... eine kleine Geschichte der Systemtheorie aus der Perspektive des Themas Komplexität Als eines der Grundprobleme von Komplexität gilt, komplexe Ganzheiten über das Verhältnis seiner Einzelteile beschreiben zu müssen. In der klassischen Humanwissenschaft, die im Schema von Subjekt-Objekt-Beziehungen verhaftet ist, zeigt sich dieses Problem vor allem im Bereich sozialer Phänomene - etwa wenn in Subjekttheorien Gesellschaften über die darin agierenden Menschen erklärt werden müssen: Ist der Wille des Menschen in der Gesamtdynamik der Gesellschaft noch zu erkennen? Handlungstheorien sind aktuell die dominanten Subjekttheorien im Bereich sozialer Phänomene. Sie verbinden Subjekt- und Objektschema aus Perspektive des Subjektes: Das Objektschema sozialen Geschehens bleibt die Kausalität als Erklärungsschema der Dynamik der Natur: was immer geschieht, ist Wirkung einer Ursache. Darauf setzt das 'Kantsche' Subjektschema auf: Das Subjekt kann das Geschehen der Welt kraft seiner Vernunft ordnen – also z.B. über kausale Gesetze erklären. Das Subjekt ist 'frei', das Geschehen in verschiedene Ordnungskontexte zu stellen und damit selbst kausale Ereignisketten zu initiieren (Ich will etwas und arbeite darauf hin, dass das geschieht. Dann kann ich sagen: Ich habe es bewirkt). Wir haben somit faktisch zwei dynamische Entwicklungslinien vor uns: eine lineare, die der Abfolge kausalen Geschehens entsprichet und begleitend eine zirkuläre, in der das Subjekt das Geschehen auf sich bezieht, auf Kontexte rückbezieht ('re-flektiert') und damit die Linearität neu ausrichtet, neu initiiert etc.. Diese Linien entsprechen der hermeneutischen Unterscheidung von erklären und verstehen. Dieses Kantsche Subjektschema, in der jedes Subjekt für sich aufgrund seiner Vernunft Gesetze formulieren kann, die für jeden gelten, weil ja die Vernunft bei allen gleich ist, stößt aber im sozialen Bereich auf die Grenzen der untrennbaren Verwobenheit von Intentionen, Handlungen etc. verschiedener Subjekte. Dementsprechend beziehen sich Handlungstheorien auch auf die Hegelsche Vorstellung von Intersubjektivität, die die vernünftigen Subjekte eingebunden in die historische- kulturelle Sphäre 'geistiger' Kontexte beschreibt, auf die sich Vernunft notwendigerweise bezieht (in allen 'Zivilisationsaspekten von Sprache über Sitte, Kunst, Recht etc.) Gruppendynamik-Modelle sind dabei letztlich handlungstheoretische Konzepte, die diese Intersubjektivitätsvorstellung in einem konkreten Modell zu verwirklichen suchen – in der Gruppe, in der noch jeder Beteiligte mit jedem 'face to face' kommunizieren kann. Größere soziale Einheiten sind derart allerdings nicht mehr erschöpfend erfassbar. Hier bauen Modelle wie das von Habemas auf der Hegelschen Vorstellung in 'negativer' Form auf (d.h. etwas ist intersubjektiv solange gültig, bis irgendjemand mit Gründen widerspricht – dann muss man sich rational einigen). Daneben hat sich aber eine Position herausgebildet, die dieses Problem grundsätzlich anders lösen will: Systemtheorien. So wie die Geisteswissenschaften (u.a. Dilthey mit seiner Hermeneutik um 1900) kritisieren, dass der Mensch in seiner Reflexivität letztlich nicht nur kausal (also in Ursache-Wirkungsmustern) beschreibbar ist, beginnen wenig später auch Vertreter anderer Wissenschaftsbereiche (Malinowski oder Radcliffe-Brown) von der anderen - der 'objektiven' Seite - des Beobachtungsspektrums her ihre Kritik an der Kausalität als dominantem wissenschaftlichen 'Beschreibungsmodus': Auch die Welt ist demnach nicht kausal beschreibbar - wenn man sie nämlich soweit wie möglich in ihrer Komplexität erfassen will. Dementsprechend kommt dieser Ansatz zunächst aus Bereichen, die sich mit komplexen, dynamischen Phänomenen beschäftigen: Biologie, Thermodynamik, Kulturanthropologie, später Soziologie. Vor allem das zirkuläre Denken der Kybernetik und anderer Stömungen des Konstruktivismus hat dabei das Denken der Systemtheorie beeinflusst. Diese thematisiert eine Metaebene zum Subjekt- und Objektschema: Die Welt wird nicht mehr gegenständlich gedacht – also bestehend aus Subjekten, die etwas bewirken können und Objekten, an denen Zusammenhänge etwas bewirkt angesprochen, bei wird. Stattdessen denen werden gegenseitige Beziehungen und Wechselwirkungen die Unterscheidung in Subjekt und Objekt, sinnlos erscheinen lassen. Dieses komplexe Beziehungsnetz lässt aber auch keine objektive Beschreibung der Welt mehr zu: Je nachdem, welche Zusammenhänge thematisiert werden, erscheint die Welt immer anders, die Welt ist immer die Welt eines Beobachters – seine Konstruktion – und nicht unabhängig von diesem vorstellbar. Wieso kommt es zu diesen komplex-zirkulären Überlegungen? Was passiert bei kausalen Beschreibungsmustern? Es wird ein Phänomen möglichst isoliert betrachtet, um feststellen zu können, welche Ursache welche Wirkung hervorruft. U W Beschreibt man Phänomene mit mehr als einem ursächlichen Einflussfaktor, kann man sich eine Zeitlang noch mit Ausmittelungen, Interdependenzberechnungen etc. behelfen. W U O U Was aber bei komplexen Phänomenen, bei denen die Objekte wechselseitig Ursache und Wirkung sind (simples Beispiel: die wechselseitige Abhängigkeit der Populationen von Jägern und Beutetieren in einem Gebiet)? Derartig komplexe Phänomene lassen sich durch einzelne Ursachen- Wirkungsbeziehungen - durch das Wirken der einzelnen Teile - nicht mehr sinnvoll beschreiben: die Dynamik biologischer Lebensräume, die Entwicklung von Kulturen etc. andererseits ist die Kultur aber auch nicht selbst Subjekt - sie agiert nicht als Einheit mit eigenem Willen. Die Systemtheorie behauptet nun, dass diese komplexen Phänomene - in ihrer Terminologie 'Systeme' - prinzipiell nicht mehr zufriedenstellend als Verhältnis eines Ganzen zu seinen Teilen beschrieben werden können und wählt einen grundlegend anderen Weg: Ein System wird nicht bestimmt durch seine Teile, sondern durch die Form der Beziehung im System: durch seine Struktur. Das hat grundlegende Konsequenzen: Wenn ich auf Relationen anstelle von Teilen schaue, denke ich nicht an Gegenstände, an Objekte und Subjekte: In dieser nicht-gegenständlichen Perspektive geht es somit nicht um das Handeln (und Erleiden) Einzelner, um ihren Willen, ihre Intentionen und Werthaltungen – sondern um Strukturveränderungen: Wenn ich nicht auf den Einzelnen achte, bleibt mir auch sein 'Innenleben', seine Seele und Persönlichkeit verborgen – eine klare Gegenposition zu Subjekttheorien. Wenn ich nicht auf Gegenstände achte – also auf 'rundum' definierte Einheiten – benötige ich jeweils neue, 'punktuelle' Unterscheidungen, um mich zu orientieren: Ich denke nicht in Einheit, sondern in Differenz (digital nicht analog), achte auf Unterscheidungen, nicht Gemeinsamkeiten. Wenn ich nicht Gegenstände beschreibe, beschreibe ich zunächst nicht die Welt – die Wirklichkeit – sondern bin eine Metaebene weiter: Ich beschreibe von vornherein ein Konstrukt von Wirklichkeit. Wir sprechen im Rahmen der Systemtheorie zunehmend in Begrifflichkeiten wie Brauchbarkeit und Fruchtbarkeit anstelle von Wahrheit – eine Referenz an kybernetische und konstruktivistische Fundierungen der Systemtheorie. 1 Wenn ich nicht auf Gegenstände, sondern auf Relationen achte, beschreibe ich nicht mehr, wie sich etwa bei einer Einwirkung diese Gegenstände entsprechend kausaler Gesetze verändern, sondern ich beschreibe, wie sich dadurch die Struktur verändert, wie weitgehend das System dadurch betroffen ist Bildlich gesprochen gleicht das kausale Denken einem Pfeilschuss: Ich visiere ein punktuelles Ziel an und versuche dabei alle Störfaktoren auszublenden. Das systemische Denken hingegen gleicht einem Steinwurf ins Wasser: Ich beobachte, welche Kreise die Einwirkung verursacht und wie weit die Wasserfläche dadurch bewegt wird. Der Unterschied zwischen diesen Perspektiven zeigt sich immer wieder auch aktuell in der Diskussion komplexer Phänomene (Gentechnik, Atomkraft etc.) - das Problem besteht meist darin, dass die Ansätze 'Ich will etwas Bestimmtes erreichen' und 'Welche Auswirkungen hat das auf das Gesamtsystem?' kaum eine gemeinsame, aufeinander Bezug nehmende Diskussion zulassen. Sehen wir uns noch einmal das Modell eines Systems an: „Entweder betrachte ich mich als den Bürger eines unabhängigen Universums, dessen Regelmäßigkeiten, Gesetze und Gewohnheiten ich im Lauf der Zeit entdecke, oder ich betrachte mich als Teilnehmer einer Verschwörung, deren Gewohnheiten, Gesetze und Regelmäßigkeiten wir nun erfinden. Immer wenn ich mit denjenigen spreche, die sich dafür entschieden haben, entweder Entdecker oder Erfinder zu sein, bin ich immer von neuem von der Tatsache beeindruckt, daß keiner von ihnen erkennt, jemals eine derartige Entscheidung getroffen zu haben. Wenn sie überdies herausgefordert werden, ihre Position zu rechtfertigen, bedienen sie sich eines Begriffssystems, das nachweislich auf einer Entscheidung über eine prinzipiell unentscheidbare Frage basiert.“ (Foerster, Heinz von: KybernEthik 1993, S. 75)). 1 Wenn dieses System nicht durch seine Teile, sondern durch die Struktur bestimmt ist, zeigt sich sofort das grundlegende Problem dieses Ansatzes: Beziehungen sind weit weniger stabil als Dinge selbst: Wie sichere ich die Stabilität eines Systems? Wie gehe ich mit der Beschreibung der Veränderung und Dynamik um, ohne den Zusammenhalt des Systems zu gefährden? Das war das Hauptanliegen von Talcott Parsons, dem Begründer der ersten komplexen Fassung der Systemtheorie in den Sozialwissenschaften. Er hat daher die stabilisierenden Faktoren betont, die Struktur: Wenn ein Phänomen sinnvoll als System beschreibbar ist, ist davon auszugehen, dass die Dynamiken innerhalb des Systems die Gesamtausrichtung überwiegend unterstützen: Diese Entsprechung nannte Parsons Funktion. Die Funktion als systemkompatible Struktureinwirkung ist der dynamische Faktor des Modells, es gilt: die Funktion folgt der Struktur. (Beispiel: Sozialisation als Entwicklung des Menschen zu überwiegend gesellschaftsstabilisierendem 'funktionalen' Verhalten – Sozialisation meint daher nicht seine Charakter-/Persönlichkeitsbildung, sondern lediglich die Entwicklung seiner Beziehungsmuster/sozialen Verhaltensweisen) Das Problem dieses Konstruktes zeigt sich, wenn man nicht nur ein System, sondern die Interaktion zweier Systeme betrachtet: Parsons spricht von 'offenen Systemen', d.h., Systeme unterscheiden sich durch die unterschiedliche Struktur, sie haben keine faktische Grenze gegenüber einem anderen System und interagieren dementsprechend frei: Ein Input wird im System verarbeitet und ein Output wird erzeugt. Da Parsons aber Veränderungen über den Begriff der Funktion an die Struktur bindet, hat er wenig Möglichkeit, zu beschreiben, was mit dem Input im System geschieht (weil ja Funktionen nicht die Strukturen beeinflussen, sondern umgekehrt). Beschrieben wird somit lediglich: Output folgt auf Input – wird somit offensichtlich von Input verursacht. Damit sind wir wieder in der selben komplexitätsreduzierenden Kausalität, die mit dem Systembegriff vermieden werden sollte. An diesem Punkt der mangelnden Beschreibbarkeit von Dynamik und Interaktion setzt auch die Kritik und Weiterentwicklung der Systemtheorie von Niklas Luhmann an. Luhmann dreht die Prioritäten Parsons um: structure follows function. Er stärkt den dynamischen Aspekt der Beschreibung eines Systems, indem er annimmt, dass die Elemente eines Systems temporär, vergänglich sind. Die Elemente sind dabei nicht gleich den Teilen eines Systems (den Gegenständen/Objekten/Subjekten), sondern sind die Beziehungen/Relationen zwischen ihnen. Bei den drei Systemarten, die Luhmann unterscheidet, sind das: o Leben bei biologischen Systemen o Bewusstsein bei psychischen Systemen o Kommunikation bei sozialen Systemen Dass Lebens-, Bewusstseins- und Kommunikationsformen vergänglich sind, ist wohl nachvollziehbar – wichtig ist nun, dass ein System bei Luhmann nicht wie bei Parsons dann bestehen bleibt, wenn es Strukturen stabil hält, sondern wenn es gelingt, die vergänglichen Elemente immer wieder durch neue zu ersetzen, wenn das System anschlussfähig bleibt (eine Idee weiterentwickelt, bevor sie vergessen ist,...) Diese neuen Elemente werden von den alten Elementen gebildet – das System ist autopoietisch – indem sich ein System immer auf sich selbst bezieht – das System ist selbstreferentiell - und neue Information nutzt, um entsprechend seiner Selbstreferenz neue Elemente zu produzieren. Z.B.: Der ÖGB (die österreichische Dachorganisation des sozialen Systems Gewerkschaften) sagt (kommuniziert): "Wir streiken immer, wenn die soziale Situation der Arbeitnehmer massiv verschlechtert wird. Unsere neuen Informationen besagen, dass das mit der Pensionsreform geschieht, also streiken wir am 6.5.03" (neue Kommunikation wird aus alter Kommunikation unter Referenz auf diese eigene alte Kommunikation aufgrund neuer Information gebildet). Luhmann beschreibt also Systeme prozessorientiert. Wie kann man sich nun diesen autopoietischen, selbstreferentiellen Prozess vorstellen? Ein System 'bildet sich selbst', indem eine grundlegende Unterscheidung getroffen wird, die zwischen 'drinnen' und 'draußen' – zwischen System und Umwelt unterscheiden lässt und damit als 'Leitdifferenz' dient. Diese Unterscheidung ist also geeignet, Identität und Differenz festzustellen – das System schließt sich damit von seiner Umwelt ab: Luhmann Systeme sind geschlossene, nicht offene wie die von Parsons. Das heißt, anhand der Leitdifferenz definiert das System sowohl seine Umwelt wie auch sich selbst – was in der grundlegenden Unterscheidbar nicht fassbar ist, ist nicht systemrelevant (der ÖGB vertritt auch Spitzenbeamte mit Höchstgehältern – er ist nicht für Arme, sondern für Arbeitnehmer da – arm / reich, links / rechts, progressiv / konservativ ist letztlich irrelevant, der ÖGB ist vielleicht eines davon 'eher', wenn es den Interessen seiner Mitglieder dient und daher aufgrund immer wieder getroffener Entscheidungen dem autopoietisch und selbstreferentiell entstandenen 'Selbstbild' entspricht). die Umwelt kann nicht direkt auf ein System einwirken. Was immer in der Umwelt geschieht, wird vom System lediglich als Information wahrgenommen und selbstreferentiell zur autopoietischen Bildung neuer Elemente genutzt, die Grundlage einer eigenen Entscheidung ist man hätte ja auch nicht oder anders streiken können). Wie läuft dieser Prozess im Detail ab? Ein System definiert sich und seine Umwelt anhand einer Leitdifferenz, die ihm ermöglicht zu sagen 'wer zum Club gehört' und wer nicht – es schließt sich damit ab. Das System beobachtet sich und seine Umwelt: die Leitdifferenz stellt die Umweltgrenze fest, (zumindest) eine zweite Unterscheidung stellt eine Differenz in System oder Umwelt fest (=Information: die Pensionen werden anders geregelt). Diese Information wird 'ins System getragen' (Selbstreferenz) und dort verarbeitet (neue Elemente erzeugt – Autopoiesis) – bei Luhmann heisst das re-entry'. Z.B: Leitdifferenz ÖGB: organisierte Arbeitnehmer - Information: andere Pensionsregelung – re-entry der Information ins System: Pension ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebenseinkommes der Arbeitnehmer - Selbstreferenz: die Situation unserer Mitglieder wird verschlechtert, in solchen Fällen reagieren wir immer – Autopoiesis: Wir rufen zum Streik auf (neues Element) und bestätigen uns damit auch selbst wieder als Interessensvertreter der Arbeitnehmer. Der Unterschied zum Konzept von Parsons liegt auf der Hand: Bei Parsons wird das System statisch über die Stuktur definiert und die Stabilisierung dieser Struktur als funktionaler, dynamischer Aspekt beschrieben Luhmann beginnt mit der Dynamik: Funktional ist für das geschlossene System die Informationsverarbeitung: das Feststellen eines identitätsstiftenden Unterschieds, auf den ein zweiter Unterschied Handlungsfähigkeit (Autopoiesis (selbstreferentiell) neuer Elemente) bezogen wird gewonnen wird. und Aus daraus den so gewachsenen selbstreferentiellen und immer wieder neu zu bestätigenden (oder zu ändernden) Informationsbeständen 'sedimentiert' Struktur – als resistenter Informationsbestand. Das setzt allerdings voraus, dass das System 'Wahlmöglichkeit' hat, wie es neue Information verarbeitet: 'Kontingenz' (wir streiken so oder anders oder gar nicht). Ansonsten wäre eben die kausale Notwendigkeit eines bestimmten Outputs aus einem bestimmten Input gegeben. Diesen Umgang mit Handlungsalternativen bezeichnet Luhmann als Sinn. Aus den jeweils getroffenen Entscheidungen ergeben sich in der Zeit beständige identitätsstiftende Muster – 'Strukturen'. " Psychische und soziale Systeme sind im Wege der Co-evolution entstanden. Die jeweils eine Systemart ist notwendige Umwelt der jeweils anderen. Die Begründung dieser Notwendigkeit liegt in der diese Systemarten ermöglichenden Evolution. Personen können nicht ohne soziale Systeme entstehen und bestehen, und das gleiche gilt umgekehrt. Die Co-evolution hat zu einer gemeinsamen Errungenschaft geführt, die sowohl von psychischen als auch von sozialen Systemen benutzt wird. Beide Systemarten sind auf sie angewiesen, und für beide ist sie bindend als unerläßliche, unabweisbare Form ihrer Komplexität und ihrer Selbstreferenz. Wir nennen diese evolutionäre Errungenschaft 'Sinn'. (...) Sinn ist (die Frage, was Sinn leistet, stellen wir im Moment zurück), läßt sich am besten in der Form einer phänomenologischen Beschreibung vorführen. Eine Definition zu versuchen, würde dem Tatbestand nicht gerecht werden, da bereits die Frage danach voraussetzt, daß der Fragende weiß, worum es sich handelt. Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas steht im Blickpunkt, im Zentrum der Intention, und anderes wird marginal angedeutet als Horizont für ein Und-so-weiter des Erlebens und Handelns. Alles, was intendiert wird, hält in dieser Form die Welt im ganzen sich offen, garantiert also immer auch die Aktualität der Welt in der Form der Zugänglichkeit. Die Verweisung selbst aktualisiert sich als Standpunkt der Wirklichkeit, aber sie bezieht nicht nur Wirkliches (bzw. präsumtiv Wirkliches) ein, sondern auch Mögliches (konditional Wirkliches) und Negatives (Unwirkliches, Unmögliches)." (Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie.- Frankfurt am Main: Suhrkamp 19966, S 92f)