Kein Staat mit „Kiezpolizei“ Die Lage ist fatal: Das Sicherheitsbedürfnis in der Gesellschaft steigt, die öffentlichen Haushalte schmelzen. Nach dem Siegeszug betriebswirtschaftlichen Denkens scheinen zwei Auswege wohlfeil zu sein: Privatisierung und Dezentralisierung. An die Privatisierung hat sich das Publikum bereits gewöhnt. „Schwarze Sheriffs“ tauchen vielfach in der Öffentlichkeit auf: in Einkaufszonen, vor Nobelherbergen, in öffentlichen Verkehrsmitteln. Ihr Erscheinungsbild ist martialisch, und wem fällt noch auf, dass der Rechtsstaat hier ein Stück seiner Substanz – altmodisch formuliert: seiner „Hoheit“ – dem Kommerz verscherbelt hat? Die Unternehmensberater und die messianischen Betriebswirte jubeln, denn die „private Polizei“ ist billiger als die staatliche. Dass der soziale Status der bei den privaten Sicherheitsdiensten Beschäftigten dadurch auch billig ist, interessiert indes niemanden. Auch die Dezentralisierung ist bereits Praxis: In vielen Gemeinden Deutschlands gibt es schon die „Kiezpolizei“. Schlechter als richtige Polizisten ausgebildete, ausgestattete und bezahlte Angestellte der Kommunen sollen den Landesbeamten diverse Ordnungsaufgaben abnehmen – zur Beruhigung der Bürger und zur Entlastung der öffentlichen Kassen. Manche Kommunalpolitiker bekommen Hochgefühle: Erhalten sie doch nun nach all den Kompetenzabzügen ein kleines Stückchen richtige Macht. Ihre Angestellten können Personalien feststellen, verhaften, Schlagstöcke, Handfesseln und mancherorts sogar Pistolen - „tragen“. „Tragen“ und nicht „einsetzen“? Dass so etwas geht, glaubt niemand – Freunde der Kiezpolizei nicht und deren Gegner ebenfalls nicht. All das ist Verlust politischer Kultur des Rechtsstaates. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts hatte Max Weber eine Begründung des Rechtsstaates darin gesehen, dass dieser zur Gewähr der Sicherheit der Bürger das Monopol auf legitime physische Gewaltanwendung habe. Denn der Staat ist an Recht und Gesetz gebunden, seine Organe wie Justiz und Polizei sind geschult und an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel gebunden. Die Webersche Erkenntnis markiert einen Stand rechtstaatlichen Niveaus, das seitdem immer wieder unterschritten wurde: Der Nationalsozialismus koppelte seine Gewaltanwendung von Recht und Gesetz ab und ordnete sie einem verbrecherischen „Führerwillen“ unter. Aber auch nach dem dadurch bewirkten Desaster wird der Webersche Grundsatz in und von Rechtsstaaten verletzt. So musste der heute beliebteste Politiker Deutschlands eine Metamorphose vom Polizistenschläger zum Staatsmann im Dreiteiler durchmachen, um den Weberschen Erkenntnisstand zu erreichen. So gibt es heute demokratisch legitimierte Regierungen, die sich das Recht zum Töten ohne Gericht und Urteil herausnehmen oder die Gefangenen jegliche Menschenrechte schlicht verweigern. Und in Deutschland fordert die nach ihrem Spendenskandal wieder auftrumpfende Union, Militär im Landesinnern einzusetzen. Derweil erfahren die Bürger über die Medien von der Gefahr des Terrorismus und sie erleben im Alltag die bedrohliche Gewalt von Dränglern, Pöblern oder Schlägern mit und ohne Kampfhunden. Sie erwarten von ihrem Staat mehr Sicherheit. Doch der untergräbt seine Autorität, wenn er in einer solchen Lage die Möglichkeiten einer guten Polizei reduziert. Wenn der Staat sein Monopol der legitimen Gewaltanwendung aufgibt, es verhökert oder es an minder qualifizierten Institutionen als Polizei und Justiz überträgt, gefährdet er das Fundament seiner moralischen Legitimation. Die Garantie der Sicherheit seiner Bürger ist seit langem ein Grund für die Existenz von Staaten, und diese Sicherheit gehört zu den wenigen staatlichen Leistungen, die er bringen muss und auch nicht fiskalisch relativieren kann, wenn er nicht seine eigne Basis gefährden will. In Berlin nun soll gerade dezentralisiert werden. Die Einzelheiten hierzu beraten bemerkenswerter Weise nicht die Parteien, sondern die Verwaltungen. Obwohl Berlin eine Einheitsgemeinde ist, hat der Spardrang nun auch hier die Idee einer Kiez- oder Billigpolizei virulent werden lassen. Zwar ist es Grundlinie der Berliner Politik, von Eigenständigkeit der Bezirke zu reden, während man sie mehr und mehr kujoniert. Aber wenn sich dadurch sparen lässt, dann sollen die Bezirke doch Ordnungsämter bekommen, deren Mitarbeiter auch auf Straßen und in Parks präsent sind, um dort diejenigen zu ermitteln, die gegen Vorschriften und Gesetze verstoßen: ihre Hunde nicht an die Leine nehmen, falsch parken, auf öffentlichem Land campieren, anderer Eigentum beschmieren, Bürger belästigen oder sonst wie das Zusammenleben stören. Das soll die Kiezpolizei tun. Die ist aber keine Polizei, sondern eine Truppe Minderqualifizierter. Während die Parteien zu dem Thema palaverten oder einfach schwiegen, hatte der Innensenator ursprünglich vorgeschlagen, die Kiezpolizei nur mit Pfefferspray auszustatten und sie in die Lage zu versetzten, im Konfliktfall schnell die richtige Polizei herbei rufen zu können. Doch da hatte der Senator nicht mit den geschundenen Seelen der Bezirksbürgermeister gerechnet: Ihnen, denen man Kompetenzen auf Kompetenzen entreist, kam die Idee mit der Kiezpolizei gerade recht. Unterstützt vom Fußvolk der CDU, rechten Sozis und PDSlern sowie manchen Scheinliberalen glauben sie nun, endlich etwas in die Hand zu bekommen. Aber dann, so sagte also die Mehrheit der Bezirksbürgermeister, müssen unsere Leute „zur Selbstverteidigung“ auch Schlagstöcke bekommen und Handschellen. Der Innensenator knickte ein, und das Fußvolk der Parteien jubelte. Handfesseln zur Selbstverteidigung? Wieder einmal wird den Bürgern etwas vorgemacht. Minderqualifizierte werden ihre Sicherheit nicht besser schützen als die Polizei. Zwar wird der Fiskus etwas sparen, aber die sich in Berlin wie Gemeinden aufführenden Bezirke, die „Wurzeln der Demokratie“, wollen das Recht haben, ihren Bürgern mit Schlagstöcken und Handschellen entgegentreten zu können– angeblich als Selbstschutz der bezirklichen Angestellten. Warum machen die Bürgermeister eigentlich nicht gleich ganze Sachen und fordern Schlagstöcke und Handschellen auch für die Mitarbeiter der Sozialämter? Auch das Handwerk der rechtmäßigen Gewaltanwendung gegen Bürger, die das Recht verletzen, will gelernt sein. Darum bemüht man sich bei der Polizei seit Jahr und Tag. Dort hat man aus Fehlern gelernt, und man unterliegt der allgemeinen sowie vor allem der parlamentarischen Kontrolle. Wer soll eigentlich die Kiezpolizei ausbilden? Wer soll sie kontrollieren? Die Bezirksverordnetenversammlungen sind keine Parlamente, sondern Teile der Verwaltung. Kein Bürgermeister ist an deren Beschlüsse gebunden. Und welche Tageszeitung würde lieber über Fehlgriffe bezirklicher Angestellter in einem Volkspark schreiben als über die jüngste Party virtueller „Superstars“? Wieder fällt ein Gemeinwesen unter das von Max Weber formulierte rechtsstaatliche Niveau. In Berlin sehen sich manche Bezirksbürgermeister schon als kleine Polizeipräsidenten, nur werden sie keine für den heiklen gewaltsamen Umgang mit Bürgern geeignete „Polizei“ bekommen, sondern eine Sparversion, die den Fiskus zwar entlastet, den Bürgern vor Ort aber neue Unsicherheiten bringen wird. Mit der Billig- oder Kiezpolizei jedenfalls wird kein Staat zu machen sein. Jürgen Dittberner (27. März 2004)