Verständnis für die Not, in der alle zusammen
befangen sind. Jede Besserwisserei wird das verhindern, denn das neue
Arrangement ist nur gemeinsam zu finden. Konsequentes Handeln muss sich mit
wertschätzender Bestätigung vereinen und zu einer langfristigen Beruhigung der
familiären Situation beitragen können. Grundlegend dazu ist die Einhaltung von
bewährten Regeln zur Gestaltung der Esssituation, die ich kurz vorstellen will.
4.1. Sorgen Sie für Regelmäßigkeit
Feste Zeiten, an denen Mahlzeiten stattfinden, sind nicht so einfach zu realisieren.
Dennoch lässt sich bei entsprechendem Bemühen erreichen, dass eine oder zwei
Mahlzeiten am Tag zu festgelegten Zeiten stattfinden können. Das gibt dem Kind
Sicherheit und Orientierung, und auch wir Erwachsenen profitieren davon.
Regelmäßige Mahlzeiten beugen am ehesten einem unkontrollierten Essen vor.
Beim „Hunger zwischendurch“ kann auf die jeweils nächste Mahlzeit verwiesen
werden. Essen sollte keinesfalls nebenbei, beim Spielen, beim
Hausaufgabenmachen, mal eben am Küchenschrank geschehen.
4.2. Achten Sie auf „Ess-Kultur“
Ein schön gedeckter Tisch - bei besonderen Gelegenheiten auch ein festlich
gedeckter Tisch – vermittelt dem Kind (und auch dem Erwachsenen) die Erfahrung,
dass Essen mehr ist als bloße Nahrungsaufnahme. Zur Kultur des Essens gehören
auch bestimmte Regeln oder Rituale, sei es der feste Platz am Esstisch, den Kinder
in der Regel bevorzugen. Sei es die Höflichkeitsregel, erst mit dem Essen zu
beginnen, wenn alle etwas auf dem Teller haben, nicht zuletzt das Ritual, wie z.B. ein
gemeinsames Tischgebet.
4.3. Machen Sie das Essen zu einer positiven Gemeinschaftserfahrung
Optimal ist, wenn das gemeinsame Essen in einer Atmosphäre von Ruhe und
Entspannung verlaufen kann. Das ist nicht immer möglich; es gibt Streit zwischen
den Geschwistern, dicke Luft in der Familie.... Sie können als Erwachsene allerdings
dafür sorgen, dass die Konflikte nicht während der Mahlzeiten ausgetragen werden.
Nutzen Sie Ihre elterliche Richtlinienkompetenz. Beim Essen sollte wirklich nur
gegessen werden, nicht gleichzeitig Spiele gespielt, Hausaufgaben gemacht,
gelesen, Fernsehen geschaut. Hier ist das gute Beispiel der Erwachsenen angesagt.
4.4. Lassen Sie Ausnahmen gelten
So wichtig klare Regelungen und Ordnungen beim Essen sind, Ausnahmen
bestätigen die Regel. Sie sind das Salz in der Suppe, wenn man sie als deutliche
Ausnahmen deklariert. Wie diese Ausnahmen aussehen, hängt von den jeweiligen
Ess-Regeln in der Familie ab. So kann es vielleicht sogar einen „Schmatztag“ geben
oder einen Tag, an dem mit den Fingern gegessen wird oder man den
Nachtischteller ablecken darf. Kinder genießen diese Ausnahmen und können ohne
weiteres wieder zum normalen Ablauf zurückkehren.
4.5. Geben Sie der kindlichen Eigenbestimmung Raum
Lassen Sie das Kind selbst die Menge der Nahrung bestimmen, auch wenn es
manchmal noch Hilfe braucht. Laden Sie es ein, Ungewohntes wenigstens zu kosten.
Sollte Ihr Kind entscheiden, bei einer Mahlzeit nichts oder sehr wenig zu essen,
müssen sie das akzeptieren, aber dennoch mit sanftem Nachruck dafür sorgen, dass
es die aufgestellten Regeln einhält. Wenigstens ein bisschen…..
4.6. Beteiligen Sie die Kinder an Auswahl und/oder Zubereitung
Kinder wie Erwachsene haben Vorlieben und Abneigungen beim Essen. Nun kann
natürlich nicht für jede und jeden täglich die jeweilige Lieblingsspeise gekocht
werden. Manche Familien machen gute Erfahrungen damit, dass an einem
bestimmten Wochen(end)tag ein Essen nach den Wünschen der Kinder gekocht
wird. Schön ist es für Kinder, sie bei entsprechendem Alter mit Einkäufen für das
Essen und auch mit der Zubereitung des Essens bzw. Teilen des Essens zu
betrauen. Gemeint sind hier nicht Handlangerdienste, sondern die eigenständige
Zubereitung eines Teils der Mahlzeit. Schon sehr kleine Kinder können z.B. eine
Quarkspeise rühren, größere einen Salat machen... Es stärkt das Selbstbewusstsein
und fördert die soziale Kompetenz. Das Kind erbringt eine Leistung für die
Gemeinschaft und fördert die Freude am Essen.
5. Paradoxe Interventionen
Es wird sie vielleicht irritieren, wenn ich nun eine Frage stelle, die mit dem
Ausgangsproblem zunächst keine Verbindung hat. Die Frage lautet: „Wie bringt man
eine Kuh am besten in den Stall? Spontan fallen uns zwei Möglichkeiten ein.
Entweder wir ziehen die Kuh von vorne am Halsband, oder wir treiben sie von hinten
in den Stall. Doch was ist, wenn beides nicht funktioniert und diese Maßnahmen nicht
greifen? Dann ist der Fall eingetreten, für den der Verhaltensforscher Milton Erickson
folgenden Vorschlag entwickelt hat. Er meint, am besten wäre es, wir zögen die Kuh
am Schwanz, denn dann wird sie sich notgedrungen nach Vorne bewegen. Sie läuft
dann ganz von selbst in den Stall.
Dies ist ein Beispiel für eine „paradoxe Intervention“, die also für ein Verhalten steht,
das Veränderung will, aber die üblichen Erwartungen, die die Beteiligten voneinander
haben, nicht mehr erfüllt. Eine solche Maßnahme soll zu Reaktionen verleiten, die
zwar nicht üblich sind, aber auf das Ziel hinführen können. Das Problem bei
„paradoxen Interventionen“ ist jedoch, dass sie manipulieren können und deshalb
hoch verantwortlich eingesetzt werden müssen. Der Vorteil ist, sie führen häufig zum
Erfolg. Lassen sie mich das an einem Beispiel erläutern.
Sie kennen sicher Menschen, die in bestimmten Situationen rot werden, weil sie sich
in einer Situation glauben, die ihnen peinlich ist. Das kann so weit gehen, dass Panik
entsteht, die die Betroffenen paralysiert und die dazu bringt, sozialen Anforderungen
aus dem Weg zu gehen. Diese Menschen sind häufig in „Sich-selbst-erfüllendeProphezeiungen“ verstrickt. Weil sie in diesen Situationen ein Verhalten zeigen, das
sie von sich selbst erwarten, reagieren sie immer wieder aufs Neue stereotyp. In
solchen Fällen helfen „paradoxe Interventionen“, zum Beispiel dadurch, dass wir
ihnen folgenden Ratschlag geben:
a)
b)
c)
Sorge ganz bewusst dafür, dass sich an der Häufigkeit des „Rotwerdens“
nichts ändert!
Versuche in den entspannten Momenten (in den nicht roten Momenten!) ganz
bewusst rot zu werden und schreibe in allen Details auf, wo das Rotwerden im
Körper beginnt, wie es sich dort allmählich verbreitet und wo es sich dann am
deutlichsten zeigt.
Gehe dann mit der ganzen Kraft deiner Gedanken in diese Stellen hinein.
Erstaunlich, in den meisten Fällen nimmt das Rotwerden tatsächlich ab. Der
Betroffene programmiert seine Erwartungen um, so dass er sein Verhalten
zunehmend besser kontrollieren kann. Die Selbstsicherheit steigt, und manchmal
verschwindet das Rotwerden ganz.
Das hat mit unserem Ausgangsproblem zu tun, denn es häufig sind auch
misslungene Esssituationen mit solchen „Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiungen“
verbunden, die immer wieder das Problem stabilisieren. Das zu verändern ist
anstrengend und es dauert in der Regel recht lang, aber es ist zumindest eine
Möglichkeit, die gewohnte Inszenierung neu zu gestalten.
5.1. Neurobiologische Aspekte
Schuld an dieser Widerständigkeit unseres Verhaltens ist die Arbeitsweise des
Gehirns. In diesem Organ sind ca. zehn Milliarden Neuronen mit Millionen von
Synapsen verkoppelt und zu ganz eigenständigen Netzwerken ausgeformt. Diese
Netzwerke sind nur sehr schwer zu verändern. Sie haben sich im Laufe der
Lebenszeit so verfestigt, dass sie aus sich heraus funktionieren. Zudem werden sie
ständig mit biochemischem Botenstoffen, Neurotransmittern und Hormonen,
versorgt, die die Grundlage der Bewertung des Handelns sind. Weil die Netzwerke in
ihrer Tätigkeit auf positive Bewertungen angewiesen sind, müssen sie von guten
Gefühlen begleitet sein. Das heißt, das Handeln muss sich im Leben bewähren.
Bewähren bedeutet Bestätigung. Dieses Gefühl wird von den entsprechenden
Botenstoffen bewirkt, die dann die Tätigkeit wieder aktivieren. Angst und Zwang
helfen hier nicht weiter. Denn als Bewertungsgrundlage sind sie kontraproduktiv. Als
Grundgefühle sind sie für die Stabilisierung der Netzwerke nicht optimal. Sicher, auch
unter Angst und Zwang wird gelernt, aber eben nicht in einer genügend dynamischen
Weise. Dieses Lernen wird schlechter verankert und es verbraucht zu viel Energie,
weil das Gehirn ständig mit der Abwehr der Begleiterscheinungen der unguten
Gefühle beschäftigt ist.
Das Lernen funktioniert dann am besten, wenn der Mensch etwas Befriedigendes
und für ihn Sinnvolles tut. Das heißt, wenn er bei seinen Aktivitäten selbst etwas
regelt und dabei gute Gefühle entwickelt. Wird diese Auseinandersetzung von
wohlgesinnten und kooperativen Menschen begleitet, wird die Grundlage des
Lernens stabilisiert. Selbstwert entwickelt sich und zugleich die Achtung vor dem
Wert der Kultur, die wir brauchen, um uns weiter anstrengen zu wollen. Ist das
Lernen blockiert, müssen wir dem Gehirn folglich ein Schnippchen schlagen, das es
dann dazu veranlassen wird, allmählich umlernen zu wollen. Und genau hier setzt die
Idee der „paradoxen Intervention“ von Milton Erickson an.
Kurz ein Beispiel, um eine Blockierung des Lernens verdeutlichen zu können.
Eine Mutter schenkt ihrem Sohn zwei neue Sporthemden. Als er zum ersten Mal
eines davon trägt, blickt sie ihn ganz traurig an und sagt: „Das andere gefällt Dir wohl
nicht?“
Wenn man diese Situation genauer betrachtet, wird man erkennen, dass die Mutter
ihrem Jungen eigentlich keine Chance gibt, ihr seine Dankbarkeit zu zeigen. Denn er
kann nicht beide Hemden gleichzeitig tragen. Trotzdem reagiert seine Mutter mit
Enttäuschung. Das prägt sich dem Jungen ein. Das Verhalten der Mutter gibt ihm
das Gefühl, dass er es ihr eigentlich nicht recht machen kann. In diesem Fall lautet
die „Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiung“: „Egal, was du machst, der Mutter genügt
es nicht.“ Auf der Seite der Mutter: „Mein Junge ist nicht dankbar. Er belohnt meine
Zuwendung nicht.“ Eine Beziehungsfalle bildet sich aus, aus der beide vielleicht nicht
mehr herausfinden können.
6. Analyse einer Alltagssituation
Die Mutter eines körperlich und geistig schwer beeinträchtigten Kindes hilft ihrem
Kind beim Essen. Sie versucht immer wieder den gefüllten Löffel in den
geschlossenen Mund des Kindes zu schieben. Sie merkt zwar, dass sich das Kind
dagegen wehrt, geht aber nicht wirklich darauf ein. Sie sagt zwar: „Schmeckt es Dir
nicht?“, schiebt aber fast zugleich den nächsten Löffel hinterher. Das Kind reagiert
auf dieses Verhalten, und tut das, was aus seiner Sicht vernünftig ist. Es presst die
Lippen zusammen und erhöht so seinen Widerstand.
Das Kind handelt funktional, denn alles andere würde ihm den Rest seiner
Selbständigkeit rauben. Aber genau das ist für beide fatal. Die Mutter verstärkt den
Zwang. Das Kind seinen Widerstand. Es weiß nicht, dass die Mutter die tief sitzende
Angst in sich trägt, das Kind könnte möglicherweise sterben, was als Handlungsmotiv
einer tiefer greifenden Veränderung immer wieder entgegen steht. Die Mutter will
zwar das Beste für ihr Kind, handelt sich dadurch aber seinen Widerstand ein.
Hier wäre also Platz für eine „paradoxe Intervention“. Die Mutter müsste aus ihrem
Aktionismus aussteigen und lernen, Druck aus der Situation heraus nehmen zu
können. Das heißt, sie müsste warten, bis das Kind etwas macht, was sie dann
positiv bestätigen kann.
Dem steht jedoch ihre Angst entgegen, die sie nicht überwinden kann, und die sie
dazu zwingt, immer wieder den Löffel in den Mund einführen zu wollen. Wenn sie
akzeptieren könnte, dass das Kind nicht so schnell stirbt, könnte sie sich diesem
inneren Zwang entziehen. Möglicherweise würde es ihr helfen, wenn sie sicher sein
könnte, dass das Kind nicht verhungern wird. In diesem Fall wäre es angebracht, das
Kind für eine bestimmte Zeit mit einer Magensonde (nicht mit einer Nasensonde!) zu
versorgen, so dass sie sich voll und ganz darauf konzentrieren könnte, parallel dazu
eine Esssituation zu gestalten, in der sie entspannt auf die kleinste Aktivität des
Kindes eingehen könnte. Wenn es dabei gelänge aus dem verfestigten
Anforderungszirkel aussteigen zu können, und sie es schaffen würde, ganz bewusst
darauf zu warten, bis das Kind eigene Ansätze der Initiative zeigt, wäre ein wichtiger
Schritt in die Veränderung gemacht.
Die Mutter könnte z.B. in Gegenwart des Kindes selbst genussvoll essen und zwar
etwas, was auch das Kind gerne mag. Sie könnte gegenwärtig sein und dennoch
Gelassenheit üben. Sie könnte dem Kind vermelden, dass sie seine Initiative
wahrgenommen hat und dann ein Angebot machen, dem sich das Kind auch
verweigern darf. Damit wäre eine neue Grundhaltung geschaffen, in der auch der
Widerstand des Kindes positiv aufgehoben ist.
Ein nächster Schritt wäre bei diesem Angebot zu bleiben, bis das Kind irgendwann
von sich aus eine Zuwendungshandlung zeigt und von sich aus eine Berührung der
Mutter herstellen will. Wenn das ohne weiteren Zwang geschieht, wird das Kind
seinen Selbstwert wieder stabilisieren.
Virginia Satir, eine amerikanische Familientherapeutin, hat den Selbstwert einmal mit
einem Topf verglichen, der in zweierlei Hinsicht gefüllt sein kann. Entweder mit guten
Gefühlen, wie Freude, Neugier, Vertrauen und Sicherheit, oder aber mit Gefühlen,
wie Angst, Trauer, Scham und Wertlosigkeit. Im ersten Fall ist die kindliche
Entwicklung gefühlsmäßig bestens eingebaut, im zweiten, wird sie auf Dauer
zerstört. Natürlich ist eine gute Mischung notwendig, was soviel bedeutet, dass in
dem Topf die guten Gefühle überwiegen. Diese entscheiden nämlich darüber, ob das
Kind seine eigenen Geschicke in die Hand nehmen will, oder ob es seine Kräfte
verliert, also mutlos, apathisch und freudlos wird. Ist das so, verstärkt das seine
Einsamkeit. Seine Isolation wird vergrößert. Dass es dann nicht mehr besonders
liebenswert ist, macht die eigentliche Tragik dieser Problematik aus.
Ist der Selbstwert-Topf jedoch mit guten Gefühlen gefüllt, weiß das Kind, dass es
(sich) etwas bedeutet und dass es die Welt durch seine Anwesenheit ein kleines
Stück reicher macht. Dann glaubt es an seine Gestaltungskraft und kann für andere
Menschen nützlich sein. Seine Fähigkeit zu eigenständigem Handeln steigt. Es
strahlt Vertrauen, Würde und Hoffnung aus. Es wird von anderen Menschen geliebt,
weil es freundlich und ausgeglichen ist.
Dass das auch beim Essen so ist, mag zunächst erstaunlich sein. Aber der
Volksmund weiß schon lange, dass die Liebe auch durch den Magen geht.
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