Funktionen der Gewaltanwendung

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Funktionen der
Gewaltanwendung
Gewalttätiges und aggressives Verhalten wird in den wenigsten Fällen nur sinnlos angewandt,
auch wenn es auf den ersten Blick so erscheinen mag. Gewalt erfüllt verschiedene psychische und
soziale Funktionen, macht auf Probleme aufmerksam und hilft bei der Selbstinszenierung. Dabei
geht es immer wieder auch um kollektive Verhaltens- und Deutungsmuster.
Jugendgewalt als Männlichkeitsbeweis
Bei der Darstellung von Männlichkeit gibt es kulturübergreifende Merkmale. Dies sind z.B. die
Betonung und öffentliche Zurschaustellung von Mut und Kampfbereitschaft, die Betonung von
Kompetenz im Umgang mit Motorfahrzeugen, Maschinen und Waffen (etwa bei gefährlichen
Fahrten oder Diebstahl) sowie die Betonung von Tugenden wie Zuverlässigkeit und Kameradschaft
(„Einer für alle, alle für einen“). Desweiteren gehört dazu auch die Betonung von heterosexueller
Potenz bei gleichzeitigem Frauenhass und Schwulenverachtung (vgl. Kersten 2002).
Um der eigenen Bezugsgruppe die jugendliche Männlichkeit zu
beweisen und damit auch als „vollwertig“ akzeptiert zu werden, müssen durch spektakuläre
Handlungen Kampfbereitschaft und Mut demonstriert werden. Häufig ist bei solchen
Inszenierungen Alkohol im Spiel. Auch öffentliches Trinken von Jugendlichen kann als
Männlichkeitsdarstellung verstanden werden. Bei gewaltorientierten Jugendlichen ist Alkohol jedoch
nicht primär Ursache für Ausschreitungen, sondern eher Stimulans und Motivationsmittel.
Jugendgewalt als Kommunikationsmittel
„Für die randalierenden Jugendlichen ist Gewalt Ausdruck einer verzweifelten Situation und einer
bedrängten Gefühlslage. Sie ist für sie gleichzeitig auch ein legitimes Mittel der Durchsetzung von
Forderungen, nachdem andere offenbar versagt haben oder ihnen versagt blieben.“ Diese Einsicht
formulierte die Eidgenössische Kommission für Jugendfragen bereits Anfang der 80er Jahre auf
dem Hintergrund zunehmender Jugendkrawalle in der Schweiz. Gewaltakte Jugendlicher können
auch als Aufschrei oder als Versuch interpretiert werden, auf die eigene Situation aufmerksam zu
machen. Sie sind Ausdruck einer sprachlos gewordenen, destruktiven Art der Kommunikation. Man
glaubt, sich mit anderen Mitteln nicht mehr Gehör verschaffen zu können.
Vor allem die Verweigerung einer befriedigenden Lebensperspektive macht viele Jugendliche ratlos
und radikalisiert sie zugleich. Hinzu kommen die Erfahrungen vieler Jugendlicher, dass sich die
Politik erst dann um ihre Fragen und Probleme vor Ort kümmert, wenn sie durch Zerstörungsakte
oder andere Gewalttaten unmissverständlich auf sich aufmerksam gemacht haben. Der Ausspruch
einer Jugendlichen bringt dies auf den Punkt: „Gewalt löst zwar keine Probleme, aber sie macht auf
sie aufmerksam.".
Gruppenzwänge Vieles der destruktiven Gewalt – im Kleinen wie im Großen – ist nicht
auf den schlechten Charakter einzelner Menschen zurückzuführen, sondern auf
subjektiv erlebte und/oder objektiv vorhandene Gruppenzwänge, auf die
Notwendigkeit, Normen und Regeln einzuhalten, und die Schwäche des Menschen, sich
nicht davon freimachen zu können. Wir dürfen es nicht den destruktiven Gruppen
überlassen, Wärme, Zuwendung und Anerkennung anzubieten, damit Menschen anzulocken
und mit ihrer Zustimmung Schindluder zu treiben. Wir sollten in der Erziehung nicht
nur Einordnung, sondern auch Widersetzlichkeit gegen erkennbares Unrecht explizit
einüben. Viel destruktive Gewalt wird dadurch verursacht/ erleichtert, dass
Menschen sich in der Gruppe verstecken können und die Normen der Gruppe kritiklos
als Handlungsmaßstab übernehmen.
Manfred Sader: Destruktive Gewalt. Möglichkeiten und Grenzen ihrer Verminderung.
Weinheim und Basel 2007, S. 83 f.
Jugendgewalt als Mittel gegen Langeweile und Frust
Jugendliche wollen (zumindest zeitweise) der Eintönigkeit und Langeweile des Alltags entfliehen.
Sie suchen den Nervenkitzel. Sie wollen, dass „etwas los ist“, „etwas passiert“. Und sie inszenieren
sich diesen Nervenkitzel selbst. Solche Unternehmungen, wie z.B. das „S-Bahn-Surfen“ oder
illegale Autorennen beinhalten immer auch selbstzerstörerische Elemente. Das Risiko, selbst
geschädigt oder verletzt zu werden, wird dabei bewusst in Kauf genommen. Die Grenzen zwischen
dem Erleben von Risikosituationen und der Anwendung von Gewalt sind dabei fließend. Eigene Gewalthandlungen werden von den betreffenden Jugendlichen oft als faszinierend oder sogar als
rauschartiger Zustand erlebt. „Eins ist sicher – das ist besser als ein Krimi“ oder: „Da kommt man
in so einen Rausch hinein, bei dem es keine Grenzen mehr gibt“, berichten jugendliche Täter.
Schlägereien von Hooligans und Ultras am Rande von Fußballspielen oder eben auch „Ausländer
klatschen“ sind für eine Reihe von Jugendlichen zu Möglichkeiten geworden, der Gleichförmigkeit
des Alltag zu entfliehen und gleichzeitig Gruppenidentität zu erleben.
Jugendgewalt als Gegengewalt
Viele Jugendliche, die zur Gewalt greifen, haben selbst Gewalt in unterschiedlichen Formen erlebt,
im Elternhaus oder auf der Straße. Sie fühlen sich als Geschlagene, die nun zurückschlagen. Für sie
ist die Gewaltanwendung die wirksamste und radikalste Gegenwehr. Gewaltanwendung ist für sie
nicht Selbstzweck oder Zerstörungswut, sondern eine legitime und subjektiv sinnvolle
Konfliktlösungsstrategie. Diese Jugendlichen wenden Gewalt in den meisten Fällen nicht blind an,
sondern gezielt gegen Objekte oder auch Personen, die ihnen als Symbole der Ursachen ihrer
eigenen Misere erscheinen. Denn wenn die Gesellschaft sie nicht braucht, dann brauchen sie die
Gesellschaft auch nicht.
Jugendliche gehörten häufiger zur Gruppe der Gewalttäter, wenn sie
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Hauptschulen bzw. Real- oder Gesamtschulen besuchten,
gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen zustimmten,
ein unbeständiges Temperament hatten,
häufiger gewalttätige Computerspiele spielten,
Eltern haben, die Gewalt nicht missbilligen,
elterliche Gewalt erleben mussten,
Bekanntschaft mit delinquenten Freunden machten, selbst Opfer von Gewalt
geworden sind,
häufig die Schule schwänzten,
häufig Alkohol konsumierten.
Vgl. Dirk Baier/Christian Pfeiffer: Gewalttätigkeit beideutschen und nichtdeutschen
Jugendlichen. Befunde der Schülerbefragung 2005 und Folgerungen für die Prävention.
Forschungsbericht Nr. 100 des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen.
Hannover2007, S. 36-39.
Jugendgewalt als politisch instrumentalisierte Gewalt
Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele wird nur von einer kleinen Minderheit aller
Jugendlichen akzeptiert. Dennoch haben eine Reihe von jugendlichen Gewalttaten einen
eindeutigen politischen Hintergrund. Vor allem rechtsextreme Gruppierungen inszenieren bewusst
Gewaltakte gegen Fremde oder gegen gesellschaftliche Minderheiten wie Behinderte und
Homosexuelle. Die Gewalttaten werden mit rechtsextremen Ideologien der Ungleichheit (Menschen,
Völker, Kulturen sind ungleich und deshalb auch ungleichwertig) begründet. Rechtsextreme
Gewalttäter sind zudem häufig der Ansicht, dass sie stellvertretend für die als lasch empfundene
Gesamtgesellschaft handeln, und sie werden bei entsprechender Bestrafung von den anderen
Gruppenmitgliedern als Märtyrer gefeiert. Die Begeisterungsfähigkeit Jugendlicher kann hier leicht
für politischen Extremismus missbraucht werden. Wenn Jugendliche Gewalt anwenden, so hat dies
jedoch in den seltensten Fällen einen ideologischen Hintergrund (vgl. Kap. 4.4).
Fehlendes Unrechtsbewusstsein
Es geht um Anerkennung und Selbstwertgefühl, um „Spaß“, Abenteuerlust, um
unmittelbare Bedürfnisbefriedigung und unmittelbares körperliches Ausagieren, sei
es zum Frustabbau oder als Selbstjustiz („Schlägst du mich, schlag ich dich!“),
aber auch um Langeweile und – vor allem in jüngeren Jahren – um fehlendes
Unrechtsbewusstsein.
Werner Maschke: Stimmt das Schreckgespenst von den„gewalttätigen Kids“? Kinder- und
Jugenddelinquenz. In: Der Bürger im Staat, Heft 1/2003, S 19.
Die Faszination der Gewalt
Gewalt wirkt auf Kinder und Jugendliche deshalb oft so faszinierend, weil sie in unklaren und
unübersichtlichen Situationen Eindeutigkeit schafft. Durch die Gewalthandlung wird (scheinbar)
klar, wer der Stärkere und wer der Schwächere ist, es wird (scheinbar) klar, mit welchen Mitteln
Probleme zu lösen sind, und wie man (scheinbar) das erreicht, was man sich wünscht. Gewalt wird
so als erfolgversprechendes Mittel eingesetzt, um die eigenen Interessen durchzusetzen, auch
wenn sie die überwindung der eigenen Ohnmacht nur für kurze Augenblicke ermöglicht und somit
nur vortäuscht. Gewalt ist gleichzeitig auch ein Mittel, um Beachtung und Aufmerksamkeit in der
eigenen Gruppe oder Clique, aber auch Anerkennung in der gesellschaftlichen öffentlichkeit zu
erlangen. Gewalt ermöglicht nicht zuletzt, den eigenen Körper zu erleben und eine innere
Spannung und Erregung zu erfahren, die ansonsten kaum mehr möglich sind.
Es geht also auch darum, Gewalt nicht nur als blindes dumpfes Handeln zu betrachten, sondern
ihre subtile Sprache entziffern zu lernen.
Versagen der Politik Ein tieferes Nachdenken stößt auf das wohl größte Versagen der
Politik: auf die noch immer horrende Jugendarbeitslosigkeit und auf eine völlig
unzureichende Integration junger Ausländer.
Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung, 9.1.2008.
Hauptmerkmal soziale Bindungslosigkeit
In der kriminologischen Forschung konnten, wie das Düsseldorfer Gutachten
ausführt, alle Persönlichkeitsuntersuchungen an kriminellen Jugendlichen
zeitübergreifend und transkulturell im Zusammenhang mit kriminellen
Entwicklungen signifikant wirksame Merkmalsbündel feststellen, die man als
„anomisches Syndrom sozialer Bindungslosigkeit“ bezeichnet und in dessen
Kontext die Familie eine wichtige Rolle spielt. Zu diesen Merkmalen
gehören:
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funktional gestörte Familie;
wechselndes Erziehungsverhalten;
fehlende Kontrolle über den Jugendlichen;
wiederholter Wechsel der Bezugspersonen und/oder des Ortes;
Zurückbleiben und erhebliche Auffälligkeiten in der Schule;
Herumstreunen;
schulisches und berufliches Scheitern;
häufiger Wechsel der (Gelegenheits-)Arbeitsstellen;
Freizeit mit offenen Abläufen;
Fehlen von tragenden menschlichen Beziehungen;
intergenerationeller Abstieg.
Das anomische Syndrom ist gekennzeichnet durch das Globalmerkmal sozialer
Bindungslosigkeit, das sich insbesondere in den Brennpunkten sozialen
Integrationsgeschehens – Familie, Schule und Arbeit – zeigt. Hier wird
wiederum auch die Bedeutung der Familie für Gewaltprävention deutlich.
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