4 - Akademie für Psychotherapie und Seelsorge

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4. Internationaler Kongress der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge
- Psychotherapie in der Krise? Die neue Lust auf Sinn und Werte Marburg 28. Mai bis 1. Juni 2003
Seminar E 11 Gisela Ana Cöppicus Lichtsteiner, Zürich
„Brannte nicht unser Herz....?“
Gottsuche in der Katathym-imaginativen Psychotherapie
Im entspannten Zustand des therapeutischen Tagtraums wird offenbar, was viele meiner KlientInnen
noch nicht hätten formulieren können: ihre Sehnsucht nach Gott.
Wie erkennen wir PsychotherapeutInnen die Situationen, Stimmungen, Orte und Gestalten
in der Imagination, die spirituelle und heilige Qualität besitzen,
und wie können wir deren heilende Wirkung im Therapieprozess fördern?
Ein Bericht aus der psychotherapeutischen Praxis
SEMINARVERLAUF
1. Vorstellung
2. Zur Einführung: Ein Beispiel aus der Praxis einer Kollegin
3. Das ‚brennende Herz‘ in der Therapie: Fallbeispiel meiner Patientin Lena
- Im Stall von Bethlehem: Mit dem kindlichen Glauben das Leben retten
- ‚Schau mir immer in die Augen‘: Die Verwandlung des Bösen
- Das Tote begraben - das Lebendige taufen
- Nachgedanken - erste Antworten
4. Imaginations-Uebung zur Selbsterfahrung der SeminarteilnehmerInnen
5. Die Katathym-imaginative Psychotherapie (KiP)und ihr Verhältnis zum Heiligen
- Eine kurze Einführung in die KiP
- Innere Führer und archaische Bedürfnisse
- Verletzungen der primären Entwicklungsphase
- Regression oder Transzendenz?
- Spirituelle Motive in der KiP
- Von der Wirkmacht der inneren Bilder
6. Schlussfolgerungen: ‚Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.‘
7. Diskussion
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1. Vorstellung
Wer bin ich?
Ich bin gebürtige Deutsche und lebe seit fast 30 Jahren in Zürich; ich bin Daseinsanalytikerin
(also tiefenpsychologisch ausgebildet mit philosophischem Hintergrund) und Therapeutin der
Katathym-imaginativen Psychotherapie und als solche tätig in eigener Praxis. Seit bald 15
Jahren arbeite ich auch mit Frauen, die in ihrer Kindheit sexuell ausgebeutet worden sind
oder sonst an den Folgen von frühkindlichen Schädigungen leiden.
Seit einigen Jahren beobachte ich, wie bei meinen PatientInnen vermehrt in der Therapie
religiöse Fragen und Bedürfnisse aufkommen. Das entspricht einerseits dem heutigen Zeitgeist
(der sogenannten ‚neuen Religiosität‘, Spiritualität, östlichen Meditations- und
Bewusstseinspraktiken und Esoterik) und ist Ausdruck eines tiefen Suchens orientierungslos
gewordener Menschen. Gibt es andererseits auch Zusammenhänge eines solchen Suchens
mit der Art der psychischen Störung oder zu mir als therapeutischem Gegenüber? Es ist
vermutlich kein bedeutungsloser Zufall, dass ich vorwiegend mit frühgestörten und
traumatisierten Menschen arbeite und bei meinen PatientInnen die spirituelle Frage
heraushöre, war ich doch selbst zu Beginn meines Lebens einigem lebensbedrohlichen Stress
ausgesetzt: Als Frühgeborene hatte ich 1943 die totale Bombardierung Hamburgs miterlebt,
deren Folgen die Kindheit überschatteten. Rückblickend würde ich mich als
kriegstraumatisiertes Kind bezeichnen: vom Urgrund sichernden Seins abgeschnitten und
transzendental obdachlos - so vermittelten es die Eltern wie auch der herrschende Zeitgeist in
den Nachkriegsjahren. Mit 20 Jahren trat ich aus der Institution Kirche aus. Zu den spirituellreligiösen Werten des Christentums fand ich erst 30 Jahre später, nachdem mich andere Orte
der Spiritualität nicht nachhaltig genährt und überzeugt hatten.
„Im Glauben an Christus... ergreift der Mensch das Heil, empfängt er das göttliche Leben.
Dieser Glaube ist eine personale Haltung und ein existentieller Vollzug.“
(R. Schnackenburg)
Meine Biografie hat mich wohl sehr hellhörig und empfindsam gemacht für ähnlich gelagerte
Leidenszustände: für die besondere Bedürftigkeit frühtraumatisierter Menschen und ihre
übermenschlichen Sehnsüchte; für die Notwendigkeit der Modifikation des therapeutischen
Umgangs mit ihnen, und für das Wagnis, auch in den Therapien mit der Hilfe Gottes zu
rechnen. Mit meiner Bereitschaft, auf die spirituell-religiösen Bedürfnisse meiner PatientInnen
zu achten und einzugehen, stehe ich im Widerspruch zur klassischen psychoanalytischen
Therapieauffassung, die sich klar von diesem Bereich abgrenzt und sich nicht zuständig dafür
fühlen will (vgl. Schigutt). Es ist meines Erachtens aber heute nicht mehr nur die Sache der
Ausbildung, sondern vor allem der Persönlichkeit des Therapeuten, wie er oder sie mit diesem
Phänomen umgehen kann oder will. Was haben wir selbst mit Religion und Kirche erlebt? Wo
stehen wir selbst heute in Glaubensfragen? Was lösen die religiösen Sehnsüchte unserer
PatientInnen in uns aus und wie antworten wir PsychotherapeutInnen auf dieses Sehnen und
Suchen? Wie können wir damit umgehen und welche Erfahrungen können wir machen?
Diesen Fragen möchte ich in diesem Seminar Raum geben.
2. Zur Einführung: Ein Beispiel aus der Praxis einer Kollegin
Kürzlich traf ich mich mit KollegInnen zum Austausch über unsere therapeutische Arbeit. Eine
Psychiaterin erzählte uns vom Fortgang einer Therapie: Ihre Patientin, Frau X, Mutter zweier
Söhne, trage sich seit längerer Zeit mit Scheidungsgedanken, fühle sich aber völlig unfähig,
entsprechende Schritte zu unternehmen. Seit ihr Mann nach einem Unfall an einer
Persönlichkeitsveränderung leide und seine aggressiven Affektdurchbrüche zugenommen
haben, sei die Entscheidungsunfähigkeit von Frau X durch Aengste und Schuldgefühle noch
verstärkt worden. Womit müsse sie rechnen, wenn sie ihrem Mann ihre Trennungs-absichten
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mitteilen würde: Müsste sie sich auf massive Tätlichkeiten von seiner Seite gefasst machen?
Wohin würde ihr Mann seine Wut oder Verzweiflung richten, gegen sie oder gegen sich
selbst?
Letzthin, so fuhr die Kollegin in ihrem Bericht fort, habe Frau X an einem Wochenende ein
schamanistisches Seminar besucht. Während einer sogenannten ‚schamanistischen Reise‘
(das ist eine geführte Imagination oder Fantasiereise), sei ihr in einer Unterwasserhöhle eine
Gestalt begegnet, die sie als Jesus erkannt hätte. Frau X sei von dieser Begegnung sehr
berührt gewesen. „Endlich sei da jemand ganz für sie da!“, so habe sie ihre Erfahrung zum
Ausdruck gebracht; Gefühle der Geborgenheit und des Vertrauens hätten sich eingestellt
und auch nicht geändert, als einige TeilnehmerInnen des schamanistischen Kurses Frau X
angegriffen und ihre Erfahrung infragegestellt hätten.
Ausserhalb des eigentlichen therapeutischen Rahmens hatte Frau X also eine religiöse
Erfahrung gemacht und ihrer Therapeutin davon bewegt erzählt. Es hat uns im
KollegInnenkreis verblüfft, dass es in einer schamanistischen Reise zu einer Begegnung mit
einer christlichen Gestalt gekommen war; zu erwarten gewesen wäre ja eher das Auftauchen
eines Krafttieres oder einer anderen Helferfigur. Es zeigt sich hierin aber die christliche
Orientierung der Patientin. Für Frau X stand die imaginierte Jesus-Begegnung in Verbindung
mit dem Glauben ihrer Kindheit. Diese gläubige Vertrauensbeziehung war jetzt aktiviert
worden; die Patientin wollte sie aber nicht weiter in die Therapie einbringen, was zu
respektieren ist. - Nach einer erneuten und extrem gewalttätigen Bedrohung durch ihren
Mann konnte sie endlich einen Entschluss fassen und realistische Schritte zur Trennung
unternehmen. Und ihr Mann war erstmals bereit für eine Paartherapie!
Wie können wir diese Entwicklung verstehen? Ist sie einfach Folge verschiedener Faktoren
und hauptsächlich das Ergebnis der Therapie? Was geschieht mit uns, wenn wir überlegen
würden, ob Frau X die entscheidende Kraft aus dieser erlebnisstarken Wieder-Begegnung mit
Jesus gezogen haben könnte? Laufen wir Gefahr, uns in Ueberinterpretationen zu verlieren
und den wissenschaftlichen Boden der Psychotherapie zu verlassen oder uns selbst zu
entwerten? Vielleicht sind wir aber auch irritiert über diese Mischung von Psychotherapie,
schamanistischer Imagination und christlicher Begegnung? Die heutige Realität zeigt uns
aber: PatientInnen und KlientInnen konfrontieren uns mit ihren unterschiedlichen spirituellen,
esoterischen oder christlichen Erfahrungen und Bedürfnissen. Daran dürfen wir als
PsychotherapeutInnen nichts ändern - und können doch nur in dem Masse darauf eingehen,
wie wir selbst dafür offen sind. Wenn eine ChristIn explizit eine christliche Therapie sucht, ist der
Arbeitsbereich klarer gegeben.
Wenn mir eine PatientIn von so einer Begegnung mit Jesus berichtet, sei es in einem
nächtlichen Traum oder in einem therapeutischen Tagtraum, oder wenn sie den Bereich des
Religiösen auf eine andere Art zum Ausdruck bringt, indem sie z.B. die Abbildung einer
Madonna mitbringt und sagt, wie wichtig ihr dieses Bild für ihr eigenes Muttersein-Können
geworden ist, dann gehe ich sehr behutsam damit um: Ich hinterfrage nicht, was man von
einer solchen Begegnung zu halten hat, sondern höre darauf, was sie der Patientin bedeutet.
Von meinen eigenen Glaubenserfahrungen her kann ich die Betroffenheit nachempfinden,
die ein solches Phänomen auslöst; und ich kann helfen, dass sich dieses Ereignis zu seiner
vollen Wirkung entfaltet. Ich frage deshalb auch, ob die PatientIn damit einverstanden ist, die
religiöse Thematik in unsere Arbeit mit einzubeziehen. Ich habe fast ausschliesslich die
Erfahrung gemacht, dass PatientInnen dankbar sind, wenn sie auch in der Therapie und
gerade dort über ihre Religiosität sprechen dürfen und sich verstanden wissen. Sie haben oft
niemanden, mit dem sie diese feinen Regungen eines sich gerade erst (oder wieder)
entwickelnden hoffenden Glaubens teilen können.
Solche Themen und Bilder mit religiöser Anmutung erscheinen mir wie Samenkörner:
Sie wollen aufgehen. Aber können sie es? Auf welchen Boden fallen sie? Auf steinigen, oder
in gutes Erdreich?
Sind wir TherapeutInnen nicht auch ein Teil des Bodens unserer PatientInnen, auf den so ein
Samenkorn fällt?
Wollen oder können wir für unsere PatientInnen ein ‚guter Boden‘ sein?
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Die Persönlichkeiten der Patientin und der Therapeutin sind mit dieser Metapher vom ‚guten
Boden‘ angesprochen, wie auch die psychotherapeutische Technik, das Ackerwerkzeug. Der
therapeutische Tagtraum, die katathyme Imagination, erweist sich als ausgezeichnetes
Werkzeug, um den Boden für den Samen vorzubereiten und die Pflanze gedeihen zu lassen.
Das hatte schon der Heilige Ignatius erkannt.
Die allgemein menschliche Fähigkeit zum Tagträumen bzw. zur Imagination wird nämlich
nicht erst von Psychotherapiemethoden unserer Zeit genutzt wird. Meditatives und
betrachtendes Gebet, also die innere Versenkung, sind wohl seit Menschengedenken
bekannt. Sinn und Heilkraft dieser Betrachtungsmethode hat Ignatius von Loyola im 16.
Jahrhundert in seinen ‚Geistlichen Uebungen‘ (‚Exerzitien‘) für den christlichen Kontext
genauestens beschrieben: Unter Anwendung aller Sinne wird der betrachtende Betende
dazu angeleitet, sich z.B. eine bestimmte Szene aus dem Evangelium in allen Details vor
Augen zu führen, die beteiligten Menschen zu sehen und zu hören, mit ihnen im Dialog zu
sein; die verschiedenen Aspekte der Szene zu fühlen, zu riechen, zu schmecken, zu ertasten.
„Da geschieht es manchmal, dass der Herr selbst unsere Seele bewegt...“, schrieb Ignatius
1536 (zit. nach Rahner, S. 58). Der Theologe Hugo Rahner bezeichnet dies als einen
gnadenvollen Gebetsvorgang „der gefühlten, ertasteten und wie ein Duft erfassbaren
Gegenwart Gottes“ (ebd.). Die ‚Anwendung der Sinne‘ in der Meditation war für Ignatius der
Weg, der die ‚desorientierten Affektionen‘ des Menschen heilt in der echten ‚Ordnung seines
Lebens‘ (ebd. 67). Irdisch gesund sei eben nur der Mensch, der jenseitig heil ist: „Erde und
Erdengestalt ist für den Menschen nur tragbar, wenn er sich festgegründet hat im seelischen
Kontakt zum Himmlischen.“ (ebd. 71) Die ‚Sorge um die Heilung und die Heiligung der Seelen‘
sei sowohl dem Arzt und Psychotherapeuten aufgegeben wie dem Seelsorger - und die
Methode der ‚Anwendung der Sinne‘ von Ignatius ist ein anerkannter Heilsweg dazu, der sich
heute wieder zunehmender Beliebtheit unter christlichen Heils- und Heilungsuchenden erfreut.
Die konzeptuelle Nähe der katathymen Imagination zu dieser geistlichen Betrachtungsweise
liegt auf der Hand; wenn auch im weltlichen therapeutischen Rahmen keine religiösen,
sondern ganz allgemein menschliche Inhalte zur Bearbeitung von Lebenskonflikten im
Tagtraum eingestellt werden. Es ereignet sich jedoch, das hat bereits der Begründer der
katathymen Imagination beschrieben, dass im therapeutischen Tagtraum mythisch-mystische
bzw. spirituell-religiöse Inhalte, z.B. die Begegnung mit einer ‚Grossen Mutter‘ oder mit ‚Gott‘
spontan vorkommen. Beiden Methoden ist gemeinsam, dass sie den tagträumenden
Menschen über rein intellektuelles zum erlebnishaften Erfassen eines Sachverhaltes führen
wollen.
3. Das ‚brennende‘ Herz in der Therapie: Fallbeispiel meiner Patientin Lena
Von brennenden Herzen erfahren wir im Lukas-Evangelium als einem Erkennungszeichen für
die Gegenwart Gottes, die wir mit unseren physiologischen und auf die materielle Welt
bezogenen Augen meist nicht wahrnehmen können. Erst unsere bewegte Seele oder das
brennende Herz zeigen uns die Anwesenheit Gottes an oder sind Ausdruck von Sehnsucht
nach ihm.
„Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Weg, als er uns die Schrift
öffnete?“ (Lk 24, 32), fragen sie die Jünger Jesu rückblickend. Jesus, der Auferstandene, hatte
sich ihnen im Moment ihrer tiefsten Verzweiflung und von ihnen unerkannt als der
Anwesende gezeigt. Nur mit dem Herzen sieht man gut!
Bei einer Patientin, ich nenne sie Lena, brach in einer therapeutischen Pattsituation diese
übermenschliche Sehnsucht nach einem Geborgensein im Göttlichen auf; hineingenommen
in die therapeutische Arbeit erfüllte sie diese mit neuer Hoffnung und brachte sie zu einem
guten Abschluss. Ich erwähnte bereits, dass Frauen zu mir kommen, die in der Kindheit
sexuelle Gewalt erlebt haben. Die therapeutische Arbeit mit dieserart frühkindlich
traumatisierten Patientinnen hat mir gezeigt, dass manchmal eine gute und tragende
therapeutische Beziehung und eine an die Störung angepasste modifizierte Technik dennoch
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nicht ausreichen, um die zentralen Selbstwertstörungen zu beheben und eine Stabilität im
Selbsterleben zu erreichen. Wahrscheinlich stagnieren an diesem Punkt nicht wenige
Therapien nach jahrelanger Arbeit und müssen mit dem Gefühl des Versagens, ein
hoffnungsloser Fall zu sein, beendet werden. Lena und ich hatten während dreier Jahre eine
intensive und gute Arbeit geleistet; sie hatte sich beruflich stabilisiert und war eine Beziehung
zu einem Mann eingegangen. Frühkindliche Erlebnisse der Verloren- und Verlassenheit, ihre
Rolle in der Familie, die Beziehung zur Schwester, die sexuelle Ausbeutung etc. waren
erinnert, besprochen und betrauert worden. Und doch wurde sie noch immer gequält von
destruktiven Gedanken und Impulsen: Dann brach ihr Selbstwertgefühl ein und zerbrach im
Zustand des von früher her bekannten völligen Vernichtetseins:
„Ich habe gelernt, mich totzumachen, nicht zu leben.
Ich habe gelernt, nicht darüber zu weinen, den Schmerz nicht zu spüren.
Ich habe gelernt, ohne Grenzen zu sein,
Ich habe gelernt, Sehnen und Leben zu ersticken.
Ich habe gelernt, nicht zu sein.
Und all das hab‘ ich irgendwie überlebt, denn ich existiere noch.“
Wir waren beide ratlos - woran fehlte es denn eigentlich noch? War die Therapie an ein Ende
gekommen und musste Lena die Unauflöslichkeit ihrer destruktiven Verfassung hinnehmen? Es
war Dezember. Erst kurz zuvor war die Religion zur Sprache gekommen: Lena hatte sich seit
langem von ihren religiösen Wurzeln abgeschnitten, Glauben und Kirche als falsch verworfen.
Für ihre Arbeit jedoch hatte sie die Weihnachtsgeschichte Marias kleiner Esel von Gudrun
Sellin gelesen und sich bei dem Gedanken ertappt, wie schön es doch sein müsste, als Kind in
diesem Stall von Bethlehem einfach dabei zu sein. Sie war überrascht und etwas peinlich
berührt von ihrer kindlichen Sehnsucht, das erzählte sie mir im neuen Jahr. Wollen wir nicht, so
fragte ich, im Tagtraum an diese Sehnsucht anknüpfen? Damit war Lena einverstanden.
1. Tagtraum: Im Stall von Bethlehem: Lebensrettender kindlicher Glaube
Nach der gewohnten Entspannung stellte sich Lena den Stall und die Krippe nun innerlich vor
und sah sich selbst als ein vierjähriges Mädchen im weissen Kleid staunend und in feierlicher
Stimmung neben dem Esel stehen. Erleichtert bemerkte sie, dass sie nicht weggeschickt
wurde, dass sie da sein durfte! Das kleine Mädchen ging nun stracks zur Krippe hin und fragte
das Jesuskind sehr direkt: „Kennst du mich noch, wenn ich gross bin?“ Das göttliche Kind
antwortete ihr schlicht mit einem ‚Ja‘, wie mir Lena erschüttert berichtete und fuhr dann fort:
„Wenn ich so klein bin, zweifle ich ihn nicht an! Es gibt mir Vertrauen, dass er mich
wohlwollend kennt. Aber ich habe so viel Gott gelästert mit ihrer Todessehnsucht!“ Angstvoll
musste sie daher weiterfragen, jetzt als erwachsene Lena: „Muss ich sterben, um endlich
Frieden zu finden und Vergebung; oder habe ich eine Chance, im Leben Frieden zu finden?“
Dann wieder in der Rolle des kleinen Mädchens: „Wo finde ich dich, wenn ich gross bin?“
Weinend und noch ohne Antwort auf ihre Fragen überlegte Lena im Tagtraum laut vor sich
hinsprechend weiter: Ob er wohl helfe, wenn es ihr schlecht ginge; ob er verzeihen könne, da
sie doch so viele Fehler gemacht hatte; ob er sie über die Liebe etwas lehren könnte?
Ich forderte Lena auf, ihre Fragen und Sorgen direkt an das Kind in der Krippe zu richten. Sie
wiederholte ihre Frage: „Wo finde ich dich?“ und fügte noch drängend hinzu: „Es ist dies eine
lebensnotwendige Frage! Es ist mir wichtig, dass du mich kennst und dich freust, wenn du
mich siehst! Willst du wirklich, dass man sich selber liebt? Habe ich das Recht, mich gern zu
haben?“ Dann wendete sich Lena wieder zu mir und sagte, sie wolle ‚Liebe gewinnen, nicht
verlieren‘, und schämte sich dafür, einen solchen Anspruch zu haben.
Nochmals wendete sie sich fragend, drängend und weinend an das Jesuskind: „Wo finde ich
dich im Alltag? Muss ich etwas aufgeben? Es geht um Leben und Tod!“
Lena fragte nach der Existenz Gottes über ihren kindlichen Glauben hinaus: Sie musste sich
versichern, dass Jesus für sie auch heute als Erwachsene da ist, dass er sie kennt, sie wirklich
erkennt, sie liebt. Mit grosser Wahrhaftigkeit stellte sie lebensnotwendige Fragen und
bekannte ihre Sünden und Fehler: ihre gotteslästerliche Todessehnsucht. Stärker als die
vertraute Todessehnsucht aber war jetzt die Sehnsucht nach Frieden und Vergebung, nach
Liebe. Es ging wahrhaftig um Leben oder Tod!
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Es kostete Lena Ueberwindung, aber sie wiederholte die von mir vorgeschlagene Frage an
das Jesuskind: „Liebst du mich?“ - und wie um sie zu bekräftigen, fügte sie noch hinzu: „Ist es
in Ordnung, dass ich lebe? Ist es schön, dass es mich gibt? Meinst du mich? Hat es Platz für
mich bei so vielen, wenn du sagst, du habest alle gern? - Warum sagst du nicht, wo ich dich
finde? Du hast versprochen, dass es Trost und Liebe gibt! Ich will das auch, ich habe es
verdient, ich habe mir Mühe gegeben und doch so viele Fehler gemacht... Es ist Zeit, sonst
gebe ich auf!“ Lena wartete auf eine Antwort - nicht ohne Bangen. Endlich hörte sie: „Du
findest mich in deinem Herzen, du Lappi, in deinem Herzen!“ Sie verwies auf ihre Zweifel und
fragte weiter: „Du musst doch irgendwo sein; es muss doch eine Anlaufstelle geben. Wie
merke ich es denn, dass du da bist?“ Und noch deutlicher und konkreter hörte sie jetzt: „Du
findest mich im Gebet. Du merkst, dass ich da bin, im Frieden.“ „Aber du hast mich verlassen,
warum?“, antwortete Lena nun leicht vorwurfsvoll und fuhr fort: „Ich glaube nicht, dass ich
etwas dafür kann, dass man mich missbraucht hat; aber die Schuld ist schwer! - Wo bist du?
Ich will mein Leben nicht hinwerfen!“ Ich spürte Lenas helle Verzweiflung und fragte sie, ob es
richtig für sie wäre, zu sagen: „Ich lege mein Leben in deine Hand.“ Ja, das konnte sie ganz
einfach sagen und fügte noch hinzu: „Ich vertraue dir mein Leben an, ich will mich mit dem
Schicksal versöhnen. Ich vertraue dir, und ich lasse dich in mein Leben hinein.“
Wir waren beide von diesem existentiellen dialogischen Ringen recht erschüttert und
hergenommen und es breitete sich atmosphärisch ein Gefühl ganz neuer Hoffnung und
Verbundenheit zwischen uns aus. Ich setzte mich neben Lena und legte meinen Arm um sie:
Es gab nicht viel zu sagen.
Es wäre wunderbar gewesen, ein Wunder, wenn diese eine Begegnung mit dem heiligen Ort
und dem heiligen Kind genügt hätten, um Lenas Sein-Können im Frieden definitiv und
nachhaltig zu stabilisieren. Es war erst der Beginn einer ganz besonderen Tagtraum-Serie: In 15
weiteren Tagträumen vertraute sich Lena vorwiegend Maria, der Mutter Gottes, an und
durchlief unter deren Führung nochmals zentrale Lebensthemen: sie vollzog
Gratwanderungen, hangelte sich über Geröllhalden, beunruhigte sich über Müllhalden,
durchschritt lebensgefährliche Abgründe und wurde von dieser Mariengestalt wie durch
einen Geburtskanal buchstäblich ins Leben neu hineingezogen.
Bevor ich von den letzten Tagträumen berichte, möchte ich kurz einige Ueberlegungen
eingefügen: Warum hatte sich Lena nach ihrer ersten Begegnung mit dem Kind Jesus nur
noch an Maria gewandt? Sexuell ausgebeutete Frauen haben ja begründete Angst vor dem
Männlichen; sie bedürfen primär einer heilenden und schützenden Mutter. Das Urmütterliche,
die ‚Grosse Mutter‘, das ‚Grosse Runde‘, die ‚Alte Weise‘ sind Synonyme dafür. Für manche
Frauen ist es Maria, das Urbild alles Weiblichen, das ihnen ein Maximum an Sicherheit und
Schutz gewährt und Vorbild für das eigene Muttersein sein kann. Reformierte Frauen oder gar
nicht im christlichen Glauben erzogene haben es mit Maria meist leichter als katholische
Frauen; ja, sie entdecken die Muttergottes in ihrem Kraftaspekt - oft in Gestalt der ‚Schwarzen
Madonna‘ - überhaupt erstmals. Wohingegen katholische Frauen in Maria die ‚demütige
Magd‘ und ‚schmerzensreiche Mutter‘ wahrnehmen, Bilder, die eher Aversionen auslösen
und gerade nicht zu einer Identifikation Anreiz bieten. Eine meiner PatientInnen hingegen
machte ihren Weg der Heilung im Tagtraum fast ausschliesslich mit Jesus: Auch sie
begegnete zuerst dem Kind. In der Gegenwart des Mannes Jesus jedoch, dem reinen und
heiligen Männlichen, konnte sie die Erinnerungen an die erlebten schweren sexuellen
Uebergriffe erst aufkommen lassen. Und Jesus übergab sie den Täter-Vater, als es um
Vergebung und Versöhnung ging - in der inneren Gewissheit, dass auch für ihn bei Jesus
Erlösung möglich sei.
Meine Haltung als Therapeutin verändert sich, sobald eindeutig solche ‚hilfreichen Helfer‘ in
menschlicher oder auch tierischer Gestalt auf der imaginativen Bühne erscheinen (vgl. den
theoretischen Teil): Ich überlasse ihnen weitgehend die Führung. Meine Rolle ist dann nur
noch die der aufmerksamen Co-Therapeutin und der Zeugin, die aufgrund eigener
Erfahrungen den Prozess unterstützen kann; und meine Aktivität beschränkt sich oft nur
darauf, den direkten Dialog der Patientin mit der hilfreichen und weisen Gestalt zu fördern,
manchmal eine Stimmung in einen Satz zu bringen. Das ist vor allem solange wichtig und
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nötig, wie die Patientin gerade im Umgang mit heiligen Figuren noch mit Scheu und Zweifel
zu kämpfen hat. Zwischen Maria und Lena gab es oft keinen Dialog; Maria führte Lena dann
an Orte oder zeigte ihr in sehr verschlüsselten Bildern ihre Botschaft. Dann sah ich meine
Aufgabe darin, mich mit der imaginierenden Lena und ihrem inneren Kind fest im Glauben an
das Geschehnis zu verbinden.
Ich möchte Ihnen nun von den letzten Tagträumen Lenas berichten. Vor allem im 14.
Tagtraum wird deutlich, wie die innere Führungsgestalt Maria nicht nur wortlos etwas aufzeigt,
wie sie das oft tat, sondern auf sehr humorvolle Art und liebevolle Weise pädagogischtherapeutisch aktiv war. Dieser Tagtraum ist die Fortsetzung eines nächtlichen Traumes, in
dem sich Lena mit ihrem Freund in einem Heilbad befand. Durch das Eintauchen im Wasser
konnte man sich von allen sexuellen Perversionen reinwaschen. Auch Lena und ihr Freund
tauchten da hinein. In diesem Heilbad nun entdeckte Lena eine weisse Marmorstatue, eine
Maria mit ihrem Kind auf dem Arm. Das Wunderbare im Nachttraum war die Schönheit dieser
Maria, die zwar wie eine Statue aussah aber doch lebendig schien. Zu ihr hin zog es Lena der Wecker hatte sie aus Schlaf und Traum herausgerissen.
In den Tagen danach litt sie wieder extrem unter ihrem ‚Gedankenkarussell‘ der Scham und
Selbstentwertung. Auslöser für den Traum vom Heilbad wie auch für die akute
Belastungssituation war wohl die kürzliche Entdeckung des Pornokonsums ihres Freundes - für
Lena ein unerträglicher Zustand, auf den sie wie so oft mit Selbstanklagen reagierte: „Bin ich
nicht gut genug? Genüge ich ihm nicht? Bin ich im Weg? Muss ich mich wegmachen? Stör‘
ich ihn? Was habe ich gemacht? Wo ist meine Schuld?“ Lenas Frage ‚Muss ich mich
wegmachen?‘ berührte mich im Innersten. Ich schlug vor, an den nächtlichen Traum vom
Heilbad anzuknüpfen und zu dem Wunderbaren zurückzukehren, zur schönen, weissen
Marienstatue.
14. Tagtraum: „Schau mir immer in die Augen“: Die Verwandlung des Bösen
Im nächtlichen Traum Lenas hatte die Maria mit ihrem Kind geschwatzt und gescherzt - jetzt
im Tagtraum verwandelte sich das Jesuskind plötzlich in eine kleine faunartige, pelzige
Teufelsgestalt. Dieser Faun, so berichtete Lena den Verlauf der Imagination, guckte hämisch,
verschlagen und verlegen-respektvoll zugleich und peitschte zornig mit seinem Schwanz.
Maria war grösser als sonst, etwa zwei Meter, sie lächelte ruhig, wirkte mild und streng
zugleich, nickte und lud Lena ein, der Auseinandersetzung, dem Schauspiel beizuwohnen. Es
machte den Eindruck, dass der kleine Faun etwas angestellt hatte und sich entschuldigen
sollte. Maria liess ihn aber nicht gehen sondern sagte: „Komm, erzähl selber!“. Da wurde er
zornesrot, schlug mit den Fäusten auf den Boden und schrie: „Nein, nein, nein!“ Maria aber
packte ihn am Genick und stellte ihn auf; er wand sich vor Peinlichkeit. Nun lachte sie
freundlich aber bestimmt, nahm ihn am Schwanz und sagte ruhig: „Nein, nein, Bürschtli, du
kannst dich nicht verdünnen, das sind alles Sackgassen. Am Schluss stehe immer ich!“ Lena
wurde immer neugieriger, was er wohl ausgefressen haben konnte, und ich riet ihr, die Sache
gut zu beobachten. Der Faun sass nun schmollend in einer Ecke und glich eher einem
fünfjährigen verstockten Kind. Lena staunte: „Andere Mütter drohen und fordern, Maria aber
hat die Ruhe weg.“ Das schmollende Kind tat Lena leid und sie fragte sich: „Kann man denn
als so kleines Kind schon so böse sein?“ Nun schlug ich Lena vor, ob sie wohl in die Rolle
dieses Kindes schlüpfen wolle, um besser zu verstehen, was da vor sich gehe. Ja, das wollte
sie; sie wollte wissen, was das alles mit ihr zu tun haben könnte.
In der Rolle des zornig-schmollenden Kindes sagte Lena nun ganz böse zur Maria: „Das geht
dich nichts an!“ Diese erwiderte gelassen: „Oh, doch, es geht mich etwas an.“ Lena erlebte
sich plötzlich als kleines nacktes Mädchen, das wütend der Maria die Zunge rausstreckte und
sie anschrie: „Es ist gemein, gemein, gemein, und ich hasse alle! Ich möchte jemandem
wehtun! Ich habe eine dicke Mauer im Herzen! Die Schwester möchte ich umbringen, und
die Mutter auch! Ihr lügt alle, wenn ihr sagt, ihr wollt mich haben, ihr lügt alle! Was habe ich
gemacht? Ich habe nichts gemacht! Ich hasse nur und lasse niemanden in mein Herz! Alle
lügen und ich hasse alle!“ Maria antwortete nur kurz und knapp: „So wirst du blind, Lena.“ „Ist
mir egal“, schrie diese wild zurück, „ich will gar nichts sehen, es ist mir wurscht, ich mache
mein Leben selber.“ Maria forderte Lena auf, sie anzuschauen: „Wenn du mich siehst, siehst
du die Wahrheit und Schönheit.“ Lena aber wollte nicht hinschauen: „Du bist auch nur so
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eine Blöde!“ Nein, sie getraute sich nicht, den ernsten und verheissenden Worten Marias zu
glauben. Aber sehnsuchtsvoll klang etwas an, als Lena hinzufügte: „Und wenn es wieder nicht
stimmt, irgendwann sterbe ich dann...“ Nun hockte sich Maria zu ihr hin, strich ihr sanft über
Stirn und Wange und sagte dann: „Mach schnell die Augen auf, kannst sie dann wieder
zumachen.“ Lena war berührt vom Liebevollen, das aus Geste und Worten Marias sprach
und blinzelte - mit einem Auge - schnell und prüfend zur ihr hin: „Es sieht so aus, wie wenn sie
es ernst meint“, kommentierte sie, um mich über das Geschehen auf dem Laufenden zu
halten, „Maria ist ruhig und warm und riecht gut.“ Da fasste Lena den Entschluss: „Ich mache
beide Augen auf“, erzählte sie, „Maria hält mich an der Hand und schaut mir ins Gesicht und
sagt: ‚So schöne Augen hast du, damit musst du schauen, sie nicht verschliessen, keine
Mauer machen.‘“
Lena erfuhr die Präsenz Marias, sie konnte sie riechen, das betonte sie noch einmal. Dann
fasste sie Mut und fragte: „Habe ich wirklich nichts gemacht?“ Maria beschwichtigte sie nicht
einfach, sondern mutete ihr die Wahrheit zu: „Du hast ganz früh gelernt zu hassen und hast
eine Mördergrube aus deinem Herzen gemacht. Das tut weh, dir und anderen. Auch der
Mutter!“, sagte sie und fuhr fort: „Schau mir in die Augen und in eine andere Welt; mach‘
dein Herz auf für Liebe und Vertrauen und schau mir immer in die Augen.“ In Marias Augen
entdeckte Lena Licht und Zuversicht, Zukunft, Liebe, Hoffnung und Leben. So endete dieser
Tagtraum.
Jesus, der Sohn Gottes, verwandelte sich in einen teuflischen Faun! Das unschuldige Kind
wurde zur hassenden Person! War das die Botschaft, die Lena annehmen sollte? Das böse
Kind hatte zwar ganz offensichtlich gute Gründe für seinen Hass; aber einmal musste es sich
davon abwenden und der Liebe und dem Leben in die Augen schauen, wollte es sich nicht
definitiv selbst zerstören. Das unschuldige Kind wurde Opfer, dann aber auch selbst Täter: Mit
seinem blinden Hass machte es sich schuldig - an andern, nicht zuletzt an sich selbst: Es blieb
sich das Leben schuldig! Konnte Lena glauben, dass Maria es wirklich ernst meinte und ihr trotz aller Schuld - in Liebe begegnete? Konnte Lena wahrnehmen und empfinden, dass
auch ich es ernst meinte mit ihr und ihr - durch alles Leiden hindurch - liebevoll zur Seite
stand?
Die früheste Lüge, die Wurzel von allem Hass, habe sie erkannt, sagte Lena in der nächsten
Sitzung und wusste nun, was sie aufgeben müsste: Misstrauen, Hass, Wut und das Um-SichSchlagen. Noch konnte sie es nicht; noch identifizierte sie sich mit dem hassenden Kind. Die
Erfahrung von inneren Abgründen und deren therapeutische Bearbeitung hat auch Leuner
beschrieben: Je nach dem kann das Böse assimiliert (vgl. die ‚Höllenfahrt‘ in Leuner, 184)
oder muss ausgestossen werden (ebd. 279 f.).
In einem weiteren Tagtraum, dem 15., prüfte Lena das liebevolle Angebot, Maria in die
Augen zu schauen und verwandelte sich dadurch in ein von Verletzung, Hass und Schuld
ganz befreites, kleines und aktives Mädchen, das Maria ihre verborgensten Schätze und
Geheimnisse zeigte. Unsere gemeinsame Zeit der Therapie sollte zuende gehen, das wusste
die erwachsene Lena im Wachen; wie konnte die kleine Lena im Tagtraum sichergehen, dass
ihr Kontakt zur ‚inneren Mutter‘ nicht abbrechen, dass Maria wiederkommen würde? „Ich bin
in dir, du wirst dich erinnern“, war deren zusichernde Antwort.
Das Böse war erkannt, liebevoll angenommen und gewandelt worden; die Hilfe und der Weg
waren durch Maria zugesichert. Im letzten, dem 16. Tagtraum, den ich sehr gekürzt
wiedergebe, wurde Lena dennoch und nochmals herausgefordert. Sie wusste, es gab da
noch ein inneres Kind, das kleinste von allen, ein ‚schwarzer, verkohlter Säugling‘, das
geschändete Kind, das sie Maria in einem früheren Tagtraum bereits in Obhut gegeben
hatte. Es drängte Lena nun, sich mit diesem allerfrühesten Zustand von Verletzung nochmals
zu konfrontieren.
16. Tagtraum: Das Tote begraben - das Lebendige taufen
Maria hielt im Tagtraum dieses tote Kind in ihren Armen! Die kleine Lena, etwa 5-6 Jahre alt,
stand dabei, war entsetzt, schockiert und ratlos: „Was muss ich da anschauen? Was hat das
zu bedeuten?“, fragte die Kleine in vielen Variationen. Maria aber schwieg. Die Sehnsucht,
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auch einen Platz bei Maria zu haben, wurde übermächtig; solange jedoch dieses tote Kind
da war, gab es für Lena keinen Platz auf Marias Schoss. „Was muss ich machen, dass auch
ich einen Platz habe, dass auch ich da sein darf?“ war die existentielle Frage, die Lena
zutiefst beunruhigte. Es gab kein Sowohl-als-auch, es gab keinen Platz, solange das tote Kind
da war! Maria blieb stumm und reglos und die kleine Lena war auf quälendste Weise sich
selbst überlassen. - Auch mich quälte die Situation, und konnte doch nichts anderes tun, als
sie dabei zu unterstützten, im Tagtraum zu bleiben, und ihre Verzweiflung mit ihr auszuhalten.
Nach langem, ratlosem Warten und noch immer ohne Antwort von Maria fasste die kleine
Lena einen Entschluss: „Ich will das tote Kind begraben!“ Sie rannte los und suchte eine
Schaufel. Da wurde auch Maria aktiv: Gemeinsam huben sie ein Grab aus und beerdigten
das tote Kind liebevollst auf einem Blumenbett. Auf das innige Begräbnis des toten Säuglings
folgte die ausgelassene ‚Taufe‘ des Lebendigen: Maria schwenkte die jauchzende Lena im
Wasser des Weihers.
In früheren Tagträumen hatte sich Lena bereits von den lebenszerstörenden Kräften in sich
losgesagt; es brauchte aber offenbar noch eine besondere Tat, einen rituellen Akt, um das
Tote definitiv loslassen zu können. Konnte das berechtigte Böse erkannt, gewandelt und
integriert werden, so musste Lena jetzt das nur Destruktive und Tote, ihre Todessehnsucht
wirklich begraben. Dieser Akt wurde besiegelt durch die fröhliche Reinigung im Wasser, die sie
wie eine Taufe erlebte.
Während des therapeutischen Prozesses stelle ich diese Fragen nie; in unserer letzten Stunde
wollte ich es von Lena doch wissen: Wer sind diese Tagtraum-Gestalten Maria und Jesus für
sie? „Maria ist eine göttliche Mutter“, meinte Lena, “eine innere Instanz, die mir zur Verfügung
steht und mich unabhängig macht“. Und der Stall von Bethlehem sei ein heiliger und
geschützter Raum, wo auch sie Schutz finden könne. Das entspräche ihrem Kinderglauben,
den sie neu in sich belebt fühle und der sie nun zur Selbstverantwortung führe und auch
freimache von der Therapie. Und die ‚himmlischen Bilder‘ in der Imagination? „Ein
Geschehen im Himmel oder in mir....“, überlegte Lena, „wenn es in mir ist oder war, hatte ich
es verschüttet.“ Sie hätte sich wieder dafür geöffnet, sagte Lena zum Schluss: „Oh ja, das ist
ja alles in mir drin! Ich muss nur ruhig werden und hinhören!“
Womit haben wir es zu tun bei solchen katathymen Bildern? Sind Lenas Tagtraum-Bilder
Fantasiegebilde, Beschreibungen rein psychischer Geschehnisse? Wo beginnt die spirituelle
Bezogenheit eines Menschen, wann macht er eine religiöse Erfahrung und wann hat er es mit
der Gnade zu tun und erhält eine göttliche Antwort? Können wir auf diese Fragen überhaupt
mehr als nur subjektive Antworten erhalten?
Lenas Aussagen lassen nicht darauf schliessen, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt im engeren
Sinne für die christliche Botschaft geöffnet hätte. Sie hatte zum Gebet, zur Meditation
gefunden, und manches Mal jubilierte sie nach einem Tagtraum: „Halleluja, Maria ist prima!“
Weitere Konsequenzen, z.B. ein aktives Praktizieren des Glaubens durch die regelmässige
Teilnahme an Gottesdiensten, hatte sie meines Wissens nicht gezogen, obwohl sie sich gerne
in Kirchen aufhielt. Hier nun liegt auch die Grenze der tiefenpsychologischen Psychotherapie,
die keinen weiteren Einfluss ausüben will. Wird eine christliche Therapie gesucht, ergeben sich
andere Möglichkeiten, z.B. durch den Einbezug von biblischen Texten und Bildern (vgl.
Faulde). Auch hier aber sollten wir um die Grenzen unserer Ausbildung wissen und - wenn
immer möglich - mit einem Seelsorger zusammenarbeiten. Als Therapeutin mit christlichen
Hintergrund hoffe ich für Lena jedoch, dass sie den Zugang zu den inneren heilenden und
heiligen Instanzen bewahren kann; und dass dieses Geschehen sie zu weiteren Erfahrungen
echter Religiosität führen wird.
Lenas letzter Wegabschnitt der inneren Heilung hatte im Stall von Bethlehem begonnen; dort
begegnete die kleine Lena dem göttlichen Kind und legte ihr Leben in seine Hand. Mit einem
Gebet von André Gide, in dem ich Lenas Erfahrung gespiegelt sehe, möchte ich diesen
Therapiebericht abschliessen:
„Herr, ich komme zu dir wie ein Kind;
wie ein Kind, das ich nach deinem Willen werden soll;
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wie das Kind, zu dem der wird, der sich dir hingibt.
Ich gebe alles auf, worauf ich meinen Stolz setzte,
und was, bei dir, meine Schande ausmachen würde.
Ich lausche und unterwerfe dir mein Herz.“
4. Imaginationsübung zur Selbsterfahrung
Nach einer kurzen Entspannung haben sich die Seminar-TeilnehmerInnen zu folgenden
Anregungen mit geschlossenen Augen einige Bilder kommen lassen:
„Stellen Sie sich jetzt bitte ein Tor vor, irgendein Tor.
Vielleicht ist es auch etwas Aehnliches, eine Pforte, ein Eingang oder Durchgang.
Lassen Sie sich Zeit, bis ein Bild oder auch eine Erinnerung in Ihnen hochkommt.
Betrachten Sie nun das Bild oder die Erinnerung ganz genau:
Welche Form hat dieses Tor - aus welchem Material ist es angefertigt?
Fällt Ihnen etwas Aussergewöhnliches an diesem Tor auf?
Wie fühlen Sie sich vor diesem Tor?
Ahnen Sie, wohin dieses Tor führt?
Möchten Sie Ihr Tor vielleicht ein wenig öffnen, um einen kleinen Blick hindurch zu werfen?
Möchten Sie jetzt zum Abschluss noch etwas Bestimmtes tun?
Wir beenden nun diese Tagtraumübung: Bitte, schliessen Sie das Tor wieder.
Und lassen Sie das Bild wegtreten, wie wenn ein Vorhang drübergeht.
Spannen Sie jetzt Ihre Hände an und machen Sie Fäuste,
räkeln und strecken Sie sich und atmen Sie tief durch.
Oeffnen Sie nun auch die Augen: Sie sind wieder ganz hier.“
Austausch der SeminarteilnehmerInnen über das Erlebte.
Das Tor wurde als Motiv zur Imagination im Seminar gewählt, weil es als Symbol im Sinne eines
Durchgangs zum Ueberschreiten einer Schwelle einlädt, die Frage nach dem Woher/Wohin
einschliesst, ein Ort der Entscheidung oder der Erwartung sein und so durchaus religiösexistentielle Gestimmtheiten initiieren und aufzeigen kann.
5. Die Katathym-imaginative Psychotherapie und ihr Verhältnis zum Heiligen
Eine kurze Einführung in die KiP
Die ‚Katathym-imaginative Psychotherapie‘ (abgekürzt KiP; früher KB) ist die von Hanscarl
Leuner seit 1950 entwickelte klinische Methode zum therapeutischen Gebrauch der
imaginativen Fähigkeiten des Menschen. Der Name leitet sich vom griechischen ‚katathymos‘ ab und bedeutet ‚der Seele gemäss‘. Es geht bei dieser Methode, die auch als
‚Therapie mit dem Tagtraum‘ oder als ‚Symboldrama‘ bezeichnet wird, um den
systematischen Einsatz von Imaginationen, also gefühlsgetragenen inneren Bildern, anhand
derer es möglich wird, die psychische Struktur der Patienten zu verdeutlichen, die Ich-Struktur
zu stärken und Konflikte zu bearbeiten, Ressourcen zu erschliessen und kreative Prozesse zu
fördern.
Die KiP hat einen psychoanalytischen Hintergrund, beachtet also das Beziehungsgefüge,
Uebertragung und Gegenübertragung, Widerstand und Abwehrmechanismen. Sie ist
konfliktorientiert und erlaubt eine kontrollierte Regression und somit einen Blick in die
primärprozesshafte innere Bilderwelt des Patienten. Sie hat sich als geeignete Therapie
erwiesen für eine Fülle neurotischer und psychosomatischer Leiden, für die Krisenintervention
und Trauma-Behandlung, wie auch bei schweren Persönlichkeitsstörungen. Bei den
sogenannten Ich-strukturellen Störungen oder nach frühkindlich erlebter Traumatisierung ist
eine modifizierte Technik anzuwenden, die von Ich-stützenden Interventionen und
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schützenden Imaginationen getragen wird und insgesamt einem ‚holding‘ und ‚containing‘
(Winnicott) verpflichtet ist, und bei der das Einüben von primärem Urvertrauen und die
Strukturbildung der psychischen Organisation im Vordergrund der therapeutischen
Bemühungen stehen.
Eine Therapiesitzung mit dem Tagtraum ist immer nur Teil einer analytisch-orientierten Therapie
und besteht in der Regel aus einem Vorgespräch, einer Entspannungsphase und der
Aufforderung, sich zu einem von der TherapeutIn vorgeschlagenen Motiv ein inneres Bild
kommen zu lassen. Motive sind die Einstiegsimpulse für den katathymen Tagtraum: Es sind dies
entweder festgelegte aber nicht näher eingegrenzte Sujets, die sogenannten
Standardmotive wie etwa Wiese, Bach, Haus, Berg, Sumpfloch, Waldrand etc., und sprechen
einen je bestimmten Erfahrungsbereich an. Motive können auch aus dem Kontext der
Therapie herausdestillierte Situationen sein, wie etwa die ‚Begegnung mit einer
Bezugsperson‘, z.B. der Mutter, dem Professor, der Nachbarin etc. Es ist auch möglich, von der
Sequenz eines nächtlichen Traumes auszugehen und eine Fortsetzung zu ‚bildern‘; oder ein
körperliches Symptom zum Ausgangspunkt für die sogenannte ‚Körperinspektion‘ zu wählen;
oder aber eine Altersregression einzuleiten, um die Gestimmtheit und die Erfahrungen der
Kindheit wiederzubeleben. Und vieles mehr.
Der eigentliche Tagtraum dauert ca. 20-40 Minuten und wird vom Dialog mit der empathisch
mitschwingenden TherapeutIn getragen. Die PatientIn wird dadurch in ihren Erkundungen im
Tagtraum von der TherapeutIn angeregt, vor allzu grosser Angst geschützt, bei
Konfrontationen unterstützt und zu neuen Verhaltensweisen ermutigt. Ein kurzes
Nachgespräch beendet diese Sitzung; die Patientin ist aufgefordert, sich schreibend und
malend mit den Inhalten des Tagtraums bis zur nächsten Sitzung zu beschäftigen. Dann sollte
ein intensiveres Nachbearbeiten und Durcharbeiten der Bilder stattfinden, in dem auch das
affektive, primärprozesshafte Material mit dem Alltagsbewusstsein in Verbindung gebracht
wird. (Eine gute Einführung in die KiP findet sich im Themen-Heft der „Imagination“ 4/2001; zu
bestellen bei www.oegatap.at)
Innere Führer und archaische Bedürfnisse
Ich möchte nun auf zwei Aspekte der KiP näher eingehen, die in meinen Therapien eine
wichtige Rolle spielen: Der Umgang mit sogenannten hilfreichen inneren Führungsgestalten
und die gezielt eingesetzte ‚Befriedigung archaischer Bedürfnisse‘.
Leuner beobachtete das Phänomen der spontan im Tagtraum auftretenden
Symbolgestalten (Menschen, Tiere) und bezeichnete diese als ‚Innere Führer‘ oder
‚Schrittmacher‘, sofern sie sich durch ein positives Verhalten auszeichneten, das vom
Patienten als freundlich und hilfreich erlebt werden konnte (Leuner 1985/94 197 f.) Solchen
Symbolgestalten vertrauen sich die Patienten im Tagtraum in der Regel ohne Vorbehalte an,
denn sie spüren, dass ihre inneren Führer im Besitz gewisser Fähigkeiten sind, die man mit
‚Wissen um den rechten Weg‘ oder mit ‚tiefgründiger Gewissheit über das Rechte‘ (ebd.)
beschreiben kann. Diesen Gestalten könne der Therapeut vorübergehend sogar eine
Führungsrolle im Tagtraum übergeben; sie seien - sofern sie ihre leitende Funktion
übernähmen - therapeutisch förderlich und relevant. Solche Leitgestalten treten auf in
Tiergestalt oder auch als archetypisch anmutende menschliche Figuren, wie z.B. als ‚alte
Weise‘, als Mädchen oder junge Frau, als Zauberer, als nährende urmütterliche Gestalt und
ähnliches mehr. Leuner beschreibt aber auch das Auftreten von Gestalten mit
übermenschlichem und transzendentem Charakter, wie z.B. die ‚Grosse Mutter‘, ‚Jesus‘ oder
‚Gott‘, und verweist auf deren unmittelbare, das Ich des Patienten stärkende Kraft (ebd. 200
f.): „Die Tatsache, dass derart therapeutisch-progressive Gestalten auftauchen, muss
Erstaunen erregen. Manifestieren sich in ihnen doch offensichtlich ‚positive‘, konstruktive
beziehungsweise kreative Tendenzen des Ich, die geeignet sind, Perspektiven der
Entwicklung des therapeutischen Prozesses zu entwerfen. Insofern können sie auch als ‚ideale
Objektrepräsentanzen‘ angesprochen und theoretisch nach Art einer vorübergehenden
therapeutischen Regression, nicht selten auf einem narzisstischen Niveau ... als idealisierte
Leitfiguren verstanden werden“ (ebd. 197 f.).
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Bei der ‚Befriedigung archaischer Bedürfnisse‘ (ebd. 259 f.) geht es darum, Situationen im
Tagtraum zuzulassen oder einzustellen, die Entspannung und Wohlbefinden ermöglichen, die
also konfliktfrei sind und dadurch die TräumerIn in eine beglückende und auch erhebende
Stimmung bringen. Dies können Begegnungen mit Menschen sein, oder mit den bereits
genannten inneren Führungsgestalten, aber auch ein Sich-aufhalten an speziellen Orten der
Natur, oftmals sind dies Wasser-Motive: Bach, (Heil-)Quelle, Meer. So kann es zur Heilung ganz
ohne die Bearbeitung von Konflikten kommen, allein durch mehrfaches Aufsuchen solcher
offenbar im wahrsten Sinne des Wortes heil-spendenden Situationen im Tagtraum. Wie ist eine
solche Wirkung zu verstehen und welche Ueberlegungen helfen uns, Lenas Heilungsprozess
theoretisch zu verorten?
Verletzungen der primären Entwicklungsphase
Wir müssen annehmen, dass Lena in sehr früher Lebenszeit schweren Leiderfahrungen
ausgesetzt war. Das Bild des ‚schwarzen verkohlten Säuglings‘ ist eine erschreckende
Metapher, die keine präzise Auskunft über das reale Leiden gibt und doch Bände spricht. Es
liegt, so ist zu vermuten, eine lebensbedrohliche Verletzung der frühen Entwicklungsphase
Lenas vor.
Psychologische Theorienbildung, so auch die Metapsychologie der Psychoanalyse, ist immer
nur Annäherung an Wirklichkeit und vorläufiges Konzept. Wir gehen heute davon aus, dass in
der frühesten Lebenszeit des Menschen, der pränatalen Entwicklungsphase bis zum dritten
nachgeburtlichen Monat, die symbiotische Verschmelzung mit der Umwelt der
vorherrschende Gefühls- und Wahrnehmungszustand ist. Die Frage, ob diese frühe
Entwicklungszeit eine narzisstische Phase darstellt (im Sinne einer autoerotischen
Selbstbezogenheit), oder ob es sich bereits um einen Zustand der ‚primären Liebe‘, ja der
‚Urform der Liebe‘ (Balint) handelt, der auf eine bereits anfänglich vorhandene Bezogenheit
verweist, könnten wir versuchsweise zugunsten letzterer Annahme entscheiden. Diese
‚archaische Liebe‘, also der fundamentale Wunsch, total und bedingungslos geliebt zu sein,
ist für Balint Ursprung und Quelle aller Libido-Entwicklung. Erst wenn dem Kind der Wunsch
nach bedingungsloser Liebe in seinen Anfängen nicht erfüllt wird, gehe es den Umweg der
narzisstischen Selbstliebe, nämlich von sich selbst das zu erhalten, was die Umwelt nicht gibt.
(vgl. Haynal)
Es wird auch angenommen, dass der werdende Mensch einen ‚Selbstkern‘ in sich trägt, in
dem sein Wesen ursprungshaft angelegt ist. Dieses anfängliche Selbst kennt noch keine
Grenzen zur Umwelt, es ist symbiotisch. Aus diesem Selbst differenziert sich das Ich des
Menschen, seine Persönlichkeit, erst mithilfe der Umwelterfahrungen heraus. Diese
Erfahrungen können förderlich sein (es entsteht das Urvertrauen) oder die Entwicklung
behindern (der Mensch entwickelt ein ‚falsches Selbst‘ (Winnicott)).
Mangelzustände oder Traumatisierungen in dieser ersten Zeit wie auch während der
Ablösung aus dem ‚Einheitsgefühl‘ im 3. Lebensmonat können also zu grundlegenden
Störungen im Urvertrauen und Selbstbewusstsein des werdenden Menschen führen. Ein
Trauma - z.B. das Erleiden physischer oder psychischer Gewalterfahrungen oder der Verlust
wichtiger Bezugspersonen - ist ein heftiger Affekt des seelischen Lebens, der unkontrollierbare
Angst auslöst, den Selbstkern überschwemmt oder zersplittert oder in einer späteren Phase
die Integrationsfähigkeit des Ichs überfordert. Das Spezifische dieser Art von Trauma betrifft
den Umstand, dass das Opfer durch eine Person geschädigt wird, von der es abhängig ist,
der es sein Vertrauen geschenkt hat und die es liebt. Solche Erfahrungen erschüttern oder
zerstören den Selbstkern des Menschen, es entsteht Urmisstrauen, sie beeinträchtigen seine
Bindungsfähigkeit
und
behindern
seinen
Entwicklungsprozess.
Es
kommt
zu
kompensatorischem Verhalten mit pathologischen Bewältigungsstrategien, zum Teil
archaischen Abwehrmechanismen und ich-strukturellen Störungen; die ganze diagnostische
Bandbreite der sogenannten Früh-, Grund- oder Borderlinestörungen, die Dissoziative
Identitätsstörung (DIS) wie auch die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
haben hier vermutlich ihren Ursprung.
Regression oder Transzendenz?
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Frühkindliche Traumatisierungen treffen den Menschen an seiner Basis, in seinem Selbstkern,
es sind ‚Grundstörungen‘ (Balint); sie benötigen eine entsprechend tiefgründige Therapie. Es
kommt nun entscheidend darauf an, was wir uns von diesem Grund oder Selbstkern für ein
Bild machen. Wenn wir den Anfang des Menschen nicht nur rein biologisch-physiologisch
sondern seelisch-geistig betrachten, und seinen Grund in einem spirituell-religiösen Sinne
deuten als das ‚geheiligte Zentrum‘ (Winnicott), dann wird die ‚archaische Liebe‘ Balints, die
an diesem Anfang steht, unschwer als allumfassende Gottesliebe erkennbar. Es leuchtet
dann auch ein, dass die Wiedergutmachung dieser ganz frühen und unmenschlichen
Verletzungen nur durch etwas Uebermenschliches und Absolutes vollzogen werden kann.
Lena hatte es in den drei Jahren der Therapie mit verschiedenen inneren Führern zu tun
gehabt; es hatte sie nicht nachhaltig geheilt. Erst in der Begegnung mit Jesus und Maria
erlebte sie diese fundamentale, bedingungslose Liebe, die so frühe Wunden heilen kann.
Die Rückkehr, die Regression zur archaischen Liebe, der Quelle aller menschlichen
Libidoentwicklung, wird therapeutisch wirksam sowohl in der Begegnung mit einer im besten
Sinne religiös-spirituellen Führungsfigur, wie auch durch symbiotische Verschmelzung mit
Mensch oder Natur zur Befriedigung archaischer Bedürfnisse. Ein mögliches therapeutisches
Vorgehen ist die Regredierung des Patienten im Tagtraum auf diese frühe Entwicklungsstufe.
Sie dient der Kompensation eines Mangelzustandes, birgt neben der Stärkung der Ich-Struktur
auch die Heilungskomponente der Wiedergutmachung durch die vorher erwähnte
Befriedigung archaischer Bedürfnisse und kann so zu einer Korrektur an der Basis der
Entwicklung führen.
Mit Regression bezeichnen wir also jede Rückkehr in eine frühere Entwicklungsphase bis hin zu
einen symbiotischen Gefühlszustand, für den der französische Dichter und Mystiker Romain
Rolland den Begriff des ‚ozeanischen Gefühls‘ prägte, eine religiös-mystische Befindlichkeit,
die als Einheitserfahrung am Beginn unseres Lebens stehe. Auch Leuner benennt diese
‚erhebenden und beglückenden Erlebnisse des Einsseins mit der Natur, der Einheit mit
menschlichen oder göttlichen Gestalten‘ (Leuner, 1985/94, 263), und beschreibt den
Heilungsprozess einer seiner Patientinnen nach deren Begegnung mit einer Christusgestalt im
Tagtraum in folgenden Worten: „Die Regression in die narzisstische Beglückung mit dem
Einheitsgefühl erlaubt die Entwicklung neuer, realitätsbezogener Objektbeziehungen, als
seien diese nun durchwoben oder geläutert durch die jetzt erworbene Beziehungsstruktur.“
(ebd. 266) Die ‚Regression mit dem Ziel des Erkanntwerdens‘ - was immer nur in Liebe
geschehen kann - ist für Balint die notwendige Vorbedingung für die Entfaltung des Patienten
und den ‚Neubeginn‘ in der therapeutischen dialogischen Erfahrung.
Regression, so betrachtet, erscheint zugleich als ein transzendenter Akt: Sie führt zurück und
hinein in die Tiefe unseres Anfangs und Seins, die zugleich das Ursprünglichste und Höchste ist.
Stein spricht von einer ‚Brücke zwischen dem Pränatalen und dem Transzendenten‘, einem
‚ganzheitlichen Bezug zur Einheit des Seins‘ (Stein 53), und von der Religion als ‚erstem und
zwar indirekten Selbstbewusstsein des Menschen‘ (ebd. 88).
Es macht den entscheidenden Unterschied, ob wir Religiosität als neurotischen Ausdruck der
Regression, des Rückfalls in das ‚kindliche Wesen der Menschheit‘ und als Zwangsneurose zur
Angstabwehr (Freud), also als etwas zu Ueberwindendes betrachten, oder ob wir darin das
Wahrnehmenkönnen des ‚wahren und göttlichen Selbst‘ des Menschen erkennen wollen.
Können wir im menschlichen Subjekt das ‚ewige Subjekt‘ erkennen? Wahrscheinlich finden
wir ja im tiefsten Grund unserer Existenz das Ursprünglichste, das Grundlegendste und uns
Ausmachende in seiner höchsten Ausprägung. Dann könnte eine Regression mit ozeanischen
Gefühlen eine rekreative therapeutische Regression sein und eine echte existentiell-religiöse
Erfahrung.
Spirituelle Motive in der KiP
Leuner hat bereits 1985 darauf hingewiesen, dass das Aufsuchen erhebender und
befriedigender Situationen im Tagtraum, das regressive Verschmelzen mit Welt und Mensch,
nicht einfach als Widerstandsphänomen zu betrachten ist, sondern in sich eine
eigendynamische Heilungskomponente birgt. In den letzten 10 Jahren wurde der spirituelle
Aspekt als solcher auch von anderen Autoren der KiP beschrieben: So machte Roth bereits
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1993 den Vorschlag, die KiP den transpersonalen Therapien zuzuordnen, da es auch in der KiP
um eine Erweiterung des Bewusstseins über die Grenzen des Ichs und über Raum und Zeit
hinausgehe. Transpersonale Erfahrungen hätten Realität, die tiefer scheine als die normale
Alltagsexistenz. Ein erweitertes Gefühl für Sinn und Werte und das zentrale Interesse an
‚optimaler psychischer Gesundheit‘ stehen im Brennpunkt dieses Bewusstseins. (Roth in
Leuner, 510)
In der therapeutischen Begleitung von Kranken und Sterbenden wurden Imaginationen mit
religiösen Inhalten beobachtet; auch wurden Motive zur Erfahrung von Transzendenz
vorgeschlagen: Dafür eigneten sich Weg, Haus und Tor, wo Schwellenerfahrungen gemacht,
und Uebergänge und Initiationen erfahren werden könnten. (vgl. dazu Klessmann/Eibach
1996, 1998) Es wurde darauf hingewiesen, dass spirituelle Phänomene in Therapien zwar
sichtbar werden, in gängigen Therapiemodellen aber nicht erkannt oder anders benannt
würden. (Krippner 2001) Die persönliche Haltung des Therapeuten entscheide darüber, ob sie
beachtet und wie sie interpretiert würden. Spirituelle Bilder und Erfahrungen könnten spontan
auftreten, aber auch gezielt in die KiP eingebracht werden, so z.B. die Begegnung mit einer
‚weisen Gestalt auf einem Berggipfel‘ oder die Vorstellung von einem ‚Tempel der Stille‘
(ebd.). „Ein angemessener Umgang mit Spiritualität im therapeutischen Prozess ermöglicht
dem Patienten nicht nur den Zugang zu seinen Potentialen, sondern er lernt, diese
Kraftquellen zur inneren Stabilisierung zu nutzen. Dies ermöglicht ihm die Erfahrung einer
neuen, sinngebenden Lebenshaltung.“ (ebd.)
Von der Wirkmacht der inneren Bilder
Die Wirkung, die von den inneren Führungsgestalten und der Befriedigung archaischer
Bedürfnisse ausgeht, ist offensichtlich; womit aber haben wir es zu tun bei diesen Vorgängen
auf der imaginativen Bühne? Fantasie oder Wahrheit? Wiedererinnerungen oder Visionen? Im
veränderten Bewusstseinszustand des Tagtraumes (die Nähe zur Oberstufe des Autogenen
Trainings, zur Hypnotherapie, zur Trance und vielen anderen Anwendungen von imaginativen
Verfahren ist offenkundig - worauf ich aber nicht näher eingehe) kann Einfluss genommen
werden auf seelisch-geistige und psycho-somatische Vorgänge. Geht es uns dabei im Sinne
einer Psychohygiene nur um die Optimierung seelisch-körperlicher Gesundheit? Werden wir
Lenas Erleben gerecht, wenn wir es rein psychologisch zu erklären versuchen oder haben wir
es auch mit einer metaphysischen Realität und Wahrheit zu tun, gar mit dem Einwirken
Gottes? Liegt dann eine solche Erfahrung überhaupt noch im Kompetenzbereich der
Therapie? Und ist sie machbar? Welche Versuche gibt es, die imaginierten Gestalten zu
deuten, sofern es sich nicht um reine Erinnerungsbilder handelt? Sind diese inneren Führer
‚gute
Selbstobjekte‘
oder
‚Objektrepräsentanzen‘,
also
Verinnerlichungen
von
Liebesobjekten der frühen Kindheit? Sind es Idealisierungen der TherapeutIn und somit
Projektionen? Sind es unbefriedigte archaische Bedürfnisse (Omnipotenzwünsche) oder
unbeachtete Ressourcen der PatientIn, die hier Gestalt werden? Oder sind es archetypische
Figuren des kollektiven Unbewussten, die hier auftauchen, oder transpersonale bzw.
transzendente Gestalten mit numinosen Qualitäten? Haben wir es bei den inneren Führern
mit der Gestaltwerdung unseres Gewissens zu tun?
Können wir auf diese wichtigen Fragen nur eine gültige Antwort zulassen? Hängt es nicht von
der Qualität der jeweiligen Imagination ab und vor allem vom subjektiven Empfinden - der
PatientIn und der TherapeutIn? Versuche, aus psychologischer, philosophischer oder
theologischer Sicht das Phänomen zu erfassen, es neurobiologisch zu erklären oder eine
religiöse Antwort des Glaubens zu geben, stehen gleich gültig nebeneinander.
6. Schlussfolgerungen: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch...“
Vor genau 200 Jahren widmete der Dichter Friedrich Hölderlin dem frommen Landgrafen von
Homburg einen mit ‚Patmos‘ betitelten Gesang, der mit diesen Zeilen beginnt.
„Nah ist und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
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In mir klingen die Sätze an, die Paulus in seinem Brief an die Römer (5, 20b) geschrieben hat:
„Wo aber das Mass der Sünde voll geworden ist, da ist die Gnade überfliessend geworden.“
Für moderne Menschen ist das Wort Sünde ein unzumutbarer Begriff und kein Tatbestand. Ich
möchte Sünde im Sinne einer Ab-sonderung von Gott begreifen. Die Gefahr, von der
Hölderlin spricht, ist dann die Gefahr der Ab-sonderung, des Getrenntseins von Gott: Wir
können Gott ja nicht fassen; heute mehr denn je erscheint er vielen Menschen nicht nahe
sondern fern. Das Rettende bei Hölderlin entspricht der Gnade bei Paulus: Nur wenn die
innere Verbindung zu Gott wieder hergestellt werden kann, wenn wir unser Herz auf kindliche
Weise öffnen, machen wir die Erfahrung von der Nähe Gottes, des Nicht-mehr-Getrenntseins
von ihm. Und erleben es dann nicht als ein Machen - denn wir können es im letzten Sinne ja
nicht machen - sondern als ein Ereignis: Wir sind auf die überfliessende Gnade Gottes, das
Rettende, angewiesen, die uns in höchster Gefahr zu Hilfe kommt. Dies entspricht meiner
persönlichen Erfahrung und ist zur therapeutischen Ueberzeugung geworden. Das Rettende
und letztlich Heilende kommt nicht mehr (nur) aus menschlich-therapeutischem Vermögen;
es ist die Transzendenz, der Ewige, Gott, der hier Hilfe schickt. Wir, so denke ich, sollten diese
Hilfe erkennen und nutzen; darüber unser mitmenschliches Sein mit der PatientIn und unsere
‚psychologischen Techniken‘ aber keineswegs vergessen. Wir sind Instrument: In der Liebe der
TherapeutIn zeigt sich das Ewige im Zeitlichen!
Meine Schlussfolgerungen folgen der Beobachtung, wie sich der Weg der Rettung aus der
Gefahr bei Lena zeigte und nicht nur bei ihr so vollzogen hat.
1. Die Not, die Gefahr, in der viele PatientInnen sich befinden, ist die verzweifelte Sehnsucht
nach Leben und Liebe, nach Sinnhaftigkeit, nach Erkanntwerden in ihrem wahren Wesen. Sie
sind in ihrem Grund und Selbstkern durch die erlittenen traumatischen Verletzungen
existentiell betroffen; durch das Getrenntsein von einer metaphysischen Wahrheit haben sie
oft nichts mehr zu verlieren und können alles wagen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit
und ihre Bereitschaft, die Frage nach der Existenz Gottes neu zu stellen.
Lenas Punkt der Not war die Befürchtung, ein hoffnungsloser Fall zu sein, ihre Todessehnsucht
nicht überwinden zu können. Die kindliche Sehnsucht nach einem Geborgensein im
Uebermenschlichen war Ausgangspunkt für die entscheidende und die Not wendende
Tagtraum-Serie. Eine spontane Altersregression stellte sich ein: Die kleine Lena offenbarte in
totalem kindlichen Vertrauen ihre Fragen nach dem Sein-dürfen, dem Geliebtwerden, dem
Erkanntwerden dem göttlichen Kind in der Krippe: ‚Kennst du mich noch, wenn ich gross bin?
Liebst du mich? Ist es schön, dass es mich gibt?‘ Es ging um Leben oder Tod! Die innere
Führung, das Rettende - die Stimme des lebendigen Gottes - kennt hier nur ein ‚Ja‘. Lena darf
einen Platz im Leben beanspruchen. Die Antwort ist zugleich Weisung und Weg: ‚Ich bin da ich bin in deinem Herzen. Du findest mich im Gebet - erkennst mich am Frieden.‘
2. Neben der Bitte um Hilfe und Liebe - nicht selten ein Schrei aus höchster Not - die aus
kindlichem Herzen ultimativ an eine höhere Instanz, an Gott, gerichtet wird, entsteht in der
Folge auch die Bereitschaft zu Bewusstsein und Bekenntnis von eigener Schuld - gefolgt von
der Bitte um Vergebung - dem Ausdruck des Wunsches nach Versöhnung.
Lena hatte sich mit ihrer Todessehnsucht von Gott abgesondert; das nannte sie ihre Sünde
und Gotteslästerung. Sie brachte dies in Verbindung damit, dass Gott sie nicht geschützt
hatte vor den frühen Verletzungen. Ein Ringen mit Gott setzte ein: ‚Wo warst du? Du hast
mich verlassen!‘ - dann die Erkenntnis von eigener Verantwortung: ‚Die Schuld ist schwer.‘ und der tiefe Wunsch, sich mit dem Schicksal zu versöhnen. Jesus wird hier als Erlöser, Tröster,
Liebender und Retter angesprochen; Maria als urmütterliche bergende und schützende Kraft
- und als liebende Zumuterin von Wahrheit: ‚Du hast ganz früh zu hassen gelernt, hast aus
deinem Herzen ein Mördergrube gemacht. So wirst du blind.‘ Die unbedingte Liebe wandelt
das Böse; sie lässt sich nicht von Vordergründigem täuschen, sondern sieht und spiegelt das
wahre Wesen. Lenas archaische Sehnsucht, angenommen zu sein mit allem Bösen, sich
reinzuwaschen, geborgen, aufgehoben, getragen zu sein, bekommt durch die Begegnung
mit Maria eine Antwort.
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3. Das erlittene unmenschliche Trauma benötigt eine übermenschliche Antwort. Das
Vertrauen in Menschen und in Welt ist bei manchen PatientInnen so tiefgreifend und
umfassend zerstört, dass menschliche Hilfe allein nicht ausreicht: Als TherapeutInnen können
wir in solchen Fällen aus eigener Kraft wahrscheinlich einfach nicht gut genug sein. Erleben
wir dies als narzisstische Kränkung? Im Bezug mit der PatientIn auf das Göttliche hin kann aber
im Rahmen der Therapie etwas gemeinsames Neues entstehen, das ‚therapeutische Selbst‘,
das die Grenzsituation des Menschlichen transzendiert - und das Heilung auch dort bringt, wo
sie rein menschlich gesehen unmöglich erscheint.
Maria führte Lena in die Wahrheit und Verantwortung; sie zeigte ihr den Weg der Umkehr und
bot ihr eine Lösung an: ‚Schau mir immer in die Augen!‘
4. Die Imagination übernimmt dabei eine zugleich regressive und transzendierende wie
umbildende Funktion: Sie ist Brücke zwischen Pränatalem und Transzendentem. Sie
durchbricht die habituelle Seelenblindheit und öffnet Auge und Ohr für alles, was
Offenbarungscharakter hat in der Welt, für das Numinose (vgl. Herzog-Dürck). Imagination ist
das Denken des Herzens (vgl. Stein). In der Erfahrung des Göttlichen mittels Imagination wird
die Getrenntheit überwunden:
„Denn was ich im Auge habe, das bildet mich. Wir werden, was wir schauen.“
(Heinrich Spaemann)
7. Diskussion
1. Wie kommt die religiöse Thematik in der Therapie/Imagination zur Sprache bzw. ins Bild?
2. Wie reagieren wir als TherapeutInnen darauf?
3. Was empfinden PatientInnen, wenn das religiöse Thema zur Sprache kommen darf?
4. Womit haben wir es bei imaginierten ‚heiligen‘ Gestalten zu tun?
5. Was sind die Auswirkungen von religiösen Inhalten in der Imagination?
6. Wo/wie erleben wir Grenzen? Was sind die Gefahren?
Literatur
- Balint, Michael: Therapeutische Aspekte der Regression. Stuttgart, Klett-Cotta 1997
- Benedetti, Gaetano: Psychotherapie als existentielle Herausforderung. Bern, Huber 1992
- Burian-Langegger, Barbara: Trauma und inneres Objekt. In: Themenheft ‚Trauma‘ der
Imagination, 3-4/2002
- Faulde, Cornelia: Wenn frühe Wunden schmerzen. Glauben auf dem Weg der TraumaHeilung. 2002
- Haynal, André: Die Technik-Debatte in der Psychoanalyse. Freud, Ferenczi, Balint. Giessen,
Psychosozial-Verlag 2000
- Herman, Judith: Die Narben der Gewalt. München, Kindler 1993 (2. Auflage: Junfermann,
Paderborn 2003)
- Holderegger, Hans: Der Umgang mit dem Trauma. Stuttgart, Klett-Cotta 1998
- Klessmann, Edda und Eibach, Hannelore: Wo die Seele wohnt. Das imaginäre Haus als
Spiegel menschlicher Erfahrungen und Entwicklungen. Huber, Bern 1993.
- dies.: Traumpfade. Weg-Erfahrungen in der Imagination. Huber, Bern 1996.
- Kottje-Birnbacher, Leonore: Einführung in die katathym-imaginative Psychotherapie. In:
Imagination. 23.Jg. Nr. 4/2001.
- Krippner, Klaus: Der geistig-spirituelle Aspekt in der Traumatherapie mit der KiP. In: Bahrke, U.
und Rosendahl, W.: Psychotraumatologie und Katathym-imaginative Psychotherapie.
Lengerich, Pabst 2001
- Leuner, Hanscarl: Lehrbuch des Katathymen Bilderlebens. Bern: Hans Huber,1985/1994.
- Rahner, Hugo: Die Anwendung der Sinne in der Betrachtungsmethode des hl. Ignatius von
Loyola. In: Bitter, W. (Hrsg.): Meditation in Religion und Psychotherapie. Stuttgart, Klett Verlag
1973.
- Reddemann, Luise: Imagination als heilsame Kraft. Stuttgart, Pfeiffer bei Klett-Cotta 2001
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Gisela Ana Cöppicus Lichtsteiner: Seminar „Brannte nicht unser Herz...?“ APS Kongress Marburg 2003 - 16
- Roth, Jörg Walter: Das Katathyme Bilderleben als spirituelle/transpersonale Therapie. In:
Imagination, 1/1993
- Schigutt Anneliese: Psychotherapie zwischen Erkenntnisweg, Pädagogik und
Krankenbehandlung - Die Zukunft der Psychotherapie. In: Imagination 2/2001
- Stein, Herbert: Freud spirituell. Das Kreuz mit der Psychoanalyse. Königsförde2001
- Wirtz, Ursula: Seelenmord, Zürich, Kreuz-Verlag 1989
Gesellschaften und Ausbildungsinstitute der Katathym-imaginativen Psychotherapie:
AGKB, Bunsenstr. 17, D-37073 Göttingen - www.agkb.de
SAGKB, Marktgasse 55, Postfach 721, 3000 Bern 7 - www.sagkb.ch
Oegatap, Kaiserstr.14/13, 1070 Wien - www.oegatap.at
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Gisela Ana Cöppicus Lichtsteiner: Seminar „Brannte nicht unser Herz...?“ APS Kongress Marburg 2003 - 17
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