aus: Luhmann, Niklas/Schorr, Karl Eberhard (Hg.): Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 111 - 117 Niklas Luhmann: Systeme verstehen Systeme X ... Jeder Lehrer weiß natürlich, dass er nur im Unterricht unterrichten kann, und dass das, was er sich vorher ausdenkt, ankommt oder nichtankommt, wie der Unterricht es will. Muß ihm die Pädagogik deshalb raten, es gehen zu lassen und sich mittags, wenn es gut gegangen ist, den Schweiß von der Stirn zu wischen?59 Oder wäre es jetzt nicht sinnvoll, zu fragen, ob und wie die Teilnehmer das Interaktionssystem Unterricht verstehen können und ob und wie das Interaktionssystem Unterricht die Teilnehmer verstehen kann? XI Wie erinnerlich,60 hatten wir uns oben für diese Frage die begriffliche Möglichkeit offen gehalten. Das heißt natürlich noch nicht, daß die Pädagogik aus diesen Reben Wein ziehen kann; und es mag selbst dann nur der saure Wein längst bekannter Schwierigkeiten werden. Führen wir uns deshalb zunächst noch einmal die begriffliche Disposition vor Augen: Verstehen heißt: selbstreferentiell situiertes Beobachten im Hinblick auf die Selbstreferenz eines anderen Systems. Beobachten heißt: Anwenden einer Unterscheidung. Dies Anwenden kann je nach dem, was die Operationsbasis der Selbstreproduktion (Autopoiesis) des Systems ist, bewußtes Anwenden oder kommunikatives Anwenden sein. Diese Unterscheidung meint nicht verschiedenartiges 'Material', sondern sie betrifft die Frage, wie anschließende Ereignisse (und damit Reproduktion) ermöglicht und in aktualen Sinn eingearbeitet werden. Es kann demnach ein psychisches (sich durch Bewußtsein reproduzierendes) System geben, das ein soziales System beobachtet; aber auch ein soziales (sich durch Kommunikation reproduzierendes) System, das ein psychisches System beobachtet. Daß ein Schüler oder ein Lehrer beobachtet, was in der Klasse läuft, und sich sein Teil dabei denkt, liegt auf der Hand. Das soziale System ist so konstruiert, daß dies möglich ist – zum Beispiel durch die Regel, daß nur einer auf einmal redet und dass der Lehrer das Drankommen reguliert. Ob mehr als Beobachten, nämlich Verstehen dabei zustandekommt, ist die Frage, die wir bisher verfolgt haben. Dies Verstehen mag verbesserbar sein. Pädagogen muten dies sich selbst zu. Wir übergehen die Pädagogen und fragen statt dessen: Wie kann das soziale System Unterricht beobachten und verstehen, ob psychische Systeme einander und/oder das soziale System Unterricht beobachten und verstehen? Oder anders gefragt: Läuft die Kommunikation so ab und hält sie Anschlüsse bereit, die in Aussicht stellen, daß es für die Kommunikation eine Differenz ausmacht, ob sie richtig verstanden wird oder nicht? Man kann sich eine Reihe von Interaktionsregeln denken, die diese Verstehensverstehenskapazität des sozialen Systems erhöhen können, und man findet, wenn man nur sucht, überraschend viel Literatur dazu. Wir beschränken uns auf zwei Beispiele, die so gewählt sind, daß sie das Problem in der Form eines Widerspruchs verdeutlichen. Es gehört zum alten Code der Geselligkeit, zu fordern, daß alle Beteiligten so reden, daß anderen Beteiligten Anschlüsse für eigene Kommunikation offen gehalten und nahegelegt werden. 61 Das heißt konkret: Verbot von Pedanterie und Zurschaustellung eigenen Sonderwissens, häufiger Themenwechsel, Verbot des konfliktauslösenden Widersprechens, Verbot von Witz und Spott auf Kosten Anwesender, und vor allem: Zuhören- und Schweigenkönnen. Diese Normen entmutigen eine zu persönliche Kommunikation, weil sie für andere nicht anschlußfähig ist, und sie unterbinden jeden Versuch, in die »wahren Motive< des anderen hineinzuleuchten. 62 Einsichten und Regeln dieser Intimbeziehungen Art zu haben dazu differenzieren. gezwungen, Das die Interesse Codes an für Geselligkeit Geselligkeit geht und für dahin, im Interaktionssystem bei Begrenzung auf Anwesende den 'range of correspondance' 63 für Beteiligungen zu erhöhen und damit nicht die Themen als solche, sondern die Verstehenschancen der psychisch Beteiligten zur Kommunikationsmaxime zu machen. Transparenz und Anschlußfähigkeit werden um ihrer selbst willen und ohne Rücksicht auf Funktionen zelebriert und an Realisierungsmöglichkeiten hat es in der 'guten Gesellschaft' nicht gefehlt. Die zweite Ordnung ist entgegengesetzt gebaut. Sie ist nicht gesellige, sondern therapeutische Ordnung, und sie versucht, soziale Bedingungen dafür zu schaffen, daß die Beteiligten über sich selbst reden: über sich selbst, über ihre Probleme, über ihre Frustrationen, ihre Zweierbeziehungen oder was immer die Mode ihnen eingibt. Hier wird mit der Wahl der Formen sozialer Kommunikation ein Allround-Verstehen zelebriert. Es ist die soziale Norm, nichts nicht verstehen zu können, und diese Norm duldet keine anderen Normen neben sich. Die Geselligkeit hatte ihren Sanktionsmodus in der Lächerlichkeit. Die therapeutische Gemeinschaft beargwöhnt den, der sich entrüstet, und reagiert mit Analyse. Weder das eine noch das andere Modell eignet sich für das Interaktionssystem Unterricht. Die Spezialfunktion dieses Systems und die organisatorischen Rahmenbedingungen seiner Ausdifferenzierung verhindern, daß man in der einen oder in der anderen Richtung sehr weit geht. Man findet die stark verdünnte Maxime, Individualität zu respektieren 64 (gegenwärtig allerdings unterlaufen durch die Mode der Teamarbeit und der kollektiv 'erarbeiteten' Ergebnisse), die in gewissem Sinne den beiden grundverschiedenen Ordnungen der Geselligkeit und der Therapeutik zugleich Rechnung tragen will. Aber schön am Problem der Klassendisziplin und ihrer Sanktionen findet dieser Grundsatz seine Grenzen: Weder kann der Lehrer Disziplinlosigkeit als Ausdruck von Individualität akzeptieren, noch kann er Sanktionsmittel ohne Rücksicht auf ihre Auswirkungen auf die Klasse handhaben.65 Pädagogen trauen sich viel zu, wenn sie sich zutrauen, diese Rahmenbedingungen zu durchbrechen und es selbst besser zu machen. Was für den Manager gilt, gilt auch für den Lehrer: he must be part of the System, anders kann er nichts ausrichten. 66 Was er selbst versteht, geht sozusagen zu seinen Lasten. Was er ins Kommunikationssystem Unterricht eingibt, folgt den Eigengesetzlichkeiten dieses Interaktionssystems. Vielleicht ist das beste Rezept, in diesem System geschickt zu schwimmen und damit dazu beizutragen, daß das Interaktionssystem selbst auf Situationen reagieren kann. Selbst wenn man in Einschätzung ihrer Schwierigkeiten alle gezielte Verstehensverbesserungspolitik unterläßt, bleibt aber zu bedenken, wie Strukturen des sozialen Systems die Verstehensmöglichkeiten dieses Systems einschränken. Daß die Art des Unterrichts Einfluß hat auf die Selbsteinschätzung der Schüler, ist gewiß keine neue Einsicht. 67 In der hier vorgeschlagenen Begrifflichkeit stellt sich aber die Frage, im Hinblick auf welche Differenz das soziale System des Unterrichts die Schüler beobachtet und eventuell (mit Einbeziehung ihrer Selbstreferenz) versteht. Hierfür ein Beispiel aus neueren Forschungen: Angesichts der gegen alle pädagogische Absicht zunehmenden Bedeutung von Beurteilungen, Zensuren und Abschlüssen bzw. Abschlussniveaus deutet manches darauf hin, daß die heimliche Sprache des Unterrichts die einer eindimensionalen Skala ist. Mit Hilfe dieser Skalensprache versteht das soziale System diejenigen, die diese Sprache benutzen, in ganz bestimmter Weise, nämlich im Hinblick auf ihre an dieser Skala gemessene eigene Mobilität. Ihre Selbstreferenz wird damit in stark verkürzter Form ins Spiel gebracht, nämlich als Voraussetzung der Zurechenbarkeit (Selbsterarbeitung) ihrer Leistungen. Das Unterrichtssystem erlaubt den Schülern damit ein Ablesen der eigenen Lage und ein Dirigieren ihrer Aspirationen. Sie brauchen sich nicht mit anderen vergleichen, sie können sich mit der Skala vergleichen (wobei eines das andere nicht ausschließt). Sie können ihren gegenwärtigen Stand mit ihrer Vergangenheit vergleichen und sie können sich durch die Bewertungen, die sie erfahren, mehr oder weniger zutreffend verstanden fühlen. Sie werden nie das Gefühl haben, ganz verstanden worden zu sein; aber eine hohe Individualisierung (im Sinne einer Unterscheidbarkeit von anderen) ist trotzdem möglich. Man findet neuerdings nicht nur negative, sondern auch positive Beurteilungen dieser Eindimensionalität. Sie sei im Resultat in hohem Maße isomorph zur modernen Gesellschaft und sei unter den Beteiligten sehr konsensfähig (was die Herstellbarkeit von Konsens über Fehlbeurteilungen einschließt).68 Jedenfalls hat es nicht zu unterschätzende Vorteile und vor allem faktische Realisierungschancen, wenn man das Verstehen des sozialen Systems durch das Differenzschema einer Skala (immer eingeschlossen den einfachsten Grenzfall von Bestehen/Nichtbestehen) artikuliert. Jede pädagogische Kritik muß sich daher überlegen, ob sie mindestens gleiche Leistungen erbringen kann und wie sie erreichen will, daß das soziale System Unterricht auf mehreren Dimensionen (oder mit mehreren Differenzschemata zugleich) als verstehend fungieren kann. Aufs Ganze gesehen spricht bei einer soziologischen Betrachtung viel dafür, daß sich der 'cognitive bias' und das Beurteilungsschema des Unterrichts ohnehin durchsetzen, und daß alle Überlegungen zur Verbesserung dessen, was quasi von selbst geschieht, hier ansetzen müssen. Das soziale System Unterricht beobachtet und versteht die Schüler (und nicht selten auch den Lehrer) unter der Differenz von Begreifen und Nichtbegreifen (Anm.: "'Begreifen' soll hier einfach heißen: Selektivität beurteilen können. Das ist nur möglich, wenn eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten mit im Blick steht"(S.99)). An diese Differenz knüpfen, ihr Nachdruck verleihend, Beurteilungen an. Der Unterricht versteht (im strengen Sinne des hier benutzten Begriffs) das Begreifen bzw. Nichtbegreifen aber nur dann, wenn er den Informationsstand und die ablaufenden Kommunikationen auf die Selbstreferenz des Schülers hin beobachten kann. Es muß sich um 'selbstangeeignetes' Gedankengut handeln, man könnte auch sagen um 'selbst verstandenes' Gedankengut, jedenfalls nicht um ein bloßes Copieren, Nachahmen, Ablesen. Der Unterschied liegt zum Beispiel in der Frage, ob Abschreiben bzw. teamwork zulässig ist oder nicht. Im Unterricht kann man in sehr engen zeitlichen Grenzen, aber ohne indiskret zu werden oder in Legitimationsschwierigkeiten zu kommen – darüber kommunizieren, welche Vorurteile, Wissenslücken oder Wertungsverzerrungen das Begreifen erschweren bzw. blockieren. Aber wie lange darf ein Lehrer sich damit beschäftigen, einem einzelnen Schüler begreiflich zu machen, daß drei Mücken mehr sind als zwei Elefanten, wenn die übrigen sich für dieses Problem nicht im geringsten interessieren? Es ist klar, daß sich mit dieser Focussierung das Unterrichtsproblem von Pädagogik auf Didaktik verlagert. Zugleich muß diese Trennung vor dem Hintergrund unserer Analyse des Verstehensproblems in ünterrichtssituationen aber relativiert werden. Was die Schule im Unterschied zur Familie als Erziehung leistet, muß etwas sehr Spezifisches sein. Man mag es in der Wissenstradierung sehen oder auch im Lernen des Lernens. Bei hohen Ansprüchen möchte man hoffen, daß die Schule soziale Systeme bereitstellt, die zum Begreifen sozialisieren. 59 Wie Ernst Christian Trapp meint, der bald darauf den ersten Lehrstuhl für Pädagogik räumte und für die Besetzung durch einen Philologen freigab. (Im 18. Jahrhundert hieß es natürlich nicht 'mittags', sondern 'abends'). 60 Vgl. S. 93. 61 Vgl nur Friedrich D. E. Schleiermacher, Versuch einer Theorie des geseihgen Betragens, in: Werke, Auswahl in vier Bänden Bd II, 2 Aufl. Leipzig 1927, S. 1-31. Zur Vorgeschichte (die wichtiger ist als alles, was auf Schleiermacher folgt) siehe auch Christoph Strosetzki, Konversation: Ein Kapitel gesellschaftlicher und literarischer Pragmatik im Frankreich des 18. Jahrhunderts, Frankfurt 1978; Niklas Luhmann, Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. i, Frankfurt 1980, S. 72161. Siehe außerdem Ulrich Schulz-Buschhaus, Balzacs »Traktat vom eleganten Leben«: Zur Rezeption aristokratischer Normen in der Bürgerlichen Gesellschaft, Germanisch-romanische Monatsschrift NF 29 (1979), S.443-456; Claudia Schmölders, Die Kunst des Gesprächs, München 1979. 62 Dies kann auch als Maxime der Erhaltung des eigenen Vergnügens formuliert werden: »Were we to dive too deeply into the sources and motives of the most laudable actions, we may, by tarnishing their lustre, deprive ourselves of a pleasure« (Countess Dowager of Carlisle, Thoughts in the Form of Maxims, Adressed to Young Ladies on Their First Establishment in the Worid, London 1789, S. 81 63 Dieser Begriff aus der evolutionären Psychologie von Herbert Spencer, Principles of Psychology Bd. I, Nachdruck der Ausgabe 1899, Osnabrück 1966, S. 300 ff. 64 Beobachtungen zu »respecting the privacy of the individual pupil« bei Louis/M. Smith/William Geoffrey, The Complexities of an Urban Classroom: An Analysis Toward a General Theory ofTeaching, New York 1968, S.118ff. 65 Vgl. etwa Sibylle Reinhardt, Zum Professionalisierungsprozeß des Lehrers: Überlegungen zur Lehrer-SchülerInteraktion und ihrer Sozialisation, Frankfurt 1972, S. 102 ff., 144f. 66 Vgl. von Foerster zit. oben S. 111. 67 Vgl. aus der neueren Forschung etwa Susan J. Rosenholtz/Stephen H. Rosenhoitz, Classroom Organization and the Perception of Ability, Sociology of Education 54 (1981), S. 132-140. 68 Vgl. Carl Simpson, Classroom Structure and the Organization of Ability, Sociology of Education 54 (1981), S. 120-132.