Prof. Dr. Clemens Kammler (Universität Duisburg-Essen) Zeitgenössische Theaterstücke im Unterricht Einführungsvortrag zu Fortbildungsveranstaltung am 26.02.2004 1. Zur schulischen Rezeption des zeitgenössischen Drams Das zeitgenössische Drama ist spätestens seit den achtziger Jahren zu einem „Stiefkind der literarischen Sozialisation“ geworden (vgl. Müller 1992). Bei einer Untersuchung zur Lektüre von Ganzschriften in der Sekundarstufe II, die ich vor knapp 2 Jahren an den Bielefelder Gymnasien und Gesamtschulen durchgeführt habe (Kammler/Surmann 2000), empfahlen die befragten Lehrerinnen und Lehrer viele Titel aus den achtziger und neunziger Jahren – vor allem „Renner“ wie „Das Parfüm“ oder „Der Vorleser“. Aber es war kein einziges Drama unter den Vorschlägen. Eine Befragung von Theaterintendaten, die ich 2001 durchgeführt habe, brachte das gleiche Ergebnis. Das Gegenwartsdrama wird von den Schulen kaum wahrgenommen. Dafür gibt es mehrere Gründe: 1. Neuere Theaterstücke sind auf dem Buchmarkt schwerer zugänglich als Prosatexte 2. Viele von ihnen verschwinden schnell wieder vom Spielplan. 3. Die Lehrpläne aller Bundesländer betonen zwar die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Literatur der Gegenwart, aber es mangelt häufig an praktikablen Lektürevorschlägen. 4. In den dramendidaktischen Publikationen der letzten Jahre hat man sich zwar erfolgreich um die Erweiterung des Methodenrepertoires durch produktive und szenische Verfahren bemüht, aber die Aktualisierung des Lektüreangebots vernachlässigt. 5. Auch die theaterpädagogischen Ansätze, deren Bedeutung für den Deutschunterricht deutlich zugenommen hat, setzen nicht unbedingt auf eine solche Aktualisierung. 2. Aktuelle Tendenzen: Postdramatisches Theater Der wohl wichtigste Grund hat mit der Entwicklung der Gattung Drama selbst zu tun. Das deutschsprachige Gegenwartsdrama der achtziger und neunziger Jahre – so schreibt Richard Weber widerseze sich „allen Regeln der klassischen 2 Dramaturgie“. Seine charakteristischen Merkmale seien: „Zerschlagung einer durchgehenden Handlung, Fragmentierung der Fabel, Auflösung der Einheit der Figuren, Durchdringung verschiedener Spiel- und Wirklichkeitsebenen, (...).“ (Weber 1997, 420; in: Glaser) . Die theoretische Begründung für diese Tendenzen bietet der Theaterwissenschaftler Hans Thies Lehmann in seinem Buch „Postdramatisches Theater“ (1999). Die Irritation eingeschliffener Wahrnehmungsmuster, das Aussetzen des Verstehens, das durch solche Verfahren erreicht werde, so Lehmann, sei Voraussetzung „autonomer“ ästhetischer Erfahrung in der Medienkultur. Eine solche Erfahrung habe die Unterhaltungsindustrie nicht zu bieten, da sie „nichts in seinem Widerspruch, (...), nichts in seiner Fremdheit wahrzunehmen“ erlaube. (S. 126) Das Gegenwartstheater erreiche sie durch die Abkehr von dem „so lange unangefochtenen Kriterium der Einheit und Synthesis“ (S. 92). Nicht mehr der Ablauf einer Geschichte mit ihrer inneren Logik stehe im Zentrum, sondern die Kombination heterogener Stilzüge, Textfragmente, Bilder und Medien. Diese Tendenz zum „Postdramatischen“ kennzeichne nicht nur die gegenwärtige Inszenierungspraxis, sondern auch viele der neueren Texte. Das herkömmliche Drama bis hin zu Beckett und Brecht – so Lehmann – als kausallogische Handlung, in der Subjekte Entscheidungen treffen und dadurch den Gang der Ereignisse bestimmen – sei angesichts der Herrschaft solcher Zusammenhänge und der Austauschbarkeit ihrer Protagonisten heute nicht mehr geeignet, „Wirklichkeit zu formulieren“ (1999, 464) Ein häufig als Spielvorlage für Theaterinszenierungen benutzter und zu diesem Zweck verfasster Text wie Heiner Müllers Bildbeschreibung beispielsweise lässt nahezu alle Elemente dramatischer Struktur (Figuren, Handlung, Konflikt usw.) vermissen, erinnert eher an eine bildnerische Partitur. Bei Brecht galt 3 dagegen immer noch der Grundsatz vom Primat der „Fabel“, die Schauspielern wie Zuschauern die Möglichkeit einer „Zusammenfügung des Widersprüchlichen“ gab, und – wie es im „Kleinen Organon für das Theater“ heißt, das „Herzstück der theatralischen Veranstaltung“ darstellte. (Brecht 1967, S. 693) Dieser Forderung verweigert sich ein Text wie Bildbeschreibung konsequent.. Weniger radikale Postdramatischen aber weisen dennoch andere unverkennbare Tendenzen Gegenwartsstücke zum renommierter Theaterautoren auf. Ich nenne einige Beispiele: Bei Heiner Müllers letztem und bei weitem nicht schwierigsten Stück „Germania 3. Gespenster am toten Mann“ handelt es sich für den literarisch ungeübten Blick um wahllos zusammengestellte Szenen. Hier werden literarische Zitate, Themen und Motive zusammengemischt und damit wird Wissen über unterschiedlichste Kontexte vorausgesetzt: von Hölderlin bis Brecht, von den Nibelungen bis zu Walter Ulbricht. In „Die Zeit und das Zimmer“ von Botho Strauß spielen Figuren ohne erkennbaren Anlass und scheinbar zusammenhanglos verschiedene Kommunikationsformen und –hemmnisse durch: Berührungsängste, Redezwang, Illusionen, Aggressionen, Hoffnung und Verzweiflung. Brechts Satz „Auf die Fabel kommt es an, sie ist das Herzstück der theatralischen Veranstaltung.“ (Kl. Organon, Brecht, Gesammelte Werke 16, S. 693) hat auch hier keine Gültigkeit mehr. In Elfriede Jelineks Stück „Totenauberg“ werden heterogene Themen wie Fremdenhaß, Tourismus, Umweltzerstörung, werden Heidegger – Zitate und Werbeslogans als bunte Mixtur präsentiert, wobei die Figuren völlig 4 monologisch angelegt sind und von einer Handlung im engeren Sinne keine Rede sein kann. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Das ästhetische Programm des postmodernen – oder, wie es Lehmann nennt „postdramatischen“ Theaters <zur Unterscheidung vgl. Handout > kann man auf die Formel „Dekonstruktion der konventionellen Formen des Dramas“ bringen (vgl. Waldmann 2/1999, S. 193). Es liegt auf der Hand, dass diese Art Theater beim Publikum nicht nur Begeisterung auslöst – selbst beim sogenannten akademischen Niveaumilieu nicht. So hat der Heidelberger Philosoph Rüdiger Bubner kürzlich – sozusagen aus der Perspektive des literarisch gebildeten Theaterbesuchers - Lehmanns Abgesang auf das dramatische Theater eine klare Absage erteilt.. Das Theater lebe von seinen Zuschauern und bei diesen gehe in der Regel die Aufmerksamkeit gegenüber dem Geschehen auf der Bühne verloren, wenn „die Neugier auf den verbliebenen Rest der Geschichte schwinde(t)“ (Bubner, S. 88). Das postdramatisches Theater laufe Gefahr, Kunst für eine Minderheit von Insidern zu produzieren, „Happenings, die Kritiker anreisen lassen, sich (aber) nie zum Programmfüller des etablierten Theaterbetriebs eignen werden.“ (ebd., S. 86). Die Entlassung des Züricher Intendanten Christoph Marthaler im vergangenen Herbst, dessen Theater unmittelbar zuvor von der Zeitschrift „Theater heute“ zur besten deutschsprachigen Bühne des Jahres gewählt worden war, obwohl es kaum Zuschauer zog, ist ein aktuelles Beispiel für die von Bubner angesprochene Diskrepanz. <Gegenbeispiele gibt es genug: Das Bochumer Schaupielhaus unter Matthias Hartmann boomt, weil es mit Aufführungen wie „Harald and Maude“, mir dem Engagement von Harald Schmidt den ästhetischen Kompromiss, das Zugeständnis an den massenmedial geprägten Erwartungshorizont nicht scheut. Auch das „Deutsche Theater“ in 5 Berlin, das nach wie vor auf Traditionspflege auf höchstem Niveau setzt, ließe sich hier nennen.> 3. Übersicht über Gegenwartsstücke / Auswahlkriterien Sicher wäre aus der Sicht des Deutschunterrichts die Fixierung auf ein vermeintlich einzig zeitgemäßes ästhetisches Konzept von (postdramatischem) Theater noch wirklichkeitsfremder als aus der des Theaterbetriebs. Aber eine solche Fixierung ist auch gar nicht nötig. In der von mir eingangs erwähnten Befragung von Theaterintendanten und – dramaturgen (Kammler 2001) wurde von den Befragten immer wieder auf die Vielfalt der ästhetischen Konzepte verwiesen, die es prägen. Auch das Bedürfnis des Publikums nach Komik und spannenden Geschichten spielt in diesen Konzepten eine nicht unbedeutende Rolle. Um das zu konkretisieren unterteile ich – in heuristischer Absicht und ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die zeitgenössischen Theatertexte in vier Gruppen. Dabei ist jeweils ein anderes Kriterium der Textauswahl dominant, wobei sich die Kriterien im Einzelfall natürlich nicht immer scharf voneinander trennen lassen: Kindheits- bzw. jugendspezifische Thematik (1), aktuelle Bühnenrelevanz bzw. aktueller Zeitbezug (2 und 3) und „ästhetische Qualität“ bzw. Gattungsbezug (3 und 4). 1. Bei der Auswahl von Theaterstücken für die Sekundarstufe I spielt das Kriterium der Eignung eines Theatertextes für die möglichst frühzeitige literarische bzw. (theater-)ästhetische Sozialisation eine zentrale Rolle. Dies können vor allem Stücke des Kinder- und Jugendtheaters leisten, das heute eine erstaunliche Vielfalt aufweist1: 1 Namen jüngerer Autoren des Jugendtheaters Einen guten Überblick über neuere und neueste Kinder- und Jugendtheaterstücke bieten die Bibliographien von Kirschner 1998 und Reclams Kindertheaterführer (1994) sowie der als Loseblattsammlung konzipierte und laufend erweiterte Schauspielführer „Jugendtheaterstücke“ von Fangauf und Frisch (2002). 6 wie Lutz Hübner oder Thomas Oberender stehen für Geschichten, deren Ausgangssituationen für die Schülerinnen und Schüler nachvollziehbar sind, die ihnen Identifikationsspielräume eröffnen und in einer Sprache erzählt sind, zu der sie Zugang finden.2 a) Nicht zufällig handeln solche Stücke oft von jugendlichen Außenseitern – Figuren, in denen sich nicht einfach die alltägliche „Realität“ der jugendlichen Betrachter widerspiegelt. Erfolgsstücke des Berliner „Grips“ - Theaters wie „Linie 1“ und „Café Mitte“ – Geschichten von Ausreißern, die Bekanntschaft mit der Berliner Aussteiger- und Randgruppenszene vor und nach der Wende machen und deren ganzes soziales Spektrum kennen lernen – oder Nigel Williams „Klassenfeind“ erfüllen diese Anforderungen ebenso wie die den Holocaust thematisierenden Stücke „Ab heute heißt du Sara“ (Volker Ludwig/Detlef Michel) und „Geheime Freunde“ (Rolf Herfurtner). Auch „Disco Pigs“, ein Zweipersonendrama des irischen Regisseurs Enda Walsh, in dem sich ein siebzehnjähriges Pärchen saufend und prügelnd durchs Leben schlägt und in Rollenspielen Machtproben und Erfolge im Lebenskampf improvisiert, gehört in diese Gruppe. Dabei ist Walshs ästhetisches Konzept sicher komplexer als diejenigen von Williams oder des „Grips“-Autors und – Intendanten Volker Ludwig. Die verstümmelte Sprache aus Rap, Pissoirsprüchen und Comic-Sprechblasen zwingt genauso zu erhöhter Aufmerksamkeit wie die Tatsache, dass zwischen Rollenspiel und tatsächlicher Aktion, zwischen Realität und Traum oft nicht ganz einfach zu unterscheiden ist. 2. Der oft nur kurzfristige Bühnenerfolg vieler zeitkritischer Stücke des Gegenwartstheaters hängt sicher damit zusammen, dass hier das Publikumsinteresse an einem aktuellen Thema meist gegenüber dem Eine große Auswahl von neuern Kindertheaterstücken findet sich in der Reihe „Spielplatz“ (Bd. 1-14) im „Verlag der Autoren“ (Victor 1988-2001). Empfehlenswert ist auch die Stückesammlung von Paul Maar (1999). 2 7 ästhetischen überwiegt. Gerade aus diesem Grunde können sie aber auch für Schüler interessant sein und dazu beitragen, dass sie Zugang zum Theater finden. Dies gilt beispielweise für Robert Schneiders Monodrama „Dreck“ und die Theaterfassung von Feridun Zaimoglus (ursprünglich nicht für das Theater verfasste) „Kanak Spraak“, in denen es auf unterschiedliche Weise um die Problematik des Fremden geht. Ähnlich verhält es sich bei einem nicht unerheblichen Teil der sogenannten „Wendedramen“ der neunziger Jahre, die inzwischen weitgehend von der Bühne verschwunden sind; so zum Beispiel Rolf Hochhuths „Wessis in Weimar“ oder Klaus Pohls „Karate-Billy kehrt zurück“ – ein Stück über einen in die Mühlen der Stasi geratenen Leistungssportler, der zu DDR-Zeiten in die Psychiatrie abgeschoben wird und im Nach-Wende-Deutschland keine Chance auf Wiedergutmachung erhält Auch die Endzeitdramen der achtziger Jahre wie Harald Muellers „Totenfloß“ aus dem Tschernobyljahr 1986 gehören in diese Kategorie. Muellers Drama, ein Katastrophenstück über den atomaren Weltuntergang machte kurzzeitig Furore auf den Bühnen Deutschlands – heute wir es kaum noch gespielt. Auch wenn die „Halbwertzeit“ dieser Stücke auf der Bühne meist gering ist und ihre ästhetischen Mittel oft konventionell sind: Solange sie aktuell sind und man mit ihnen Jugendliche an das Gegenwartstheater heranführen kann, sollte die Schule diese Chance nutzen, ohne allerdings aus den Augen zu verlieren, wo möglicherweise die Grenzen ihres Einsatzes im Unterricht liegen. 3. Entsprechendes könnte für jene um die Jahrtausendwende von den Theater häufig gespielten und von der Kritik viel beachteten Stücke eines SchockRealismus gelten , in denen gesellschaftliche Gewaltverhältnisse - mit den Worten Heiner Müllers könnte man sagen: „Modelle barbarischen Verhaltens“ - in Szene gesetzt werden (vgl. Müller 1990, S. 153). „Shoppen und Ficken“ von Mark Ravenhill, handelt von Drogendealen, Prostitution und sexueller Gewalt, Marius von Mayenburgs „Feuergesicht“ mündet in Mord, 8 Brandstiftung und Selbstmord des Protagonisten. Ähnlich exzessiv geht es in den meisten Dramen der Engländerin Sarah Kane zu. Die Stückeschreiber setzen auf ein archaisch anmutendes Katharsis-Konzept, auf extreme Körpererfahrung , eine Ästhetik des Schreckens. Dabei verfolgt ein Autor wie Ravenhill durchaus gesellschaftskritische Intentionen, will über eine Generation schreiben, die „keine anderen Werte als die des Marktes kennt“ (Tabert 1998, S. 69), eine süchtige Gesellschaft, in der der Überdruss am Konsum im Bedürfnis nach Schmerz und sexueller Gewalt kulminiert. Auch bei Sarah Kane, deren Dramen nach eigener Aussage davon handeln „wie man trotz aller Gewalt weiter leben und hoffen kann“ (Tabert 1998, S. 19), korrespondiert die humanistische Absicht mit einem ästhetischen Konzept, das sie selbst auf die Formel bringt: „Wenn niemand aufsteht und geht, stimmt vielleicht etwas mit der Inszenierung nicht.“ (Tabert 1998, S. 18) Es lässt sich darüber streiten, ob man in solchen Inszenierungen die Geburt eines neuen Realismus sehen kann, der den verkrusteten Diskurs einer „völlig entpolitisieren Gesellschaft“ aufbrechen, das Theater wieder zu einem „sozialen Ort“ machen kann, an dem sich der Konflikt über gesellschaftliche Wertvorstellungen austragen lässt. Entscheidend dürfte wohl sein, ob die Verletzung und der Schrecken, den die Tabubrüche bei den Zuschauern auslösen, noch an irgendeinem Punkt in Reflexion umschlagen können - eine Frage, die man kaum aufgrund der Textlektüre allein, sondern nur in Bezug auf die jeweilige Inszenierung beantworten kann. 4. Folgt man der Logik des schulischen Kanons, der auf die literaturgeschichtliche Bedeutung von Autoren und Werken setzt, so hätten die von der Literaturwissenschaft kanonisierten Autoren des ästhetisch avancierten Gegenwartstheaters wie Heiner Müller, Thomas Bernhard, Botho Strauß, Elfriede Jelinek, oder Peter Handke, für die sich auch der Theaterbetrieb heute stärker interessiert als für Dürrenmatt oder Frisch, längst in ihn 9 aufgenommen werden müssen.3 Denn sie repräsentieren die Gattung in ihrem fortgeschrittensten Stadium - nicht zuletzt deshalb, weil in ihren Theatertexten die „Kernkategorie des Dramas“ in unterschiedlicher Weise „zurückgedrängt“ wird (Lehmann 1999, S. 114). Dass sie den Sprung in den Schulkanon dennoch nicht wirklich geschafft haben, hängt gerade mit der anspruchsvollen und nicht immer auf ein größeres Publikum abzielenden Ästhetik vieler ihrer Stücke zusammen. Sie weisen oft ein hohes Maß an Intertextualität auf und verweigern sie sich jeglicher „Einschaltquotenmentalität“ . Allerdings ist festzuhalten, dass die Rede von einem „selbstbezügliche(n) ‚Intellektuellentheater’“ (Barner u.a.1994, S. 871) - gemünzt auf Elfriede Jelineks Theatertexte der achtziger und frühen neunziger Jahre - keineswegs auf das Gegenwartstheater in seiner Gesamtheit und auch nicht auf alle Stücke der hier genannten Autoren zutrifft. Nicht immer schließen sich Nicht-Verstehen und ästhetischer Genuss gegenseitig aus. So hat beispielsweise die programmatische „Undeutlichkeit“, ja Unverständlichkeit vieler Stücke von Botho Strauß (1989) ihrem komödiantischen Unterhaltungswert und damit ihrem Bühnenerfolg keinen Abbruch getan. 4. Ein Theaterautor für die Sekundarstufe I und ein Stück für die Sekundarstufe II 4.1 Ein Autor: Lutz Hübner (Sek. 1) Einer der interessantesten Autoren des zeitgenössischen Jugendtheaters ist Lutz Hübner, dessen Stück „Das Herz eines Boxers“ 1998 mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis ausgezeichnet wurde. Es geht um einen sechzehnjährigen 3 In den Richtlinien einiger Bundesländer, die Leselisten enthalten (z.B. Sachsen, Sachsen-Anhalt, MecklenburgVorpommern), taucht vor allem der Name Heiner Müller, vereinzelt auch der von Botho Strauß auf (vgl. etwa : Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport: Rahmenplan für Unterricht und Erziehung in der Berliner Schule. Deutsch. Gymnasium. Klasse 12 bis 13 (Gymnasiale Oberstufe). Berlin o. J., S. 39 f). Damit ist allerdings noch nichts über die Frage ausgesagt, ob und wie häufig an den Schulen dieser Bundesländer tatsächlich an Texten dieser Autoren gearbeitet wird ; es handelt sich ja lediglich um - zumeist sehr umfangreiche - Vorschlagslisten. 10 Jungen namens Jojo, der Sozialstunden in einem Altenheim ableisten muss, da er den Diebstahl eines Mopeds auf sich genommen hat, um den Anführer seiner Clique vor dem Knast zu bewahren.. Dort trifft er auf Leo, Mitte siebzig, der in jungen Jahren ein berühmter Boxer war, jetzt aber allein und vergessen in der geschlossenen Abteilung des Altenheims lebt, weil er als gewalttätig gilt. Er hat einen Pfleger niedergeschlagen, der sich über seine Altersschwäche lustig gemacht hat. Beide Protagonisten kommen sich im Verlauf der Geschichte immer näher, freunden sich an. Leo, der die coole Fassade des Jungen durchschaut, hilft ihm, seine Schüchternheit zu überwinden und gibt ihm nützliche Tipps, wie er das Mädchen, in das verliebt ist gewinnen kann. Jojo verhilft Leo schließlich zur Flucht aus dem Altersheim. Seine eigentliche Qualität bezieht das Stück nicht nur aus seinen (für Jugendliche wichtigen) Themen – Gewalt, Außenseitertum, Generationenkonflikt - sondern aus dem gekonnten Einsatz ( wenn auch im Vergleich zum postdramatischen Theater ) konventioneller dramatischer Mittel. Der Dialog zwischen Generationen gleicht in der Tat einem Boxkampf, der über mehrere Runden geht.. Er beginnt mit Jojos ebenso unbeholfenen wie dreisten Versuchen einer Kontaktaufnahme : „Was glotzen Sie denn so? Der erste Besuch seit dem Krieg, was? Glauben Sie bloß nicht, das ich das hier aus Menschenfreude mache. Seh ich aus wie jemand, der ein Herz für Senioren hat?“ (S. 1) Darauf reagiert Leo zunächst mit minutenlangen Schweigen, das seinen Gesprächspartner zu immer größeren Unverschämtheiten provoziert. ( das erinnert mich an einen legendären WM-Kampf zwischen Muhammed Ali und George Foreman, in dem Letzterer mehrere Runden lang auf die Deckung seines Gegners eindrosch, ohne dass dieser die geringste Wirkung gezeigt hätte. Erst als Leo (wie damals Ali) einen gezielten Konter landet - er gießt Jojo den Farbeimer über die Füße - kann dieser sich ihm gegenüber öffnen. Für Foreman war das damals der Anfang vom Ende – Jojo hingegen beginnt die wahre 11 Geschichte vom Mopedklau zu erzählen und es ist der Beginn einer großen Freundschaft.... Wenigstens auf ein weiteres Stück von Lutz Hübner, dcas zur Zeit sehr erfolgreich an mehreren deutschen Bühnen läuft, und zu dem auch in dem von mir herausgegebenen „Praxis Deutsch“- Heft „Theatertexte“ ein Beitrag erscheinen wird, möchte ich noch hinweisen: In „Creeps“ geht es um drei Mädchen, die zum Casting um die Moderatorenstelle eines „trendigen Lifestylemagazins“ („Creeps“: wörtl. „Kriecher“) eingeladen sind. Man denkt unwillkürlich an TV- Sendungen wie „Deutschland sucht den Superstar“ . Es handelt sich bei den dreien um höchst unterschiedliche Charaktere mit ebenso unterschiedlichen Geschichten: Gemeinsam ist ihnen zunächst nur der Wunsch, Karriere in der Welt der Talkshows, Soaps und Musiksendungen a la „Viva“ zu machen – und diesen Wunsch haben sie sicher mit zahlreichen realen Siebt- oder Achtklässlerinnnen (und –klässlern) gemeinsam. Nachdem die Situation in einen gnadenlosen Konkurrenzkampf zwischen den dreien ausgeartet ist („bis Tränen fließen, Studiomöbel durch die Luft fliegen, Hände und Nägel in Haut und Haar der Konkurrentinnen fahren“) , kommt es erst zum eigentlichen Show down: Es stellt sich heraus, dass der Konflikt von den Produzenten ohne das Wissen der Mädchen bloß inszeniert worden ist, um Material für einen Trailer der Show zu bekommen, dessen Moderatorin längst feststeht. Erst jetzt solidarisieren sich die drei Mädchen. „Die Grundidee für eine (...) Reality – TV - Serie ist (in diesem Stück) so nah dran an der heutigen Medienrealität, dass man dem Autor raten möchte, sie urheberrechtlich schützen zu lassen.“ – so lautete der Kommentar eines Kritikers nach der Uraufführung (TAZ). Man darf allerdings nicht übersehen, dass Hübners Darstellung dieser Realität - einschließlich der Sprache, derer sich die Beteiligten bedienen – durch und durch satirisch ist: „ Okay, hallo, super, keinen Streß, noch ein paar Sachen checken, was wir brauchen, das ist credibility, Pesonalities, die ihre eigene 12 Denke haben usw. usw. ....“ Diese wenigen Partikel aus dem Redeschwall, mit denen eine Stimme aus dem Off die drei Mädchen immer wieder überschüttet, mögen belegen, dass es sich nicht die um die Parodie einer Sprache handelt handelt, die man nicht mit der realen Sprache „der Medien“ oder „der Jugend“ verwechseln darf. Nicht nur für eine Einführung in die Satire, wie sie in der Regel für den Beginn der Mittelstufe angesetzt bist, eignet sich dieses Stück, sondern auch für eine gattungspoetisch orientierte Einführung in das Drama und zwar unter anderem deswegen, weil hier dessen klassischer Aufbau mit Exposition, erregendem Moment, Klimax usw. exemplarisch nachvollzogen werden kann. Auch für den Einsatz szenischer Verfahren in einer siebten oder achten Klasse eignet sich das Stück gut, da die Figuren – bei aller satirischen Überzeichnung - den Schülerinnen und Schülern dieser Altersgruppe viel näher stehen als Schillers Tell oder Brechts Jasager. 4.2 Ein Stück: Urs Widmer, Top Dogs (Sek. 2) Zu den Stücken der neunziger Jahre, die im Deutschunterricht eine Chance verdienen, weil sich mit ihnen die Brücke zur Ästhetik des Gegenwartstheaters schlagen lässt, gehört Urs Widmers „Top Dogs“ . Es geht dort um arbeitslos gewordene Manager der höheren Ebene , die in einem sogenannten „Outplacement – Büro“ auf ihre berufliche „Wiedereingliederung“ vorbereitet werden sollen: ein „Königsdrama“ der Wirtschaft (Widmer). TV- Ausschnitt (5 Minuten) (1. Szene) Gerhard Jörder brachte das Stück in seiner Preisrede beim Berliner Theatertreffen 1997 auf die Formel „Die Globalisierung frisst ihre Kinder“. Widmer und das Team des Züricher „Theaters Neumarkt“ haben zunächst „Feldforschung“ betrieben, sich bei Besuchen in Outplacement-Firmen und in Gesprächen mit betroffenen „Top Dogs“ mit einem „unbekannten Kontinent“ 13 vertraut gemacht, auf dem „fremdartige Sitten und Gebräuche“ (Widmer) herrschen, die das Stück allein schon zu einem interessanten Unterrichtsgegenstand machen. Aber auch die für das zeitgenössische Theater typische Dekonstruktion traditioneller Konstituenten des Dramas lässt sich an „Top Dogs“ zumindest ansatzweise demonstrieren.. Dafür gibt es mehrere Gründe: 1. Zunächst erzählt das Stück “keine lineare Geschichte“ Toepfer 1997, S. 76) „Unterschiedliche Stilebenen, harte Schnitte, abrupte Tempi-Wechsel bestimmen das Spiel.“ (Ebd., S. 77) Es werden Situationen vorgeführt, in denen die arbeitslosen Manager gemeinsam mit ihren „Trainern“ Vergangenes aufarbeiten: Berichte über ihre Entlassung und die persönlichen Folgen, Rollenspiele und Träume, in denen das Erlebte aufgearbeitet werden soll. Unterbrochen wird dies durch Gangübungen, Kampfübungen und chorische Einlagen: die „Schlacht der Wörter“, in der die Beteiligten Hochwertvokabeln der Wirtschaftssprache in den Raum rufen, die „große Klage“, eine panischpathetische Anrufung der Großkonzerne. 2. Zweiter Grund: „Top Dogs“ zeigt „keine Charaktere.“ (Toepfer, a.a.O.) Die „Top Dogs“ sind gestört in ihrer Selbst- und Außenwahrnehmung, die in der eben gezeigten ersten Szene den gerade von der Swissair entlassenen Herrn Deer daran hindert, seine Entlassung überhaupt zu realisieren . Die Inkonsistenz der Charaktere tendiert im Verlauf des Stückes zu deren Auflösung durch permanenten Rollentausch. Nicht sie sind das Entscheidende, sondern die Verhaltensmuster, die sie im dialogischen und monologischen Wechselspiel verkörpern. Sie sind potentielle Täter/Opfer in einem System, dessen einziger Imperativ „Produzieren“ lautet, einem „Krieg“, der soziale Existenzen vernichtet. 14 Widmers Figuren ähneln eher Kleists Marionetten als jenen „richtig Gehenden“, die sich Brecht im „Messingkauf“ als Zuschauer vorstellte. Die Bewegungsabläufe, die ihnen in den als Zwischenspielen angelegten „Kampf“und „Gangübungen“ von den Therapeuten beigebracht werden, steigern sich ins Groteske. Erst wenn sie diese Steigerung vollzogen haben, ist das Lernziel des „richtigen Gehens“ erreicht. 3. In „Top Dogs“ ist die „dialogische Geschlossenheit des dramatischen Universums“ aufgebrochen. „Im Zeitalter der Medien – schreibt Hans Thies Lehmann über das „Postdramatische Theater“ - treten (wieder) genau die Sprechformen (...) ins Zentrum des Theaters“, die das bewirken: Monolog und Chor. So verschmelzen bei Widmer die dramatis personae in der „Schlacht der Wörter“ zu einem chorischen Kollektivs. Die ökonomisch-psychologischen Hochwertvokabeln hebeln sich im Sprechgesang der „Top Dogs“ durch ihre innere Widersprüchlichkeit selbst aus: „Humankapital“, „Aggressives Wachstum“, „Kündigungskultur“. In einer „Die große Klage“ betitelten Szene formiert sich der Chor als kollektives Subjekt: Wimmernd kriechen die „Top Dogs“ am Boden und flehen die „Götter unserer Tage“ an: „Oh Swissair! (...) Oh Coop!“ Dabei sind diese Anrufungen mit einem Gegentext, Fragmenten aus der biblischen „Offenbarung des Johannes“ unterlegt: „Städte zerfielen. Und alle Inseln versanken.“ 4. Gegentexte zum Rest des Geschehens sind auch die „Märchen“, die zwischendurch erzählt werden: die Geschichte vom „Hans im Glück“, der Hunderttausende in einen Brunnen wirft und trotzdem glücklich ist, vom „Fischer und seiner Frau“, die alles will und am Ende wieder auf ihrem „Pisspott“ landet oder die „Utopie vom Menschen“, idyllischer Entwurf einer gleichberechtigten Gesellschaft, die ihre Bedürfnisse zu stillen weiß, hingegen die Gier nach immer mehr nicht kennt. 15 Diese „großen Erzählungen“ stehen quer zum Kontext . Dabei können sie diesen - die Business - Welt der „Top Dogs“ - sowohl infrage stellen als auch von ihm infrage gestellt werden. An die Stelle der Utopie, der satirischen Entlarvung tritt die Präsentation eines Widerspruchs . Weder wird das Ende der „großen Erzählungen“ behauptet, noch wird deren vermeintlich „zeitlose Wahrheit“ gegen die Gegenwart ausgespielt. Kein postmodernes Credo, kein kulturkonservativer Appell zu „Wiedergewinnung“ des Sinnes , sondern das Markieren eines Risses. Schluss In der Möglichkeit, textanalytische Kompetenzen zu schulen, und dabei an sicher zu erwartende, aber auch begrenzte Verständnisschwierigkeiten anknüpfen zu können, liegt meines Erachtens eine besondere Qualität von „Top Dogs“ als Unterrichtsstoff. „Anlässe zu genauem Lesen“ sind die verschiedenen Sprachebenen (Sprache der Wirtschaft, Humanität, Therapie) , die intertextuellen Bezüge ( Funktion der Märchen) und die widersprüchlichen Figurenmerkmale. Aber ebenso wie in den Stücken Lutz Hübners geht es um mehr: Um die Auseinadersetzung mit zeitgenössischen Lebensentwürfen. Dass das Gegenwartstheater sie als fragwürdig erscheinen lässt, macht es für den Deutschunterricht eigentlich erst interessant. Literaturverzeichnis: Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke 16. Schriften zum Theater 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967. Bubner, Rüdiger: Demokratisierung des Geniekonzepts. In: Josef Früchtl / Jörg Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Frankfurt am Main: Suhrkamp: 2001, S. 77-90. Fangauf, Hennig / Frisch, Hans: Jugendtheaterstücke. 40 ausgewählte und kommentierte Stücke. Ein kleiner Schauspielführer. Hrsg. Vom Kinder- und 16 Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main 2002. Kammler, Clemens: Das kommt nach Frisch und Dürrenmatt. Ergebnisse einer Befragung von Theaterintendanten zum Thema „Gegenwartsdrama und Schule“. In: Der Deutschunterricht 2/2001 , S. 84-87. Kammler, Clemens: Das Theater der Gegenwart in didaktischer Perspektive. In: A. Hoppe / Cl. Kammler (Hrsg.): Zeitgenössisches Theater und Unterricht. Mitteilungen des Germanistenverbandes Heft 3/2001b, S. 372-393. Kienzle, Siegfried: Schauspielführer der Gegenwart. 200 Autoren und 1148 Stücke. 6., stark erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart Lehmann, Hans-Thies : Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999. Ludwig, Volker: Herr Nietenführ. In: Das Grips-Buch. Theatergeschichten . Bd. 2. 1994-1999. Berlin 1999, S. 49. Müller, Heiner: Theater-Arbeit. Berlin: Rotbuch 1975. Müller, Heiner: Material. Texte und Kommentare. Leipzig: Reclam 1990. Müller, Matthias: Zwischen Theater und Literatur. Notizen zur Lage einer heiklen Gattung. In: Richard Weber (Hg): Deutsches Drama der achtziger Jahre. Frankfurt / Main 1992, S. 399 – 430. Müller-Michaels, Harro: Drama. In: Praxis Deutsch 1978. H. 31, S. 13-18. Ostermeier, Thomas, Sasha Waltz, Jens Hillje, Jochen Sandig: Wir müssen von vorn anfangen. In: Die Tageszeitung, 20.1.2000. Stückwerk 1-3: Deutschsprachige Dramatik der 90iger Jahre. Berlin 1997- 2001 Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966. Tabert, Nils (Hrsg.): Playspotting. Die Londoner Theaterszene der 90er. Reinbek bei Hamburg 1998. Toepfer, Nina: Gegenwart und Gegenwelten. Neumarkt. Eine Erfolgsgeschichte. In: Theater Neumarkt Zürich: „Top Dogs“ – Entstehung – Hintergründe – Materialien. Zürich 1997, S. 65-80. Waldmann, Günter: Produktiver Umgang mit dem Drama. Eine systematische Einführung in das produktive Verstehen traditioneller und moderner Dramenformen und das Schreiben in ihnen. 2., korrigierte Auflage. Baltmannsweiler 1999. Weber, Richard : Neue Dramatiker in der BRD. In: Horst A. Glaser (Hg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte. Bern/Stuttgart/Wien 1997, S. 407 – 424. 17 Clemens Kammler (Essen) Handout zum Thema: „Zeitgenössische Theaterstücke im Unterricht“ Zu 1 ( Tendenzen des zeitgenössischen Dramas / Zur schulischen Rezeption) Müller, Matthias: Zwischen Theater und Literatur. Notizen zur Lage einer heiklen Gattung. In: Richard Weber (Hg): Deutsches Drama der achtziger Jahre. Frankfurt / Main 1992, S. 399 – 430. Müller weist den problematischen Status des Gegenwartsdramas an Schule und Hochschule detailliert nach – u.a. anhand einer Analyse der Richtlinien sämtlicher Bundesländer. Sein Fazit: zeitgenössische Dramatik ist ein „Stiefkind der literarischen Sozialisation“ (S. 410). Kammler, Clemens / Surmann, Volker: Sind Deutschlehrer experimentierfreudig? Ergebnisse einer Befragung zurr Lektüre von Ganzschriften der Gegenwartsliteratur in der Sekundarstufe II. In: Der Deutschunterricht 6 / 2000, S. 92 ff. Befragt wurden alle Sek.-II- Deutschlehrer an Bielefelder Schulen ( insgesamt: 123). Die Rücklaufquote lag bei 50, 2 %. Insgesamt wurde ein starkes Interesse der Kolleginnen und Kollegen an der Prosa der Gegenwart deutlich. Allein die drei „Spitzenreiter“ (Schlink: Der Vorleser, Süskind: Das Parfüm und Schneider: Schlafes Bruder) wurden von den Befragten insgesamt bereits über 60 Mal im Unterricht eingesetzt. Unter den 68 Ganzschriften der achtziger und neunziger Jahre, die im Unterricht behandelt wurden, war allerdings kein einziges Drama. Der aus den vorliegenden - nicht-repräsentativen - Untersuchungen gewonnene Befund, dass das Drama der Gegenwart im Deutschunterricht kaum eine Rolle spielt, lässt sich auch durch die Titel und Verkaufszahlen einschlägiger Reihen der Schulbuchverlage belegen. Damit sei nicht ausgeschlossen, dass es in der Praxis immer wieder Ausnahmen von der Regel und auch regionale Unterschiede in der schulischen Rezeption des Gegenwartsdramas gibt. Z.B. ist davon auszugehen (und es lässt sich teilweise belegen), dass Heiner Müller an ostdeutschen oder Thomas Bernhard an österreichischen Schulen stärker rezipiert werden als in Westdeutschland. Waldmann, Günter: Produktiver Umgang mit dem Drama. Eine systematische Einführung in das produktive Verstehen traditioneller und moderner Dramenformen und das Schreiben in ihnen. 2., korrigierte Auflage. Baltmannsweiler 1999. Ausgezeichnetes Kompendium produktionsorientierter Methoden des Dramenunterrichts. Ausführlich angewandt werden die Methoden auf Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“. Das Buch enthält auch ein Kapitel zur „Erkundung von Formen des Dramas der Gegenwart“, das nach Waldmann „die Formen des konventionellen Dramas (...) destruiert und mit Hilfe dieser Dekonstruktion die geistige Situation und das Lebensgefühl der Gegenwart darstellt“ (S. 194). Allerdings werden hier lediglich sehr kurze Textsequenzen aus unterschiedlichen Stücken exemplarisch mit „produktiven Methoden“ bearbeitet. Im Zusammenhang führt Waldmann sein methodisches Konzept bezeichnenderweise nur an Dürrenmatts Stück vor. Weber, Richard : Neue Dramatiker in der BRD. In: Horst A. Glaser (Hg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte. Bern/Stuttgart/Wien 1997, S. 407 – 424. Lehmann, Hans-Thies : Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999. Lehmanns 500 Seiten umfassende Arbeit untersucht unterschiedlichste Varianten und Erscheinungsformen dessen, was er „postdramatisches Theater“ nennt. Dabei geht es sowohl um den postdramatischen Text als auch um postdramatische Inszenierungspraxis. Wichtig ist die Abgrenzung des Begriffs „postdramatisch“ gegen den der „Postmoderne“: „Viele Züge der Theaterpraxis, die man postmodern nennt – von der scheinbaren oder wirklichen Beliebigkeit der Mittel und zitierten Formen über die unbefangene Verwendung und Verkoppelung heterogener Stilzüge, vom ‚Theater der Bilder’ bis zu Mixed Media, Multimedia und Performance – bekunden keineswegs eine prinzipielle Abwendung von der Moderne, wohl aber von Traditionen der dramatischen Form. Das gleiche gilt für zahlreiche mit dem Etikett ‚postmodern’ versehene Texte von Heiner Müller bis Elfriede Jelinek. Wenn der Ablauf einer Geschichte mit ihrer internen Logik nicht mehr das Zentrum bildet, wenn Komposition nicht mehr als eine organisierende Qualität (...) empfunden wird, (...), so steht das Theater konkret vor der Frage nach Möglichkeiten jenseits des Dramas, nicht unbedingt jenseits der Moderne.“ (S. 29) Für Lehmann gehören das Theater des Absurden wie das Brechts, Frischs oder Dürrenmatts zur dramatischen Theatertradition: „Das für das dramatische Theater kennzeichnende Geflecht von Textdominanz, Figurenkonflikt und Totalität einer wie auch immer‚grotesken ‚Handlung’ und Weltabbildung bleibt intakt.“ (S. 87) Das „postdramatischen Theater“ dagegen sagt „dem so lange unangefochtenen Kriterium der Einheit und 18 Synthesis ab und überlässt sich der Chance (und der Gefahr), einzelnen Impulsen, Teilstücken und Mikrostrukturen von Texten zu vertrauen(...).“ (S. 92 f) Lehmann konstruiert allerdings keinen absoluten Gegensatz zwischen „dramatischem“ und „postdramatischem“ Theater, sondern konstatiert Übergänge, eine „Stufenleiter der Radikalität“ (S. 114) des Postdramatischen. Im Vergleich zu einem Text wie Heiner Müllers „Bildbeschreibung“, der Lehmann als Paradebeispiel des Postdramatischen gilt (vgl.S. 30), ist Urs Widmers „Top Dogs“ sicher weitaus weniger „radikal“, weil hier immerhin noch ein rekonstruierbarer Handlungsrahmen gegeben ist. Kammler, Clemens: Das kommt nach Frisch und Dürrenmatt. Ergebnisse einer Befragung von Theaterintendanten zum Thema „Gegenwartsdrama und Schule“. In: Der Deutschunterricht 2/2001 , S. 84-87. .Die Befragung wird seit Frühjahr 2000 an deutschen Theatern durchgeführt. Beteiligt haben sich bisher: Bayerisches Staatsschauspiel München, Berliner Ensemble, Berliner Schaubühne, Grips Theater Berlin, Stadtheater Bielefeld, Junges Theater Bremen, Westfälisches Landestheater Castrop-Rauxel, Stadttheater Dortmund, Staatsschauspiel Dresden, Düsseldorfer Schauspielhaus, Theater Erfurt, Grillo-Theater Essen, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Staatstheater Kassel, Bühnen der Stadt Köln, Schlosstheater Moers, Städtische Bühnen Münster, Rheinisches Landestheater Neuss, Schillertheater NRW, Westfälische Kammerspiele Paderborn, Staatstheater Stuttgart. Gefragt wurde nach Theaterstücken der achtziger und neunziger Jahre, die für junge Leserinnen und Leser bzw. Zuschauerinnen und Zuschauer zwischen 16 und 20 Jahren (also die Altersgruppe der Sekundarstufe II) besonders geeignet seien, und zwar sowohl nach deutsch- als auch nach fremdsprachigen Stücken. Außerdem konnten die Befragten sich in einem Text von beliebiger Länge zur Frage „Was kommt nach Frisch und Dürrenmatt?“ und zur didaktischen Misere des Gegenwartsdramas äußern. Die - vielschichtigen - Reaktionen können hier nicht im einzelnen wiedergegeben werden. Die deutliche Präferenz für Autoren wie Ravenhill, Kane und von Mayenburg (deren Stücke insgesamt 33 Mal vorgeschlagen wurden), deutet schon jetzt auf ein erstes signifikantes Ergebnis der Befragung hin. Zum Vergleich: Widmers „Top Dogs“ kam bisher auf vier Nennungen, Walshs „Disco Pigs“ auf sieben. Nur je zwei Mal wurden Stücke von Heiner Müller und Botho Strauß, etwas häufiger dagegen solche von Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Rainald Goetz und Werner Schwab vorgeschlagen. Die Untersuchung dauert noch an. Zu 2 ( Stücke für den Deutschunterricht. Auswahlkriterien und Übersicht) Ostermeier, Thomas, Sasha Waltz, Jens Hillje, Jochen Sandig: Wir müssen von vorn anfangen. In: Die Tageszeitung, 20.1.2000. Der Text ist eine Art Manifest der zu Beginn des Jahres neu angetretenen künstlerischen Leitung der Berliner „Schaubühne“. Thomas Ostermeier, der künstlerische Leiter im Bereich Schauspiel, hat wesentlich zur „Entdeckung“ Kanes und Ravenhills beigetragen, deren Stücke er am „Deutschen Theater“ in Berlin und am „Hamburger Schauspielhaus inszeniert hat. Gespräche mit Sarah Kane und Mark Ravenhill, abgedruckt in: Playspotting. Die Londoner Theaterszene der 90er. Hrsg. v. Niels Tabert. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 8-22 (Kane) und 66 – 78 (Ravenhill). Theaterstücke, auf die Bezug genommen wird: Brussig, Thomas: Helden wie wir Dobbrow, Dirk: Legoland Hübner, Lutz: Das Herz eines Boxers Hübner, Lutz: Creeps Hübner, Lutz: Winner & Loser Jelinek, Elfriede: Totenauberg Kane, Sarah: Gesäubert Kane, Sarah: Zerbomt Kroetz, Franz-Xaver: Ich bin das Volk Loher, Dea: Tätowierung Ludwig, Volker: Café Mitte Ludwig, Volker: Linie 1 Mueller, Harald: Totenfloß Müller, Heiner: Germania 3. Gespenster am toten Mann Müller, Heiner: Hamletmaschine Oberender, Thomas: Nachtschwärmer Pohl, Klaus: Karate-Billy kehrt zurück Ravenhill, Mark: Shoppen und Ficken Reza, Yasmina: Kunst Strauß, Botho : Die Zeit und das Zimmer Tabori, Georges: Mein Kampf 19 von Mayenburg, Marius: Feuergesicht Walsh, Enda: Disco Pigs Widmer, Urs: Top Dogs Williams, Nigel: Klassenfeind Zaimoglu, Feridun: Kanak Sprak (Theaterfassung: Junges Theater Bremen) Zu 3 (Lektürevorschläge) „Top Dogs“ wurde am 14. Mai 1996 im „Theater am Neumarkt“, Zürich uraufgeführt. Als Einzelausgabe ist es erschienen im „Verlag der Autoren“ (Frankfurt am Main 1997), außerdem in: Spectaculum 64 (Frankfurt am Main 1997). Das Stück wurde 1997 mit dem Mülheimer Theaterpreis ausgezeichnet, Widmer wurde im gleichen Jahr für „Top Dogs“ von der Zeitschrift „Theater heute“ zum „Theaterautor des Jahres“ gekürt. In der Saison 1997/98 (neuere Zahlen liegen noch nicht vor) gab es im gesamten deutschsprachigen Raum acht Inszenierungen mit insgesamt 203 Aufführungen von „Top Dogs“ (vgl.: Wer spielte was? Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins 1997/98. Köln 1999). Gerhard Jörder: Die Globalisierung frißt ihre Kinder. Preisrede auf „Top Dogs“ beim Berliner Theatertreffen. In: Theater heute. Jahrbuch 1997, S. 113-116. Theater Neumarkt Zürich: „Top Dogs“. Entstehung – Hintergründe – Materialien. Zürich 1997. Der Band enthält u.a. einen Essay von Urs Widmer zur Entstehung des Stückes, Pressestimmen und einen Beitrag von Nina Toepfer über die „Erfolgsgeschichte“ des Stückes. Halter, Martin: Warte uff de Godot. Feuerwehrmann der Utopie: Urs Widmer als Theaterautor. In: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Heft X/98: Urs Widmer, S. 30-39. Dieser – in meinem Vortrag nicht erwähnte – Beitrag geht nur kurz auf „Top Dogs“ ein und würdigt das Stück nicht nur als Widmers „bestes Stück“, sondern auch als „zukunftweisende(s) Modell politischen Theaters“ (S. 39). Allerdings halte ich die hier vorgeschlagene Lesart der „Märchen bzw. der „Utopie vom Menschen“ für angreifbar. Hier werde – so Halter – „dem Ist-Zustand ein utopisches Sollen entgegen(ge)setzt“ (ebda.). In meinen Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern jedenfalls spielte diese Lesart eine untergeordnete Rolle. Dort war von „satirischer Entlarvung“ der Utopie und von einer „Dekonstruktion“ der Märchen die Rede. Man kann „Top Dogs“ m. E. als den Versuch interpretieren, die Forderung Adornos an das politische Drama einzulösen: nämlich dieses „auf Kosten des eigentlichen Dramatischen“ , auf Kosten des dramatischen Charakters, „der aus den souveränen Kräften seiner Individualität (...) die dramatische Handlung hervorbringt“, von den „Subjekten auf die Objekte“ zu verschieben. Dies – so Adorno - habe Brecht in „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ versucht, sei dabei aber „noch nicht weit genug gegangen“: „Sie (die Subjekte; C.K.) sind unvergleichlich mehr zu Objekten geworden, als er sichtbar werden lässt.“ (Theodor W. Adorno: Offener Brief an Rolf Hochhuth. In: Adorno: Noten zur Literatur IV, S. 137-146, Zit. S. 141 f.) Wichtige Informationsquellen zum Thema „Neue Theaterstücke“ Neben der Zeitschrift „Theater heute“, die in jedem Heft ein neues Theaterstück abdruckt und in der sich auch viele der hier erwähnten Texte finden lassen und der im Suhrkamp-Verlag erschienenen Reihe „Spectaculum“ gibt es Reihen für aktuelles Theater in verschiedenen Verlagen (u.a. Rowohlt, Verlag der Autoren , Suhrkamp). Die Publikationslage ist also gar nicht so schlecht, wie oft behauptet wird. Zur ersten Orientierung eignen sich: Fangauf, Hennig / Frisch, Hans: Jugendtheaterstücke. 40 ausgewählte und kommentierte Stücke. Ein kleiner Schauspielführer. Hrsg. Vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main 2002. ( Kann dort bestellt werden. Adresse: Schützenstraße 12 / D-60311 Frankfurt am Main ) Der Schauspielführer hat die Form einer Loseblattsammlung, die ständig aktualisiert wird. Kienzle, Siegfried: Schauspielführer der Gegenwart. 200 Autoren und 1148 Stücke. 6., stark erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart 1999 (enthält Artikel über deutsch- und fremdsprachige Dramen mit einem deutlichen Schwerpunkt bei den 80iger und 90iger Jahre). Stückwerk: Deutschsprachige Dramatik der 90iger Jahre. Berlin 1997 (Informationen über neueste DramatikerInnen und ihre Stücke).