Im Rahmen eines Workshops zum Thema "Regression" (München: Die Psychotherapie entdeckt den Körper, 14. bis 16. Mai 2004) kam in der Diskussion die Frage zur Sprache, ob wir im therapeutischen Prozess im Grunde genommen auf zwei Zeitebenen arbeiten - der Zeitebene der "Gegenwart" und der der "Vergangenheit". Besonders im traumatherapeutischen Bereich erhebt sich die Frage, ob die Ebene der Vergangenheit unmittelbar in die Gegenwart hineinbricht - z. B. bei den sog. Flashbacks. Therapeutische Regression würde heißen: Reaktivierung derjenigen (traumatischen) Erfahrungen, dass sie im "Hier und Jetzt" in ihrer vollen affektiven "Ladung" gegenwärtig erscheinen und dadurch erfahrbar und bearbeitbar werden. Da die Diskussion im Workshop sehr interessant war, die Frage gleichzeitig offen gelassen wurde, möchte ich auf einen Artikel von F. M. Staemmler verweisen, der sich der Frage der Vergangenheit im "Hier und Jetzt" aus gestalttherapeutischer Perspektive nähert. Genaue Quelle: Das Hier und Jetzt ist auch nicht mehr das, was es mal war — Kometenschweif, Janus-Kopf und die Unendlichkeit von Möglichkeiten. In F.M. Staemmler (Hg.) (2001), Gestalttherapie im Umbruch — Von alten Begriffen zu neuen Ideen (S. 177-219). Köln: Edition Humanistische Psychologie. Auszug aus diesem Artikel: (Zitat Beginn) Aber man kann die Vergangenheit auch zum Leben erwecken. Man kann eine Situation der Vergangenheit mit der gleichen Frische erleben, als geschehe sie im Hier und Jetzt; das heißt, man kann die Vergangenheit wiedererschaffen, ins Leben zurückrufen ... Soweit einem dies gelingt, hört die Vergangenheit auf, vergangen zu sein, sie ist das Hier und Jetzt. Auch die Zukunft kann man erleben, als sei sie das Hier und Jetzt. Dies geschieht, wenn ein künftiger Zustand im eigenen Bewußtsein so vollkommen vorweggenommen wird, daß es sich nur noch 'objektiv', das heißt als äußeres Faktum, um Zukunft handelt, nicht aber im subjektiven Erleben (Fromm 1979, 125 - Hervorhebung im Original). Daher gilt, was der Psychotherapieforscher Grawe als eines seiner wichtigsten Ergebnisse festhält: Es ergibt sich eine Schlussfolgerung, die etwas von einer Paradoxie an sich hat: Man muss als Therapeut hervorrufen, was man beseitigen will, um es beseitigen bzw. verändern zu können (1998, 242). Gespräche über psychische Abläufe oder Probleme, die bloße Inhalte bleiben und nicht in prozessuales Geschehen umgesetzt werden, bewirken keine Veränderungen (a.a.O., 128). "Prozessuales Geschehen" ist aber nichts anderes als das "Geschehen im Hier und Jetzt", das "unmittelbare subjektive Erleben" oder die "Bewusstheit", wie wir in der Gestalttherapie sagen. Diese Bewusstheit fördern wir von jeher dadurch, dass wir die nonverbalen und paraverbalen Äußerungen unserer KlientInnen, die ihnen in der Regel erst einmal nicht bewusst, sondern eben "implizit" sind, als Hinweise auf die vorhandenen Schemata verstehen und daher aufmerksam beobachten. Im Weiteren lenken wir dann mit geeigneten Rückmeldungen und Mitteilungen ihre Aufmerksamkeit darauf und versuchen, sie durch die Anregung bestimmter Aktivitäten (z. B. durch "Experimente" oder "Hausaufgaben" - vgl. Staemmler 1999a) in der Bewusstheit zu verdeutlichen und zu beeinflussen. (Zitat Ende) Zusammenfassend verstehe ich die Argumentation so: die Vergangenheit ist vergangen; im Sinne einer einfachen Aktivierung ist sie im allgemeinen gegenwärtig nicht mehr erlebbar (die Frage wäre, ob unter ganz bestimmten Umständen annähernd schon); die wird im "Hier und Jetzt" unter ganz bestimmten Kontextbedingungen lebendig, wobei diese Kontextbedingungen wichtig sind, auch wenn sie vielleicht im Hintergrund bleiben. So gesehen würde ich aber nicht von "zeitlicher Regression" sprechen, sondern von einer Aktivierung eines Geschehens (das Vergangenheits-Assoziationen mit einschließt), das - vorerst im Hintergrund (also kognitiv unbewusst) - in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückt und daher sehr gegenwärtig erlebt wird (gleichzeitig rücken die Kontextbedingungen, die diese Aufmerksamkeitsverschiebung auslösen konnten, in den Hintergrund). Was wäre dann ein therapeutisch-"regressiver" Zustand, wenn diese Aktivierung im Hier und Jetzt in einer affektmäßig verdichteten Form zustande kommt, und zwar innerhalb der Übertragungsbeziehung. Diese Übertragungsbeziehung wäre dann der Kontext. Wenn der Kontext besonders hilfreich ist und damit die affektiven, im Erleben des Patienten bedeutsamen Schlüsselstellen trifft, dann wäre im Zustand dieser "therapeutischen Regression" ein Neubeginn möglich oder, um es mit Stern zu sagen: ein "Now-moment", der das intersubjektive Feld zwischen Patient und Therapeut auf eine neue Ebene hebt, ihr gemeinsames implizites Wissen der Beziehung verändert. Auf diese Weise würde sich die Aktivierung des Vergangenen im Hier und Jetzt ganz konkret in Form einer Veränderung des intersubjektiven Feldes in der Gegenwart (und in der Zukunft der beiden Beziehungspartner) manifestieren. Regression wird in der Gestalttherapie - anders als in der Psychoanalyse - als "mangelhafte Selbstunterstützung" definiert, wenn ich mich recht erinnere. In der gestalttherapeutischen Terminologie wäre eine "regressive Situation" dann gegeben., wenn es dem Patienten (aufgrund mangelhafter Ich-Struktur und Realitätswahrnehmung) in dieser Aktivierung im "Hier und Jetzt" nicht gut gelänge, zu erkennen, dass diese Verdichtung im Grunde trotzdem einen (wenn auch minimalen) "Als-ob"-Charakter hat - d. h. wenn der Patient nicht in der Lage wäre, eine - wenn auch minimale - therapeutische Ich-Spaltung aufrecht zuerhalten - Extrembeispiel: Übertragungspsychose. Hier würde mich noch Staemmlers Kommentar interessieren. Passt diese Sichtweise zu den neurowissenschaftlichen Daten z. B. bei Damasio? Antwort auf die gestellte Frage: arbeiten wir auf zwei Zeitebenen? Ich würde sagen "nein" - wir arbeiten immer nur im "Hier und Jetzt", aber es gibt verdichtete Zustände im Hier und Jetzt - prozessuale Aktivierung, therapeutische "Regression" - wo es so scheint, wie wenn die Vergangenheit in der Gegenwart unmittelbar auftauchen würde. Diese therapeutischen Momente sind sehr fruchtbar - es sind Momente zwischen zwei Personen, deren intersubjektives Feld sowohl die entscheidende Rahmenbedingung für eine solche Aktivierung darstellt, als auch es sich durch eine solche prozessuale Aktivierung auf impliziter Ebene verändert.