KRIEG UND MEDIZIN Ein Gemeinschaftsprojekt der Wellcome Collection, London, und des Deutschen Hygiene-Museum 4. April bis 9. August 2009 AUSFÜHRLICHE PRESSEINFORMATION Krieg und Medizin - ein widersprüchlicheres Verhältnis ist kaum denkbar. Menschen verlieren im Krieg ihr Leben und erleiden entsetzliche Verletzungen. Der Zerstörungs-gewalt des Krieges steht das Ziel der ärztlichen Heilkunst gegenüber, Leiden zu lindern und Menschenleben zu retten. Dennoch arbeiten Militär und Medizin seit zwei Jahrhunderten eng zusammen. Aus internationaler Perspektive beleuchtet die Ausstellung entscheidende Schnittstellen in der Zusammenarbeit von Militär und Medizin seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis zu den Kriegen unserer Zeit. Historische Objekte und Kunstwerke veranschaulichen, wie der Wunsch des Menschen, zu heilen und wiederherzustellen, Schritt zu halten versucht mit seiner Fähigkeit, zu verstümmeln und zu töten. Eindringlich bezeugen persönliche Erzählungen die Erfahrungen von körperlicher und seelischer Verwundung im Krieg. Das Verhältnis von Krieg und Medizin ist bis heute zwiespältig. Angesichts der andauernden militärischen Präsenz europäischer Armeen in internationalen Krisengebieten soll dieses Verhältnis im Hinblick auf die aktuellen Geschehnisse reflektiert werden. Die Ausstellung wurde von der Wellcome Collection London und das Deutsche Hygiene-Museum Dresden gemeinsam realisiert. Ausgewählte Objekte Der Künstler David Cotterell 2008, Wellcome Collection, London David Cotterrell spricht über seine Erfahrungen im britischen Armeehospital der 1 Militärbasis Camp Bastion in Afghanistan, das er 2007 besuchte. Seine Reise unterstützte das britische Verteidigungsministerium und der Wellcome Trust London. Theatre David Cotterrell (*1974), 2008, 60 Min. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Galerie Danielle Arnaud contemporary art. Mit freundlicher Unterstützung des britischen Verteidigungsministeriums Der Titel „Theatre“ könnte mit „OP-Saal“ oder „Kriegsschauplatz“ übersetzt werden. Der Film bezieht sich auf die persönlichen Erfahrungen des Künstlers während seines Aufenthaltes in Afghanistan 2007. Er begleitete dabei einen Nachtflug zur Evakuierung eines schwer verletzten britischen Soldaten. Der Flug bildet symbolische eine Brücke zwischen dem Durcheinander des Lazaretts und dem langfristigen Prozess der Rehabilitation in der Heimat. „Theatre“ ist eine Rekonstruktion des letzten Ausbildungstages der Evakuierungsteams vor ihrem Einsatz in Afghanistan oder im Irak. Es bietet einen seltenen Einblick in eine sonst verborgene Welt. 1. DER APPARAT 1.1 DIE INITIATOREN Auf den Kriegsschauplätzen des frühen 19. Jahrhunderts sterben Tausende von Soldaten an Krankheiten, Verwundete bleiben hilflos auf den Schlachtfeldern liegen. Die katastrophalen Zustände alarmieren Krankenschwestern, Ärzte und medizinische Laien in ganz Europa. Zum einen setzen sich Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, wie die britische Krankenschwester Florence Nightingale, dafür ein, die medizinische Versorgung im Krieg zu verbessern. Zum anderen sind es Ärzte wie Dominique Larrey in Frankreich oder der Deutsche Ernst von Bergmann, die, eng mit dem Militär verbunden, ein funktionstüchtiges Sanitätswesen aufbauen. Ihnen allen gemeinsam ist der Wunsch, das Gesicht des Krieges menschlicher zu gestalten. Neben den humanitären Beweggründen spielen jedoch auch militärstrategische Überlegungen und patriotische Gefühle eine Rolle. Den Krieg als eigentlichen Verursacher des unendlichen Leids ächten nur wenige. 2 Kriegsopfer Diese Statistiken zeigen die Konflikte, auf welche sich die Ausstellung konzentriert. Sie liefern einen Anhaltspunkt für die ungeheure Zahl der Soldaten und Zivilisten, die in den Kriegen ihre Gesundheit und Leben verloren. Die Anzahl von Kriegsopfern zu ermitteln ist ein schwieriges Unterfangen. Es sind hier jene Zahlen abgebildet, über die Übereinstimmung zu herrschen scheint. Bei unterschiedlichen Angaben wurde ein Mittelwert bestimmt. Lücken bleiben, wo Zahlen unbekannt sind oder äußerst widersprüchliche Angaben existieren. Carl von Clausewitz (1780–1831), dessen Worte hier zitiert sind, ist bis heute einer der bekanntesten deutschen Militärtheoretiker. Ausgewählte Objekte Florence Nightingale (1820–1910) um 1861 (Reproduktion), The Florence Nightingale Museum Trust, London Nightingale arbeitete während des Krimkrieges als Krankenschwester für die britischen Truppen. Dieser Krieg erreichte durch die Presse eine zuvor nicht gekannte Öffentlich-keit und wurde von den Zeitgenossen als humanitäre Katastrophe wahrgenommen. Aufgrund ihrer aufopfernden Pflege verwundeter und kranker Soldaten sowie ihrer sanitätsorganisatorischen Vorschläge gilt Nightingale als Wegbereiterin der modernen Verwundetenversorgung in Großbritannien. Dominique-Jean Larrey (1766–1842) Raymond Desvarreux (1876–1961) nach Madeleine Benoist (1768–1826), 1960 Musée du Service de Santé des Armées au Val-de-Grâce, Paris Larrey gilt als Begründer des französischen Heeressanitätswesens. Unter Napoléon Bonaparte begleitete er die Feldzüge zwischen 1792 und 1814. Larrey war nicht nur ein hervorragender Feldchirurg, sondern engagierte sich auch für die organisatorische Verbesserung der Verwundetenversorgung. Er führte die fliegenden Ambulanzen (ambulances volantes) ein und schuf damit ein bewegliches System medizinischer Hilfe im Krieg. The Greatest Mother in the World (Die Größte Mutter der Welt) Alonzo Foringer (1878–1948), 1918, Imperial War Museum, London 3 Dieses Plakat aus den USA soll ein Gefühl von Barmherzigkeit und Zärtlichkeit vermitteln. Die „Mutter“ ist zu einem Sinnbild für das amerikanische Rote Kreuz geworden, und wird jahrzehntelang in weiteren Plakaten neu interpretiert. Das Symbol des Roten Kreuzes ist als Zeichen der Neutralität und der Schutzwürdigkeit des medizinischen Personals im Krieg international anerkannt. Karl August Lingner (1861–1916) vor 1960, Rudolf Zink, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden Der Gründer des Deutschen Hygiene-Museums ist zu Lebzeiten eine prominente Persönlichkeit Dresdens. Als Direktor des Serumswerkes, das vor allem Tetanusimpfstoff für die Truppen herstellt, steht er während des Ersten Weltkrieges in engem Kontakt mit dem Heeressanitätswesen. Auch die Lingner-Werke A.G. des "Odolkönigs" produzieren für die Front. Lingner engagiert sich in den Kriegsjahren sehr zugunsten der Verwundetenfürsorge. Das Sächsische Serumwerk Reproduktion, Original: 1911, GlaxoSmithKline, Dresden Während des Ersten Weltkrieges produziert das Werk vornehmlich Anti-Tetanusseren, aber auch Wirkstoffe gegen Cholera, Ruhr, Gasbrand oder Strepto- und Pneumokokken. Wie auch andere kriegswichtige Wirtschaftszweige verbucht das Sächsische Serumwerk in den Kriegsjahren starke finanzielle Gewinne. 1.2 DIE RETTUNGSMASCHINERIE Die Schlagkraft von Armeen hängt von der Leistungsfähigkeit ihrer Soldaten ab. Verwundete sollen daher so schnell wie möglich wieder einsatzbereit sein. Dies erfordert ein durchorganisiertes System, das unter Zeitdruck und bei knappen Ressourcen bestmögliche medizinische Hilfe bietet. Die Transportkette im Sanitätswesen setzt diese Anforderungen in die Praxis um. Sie befördert den Verletzten vom Ort seiner Verwundung bis in die Spezialklinik der Heimat und gegebenenfalls wieder zurück an die Front. Körper und Geist des Kranken unterliegen in dieser Zeit vollständig der militärärztlichen Kontrolle. Doch 4 die Stationen der Transportkette zeigen auch das ganze Ausmaß kriegerischer Gewalt. Selbst ausgeklügeltste Logistik und neueste technische Ressourcen kapitulieren vor der entgrenzten Vernichtungskraft des Krieges. Bergung Am Ort der Verwundung ist der Mensch auf sich allein gestellt. Auch heute ist oft keine unmittelbare medizinische Hilfe zu erwarten. Selbsthilfe, die erste Hilfe von Sanitätern und Kameraden sind für das Überleben entscheidend. Das Wichtigste ist, den Verwundeten so schnell wie möglich vom Schlachtfeld zu bergen. Er wird zum nächstgelegenen Verbandsplatz gebracht, wo Ärzte zur Verfügung stehen. Operiert wird hier nur, wenn unmittelbare Lebensgefahr besteht. Bevor der Verletzte weiter ins Feldlazarett kommt, findet das erste Ordnen statt: Wer ist bald wieder kampffähig? Und wer braucht dringend fachärztliche Hilfe? Ausgewählte Objekte Träger des Royal Army Medical Corps (RAMC) heben einen Verwundeten aus einem Schützengraben Gilbert Rogers, um 1919, Wellcome Library, London Gilbert Rogers, ein Maler aus Liverpool und ehemaliges Mitglied des Royal Army Medical Corps (RAMC), ist im Ersten Weltkrieg einer von 13 Künstlern, die vom britischen Kriegsministerium und dem RAMC beauftragt sind, die Arbeit des Sanitätswesen zu dokumentierten. Ihre Werke wurden 1920 im Londoner Crystal Palace ausgestellt. Modell eines "Doolie". Sattelkorb für den Verwundetentransport auf dem Rücken eines Dromedars undatiert, Musée du Service de Santé des Armées au Val-de-Grâce, Paris Der französische Sanitätsdienst unter Napoléon Bonaparte setzt nach den Planungen des Oberstfeldarztes Jean-Dominique Larrey Dromedare als Transporttiere für die Verwundeten ein. Sanitätssatteltasche für Hunde um 1914, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr Dresden 5 Kriegslazarett Saint du Nord Richard Reu, 05.11.1914, Deutsches Historisches Museum, Berlin Prototyp eines physiologischen Überwachungs-„Pflasters“ Eine Gemeinschaftsentwicklung von Sims Innovation Laboratory, Massachusetts General Hospital, CIMIT (Boston) und ST+D (Belfast), 2008, mit freundlicher Genehmigung von ST+D, Belfast Sanitäter, die Verletzte an der Front versorgen, befinden sich selbst in Lebensgefahr. Alles, was sie vor dem Rettungseinsatz über den Zustand des Verwundeten in Erfahrung bringen können – Puls, Atmung, Bewegung, Körpertemperatur – erleichtert ihre Arbeit. Soldaten, die ein solches Pflaster vor dem Kampfeinsatz an ihre Brust heften, senden ihre medizinischen Daten über moderne Kommunikationstechnik an das Sanitätspersonal. 1.3 FELDLAZARETT Hinter der Front arbeiten Ärzten, Sanitäter und Krankenschwestern bis zur Erschöpfung. Massen von Verwundeten strömen von den Verbandsplätzen hinter den Kampflinien in die Etappe, um hier medizinisch versorgt zu werden. Erst in den Feldlazaretten finden große Operationen und komplizierte Eingriffe statt. Chirurgische Bestecke und Medikamente werden für diesen Zweck mobil gemacht. Von deren geglücktem Transport hängt das Leben der Verletzten ab. Kommt es zu Engpässen oder Ausfällen im Nachschub, senken diese die Chancen des medizinisch Machbaren. Dass unter den Bedingungen des Krieges nach neustem medizinischem Standard behandelt wird, ist somit nicht immer gewährleistet. Von den Feldlazaretten aus werden Soldaten, die nicht wieder einsatzfähig sind, über große Strecken zur weiteren Behandlung an die „Heimatfront“ transportiert. Ausgewählte Objekte Militärärztliche Bestecke Ärzten, die im Feld operieren, stehen unterschiedlichste Varianten an chirurgischen Bestecken zur Verfügung. Die Palette reicht vom fünfteiligen Taschenbesteck bis hin zu den Haupt- und fachärztlichen Sammelbestecken für große Operationen. 6 Militärisches Hauptbesteck J. Thamm, Berlin, Erster Weltkrieg, Berliner Medizinhistorisches Museum (BMM) der Charité, Berlin Feldchirurgenbesteck Zweiter Weltkrieg, Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst Zahnärztliches Feldbesteck nach 1940, Deutsches Historisches Museum, Berlin Selbstbildnis mit Krankenpflegeruniform und Autobrille Max Beckmann (1884–1950), April 1915, Hamburger Kunsthalle, Hamburg Der Künstler Max Beckmann meldete sich im Ersten Weltkrieg freiwillig. Als Sanitäter transportierte er Verwundete von Verbands- und Hauptverbandsplätzen in Feldlazarette. Am 4. Mai 1915 beschrieb er eine solche Verbandsstelle in einem Brief an seine Frau Minna: "In dem halbdunklen Unterstand halbentkleidete, blutüberströmte Männer, denen die weißen Verbände angelegt wurden. Groß und schmerzlich im Ausdruck. Neue Vorstellungen von Geißelungen Christi." Nach einem Nervenzusammenbruch 1916 verließ Beckmann die Armee. Der Vereins-Lazarettzug L von Walter von Oettingen (1873–1948) Erster Weltkrieg, Reproduktion, Originale Glasplattendia 1914–1918, Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek, Düsseldorf Sowohl während des Russisch-Japanischen Krieges (1904–1905) als auch des Ersten Weltkrieges leitete Walter von Oettingen zusammen mit seiner Frau Elisabeth (1875– 1972), einer Operationsschwester, im Dienst des Roten Kreuzes einen Vereinslazarettzug. Das Ehepaar dokumentierte seine Arbeit durch fotografische Aufnahmen. Da die Finanzierung des Lazarettzuges von Spenden abhing, dienten die Bilder auch seiner öffentlichkeitswirksamen Präsentation, um für finanzielle Mittel zu werben. 1 Elisabeth von Oettingen im Küchenabteil 2 Krankenabteil, auf den Betten Verwundete, dahinter Sanitäter und eine Krankenschwester des Roten Kreuzes, 4. März 1915 3 Sanitäter und Krankenschwestern des Roten Kreuzes bei der Versorgung 7 Verwundeter, links vorne Walter von Oettingen 4 Verwundete und Sanitäter des Roten Kreuzes in einem Schlafabteil 5 Verladung eines Verwundeten in das Schlafabteil 6 Ausladung Verwundeter in Heidelberg 1.4 HEIMATLAZARETT Verwundete in Heimatlazaretten sind dem Kampfgeschehen vorerst entkommen. Fern der Front erleben sie erstmals wieder ein Stück Normalität. Dennoch steht die ärztliche Tätigkeit auch hier unter der Maxime, die Versehrten wieder kampfeinsatzfähig zu machen. Der Schwerverletzte wird vom Schlachtfeld geborgen, hinter der Front behandelt und zu Hause im Optimalfall wieder geheilt, um erneut in die Schlacht geschickt zu werden. Die Soldaten sind in unterschiedlichsten Gebäuden untergebracht. In den regulären Krankenhäusern verdrängen sie oft zivile Kranke – zu deren gesundheitlichem Nachteil. Außerdem werden Festsäle, Schulen und Schlösser zu Krankenunterkünften umfunktioniert. Ausgewählte Objekte Die neuen Kasernenbauten in Dresden J. (Jacques Matthias) Schenker (1854–1927), 1879, Städtische Galerie Dresden Albert von Sachsen (1828–1902) ließ ab 1873 im Norden Dresdens, der Alberstadt, neue Kasernen errichten, die europaweit bald als beispielhaft galten. Nach englischem Vorbild waren sie nach damals neuestem Stand der Unterkunftshygiene gebaut. Auch die speziellen Lazaretträume für Leicht- und Schwerverwundete sowie für ansteckend Kranke entsprachen diesen wissenschaftlichen Vorgaben. 8 Fotoalbum und Album mit Dankeskarten, aus dem Nachlass Marie Thoenes 1914–1915, Arbeitskreis Sächsische Militärgeschichte Dresden e.V. Marie Thoenes war im Ersten Weltkrieg Küchenvorsteherin und Leiterin der Abteilung Rosenheim des 1908 gegründeten Genesungsheims "Nizzabad" in Radebeul, Rosenstraße 6. Viele Tagebücher und Fotoalben spiegeln den Alltag im "Nizzabad" wider. Am 29. Juni 1915 schrieb der vor der Entlassung stehende Patient Karl Clajus in ihr Dankesbuch: "Bei meinem Weggange ist es mir Bedürfnis, hierdurch allen den helfenden Händen und hilfreichen Geistern, ganz besonders aber Frl. Marie Thoenes und Frl. M. Pfeiffer-Bergmann meinen aufrichtigsten Dank zu sagen für die so freundliche, selbstlose Fürsorge und Pflege und für all das Gute, das ich hier genießen durfte." Kriegsfotoalbum von Rudolf Lengsfeld Zweiter Weltkrieg, Arbeitskreis Sächsische Militärgeschichte Dresden e.V., Dresden Der Unteroffizier Lengsfeld dokumentierte nach dem Krieg akribisch seine erlittenen Verwundungen, mitgemachten Transporte und Lazarettaufenthalte. Bei Kriegsende 1945 befand er sich in einem Lazarett im südwestdeutschen Schwenningen, aus dem ihn französische Sanitätsärzte im Juni 1945 entließen. Luftschutz Der Zweite Weltkrieg bedeutete eine bislang ungeahnte Entfesselung des Krieges. Er war „total“, weil jeder von ihm betroffen war, egal ob Soldat oder Zivilist, an der Front oder in der Heimat. Die Bombardierung europäischer Städte geschah in dem Willen, nicht nur das gegnerische Heer, sondern auch Nation und Kultur des Feindes zu zerstören. Um die Zivilbevölkerung so gut wie irgend möglich vor Fliegerangriffen in Sicherheit zu bringen, trafen die Behörden Luftschutzvorkehrungen. Millionen von Menschen erfuhren das Gefühl von Angst und Beklemmung, erlitten körperlichen und seelischen Schaden, der sie ein Leben lang. Ausgewählte Objekte Luftschutz- Hausapotheke 9 1939–1945, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden Die Bombardierungen von London und Dresden 2:04 Min., 2006, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden, mit freundlicher Genehmigung von Herrn Rudolf Eichner 1.5 VERSORGUNG Militärversorgung Medizinisches Wissen wird auch bei der Nahrungsmittelversorgung der Soldaten berücksichtigt. Ärzte berechnen Kalorienbedarf und Vitaminzufuhr, um optimale Leistungsfähigkeit zu gewährleisten. Die mobile Feldküche und die Versorgung mit frischen und konservierten Lebensmitteln sind konkrete Resultate dieser wissenschaftlichen Erwägungen. Die industrielle Verpackungstechnik und Lebensmittelkonservierung ist für die Lebensmittelversorgung von besonderer Bedeutung. Speisen werden eingemacht, vorgekocht oder pulverisiert, um eine möglichst einfache Zubereitung an der Front zu ermöglichen. Während der beiden Weltkriege gehörten zur Versorgung auch „Liebesgaben“ und Genussmittel, die das seelische Gleichgewicht stützen sollten. Ausgewählte Objekte Tragbarer Feldkocher Alexis Benoît Soyer (1810–1858), Reproduktion um 1950, Royal Logistics Corps Museum, Deepcut/Großbritannien Ein Beitrag Alexis Soyers zur Krimkampagne war die Erfindung eines tragbaren Kochherds. Die Soldaten konnten sich selbst bekochen, ohne unter Lebensgefahr eine Küche aufsuchen zu müssen. "Versorgungsbombe" um 1942, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden 10 Am 22. November 1942 schlossen sowjetische Truppen die 6. Armee der Wehrmacht bei Stalingrad ein. Die Soldaten konnten nur noch aus der Luft versorgt werden. Obgleich Hermann Göring versprach, die Soldaten ausreichend zu versorgen, betrug der Nachschub lediglich ein Fünftel der von ihm angestrebten 500 Tonnen, zuletzt nur noch 30 Tonnen täglich. Da Flugzeuge in Stalingrad aufgrund der militärischen Lage nicht mehr landen konnten, warfen sie "Versorgungsbomben" ab. Sie enthielten Munition, Benzin, Lebensmittel und Verbandszeug. Weihnachtsbaum - Stalingrad um 1942, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden Dieser künstliche Christbaum, ein „Weihnachtsgruß Görings“, sollte dazu beitragen, durch ein stimmungsvolles Weihnachtsfest die Moral der eingeschlossenen Soldaten zu heben. Allerdings starben am 24. Dezember 1942 über 1.200 Soldaten an Hunger, Entkräftung und Verwundung. Zivilversorgung Hunger und Mangelernährung an der „Heimatfront“ sind zeitlose Begleiterscheinungen des Krieges. In Zeiten, in denen alle Bemühungen auf die Versorgung der Kämpfenden ausgerichtet sind, werden die Ressourcen für die Zivilbevölkerung knapp. Die Folgen davon sind zunächst Rationierung und schließlich Krankheiten, die sich aus der Mangelernährung ergeben. Kinder, Alte und Kranke sind hiervon vorrangig betroffen. Fern der Front erreicht somit auch sie der Krieg. In Deutschland starben während des Ersten Weltkrieges alleine in Sachsen etwa 5.000 Patienten in Heil- und Pflegeanstalten infolge der schlechten Versorgung. 1.6 DER "FORTSCHRITT" DER MEDIZIN 11 Es herrscht die landläufige Meinung, dass die Medizin vom Krieg profitiert und ihm viele wissenschaftliche Erkenntnisse verdankt. Tatsächlich bot der Krieg für Ärzte die Gelegenheit, massenhaft praktische Erfahrungen zu sammeln. Er schuf ein Forschungsfeld für Mediziner, um die Effektivität chirurgischer Techniken zu testen oder die Wirksamkeit pharmazeutischer Substanzen zu beobachten. Nichtsdestotrotz bleiben wissenschaftliche Durchbrüche in Kriegszeiten aus. Wenn im Krieg die medizinische Versorgung der Soldaten im Vordergrund steht, besteht stets die Gefahr, die "zivile" Grundlagenforschung zu vernachlässigen. Außerdem kommen wissenschaftliche Erkenntnisse, die im Dienste des Militärs gesammelt werden, zuweilen nur unter ethisch unvertretbaren Bedingungen zustande. Vor allem dann, wenn Ärzte ihren hippokratischen Eid brechen, indem sie gesunden Menschen Schaden zufügen. Die Menschenexperimente während des Zweiten Weltkrieges bezeugen diese Pervertierung wissenschaftlicher Forschung besonders drastisch. Der Einsatz medizinischen Wissens Die bahnbrechenden Entdeckungen des 19. und 20. Jahrhunderts revolutionierten die medizinische Entwicklung. Die Zellularpathologie Rudolf Virchows (1821–1902) und die bakteriologischen Forschungen Robert Kochs (1843 1910) legten den Grundstein der modernen Medizin. Darauf aufbauend, entwickelten Forscher in den folgenden Jahrzehnten die sterile Wundbehandlung, neue Narkosetechniken sowie Diagnosemöglichkeiten und Medikamente, welche die Überlebenschancen bei Krankheit und Verletzung stark erhöhten. Die medizinische Forschung der Friedenszeit und die ärztlichen Tätigkeit im Krieg standen oft in Wechselwirkung. Die Erfahrungen im Feld konnten Impulse geben, vorhandene medizinische Techniken weiterzuentwickeln. Unter den Kriegsumständen selbst konnten jedoch mangels Material, Personal, und Zeit nur äußerst eingeschränkt medizinische Innovationen erlangt werden. Ausgewählte Objekte Autoklav nach Ernst von Bergmann Lautenschläger, 1889, Deutsches Medizinhistorisches Museum, Ingolstadt 12 Das Gerät diente der Dampfsterilisation. Medizinische Instrumente und Verbandsmaterial wurden dadurch keimfrei gemacht. In den 1880er Jahren hatten Gustav Adolf Neuber (1850–1932) und Ernst von Bergmann (1836–1907) dieses Verfahren entwickelt. Die Wundinfektion und damit ein wesentlicher Grund der postoperativen Sterblichkeit konnte seitdem durch die Asepsis, also durch Keimfreiheit, drastisch gesenkt werden. Bluttransfusionsgerät 1914-1918, General Surgical Company Ltd. nach einem Entwurf von Geoffrey Keynes, The Science Museum, London Erstmals gelang es während des Ersten Weltkrieges, Blutkonserven zu lagern. Wegen einer sehr kurzen Haltbarkeitszeit waren sie jedoch bei Bedarf oft nicht verfügbar. Nach Verbesserungen bei der Konservierung und der Lagerung des Blutes konnten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Leben durch Transfusionen gerettet werden. Röntgengerät Koch & Sterzel AG, um 1939, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden Das transportable Feldröntgengerät war auf zwei Kisten verteilt, die den Transport erleichterten und gleichzeitig der Installierung dienten. Es wurde im Feld vor allem benutzt, um Geschosse im Körper zu lokalisieren und Knochenfrakturen zu erkennen. Das Penizillinwunder British Paramount News, 1944, Imperial War Museum, London 1928 entdeckte der britische Bakteriologe Alexander Fleming (1881–1951) das antibakteriell wirkende Penizillin. Während des Zweiten Weltkrieges, als zahllose Soldaten an Wundbrand (Gangrän) und Wundinfektionen erkrankt waren, wurden dringend große Mengen von Penizillin gebraucht. Der britische Film aus der Reihe "Nachrichten aus der Kriegsarbeit" (Nr. 47) beschreibt detailliert die Kultivierung und Produktion von Penizillin zur Behandlung verwundeter Soldaten. Die Ansammlung medizinischen Wissens Die medizinische Tätigkeit im Krieg wird seit Beginn der Moderne um 1800 detailliert dokumentiert und statistisch ausgewertet. Während lange Zeit chirurgische Fragen dominierten, weitete sich das Interesse allmählich auf sämtliche 13 medizinischen Fächer aus, wie etwa auf die Bakteriologie, Neurologie und Psychiatrie. Durch die systematische Auswertung der im Krieg gewonnenen Informationen erhofften sich Ärzte wesentliche Erkenntnisse, die nicht nur die Kriegsmedizin, sondern auch die zivile Medizin voranbringen sollten. Medizinische Experimente Leben und Gesundheit der eigenen Soldaten zu schützen und gleichermaßen den Gegner physisch zu vernichten, ist Mittelpunkt jeder Kriegsstrategie. Versuche zur Leistungserhaltung und -steigerung sind daher seit dem 19. Jahrhundert auch Teil der experimentellen Forschung in der Medizin. Sie betreffen vor allem das physiologische Funktionieren des menschlichen Körpers und die Möglichkeiten, dieses trotz intensiver körperlicher und seelischer Belastung noch zu erhöhen. Bereits im späten 19. Jahrhundert experimentierten Ärzte mit pharmakologischen Substanzen an Soldaten, um die aufputschende Wirkung der Stoffe bei Krankheit und Erschöpfung zu testen. Seitdem wurden Zivilisten und Soldaten oftmals unfreiwillig zu Versuchspersonen waffentechnischer und militärmedizinischer Forschung. Ausgewählte Objekte Respirationsapparat nach Nathan Zuntz (1847–1920) Reproduktion: Original von 1906 Transportabler Gasmesser, Apparat zum Studium der Atmung des Menschen Reproduktion: Original: 1911, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden Der deutsche Physiologe Nathan Zuntz unternahm 1894 im Auftrag der preußischen Armee eine Gepäckmarschstudie. Über die Beobachtung des Stoffwechsels und der Körperfunktionen während des Marsches wollte Zuntz die körperliche Belastbarkeit von Soldaten bestimmen. Für das Experiment entwickelte er eine tragbare Gasuhr, die Atemmessungen vornahm. Außerdem protokollierte er minutiös, wie sich die körperliche Belastung auf Puls, Herz, Leber, Nerven und Muskeln auswirkte. "BLEEX" Berkeley Außenskelett der unteren Extremitäten 14 2004, 4 Min., Mechanical Engineering Department, University of California, Berkeley Die Kombination eines leichten metallischen Rahmens mit Rucksack und kleiner Stromversorgung erlaubt Soldaten, Sanitätern und anderen Armeeangehörigen, schwere Lasten ohne körperliche Anstrengungen zu tragen ohne dabei ihre Beweglichkeit zu reduzieren. Das von der Berkeley University entwickelte System ist sowohl für den militärischen als auch für den zivilen Bereich gedacht. So soll es zum Beispiel körperlich Behinderten helfen, ohne Rollstuhl zu leben. Unterkühlungsversuche 1942–1945, Reproduktion, KZ-Gedenkstätte Dachau Im Konzentrationslager Dachau unternahmen Ärzte ab 1942 Menschenexperimente für die deutsche Luftwaffe. Erkenntnisziel war es, die Überlebenschancen abgeschossener Piloten zu erhöhen, die bislang im kalten Meerwasser umkamen. Zu diesem Zweck ließ man Häftlinge in Fliegeruniform und Schwimmweste in Eiswasser tauchen. Anschließend protokollierten Ärzte, welche Organe am frühesten durch die Kälte gelähmt wurden und unter welchen Bedingungen der Tod eintrat. Im Rahmen der Unterkühlungsversuche kamen 90 Menschen ums Leben. 15 2. DER KÖRPER 2.1 DER TAUGLICHE KÖRPER Einer der wichtigsten "Rohstoffe" im Krieg ist der gesunde, widerstandsfähige Körper des Soldaten. Bei der Musterung von Rekruten untersuchen Militärärzte Männer und Frauen auf ihre militärische Tauglichkeit. Dabei wird der Körper geprüft, eingestuft und selektiert. Während in der Vergangenheit die physischen Gesundheitskriterien im Mittelpunkt stehen, rücken gegenwärtig psychologische Prüfverfahren immer mehr in den Vordergrund. Diese medizinische Begutachtung legt den Grundstein für den Aufbau und die Erfolgschancen eines kämpfenden Militärkörpers. Sie gewinnt mit der Einführung der Wehrpflicht ab 1800 beträchtlich an Bedeutung. Bei der Festlegung der Tauglichkeitskriterien und des Einstufungsverfahrens gibt es einen Ermessenspielraum. Hier kann ein Arzt in einen ethischen Konflikt geraten, wenn zum Beispiel starker Mangel an Kampffähigen herrscht und er möglicherweise zwischen den Interessen von Nation und Individuum entscheiden muss. Ausgewählte Objekte "Musterung" Max Beckmann (1884–1950), 1914, Kunsthalle Bremen/Sprengelmuseum, Hannover Diese Kaltnadelradierung verdeutlicht Beckmanns Eindruck des Musterungsverfahrens. Der entblößte Körper unterstreicht die Reduzierung des Individuums auf menschliches Material, das auf seine Funktionalität geprüft wird. Dabei erfährt es den Verlust seiner Intimsphäre. Während des Zweiten Weltkriegs muss Beckmann noch im Alter von sechzig Jahre vor einer Musterungskommission erscheinen. Wegen eines Herzleidens wird er ausgemustert. "Die Gesundbeter"; aus der Mappe: "Gott mit uns" George Grosz (1893–1959), 1918, Stiftung Stadtmuseum Berlin 16 In diesem Werk stellt Grosz den deutschen Militarismus bloß. Ein Militärarzt erklärt ein Skelett als "KV" (kriegsverwendungsfähig). Die Grafik verdeutlicht in übersteigerter Weise, dass Ärzte selbst vor der offensichtlichsten Kampfunfähigkeit die Augen verschließen. 2.2 DER KRANKE KÖRPER Nicht Kriegsverletzungen, sondern vor allem Infektionskrankheiten waren Jahrhunderte lang die häufigsten Todesursachen von Soldaten. Erst mit dem Aufkommen der Bakteriologie im späten 19. Jahrhundert erhielt die Medizin Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren. Die Erwartungen an Gesundheit und medizinische Versorgung steigen. Die Medizin wurde für die Moral der modernen Massenheere und der Zivilbevölkerung zunehmend wichtiger. Auch die Bedeutung der Gesundheit für die militärische Strategie wuchs. Damit erhofften sich Militärverwaltungen Vorteile gegenüber Gegnern mit weniger gut entwickelten Sanitätsdiensten. Pflichtimpfungen für das Heer und zivile Impfgesetze wurden eingeleitet. Sauberkeit wurde zum patriotischen Bekenntnis. Trotz der allmählichen Durchsetzung von Schutzmaßnahmen forderten Kriegsseuchen viele Opfer. Die Hygienestandards ließen sich unter den Bedingungen des totalen Krieges schwer durchsetzen. Heute sterben weniger Soldaten an Krankheiten. Aber die Seuchen nehmen in Kriegen in der Dritten Welt wieder zu. Moulagen - Krankheitsbilder des Krieges in Wachs Diese Moulagen aus der Lehrmittelproduktion des Deutschen Hygiene-Museums zeigen in Kriegszeiten häufig aufgetretene Infektionskrankheiten. Moulagen werden am Patienten selbst abgeformt und zeigen individuelle, naturgetreue Krankheitsbilder. In der vom damaligen National-Hygiene-Museum Dresden im Jahr 1915 mitorganisierten "Ausstellung für Verwundeten- und Krankenfürsorge im Kriege" spielten solche Moulagen bei der Seuchenaufklärung eine zentrale Rolle. Die Schau präsentierte eine moderne Medizin, und sie wollte der besorgten 17 Bevölkerung wegen der hohen Verluste und der Geschichten von leidenden Soldaten "Beruhigung und Trost" bringen. Ausgewählte Objekte Fleckfieberausschlag 1945–1980, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden Das Fleckfieber gilt seit dem späten Mittelalter als typische Kriegskrankheit, da die schlechten hygienischen Verhältnissen in Kriegszeiten ofters zur epidemieartig Ausbreitung fuhrte. Zumeist Flöhe, Läuse, Milben oder Zecken übertragen die Erreger. Hohes Fieber sowie starke Kopf- und Gliederschmerzen, dauernde Bewusstseinsstörungen und Schüttelfrost sind die Symptome. Häufig tritt ein Hautausschlag auf, wie er an der Moulage zu sehen ist. Prävention und Hygiene Der Kampf gegen die Krankheit Eine Gefahr für Soldaten bildet die Ansteckung mit infektiösen Krankheiten. Die Umsetzung hygienischer Standards im Krieg ist schwierig, etwa bei Grabenkämpfen oder in tropischen Regenwäldern und Wüsten. Heere übernachten im Freien, sind der Witterung und Insekten ausgesetzt oder in engen Unterkünften zusammengepfercht. Engpässe bei der Nahrungsmittel-, Kleider- und Wasserversorgung sind nicht ungewöhnlich. All dies schwächt den Köper und erhöht die Anfälligkeit für Krankheiten. Häufige Ortswechsel von Soldaten, Flüchtlingen und Kriegsgefangenen erhöhen die Gefahr einer Pandemie. Die Sanitätsdienste entwickeln allmählich Strategien, um die hygienischen Bedingungen zu verbessern. Durch Antibiotika können heute viele Infektionskrankheiten behandelt werden, bevor sie sich unkontrollierbar ausbreiten. Ausgewählte Objekte 18 Soldier's Throne (Soldatenthron) zur Bekämpfung der Kriegsseuchen 1898, Burns Archive, New York, New York|USA Der „Soldatenthron“ ist ein umfunktionerter Feldofen. Er diente als Toilette, in der die Exkremente sogleich verbrannt werden konnten. Dies verringerte die Gefahr der direkten Ansteckung mit Krankheiten wie Cholera, Dysenterie (Ruhr) und Typhus erheblich. Auch die Übertragung durch Fliegen, die zunächst mit Kot und anschließend mit Nahrung Kontakt gehabt hatten, wurde so nahezu ausgeschlossen. "Sich Lausende" Otto Dix (1891–1969), 1915, Galerie Tendances, Paris Dix’ Kreidezeichnung zeigt eine während des Ersten Weltkrieges alltäglich gewordene Szene: Soldaten versuchen, sich oder ihre Kameraden von der Läuseplage zu befreien. Merkblatt der Deutschen Wehrmachtsbordelle in Bordeaux um 1939–1945, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek, Düsseldorf Obwohl es moralische Bedenken gegen die Prostitution gab, richten einige Militärverwaltungen in beiden Weltkriegen offizielle Bordelle ein, um die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten zu verhindern. Häufig nutzten sie vorhandene Etablissements. Die deutsche Militärverwaltung etwa beanspruchte die luxuriösesten französischen Bordelle und veröffentlichte deren Adressen sowie die Adressen von speziellen Kliniken (Sanierstuben) in Flugblättern wie diesem. Kondom für Wehrmachtsangehörige um 1939–1945, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden Während des Zweiten Weltkrieges mussten deutsche Soldaten bei jedem Bordellbesuch ein Kondom benutzen. Zuwiderhandlungen konnten – besonders im Erkrankungsfall – bestraft werden. Aus moralischen Erwägungen lehnten Briten und Amerikaner die Bereitstellung von Präservativen als Förderung des Geschlechtsverkehrs ab. Die Zahl der Ansteckungen bei den Alliiertentruppen lag höher als bei den Deutschen. Aufklärungsplakate zur Verbreitung in britischen Kasernen und Kantinen Abram Games (1914–1996), 1941, Wellcome Library, London 19 Poster sind ein effektives Mittel zur gesundheitlichen Aufklärung. Abram Games gestaltete während des Zweiten Weltkrieges zahlreiche Plakate für das britische Militär. Bald nach seinem Eintritt in die Infanterie 1940 hatte sich sein Talent für die kreative Kombinationen von Text und Bild gezeigt. Die Armee machte ihn zum Plakatzeichner. Er beobachtete bei seinen Kameraden einen beunruhigenden Mangel an Hygiene- und Gesundheits-Bewusstsein und schlug vor, innerhalb der Armee Aufklärungsplakate einzusetzen. Das Kriegsministerium nahm seine Empfehlung an. Bis zum Ende des Krieges galt Games’ propagandistische Arbeit als so wertvoll, dass man ihm die Rückkehr zu seiner ursprünglichen Einheit verwehrte. 2.3 DER VERWUNDETE KÖRPER Die Zerstörungskraft moderner Waffen hat katastrophale Konsequenzen für Leib und Leben. Die Folgen dieses "Fortschritts" sind am offensichtlichsten, wenn sich Granatsplitter ins Fleisch einschneiden oder brennender Kraftstoff die Haut verätzt. Im Ersten Weltkrieg wurden hauptsächlich Soldaten verwundet oder getötet, hingegen zog der Zweite Weltkrieg und alle folgenden Kriege auch die Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft. Die am Körper hinterlassenen Verletzungen sind leidvoll. Operationen und Rehabilitation bedeuten große Herausforderungen für Arzt und Patienten. Sie zeugen vom humanitären Anspruch der Medizin, Leben zu retten. Eine wesentliche Motivation der militärmedizinischen Versorgung bleibt jedoch – vor allem in intensiven Kriegsphasen – die Rückführung des Soldaten an die Front. Mit der Ausbreitung moderner Kriege in unterentwickelten Ländern nimmt die Kluft zwischen der High-tech Medizin der industrialisierten Streitkräfte und der notdürftigen Versorgungssituation der ärmeren Länder zu. Das Gesicht 20 Explodierende Artillerie und Geschosse, die aus den damals neuartigen Maschinengewehren abgefeuert wurden, führten während des Ersten Weltkrieges zu Verletzungen vor allem im Bereich des Gesichts, wie man sie aus früheren Kriegen nicht kannte. Der Stahlhelm bot nur unzureichenden Schutz. Gesichtschirurgen, Zahnärzte, Anästhesisten, Radiologen und Künstler versuchten gemeinsam, den „Menschen ohne Gesichter” ein würdiges Antlitz zurückzugeben. Einige Ärzte leisteten geradezu Pionierarbeit, ihre innovativen Methoden bildeten die Grundlage der modernen plastischen Chirurgie. Um die Ausbildung zu fördern, entstand eine Fülle von Anschauungsmaterial wie Zeichnungen, Fotografien, Gipsbüsten und Moulagen. Allerdings profitierten nicht alle Entstellten. Einige Patienten erhielten rudimentäre Gesichtsprothesen als künstlicher Ersatz für die fehlenden Körperpartien. Ausgewählte Objekte Behandlung einer Kriegsverletzung im Kieferbereich mit einem Repositionsverband nach Bimstein Fritz Kolbow, 1914–1920, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden Fritz Kolbow (1873–1946), Leiter des Pathoplastischen Instituts Dresden, fertigte diese Therapiemoulage nach einem Abguss eines Verwundeten des Ersten Weltkrieges. Vermutlich war sie in den Ausstellungen zur Verwundeten- und Krankenfürsorge im Krieg (1915) sowie zur Kriegsbeschädigtenfürsorge (1917/1918) des Deutschen Hygiene-Museums zu sehen. Dort wurde unter anderem anschaulich die Behandlung einer Kieferverletzung durch Schienung mit speziellem Extensions- und Repositionsverband gezeigt. Prof. Dr. Jaques Joseph (1865–1934) Reproduktion, Original um 1920, mit freundlicher Unterstützung von Prof. Dr. Hans Behrbohm, Berlin Der Arzt Jacques Joseph gilt als Begründer der modernen Nasen- und plastischen Gesichtschirurgie. Als Stabsarzt der Rerserve im Ersten Weltkrieg behandelte er Soldaten mit schwer entstellten Gesichtern. Er erzielte dabei so außergewöhnlich gute Ergebnisse, dass Kaiser Wilhelm I. ihn 1916 zum Leiter der neugegründeten Abteilung für plastische Gesichtschirurgie an der Berliner Charité berief. 1919 erhielt er das 21 Eiserne Kreuz. 1922 richtete Joseph eine private Praxis in Berlin ein und spezialisierte sich auf die korrektive und ästhetische Chirurgie. Ausländische Ärzte hospitieren bei ihm und trugen seine chirurgischen Techniken in die Welt. Mit dem Beginn der Judenverfolgung durfte Joseph nur mit „Sondergenehmigungen“ operieren. Er starb im Februar 1934 an einem Herzinfarkt. In Deutschland geriet er trotz seines internationalen Ruhms fast in Vergessenheit. Operationsbesteck des Gesichtchirurgen Jacques Joseph um 1930, Antony Wallace Archive, British Association of Plastic Reconstructive and Aesthetic Surgeons at the Royal College of Surgeons, London Joseph modifizierte und entwickelte Instrumente für seine wegbereitenden Operationen. Sie trugen die Gravur „PROF. JOSEPH“ und wurden in alle Welt verstreut, als viele seine Schüler in der Zeit des Nationalsozialismus emigrieren mussten. Joseph ist weltweit bekannt für die Entwicklung einer bajonettförmigen Säge, die heute noch Anwendung findet, und für ein nach ihm benanntes Raspartorium. Ein Raspartorium dient der Freilegung des Operationsfeldes, mit ihm lässt sich das weiche Gewebe vom Knochen schieben und die Knochenhaut abdrängen. Skulpturen basiert auf Gillies’ Fallstudie (Spreckley) Paddy Hartley, 2007, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers Diese Skulpturen gehören zu einer Serie, die von Patientenakten im Gillies-Archiv inspiriert wurde. Sie erinnern an die Soldaten, deren Gesichter Harold Gillies rekonstruierte. Die Krankengeschichten sind entsprechend den Körperstellen, an denen die Patienten behandelt wurden, in die Uniformen eingearbeitet (oder "transplantiert"). Diese zwei Skulpturen stellen verschiedene Phasen der Behandlung von William Spreckley dar. Vor dem Krieg hatte er in Plauen, in der Nähe von Dresden, das Spitzenhandwerk erlernt. Daher ist Spitze in die Geschichte seiner "Wiederherstellung" einbezogen. Das Auge Ausgewählte Objekte Gesichtsprothese aus Blech, gefertigt im Queen Mary's Hospital, Sidcup Archie Lane (1889-1968), um 1918, mit freundlicher Genehmigung von Philip Lane 22 Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete der englischen Zahntechniker Archie Lane im Queen Mary’s Hospital in Sidcup, nahe London, unter der Leitung von Harold Gillies. Er war geschickt und erfinderisch und fertigte über 100 Gesichtsprothesen an. „Anna Coleman Ladd: Manufacturing and Fitting Tin Facial Prostheses“ (Herstellung und Anpassung von Gesichtsprothesen aus Blech) um 1916, The Gillies Archive, Queen Mary’s Hospital, Sidcup Während des Ersten Weltkrieges fertigte die amerikanische Bildhauerin Anna Coleman Ladd Masken für Kriegsgeschädigte, deren Gesicht teilweise rekonstruiert worden war, aber dennoch entstellt erschien. Ausgehend von Porträts, die vor dem Krieg gemacht worden waren, formte sie die Gesichtszüge auf einem Gipsabdruck des beschädigten Gesichts. Dann erstellte sie anhand dieser Form eine dünne Blechmaske. Die Maske wurde emailliert und individuell in der Gesichtsfarbe des Patienten bemalt. Viele der Kriegsversehrten schwitzten jedoch unter den Masken und fühlten sich unwohl mit dem metallenen Gesichtsersatz. Der Kopf Während des Ersten Weltkrieges wurden erstmals Granaten und kleinkalibrige Geschosse eingesetzt. Sie verursachten eine Vielzahl von Hirnverletzungen, die Soldaten überleben konnten. Diese Tatsache führte zur Entwicklung der Stahlhelme, die aber nur unzureichenden Schutz boten. In dieser Zeit entstanden Spezialkliniken für Gehirnverletzte, in denen Ärzte die neurologischen Funktionsausfälle der Verwundeten untersuchten. Die hier gewonnen Erkenntnisse trugen dazu bei, die Neurologie in ihrer Entwicklung zu einem eigenständigen medizinischen Fachgebiet zu bestätigten. Ausgewählte Objekte Beschädigter Deutscher M 1916-Stahlhelm 1916–1918, Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden Außer Mützen aus Stoff oder Leder trug zu Beginn des Ersten Weltkrieges keiner der am Kampf Beteiligten einen Kopfschutz. Als der Stellungskrieg einsetzte, wurden Stahlhelme zur Massenfertigung entworfen. Insbesondere Prof. Dr. August Bier, 23 Marinegeneralarzt und beratender Chirurg beim XVIII. Armee-Korps an der Westfront, hatte die Entwicklung in Deutschland angeregt. Der Stahlhelm M1916 wurde im Laufe des Krieges mehrfach modifiziert. Die neuen Helme sollten vor allem gegen Granatsplitter und Schrapnell schützen. Granatsplitterverletzung des Gehirns und der Schädeldecke 1965, Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, Berlin Dieses Präparat zeigt eine durch einen Granatsplitter verursachte Läsion des Schädels und des Gehirns. Viele Veteranen des Zweiten Weltkrieges lebten weiter mit Fragmenten von Gewehrkugeln oder Granatsplittern im Körper. Dieser Mensch starb mit 67 Jahren. Arme, Beine, Brust und Bauch Ein mit modernem Körperschutz ausgerüsteter Soldat hat heute eine erheblich bessere Chance, eine Bombenexplosion zu überleben, als sein mit Stahl gepanzerter Vorgänger während des Ersten Weltkrieges. Eine Schutzweste schützt die lebenswichtigen Organe des Oberkörpers, sie kann aber Arme und Beine nicht vor Schaden bewahren. Der traumatische Verlust von Gliedmaßen begründet seit dem Ersten Weltkrieg eine intensive Forschung, um Rehabilitationsmaßnahmen und die Verfügbarkeit und Funktion künstlicher Glieder (Prothesen) zu verbessern. Neue Methoden zum Stillen starker Blutungen und Fortschritte im Bereich der Chirurgie haben geholfen, Leben zu retten. Schwere Verwundungen im Brust- oder Bauchbereich gehören jedoch bis heute zu den gefährlichsten Kriegsverletzungen. Es besteht die Gefahr des Verblutens, und komplexe chirurgische Eingriffe sind in Kriegssituationen oft nicht möglich. Heute sind unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen die häufigste Verletzungsursache bei Zivilisten und Soldaten in Irak und Afghanistan. Ausgewählte Objekte Gasbrand 1945–1980 (Originalabformung 1900–1912), Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden 24 Gasbrand oder Gasgangrän ist eine bakterielle Wundinfektionskrankheit. Verursacht wird sie von gasbildenden Bakterien, so genannten Clostriden, deren Sporen sich oft im Erdboden befinden. Wenn sie in eine Wunde eindringen, sind sie lebensgefährlich. Die unhygienischen Bedingungen des Stellungskrieges begünstigten diese Krankheit während des Ersten Weltkrieges. Vor der Entdeckung der Antibiotika war sie schwierig zu behandeln, oft blieb nur das Ausschneiden der Wunde oder die Amputation des Glieds. Bis heute kämpfen Ärzte gegen den Gasbrand, beispielweise in Teilen Iraks und Afghanistans, wo der Boden reich an Clostriden-Bakterien ist. Unterarmprothese (Armprothese – zum alltäglichen Gebrauch) Ernst Ferdinand Sauerbruch (1875–1951), um 1930, Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, Berlin Vor allem während seiner Zeit als Leiter des Reservelazaretts Singen während des Ersten Weltkrieges erkannte Ferdinand Sauerbruch die Notwendigkeit neuartiger Gliederprothesen, die dem Träger erlaubten, einfache Bewegungen auszuführen. In Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Ingenieuren und Physiologen entwickelte er den so genannten „Sauerbruch-Arm“, eine mechanische Prothese, die durch „Kraftkanal-Kineplastik“ gesteuert werden konnte. In den Muskeln des Gliedstumpfes wurden Kanäle gebildet und durch Transplantation mit Haut ausgekleidet. Stifte an der Prothese wurden in diese „Kraftkanäle“ eingeführt, um die Muskelkraft direkt in die Mechanik der Prothese zu übertragen und dem Träger ein gewisses Maß an kontrollierter Bewegung zu ermöglichen. Soldaten bei der Rehabilitation mit Trainingsgeräten 1914–1918, Wehrgeschichtliches Museum Rastatt, Rastatt Reserve-Lazarett Ettlingen i. Baden, Turnübungen der Amputierten (Gehschule) 1918, National Hygiene-Museum, Dresden, 10:2 min. bzw. 2:5 min., Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden Die Filme zeigen orthopädische Behandlungsmethoden für Gliederamputierte. Die Patienten demonstrieren ihre Beweglichkeit durch verschiedene Hindernisläufe, Spiele und landwirtschaftliche Arbeiten. Der Film war Teil einer politischen Kampagne der deutschen Behörden mit dem Ziel, die Öffentlichkeit über die fortschrittlichen medizinischen Dienstleistungen zu informieren, die den Kriegsversehrten zur Verfügung standen. 25 Der ehemalige US-Soldat Bryan Anderson (geb. 1981) bei der Rehabilitation um 2007, Hanger Orthopedic Group, Oaklahoma City, Oaklahoma/USA 2006 verlor Bryan Anderson durch eine Bombenexplosion in Irak beide Beine und seinen linken Unterarm. In der Firma Hanger, einem der ältesten Prothesenhersteller der Welt, lernte er wieder zu laufen und zu greifen. Dem Firmengründer war nach einer Verletzung im Amerikanischen Bürgerkrieg ein Bein amputiert worden Unzufrieden mit den simplen Holzprothesen jener Zeit, begann er, selbst Prothesen zu entwickeln. Während des Ersten Weltkrieges eröffneten Firmenvertretungen in Paris und London. Heute sind die vielen amerikanischen Soldaten der Kriege in Afghanistan und Irak, die als Amputierte heimkehren, ein Auslöser für die schnell fortschreitende Entwicklung in der Prothetik. Seit dem Beginn dieser Kriege ist die finanzielle Förderung für Prothesenprojekte durch das US-Verteidigungsministerium stark angestiegen. Die Haut ABC-Waffen (atomare, biologische und chemische Kampfstoffe), Flammenwerfer oder brennender Treibstoff von Flugzeugen und Panzern hinterließen in vielen Kriegen ihre Spuren auf der Haut von Zivilisten, Soldaten und Piloten. Verbrennungen, die so schwer waren, dass die Venen nicht gefunden werden konnten, stellten Ärzte und plastische Chirurgen während des Zweiten Weltkrieges vor große Herausforderungen. Behandlungen mit Kochsalzlösungen, antibakteriell wirkende Sulfonamide sowie Hautersatz verbesserten die Überlebenschancen der Schwerverbrannten deutlich. Gegen Verletzungen durch Gasangriffe sollten AntigasMedikamente und Schutzkleidung helfen. Vor dem Nuklearkrieg allerdings gibt es kaum Schutz. Dennoch suggerierten Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg durch groß angelegte Kampagnen, dass ein sicherer Schutz möglich sei. In vielen Ländern lehnten sich Ärzte dagegen auf und schlossen sich in internationalen Organisationen gegen den Nuklearkrieg zusammen. Gen 26 So genannte ABC-Waffen verseuchen große Gebiete für lange Zeit mit Radioaktivität, biologischen und chemischen Giftstoffen oder Krankheitserregern. Nicht nur die direkt Getroffenen sind Opfer dieser gefürchteten Waffen, auch ihre Nachkommen tragen die Folgen. Denn radioaktive Strahlen und chemische Gifte schädigen Zellen und Erbmaterial. 60 Prozent der "Hibakusha" – die Überlebenden der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki – sind krank oder körperbehindert. Das während des Vietnamkrieges eingesetzte dioxinhaltige Pestizid Agent Orange verursachte Krebs, Missbildungen und Schäden des Nervenund Immunsystems. Die radioaktive Strahlung der uranhaltigen Munition in den Kriegsgebieten Irak, Afghanistan, Bosnien und Kosovo bedroht heute die dort lebenden Menschen. 2.4 DER SEZIERTE KÖRPER Die Medizin forscht nicht nur an lebenden, sondern auch an toten Menschen. Die vielen Gefallenen der Weltkriege boten der Pathologie Möglichkeiten bis dahin ungekannten Ausmaßes. In vielen Armeen sezierten Ärzte die Leichname gefallener Soldaten. Es entstanden große Lehrsammlungen von Sektionsprotokollen, Präparaten, Zeichnungen und Bildern. Die aus der Untersuchung der Toten gewonnenen Erkenntnisse trugen zur Erweiterung des Wissens über Krankheiten und Verwundungen bei. Sie eröffneten neue Diagnose- und Therapiemethoden, die oft auch über die Militärmedizin hinaus Nutzen hatten. Im Bereich der Militärtechnik ermöglichte die genauere Kenntnis der Waffeneinwirkung die Entwicklung immer wirksamerer Schutzmethoden. Auf der anderen Seite besteht jedoch die Möglichkeit, dass diese Erkenntnisse zum Schaden der Menschen genutzt werden, so zum Beispiel bei der Entwicklung von Waffen. 27 2.5 DER BESCHÄDIGTE KÖRPER Mit dem Friedensschluss ist der Krieg für viele Menschen oft nicht zu Ende. Der medizinische Fortschritt in der Moderne hat die Überlebenschancen von Verwundeten und Kranken erheblich verbessert, aber oft tragen diese die Spuren des Krieges an Leib und Seele. Nahezu sechs Millionen britische und deutsche Soldaten kehrten mit Versehrungen aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Diese Situation setzt sich heute in den modernen Kriegen fort, wie wir sie beispielsweise in Afghanistan erleben. Unzählige Menschen, die meisten davon Zivilisten, tragen bleibende Schäden davon. Mit diesem sichtbaren Erbe des Krieges muss nicht nur der einzelne Mensch, sondern auch die Gesellschaft umgehen. Welche Maßnahmen werden unternommen, um diese Menschen wieder in die Gesellschaft einzugliedern, und wie nimmt die Gesellschaft sie wahr? Wiedereingliederung der Kriegsbeschädigten Nahezu 2,25 Millionen deutsche und britische Veteranen des Ersten Weltkrieges litten an einer dauerhaften Schädigung. Dies hatte große ethische und wirtschaftliche Konsequenzen für die Gesellschaften, in denen sie lebten. Keine Nation konnte die Versprechungen einlösen, die sie ihren behinderten Veteranen gemacht hatte. In Deutschland trug die Enttäuschung darüber zu den politischen Umwälzungen nach dem Krieg bei. Die Arbeit mit Querschnittsgelähmten in Großbritannien während des Zweiten Weltkrieges und danach führte zur weltweiten Etablierung des organisierten Behindertensports. Heute ist der Sport oft eine Maßnahme zur Reintegration. In Irak und Afghanistan beispielsweise sind heute über die Hälfte der Verletzten Kinder. Hilfsorganisationen setzen sich für eine gute medizinische Betreuung ein, aber auch dafür, die Ursachen der Verletzungen zu beseitigen. So haben das Verbot von Antipersonenminen (1997) und die Ächtung von Streuwaffen (2008) bereits zu einem deutlichen Rückgang typischer Verletzungen geführt. 28 3. DIE PSYCHE Die Erforschung des Traumas Allein im Ersten Weltkrieg werden über eine halbe Million deutsche Soldaten aufgrund psychischer Störungen behandelt. Seitdem arbeitet die Psychiatrie daran, effektive Behandlungswege zu erschließen. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs bezieht sie auch verstärkt Zivilpersonen in ihre Forschungen ein. Im Laufe der Zeit finden Ärzte immer neue Begriffe, um die vielgestaltigen Leiden zu beschreiben. Mit höchst unterschiedlichen Therapien versuchen sie Menschen mit "Kriegsneurosen", "Überlebens-Syndrom" oder "Posttraumatischer Belastungsstörung" zu heilen. Bis heute rätseln Mediziner über den exakten Wirkungsmechanismus der Psyche. Trotz bahnbrechender neuropsychiatrischer Untersuchungsmöglichkeiten ist es bislang unmöglich, das erlittene psychische Trauma "objektiv" nachzuweisen. Psychiatrische Behandlungen sind nach wie vor mit moralischen Vorurteilen behaftet. Auch gegenwärtig fürchten Soldaten, als Feiglinge stigmatisiert zu werden, wenn sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. „KRIEGSZITTERER“ Tausende von Soldaten zeigten in den Jahren des Ersten Weltkrieges „Kriegshysterien“, erlitten „shell shocks“ und entwickelten „névroses de guerre“, zu Deutsch „Granatschocks“ und „Kriegsneurosen“. In der öffentlichen Wahrnehmung gingen solche Diagnosen oft mit dem Stigma der „Drückebergerei“ einher. Sie suggerierten, der Soldat flüchte sich lieber in die Krankheit, als sich tapfer der Todesgefahr an der Front zu stellen. Als Ursache für die hohe Zahl der Betroffenen nannten Ärzte und Soldaten gleichermaßen die moderne Kriegstechnik. Die Materialschlachten im Stellungskrieg des Westens ließen ab 1916 die Krankenziffern in die Höhe schnellen. Die Armeeführung nahm die hohen Ausfallzahlen als Bedrohung der militärischen Schlagkraft wahr. Das junge medizinische Spezialfach der Psychiatrie, das bis dahin nicht für schnelle Erfolge bekannt war, erhielt den Befehl zur sofortigen Heilung. 29 Psyche im "totalen" Krieg Während des Zweiten Weltkrieges erlebten erneut Soldaten, und nun auch verstärkt Zivilisten, das Grauen des Krieges. Die Verbrechen der Nationalsozialisten an der Menschlichkeit brachten ungeahntes Leid für Millionen von Menschen – auch hinsichtlich deren psychischer Gesundheit. Bei den Angehörigen der Wehrmacht traten in den Jahren 1939 bis 1945 mannigfaltige psychische Störungen auf. Allerdings wurden diese oft als somatische Krankheiten diagnostiziert, so zum Beispiel als „Magenneurose“ oder „Dystrophie“. Die Behandlungsmethoden waren ähnlich wie während des Ersten Weltkrieges. Neu war bei der Elektrotherapie die Verwendung von Medikamenten wie Insulin und dem Kreislaufmittel Cardiazol, die Schockzustände hervorrufen. Die aufkommende Psychopharmakologie bot neue Möglichkeiten der Behandlung, ebenso die Gesprächstherapie, die nach 1945 verstärkt Eingang in den psychiatrischen Alltag fand. Die Psychiatrie nach dem Vietnamkrieg Der Vietnamkrieg gilt als kollektives Trauma der USA. Die Schwierigkeiten bei der psychischen Verarbeitung der Kriegserfahrungen prägten seit Ende des Krieges psychiatrische Fachdebatten und die öffentliche Diskussion. Mit dem "PostVietnam-Syndrom" zeigten sich neue Symptome. Über so genannte „flashbacks“, zu Deutsch "Rückblenden", wurde erst mit Zunahme der visuellen Medienkultur der 1970er Jahre berichtet. Im Jahr 1980 erkannte die American Psychiatric Association die "Posttraumatische Belastungsstörung" als Diagnoseeinheit an. Diese Entscheidung, die maßgeblich aufgrund des politischen Drucks amerikanischer Veteranenverbände zustande kam, erleichterte die Verfahren um Rentenansprüche für psychisch traumatisierte Veteranen erheblich. Die Posttraumatische Belastungsstörung heute Die Weltgesundheitsorganisation beschreibt die Posttraumatische Belastungsstörung (PTSB) als „Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes". Kriege betreffen die Zivilbevölkerung heute unmittelbarer als die Kriege früherer Zeiten. Sie rufen unaufhörlich neue psychische Traumatisierungen hervor. Die 30 Attentate auf das World-Trade-Center in New York 2001 machten Tausende zu PTSB-Patienten. Die Bundeswehr stellt steigende Zahlen von Kriegstraumata nach Auslandseinsätzen fest. Humanitäre Helfer und Psychiater in Entwicklungsländern berichten von den verheerenden Folgen der Kriege speziell für Kinder. Die aktuelle Standardtherapie besteht aus der Verbindung von medikamentöser und verhaltenstherapeutischer Behandlung. Ein Mittel, das psychischen Traumatisierungen vorbeugt oder sie rasch heilt, existiert auch heute nicht. 3.2 DER KAMPF MIT DER ERINNERUNG Der Krieg hinterlässt nicht nur körperliche Narben. Die Erfahrung existentieller Bedrohung durch physische Gewalt und seelische Misshandlung verletzt auch die Psyche des Menschen. Sie brennt sich tief in die Erinnerung ein und kann sogar das Gedächtnis folgender Generationen prägen. Traumatische Erlebnisse machen Menschen zunächst sprachlos. Bevor sie von ihnen erzählen können, vergehen manchmal Jahre. Welche Worte sie wählen, um ihr Leiden zu beschreiben, ist ebenso individuell wie die Art, das Erlebte zu verarbeiten. Längst nicht alle Opfer kriegerischer Gewalt werden medizinisch betreut oder bezeichnen sich selbst als "traumatisiert". Ihre Erzählungen machen uns stets aufs Neue bewusst, dass Männer und Frauen jeglicher Altersgruppe kriegerischer Gewalt ausgesetzt sind. Das Beispiel von Kindersoldaten zeigt, dass in unserer Zeit selbst die traditionelle Grenze zwischen Soldaten und Zivilisten sich aufzulösen im Begriff ist. Der Wahnsinn des Krieges Zeitzeugen beschrieben den Ersten Weltkrieg als kollektive und individuelle Katastrophe mit schweren Auswirkungen auf die Psyche. Bedeutende Künstler des deutschen Expressionismus verarbeiteten diese Erkenntnis in ihren Werken. Der Irrsinn des Krieges spiegelt sich auf unterschiedlichen Ebenen wider: Er erfasste einzelne Personen, die in psychiatrischen Anstalten behandelt werden mußten. Gleichzeitig stehen diese persönlichen Geschichten für das universelle Trauma des Krieges. 31 4. EPILOG "One Step Beyond – Wiederbegegnung mit der Mine" Lukas Einseles Kunstprojekt "One Step Beyond – Wiederbegegnung mit der Mine" dokumentiert die Erinnerungen von Menschen, die von einer Mine verwundet wurden. Hierfür reiste der Künstler zwischen 2001 und 2004 in vier der am stärksten verminten Länder der Welt: Angola, Afghanistan, Bosnien-Herzegowina und Kambodscha. Er führte Gespräche mit den Opfern, die Ort und Hergang des Unglücks beschrieben, und er porträtierte sie mit einer Großbildkamera. Die Ergebnisse des Projekts wurden weltweit und auch im Internet unter: www.onestep-beyond.de präsentiert. Zu dem ist eine Publikation im Hatje Cantz Verlag erschienen. Sie wurde 2005 mit dem Karl-Hofer-Preis der Universität der Künste Berlin sowie dem Fotobuchpreis 2006/2007 des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. 32