Unikate Von den besonderen Fähigkeiten eines jeden Menschen Ein Plädoyer für Kunst mit Schülerinnen und Schülern, Alten, Migranten von Adriana Altaras Meine verehrten Damen und Herren. Ich danke Herrn Peer Martin für die Einladung, heute hier sprechen, und heute Abend aus meinem Buch lesen zu dürfen. Ich habe noch nie einen Kongress eröffnet, und es das erste Mal in Bozen, Bolzano tun zu dürfen, ist für mich etwas ganz Besonderes, denn ich bin in Mantova in die Elementarschule, am Gardasee in die Ferien gegangen, im Winter bei Meran in die Skiferien. Parallel dazu habe ich bei meinen Eltern in Deutschland gewohnt und bin auch dort in die Schule gegangen. Es gab also für mich nicht eine Heimat, sondern gleich mehrere, wie auch mehrere Sprachen, Kulturen, Gerüche, Essgewohnheiten, Fernsehprogramme. Ich hatte eigentlich von allem nicht zuwenig, sondern eher zuviel. Kennen Sie dieses Grundgefühl? „Wer bist du?“, fragte man mich in der Schule. Ich konnte nicht richtig antworten, auch nicht, als ich schon besser Deutsch als Italienisch sprach. Aber wer kann diese Frage schon eindeutig beantworten? Bitte tun Sie mir gleich zu Anfang einen Gefallen: Denken Sie bitte 1 Minute darüber nach, wer Sie sind. Italiener? Deutscher? Oder spielt die Nationalität gar keine solche Rolle? Frau? Mann? Macho? Skifahrer? Lehrerin? Bibliothekar? Geliebte? Rentner? Ein glücklicher Mensch? Und dann das große Wort „Heimat“! Was könnte denn das sein?? Bitte: Ich lasse Sie 1 Minute denken! Merken Sie sich bitte, was Sie denken - oder fühlen! Wenn Sie möchten, nehmen Sie sich einen Stift und schreiben Sie es auf. Und los!...... Ich danke Ihnen. Wir werden heute auf diesen Begriff „Heimat“, auf das, was Sie geschrieben haben, noch zurückkommen. Aber nun zum Thema meines Vortrages: UNIKATE. Von den besonderen Fähigkeiten eines jeden Menschen. Unikate. Was könnten das sein? Ein Unikat ist ein Einzelstück, etwas, das es nur einmal gibt – einmal als Original, alle weiteren Exemplare sind Kopien oder Fälschungen. Auf den Menschen bezogen hieße das: Menschen, die eigen sind. Die Originale sind. Menschen, die vielleicht nicht ganz in das übliche Schema passen? Die uns auffallen, weil sie sich nicht in das allgemeine Bild fügen können. Die Schwächen und Fähigkeiten haben, die man vielleicht zunächst einmal für unbrauchbar hält, für störend. Ein großes Thema unserer Zeit ist die Effektivität. Die Rentabilität. Der Erfolg. Ergebnisse in möglichst kurzer Zeit. Alles wird quantifiziert, es wird ein Strich darunter gezogen und bilanziert. 1 Das ist zwar verständlich. Bringt aber im letzten nichts. Denn der Mensch ist nicht so. Der Mensch ist eigen, zu langsam oder zu schnell, zu groß oder zu versponnen. Er ist eben ein Mensch und lässt sich nicht quantifizieren. Es bleibt immer ein unerfasster Rest. Das passt nun gar nicht in unsere Zeit, in unser westliches Weltbild. Passt aber, wenn wir ehrlich sind, auch nicht zum Menschen allgemein. Und zu originellen Menschen schon mal gar nicht! Denn wie verlaufen Biografien? Kann man ein menschliches Leben planen? Bilanzieren? Einstein hatte kein Abitur. Tja! Bernstein machte Konzerte für Kinder, in denen er die großen New Yorker Symphoniker unterbrach – unvorstellbar! -, um den Kinder die Musik zu erklären. Man kann diese Aufzeichnungen heute noch sehen. Es sind erhebende Momente, nicht nur für jeden Musikfreund. Mozart, ein infantiles Genie, komponierte seiner Zeit so voraus, dass er fast verhungert wäre. Kafka wäre gern in seiner Gesellschaft angekommen, schaffte es aber trotz aller Versuche nicht. Schiller kämpfte in einem brutalen Autoritätskonflikt mit seinem Vater und seinem Herzog Eugen und wurde doch der erste Schriftsteller, der auf dem freien Markt überlebte. Und von van Gogh wissen wir seinen Wahnsinn, dem aber der Wunsch nach Annerkennung vorausging, die ihm seine Umgebung komplett verweigerte. Die Gesellschaft hörte ihn nicht. Daraufhin schnitt er sich selbst ein Ohr ab. Georg Kreissler, genialer Texter und Komponist, gerade 89 Jahre alt, lebt zur Zeit in Salzburg. Seit jeher ein sehr politischer Mensch. Er wirbt für Rentner, die sich weiterbilden, lesen und Musik hören, die sich in die Politik einmischen, die mehr wollen als nur alt sein. Aktuell gibt’s da einen Steve Jobs, Ikone der MacIntosch Computer. Er bricht das College ab, fliegt aus seiner eigenen Firma...etc. Eine ungerade Biografie. Er lehrt seine Schüler: „stay hungry, stay foolish!“ - bleibt auf der Suche! Hört niemals auf, neugierig zu sein, euch für die Welt um euch herum zu interessieren. Die Liste dieser Biografien ist endlos. Nicht immer sind die Schicksale gleich. Haben verschiedene Ursprünge, andere Bedingungen. Aber sie haben etwas gemeinsam: Sie alle sind Persönlichkeiten, deren Begabungen, Träume, Visionen sich nicht beherrschen lassen von den Regeln und Forderungen der Zeit, der Gesellschaft, der Rentabilität. Ich möchte ihnen von meinem Erfahrungen erzählen. Und da ich meist im Theater und beim Film gearbeitet habe werden sie von dort handeln. Es ist zwar nur Theater, aber übertragbar ist es allemal. Übertragbar auf jeden Bereich. 2 Man hatte mich gebeten heute hier, einen gesellschaftskritischen Vortrag zu halten. Ich drehe es ein bisschen um und möchte ihnen nicht erzählen was alles nicht geht, sondern was alles geht, was alles möglich ist! Was komplett machbar ist dazu möchte ich sie anstiften. Was alles möglich ist mit den besonderen Fähigkeiten eines jeden Menschen. Heute möchte ich mich auf hyperaktive oder hochbegabte Kinder konzentrieren, auf alte Menschen, auf Personen mit Migrationshintergrund. Warum? Sie allen fallen besonders aus dem Rahmen. Aus der Normalität. Und Normalität was auch immer das sein soll, ist sehr gefragt. Schließlich gilt es einen Lehrplan zeitgerecht zu schaffen Schon nicht einfach. Pflegestufen einzuhalten, komplett unmöglich. Aber, wenn das nicht klappt gibt’s Ärger.... Alte stören das Tempo, das angesagt ist. Sie brauchen Betreuung, Pflege und vor allem Zeit. Und von den Migranten wollen wir erst gar nicht anfangen. Sie sprechen gewöhnlich eine Sprache aber die falsche... Also braucht man wieder Zeit.... Und Kinder die so zappelig sind, dass die Eltern, Großeltern die Nerven verlieren. Die Lehrer sie fortwährend rauschicken, um noch irgendwie den Unterricht abhalten zu können. Also wieder ein Zeitverlust. Integration sind die Themen der Zeit. Türkische Kinder müssen deutsch lernen. Natürlich. Aber dass sie schon eine andere Sprache können, dass sie schon mehrsprachig sind, vergisst man dabei gerne. Hyperaktive Kinder sollen endlich still sitzen, dass aber ihre Energie auch Motor ist für Kreativität scheint keiner wissen zu wollen. Wie nehmen wir die Qualitäten dieser einzelnen Individuen auf? Nutzen ihre Stärken statt sie zu zerstören? Ich selber habe einiges von alledem. Habe einen waschechten Migrationshintergrund. Bin extrem zappelig. Habe wenig Zeit. Wenn ich mich vorstellen darf: Adriana Altaras. Schauspielerin gelernt, als solche jahrelang tätig, dann Regisseurin geworden. Jetzt schreibe ich. Geboren in Zagreb Kroatien. Aufgewachsen in Mantova Lombardei. Verheiratet mit einem deutschen Komponisten. 2 Söhne. Viel vor, wenig Zeit. Als Schauspielerin war ich immer nicht deutsch genug. Ich drehte viel, aber immer den Underdog, immer die Ausländerin, die zum Putzen nach Deutschland gekommen ist. Ich hatte in den Filmen viele Kinder, war arm oder ein Verbrecher. Dass es in unserer Gesellschaft inzwischen etwas anders aussieht schien keinen Redakteur zu interessieren. Als man mir eines Tages die Rolle des Opfers anbot, das Opfer hatte weder Vornoch Zunamen, sondern hieß einfach Opfer, wurde es mir zu bunt, ich lehnte ab. Als Regisseurin war ich zu lustig. Zu schnell. Mir gefiel Rossini viel besser als Wagner. Das Unterhaltende, Schnelle weitaus mehr als das Betrüblich Behäbige. In Deutschland Komödie machen zu wollen ist an sich schon verdächtig. Weniger vor dem Publikum, mehr vor dem Feuilleton. 3 Eine Schauspielerin, die anfängt Rollen abzusagen und inszenieren zu wollen ist nicht koscher. Eine Regisseurin, die sich ihre Stücke selber schreibt. Absurd. Wozu? Es gibt doch genug gute alte Stoffe! Immer passte mir irgendetwas nicht. Wieder wollte ich zuviel. Oder was anderes. Zu viele Sprachen zu viele Identitäten, zu viel Tempo. Aber vor allem zu viel Neugierde. Jahrelang spielte ich Theater. Sie man das so macht. Stücke lesen. Text lernen. Spielen. Aber irgendwann war mir das nicht mehr genug. Theater musste mehr sein als nur die Klassiker nachspielen. Es gab Themen, die einem auf den Nägel brannten. Die Großstadt jedenfalls war voll davon: die Einsamkeit, die Armut, die ausgegrenzten Behinderten. Aber auch die Sehnsüchte aller Art, die Liebe, die Reiselust. Weg zu wollen aus dem Dasein Großstadt. Es gab so viel zu erzählen. Große und kleine Themen. Ich fing an die Stücke selber zu verfassen. Den Schauspielern zu geben, um sie mit ihnen auszuprobieren. Verändern wo nötig. 3 Beispiele seien hier als kleiner Exkurs angeführt: Meistens kam man auf mich zu, von den diversen Theatern, wenn man was Neues wollte: Einen Abend über Julia Timoshenko, zum Beispiel, Politikerin aus der Ukraine, Oligarchin, die es mit allen Männern aufnahm, nicht gerade zimperlich. Bisher kannte ich nur ein Foto von ihr auf der Vorderseite der Elle: eine schöne Frau mit einem merkwürdigen Kranz auf dem Kopf. Was war das für eine Type? Was war das für eine Land? Was passierte mit der Bevölkerung dort? All das gab es zu entdecken. Und ich legte los. Aber das Theater, Potsdam wurde gerade frisch gebaut. War natürlich zur geplanten Eröffnung noch nicht fertig. Also entschieden wir uns eine Art Theaterführung zu machen, auf der Baustelle. Und an den jeweiligen Stationen anzuhalten und Szenen aus dem Leben der Frau Timoshenko zu spielen. Ihren Erfolg als Oligarchin im Gasometer, der direkt vor dem Theater stand. Ihre Einkerkerung im Heizungskeller des Theaters, die Sauna der großen Parteibonzen in den Werkstätten. Erst zum Schluss kamen wir in den Theatersaal, den wir zum Parlament deklarierten... Warum beschreibe ich ihnen das alles? Ich möchte sie vorsichtig auf eine Reise durch die Möglichkeiten der Kunst nehmen. Wir fangen langsam an, wir werden uns steigern. Versprochen. Eine andere Anfrage war, einen Abend zu machen über Karl Heinz Jahnke, Erfinder, Schizophren. Lebte 30 Jahre in einer Psychiatrie in der DDR, doppelt eingesperrt. Nach seinem Tode fand man die Aufzeichnungen seiner Erfindungen und begriff, dass er ein Genie war. Krank vielleicht, aber seine Projekte wären baubar gewesen. Eine Mondlang nicht ausgeschlossen. Wener von Braun, machtbewusst und realitätsgerecht hatte das Spiel gewonnen. Seine Raketen wurden nachgebaut. Gefangensein im DDR System. In den Fängen der Psychiatrie. Vor allem eingesperrt in einem System, das einem die persönliche Entwicklung, Entfaltung komplett verhindert. (Das Mahnmal für die ermordeten Juden wird in Berlin gebaut. Verordnete Trauer wird in Stein gegossen? Kann man überhaupt auf Bestellung trauern und erreicht man nicht damit das Gegenteil? 10 Schauspieler bekommen im Maxim Gorki Theater 4 Texte zu realer Trauerarbeit. Letztendlich lässt sich um die eigene Katz leichter trauern als um 6 Millionen Tote.) Das Theater in Meiningen wird 2010 renoviert. Alle Personen sind arbeitslos. Aber es ist Weihnachten. Hochsaison. Ein Zirkuszelt vom Circus Krone wird ausgeliehen. Die haben Winterpause, wir nicht. Dann machen 6 Schauspieler Zirkus. Da sie nichts können erfinden sie alles: Sie werden zu dressierten Pudel, zu galoppierenden Pferden. 2 österreichische Schauspieler werden zu Clowns. Ich kann nichts, aber als Österreicher bin ich eh schon sehr begabt wird zum Motto ihrer Nummer. Die Saison ist gerettet. Das sind drei Beispiele was möglich ist. Nun wieder eine zweite Frage an Sie: Was ist ihr Wunsch? Haben Sie eine Utopie? Einen Traum? Wie sieht sie aus? Schreiben Sie es auf oder merken Sie es sich. Das Denken ist die halbe Miete, die Umsetzung ein Kinderspiel. Wie gewohnt eine Minute! Und los! Danke! Eines Tages kam Peter Mussbach, damaliger Intendant der Staatsoper auf mich zu. Ihn beschäftigte die Frage, ob Kinder, denen Hyperaktivität diagnostiziert wird, nicht einen anderen Ort brauchen, um sich „anders“ zu definieren, anders verhalten zu können. Wenn sie aus ihrer Umgebung rausgenommen würden, müsste doch etwas mit ihnen passieren? Und ob Musik nicht dazu beitragen könnte, den Kindern einen so starken Rahmen zu geben, dass sie sich darin aufgehoben fühlten, bestärkt sich anders zu verhalten als gewohnt. Hyperaktivität. Ein großes Thema, das sicherlich vielen von ihnen hier im Raum bekannt ist. Eine Zeitkrankheit? Sind die Kinder, vor allen Dingen die Jungs heute zappeliger? Oder hat sich ihre Umgebung so zugespitzt, dass sie nur mit Hyperaktivität reagieren können? Sind die Medien Mitschuld mit ihrer Dauerberieselung? Eltern schon an ihrem Arbeitsplatz überfordert, die ihre Erziehungspflicht auf die Lehrer weitergeben. Die wiederum durch die verkürzten Schuljahre sowieso schon komplett unter Druck stehen. Und in ihrer Freizeit Berichte zu schreiben haben, Gutachten für die sie kontrollierenden Behörden. Wie können Kinder anders als überreagieren? Und wieso erwischt es die Jungs mehr? Was machen die Mädchen? Sind sie braver? Vielleicht. Dafür reagieren sie mit allerlei Essstörungen..... Peter Mussbach ließ nicht locker. Bevor er Intendant + Regisseur geworden war, war er Neurologe. Schon immer hatte ihn beschäftigt was die Musik mit dem Gehirn tut. Er selber, ein ausgesprochener Motoriker, fand sich in diesen Kindern wieder. Er war nun Intendant geworden, hatte seinen Weg gemacht. Unter anderen Umständen hätte er vielleicht Retalin bekommen und wäre in einen Dämmerzustand gefallen. Er hatte Glück, das wollte er teilen. Glaube ich. 5 Er stellte Mittel und einen Raum zur Verfügung, die renommierte Staatskapelle und eine sehr fähige Dramaturgin. Gemeinsam gingen Sie und ich los. In die Schulen, Jugendzentren, Kinderkliniken. Ich sah Kinder, die angeblich hyperaktiv waren; schwierige Kinder, aufsässige, zu stille, gelangweilte. Die Charlotte-Salomon-Schule, eine integrative Grundschule, stellte sich als der offenste Ansprechpartner heraus. Dort verbrachte ich Stunden und Tage im Unterricht. Ich sah zu, wie behinderte und gesunde Kinder mit dem oft eintönigen Schulalltag fertig zu werden suchten. Ich sah wie sie nebenbei malten. Mit ihrem Schulmäppchen balancierten, sangen, die Lehrer treffsicher nachahmten oder in eine Art Trance verfielen. Ich verbrachte 3 Monate auf der Suche. Bis ich mir eine Mannschaft ausgesucht hatte. 12 Kinder, davon 7 „schwierige“, 5 „normale“ Mädchen und Jungen, 9-11 Jahre alt. Warum machst Du das? Das ist doch viel zu anstrengend. Und was ist das? Kunst? Pädagogik? Mach doch wieder richtige Stücke: Theater, Oper… So oder so ähnlich wurde ich angesprochen, häufig von Kollegen. Sie hatten ja Recht. Es war unglaublich anstrengend. Und es war so aufregend wie Theater im richtigen Theater selten ist. Es war Kunst. Keine Pädagogik. Und dennoch hatte es was Lehrreiches. Und wie. Es wurden 4 Projekte im Magazin der Berliner Staatsoper draus. Kinder und Jugendliche waren die Hauptdarsteller. Es ging um sie. Und es ging nur mit ihnen. An einem anderen Ort – außerhalb von Schule und Elternhaus. Mit richtiger Musik. Aber der Reihe nach: Ich begann mit den Proben. Täglich 2 Stunden im Musiksaal der Schule. Es war ein Albtraum. Freigelassen, nicht auf den Stuhl gefesselt, glaubten sie, alles sei erlaubt. Körperliche und sprachliche Gewalt wechselten sich ab. Ich legte zunächst einmal Platten auf. Je nach Szene. Ich gab Aufgaben. Sie improvisierten. Manchmal, wenn ich mich nicht schnell genug umdrehte, sprang der Rädelsführer aus dem Fenster, die anderen Kinder hinterher. Gottseidank war der Musiksaal im 1. Stock. Sie probierten ihre Grenzen aus und sie gingen weit. Mut, Lust am Risiko scheint mit der Hyperaktivität einherzugehen. Dummerweise waren die Begabtesten die Wildesten. Ich musste sie erobern für mich gewinnen. Und kriegte sie schließlich über ihre Schwächen zu fassen. Maurice redete in einem fort. Wenn ich das Licht löschte, wenn ich Dunkelheit zum Thema machte geriet er völlig außer sich. Er redete und redete wie ein Irrer. Also ließ ich ihn so lange Text erfinden, bis er nicht mehr konnte. Manchmal 20 Minuten lang. Er durfte alles sagen nur auf keinen Fall Schweigen. Die Anthroposophische Medizin arbeitet zum Teil gerne so. Gleiches mit gleichem.... Nie ging ihm die Phantasie aus. Seine Texte hatten Poesie. Witz. Und er störte nicht. Denn plötzlich wurde er für seine Schwäche anerkannt, gelobt, bewundert. Die anderen Kinder hörten ihm zum ersten Mal zu. Er hatte was zu sagen. Wenn er zu lange Luft holte, schrieen sie los: Hör nicht auf, weiter, weiter Maurice. Der Zappelphilipp hatte sich ununterbrochen zu bewegen. Nie konnte er stillhalten. Immer bewegte er sich oder irgendetwas. Beim Hinsehen wurde einem übel. Seine Dosis Ritalin wurde fortwährend erhöht. War er neu eingestellt, wie das so heißt, saß er apathisch in einer Ecke, ein Häuflein Elend. Um dann wieder ununterbrochen mit den Beinen +Füßen zu rudern. Eines Tages fing er an sich wie sein Sufi zu drehen, erfand dabei eine Geschichte über seinen Freitod. Er erzählte darin von seinen Nöten + wie es in seinem Innern aussieht, wenn man immer das Falsche macht, allen auf die Nerven geht. Nie 6 anhalten kann. Er stellte sich auf den Konzertflügel, drehte sich dort, sprach seinen Text, als er fertig war, sprang er. Der Pianist, der noch gerade sein Instrument verteidigen wollte, wurde still und hob den kleinen Jungen am Ende auf. Er hatte auf eine höchst poetische Weise und mit theatralischen Mitteln gezeigt, was er wirklich fühlte, wie es in seinem Innern aussah. Auch ihn sahen seine Mitstreiter danach mit anderen Augen. Er störte sie nicht mehr. Sie begannen ihn zu verstehen, zu mögen. Ich probte mit ihnen wie mit Profis. Verlangte Pünktlichkeit. Einsatz. Kreativität. Und davon hatten sie reichlich. Die Mädchen gingen über ihre sozialen Kompetenzen hinaus. Sie spielten ihre Mütter, ihre Zukunft, große Tragödien. Sie erzählten wie sie eigentlich aussehen müssten, aber nicht taten. Dass sie überlegten zu Hungern wie die Topmodels... Wie sie ihre Patchwork-Familie fanden. Dass sie gerne den neuen Mann der Mutter weggebissen hätten und die Stiefschwester sowieso. Wie sie gerne alles auch mal zusammenschlagen würden wie ihre Brüder. Aber dass sie lieber hungerten als nicht brav zu sein.... Stattdessen halfen sie ihren überforderten Müttern, bei allem und trösteten die Erwachsenen, die nichts sahen außer sich selbst. Die Proben zogen sich über ein Jahr hin. Jede zweite Woche wollte ich aufgeben. Der Lärmpegel glich dem einer vierspurigen Autobahn, das Chaos war enorm, ständig flogen Dinge herum, speziell an Montagen gab es Prügeleien und Tränen. Da wir in der Schule probten, ging ständig die Tür auf, von Ruhe und Konzentration war nur zu träumen. Oft fehlten die Kinder. Waren in der Klinik wurden neu „eingestellt“. Mussten zuhause den überforderten Eltern helfen. Waren traurig, verstört. Hungrig. Milan Romasprössling musste 3 Mal die Woche mit dem Vater arbeiten, an Theaterspielen war nicht zu denken. Ich aber brauchte ihn. Keiner konnte trommeln und tanzen wie er. Ich besuchte die Eltern, sie knallten mir die Tür vor der Nase zu. Dachten ich sei vom Jugendamt. Dass ich kroatisch mit ihnen sprach, half mir für weitere 3 Proben, dann musste Milan im familiären Betrieb “Wohnungsauflösungen aller Art “wieder einsteigen. Wir vermissten ihn sehr. Die meisten aber blieben. Unter großen Anstrengungen aber dennoch erlernten sie nach und nach ihr Handwerk. Sie begannen größer und freier zu spielen. Auf die anderen zu hören. Sie nicht zu provozieren. Oder verprügeln. Auf Stöcke während der Probe zu verzichten. Nicht die anderen auszulachen. Auf die Musik zu hören. Laut und sicher zu sprechen. Sie lernten in den Pausen zu Essen, nicht dauernd, und nicht nur Süßes. Sie begannen sogar theatralische Vorgänge zu wiederholen. Auch für Profis eine schwere Übung. Schnell war ihnen langweilig. Dann wurden sie aggressiv. Provozierten die anderen oder mich. Es war immer ein „bis an die Grenze“ gehen und darüber hinaus. Ich zog die Grenze schärfer. Gelbe Karte. Rote Karte. Raus. Am Anfang war es noch cool rauszufliegen, nach und nach, wenn man dadurch Text verlor oder in einer Szene nicht mehr mitspielen durfte, wollte man nicht mehr so gerne rausfliegen. Auch das hatte ich von den Profis übernommen. Wenn der Tenor in der Oper, die ich inszenierte klagte, so könne er die Sache auf keinen Fall singen + heute schon gar nicht + mit der Partnerin sowieso nicht. Sagte ich nicht mehr viel, wie ich noch Jahre zuvor als Anfängerin getan hatte. Ich sagte, “kein Problem, mein Lieber, streichen wir die Arie ist eh zu lang das Ganze“... Ich habe nie eine Arie streichen müssen. 7 In ihren Texten sprachen die Kinder von ihrem Versagen, ihrer Wut, von Musik. Die Musik, eigens komponiert für diese Abende, war nicht unkompliziert. Die kleinen Monster aber hörten sie sehr gut. Die noch so kleinsten Rhythmusverschiebungen fielen ihnen auf, sie reagierten unmittelbar in ihrem Spiel darauf. Noch einige Male ging ich zum Intendanten. Herr Mussbach sagte ich, „Das wird nichts. Es ist nur Chaos. Ich kann nicht mehr.“ Egal, meinte er, wir haben es probiert. Wenn’s nicht geht, geht’s nicht. Das entspannte mich irgendwie. Es war ein Versuch, ein Experiment. Und ein Experiment darf auch scheitern. Das war das erste Stück. Es hieß Hyp/Op – Hyperaktivität und Oper. Es hatte im Herbst 2003 Premiere. Im Magazin der Staatsoper, mit echter Musik, für die Kinder komponiert, die von der Staatskapelle gespielt wurde. In einem Bühnenbild mit Licht und echten Kostümen. Und selten habe ich solche Profis gesehen. Es war, als hätten sie alle meine Anweisungen sicher gespeichert, um sie nun abzurufen. Die Kinder spielten eine Stunde lang, ganz allein. Sie improvisierten oder wiederholten Geprobtes. Sie waren genau, unterhaltsam und sehr bei sich. Sie fühlten sich wohl. Ihre Schwächen waren ihre Stärken. Sie waren enorm kreativ, und das Publikum konnte es sehen. Wir spielten 7 Abende. Es gab keine Aus- und keine Unfälle. Meine dritte Frage an Sie. Welche Musik würden Sie nehmen? Auflegen, singen? Was würde Sie in Stimmung bringen, Sie trösten oder erheitern? Wie müsste es klingen? Ist es vielleicht ein Kinderlied? Eine Minute, bitteschön..... Im zweiten Stück, „Kennen wir uns nicht aus Biarritz“ kamen zu den Kindern, Jugendliche mit Migrationshintergrund und Alzheimer-kranke Menschen hinzu. Warum? Was wie ein Experiment begonnen hatte, war mehr als nur ein Versuch geblieben. Es war klar, dass der erste Abend funktioniert hatte. Dass die Musik den Kindern geholfen hatte zu sich zu kommen. Formgebend war. Dass die Proben sie gestärkt hatten für sich und in ihrer Umgebung. Die Zuschauer waren beeindruckt gewesen. Von der Kreativität, den Geschichten. Die Eltern stolz, aber vor allem waren die Kinder glücklich. Es gab etwas, das sie konnten. Wofür sie bewundert wurden, dass sie sogar Abend für Abend wiederholen konnten. Sie waren endlich mehr als Störenfriede. Sie konnten sogar etwas, das viele Erwachsene nicht mehr konnten, Theater spielen, kreativ sein. Wenn Musik auf hyperaktive Kinder solch eine Wirkung hatte, so müsste sie es in anderen Bereichen doch auch können. Aus der einschlägigen Literatur war zu lesen, dass Musik das Erste ist was ein Mensch hören kann. Im Bauch der Mütter. Konnte es auch das Letzte sein was alte demente Menschen aufnehmen konnten? Bevor ich mich versah holte Peter Mussbach einen Alzheimer-Spezialisten in sein Büro. Ich wurde dazu gebeten. Schon bald verbrachte ich Nachmittage im Advent auf Tanztees in Alten-WGs und Pflegeheimen. Ich feierte den Karneval in einer Seniorenstation. Sang im Chor des Seniorenstifts mit. Ja. Die Musik war auch hier das ordnende Prinzip. Der Schlüssel zu diesen sich langsam verabschiedenden Menschen. Da es das zweite Stück für die Kinder war, konnte man beobachten, wie viel diese Kinder, junge Akteure gelernt hatten. Diesmal aber standen nicht nur sie im 8 Mittelpunkt. Sie hatten Konkurrenz bekommen: alte Menschen. Die gelegentlich streng rochen. Sich ab und zu an ihre Namen erinnern konnten, dann wieder die Schokolade selber aufaßen, die für die Kinder bestimmt war. Zunächst waren die Kinder beleidigt, wehrten sich. Verletzten die Alten oder machten sich lustig. Aber meistens, und das ist erstaunlich, taten sie es mit Theatermittel, in der Szene und irgendwie liebevoll. Drei Sänger des Opernchors gesellten sich dazu. Ihre Stimmen waren „verbraucht“. Aber gerade das ließ die Lieder, die sie sangen umso schöner klingen. Auch sie taten sich zunächst mit den dementen Alten schwer. So wollten sie nicht sein. So nicht. Aber irgendwann begannen sich alle miteinander zu arrangieren. Die Kinder, die Sänger begannen mit den Alten Kranken, zu spielen. Verloren die Scheu gegenüber der Krankheit. Die Musiker der Staatskapelle, die im ersten Stück noch fassungslos zwischen den randalierenden Kindern gestanden hatten, spielten nun geduldig Walzer bis die Schritte der Kleinen mit denen der Alten zusammen gingen. Aber die Gefahr, die Kinder mit den Alten im Bühnengeschehen allein zu lassen war, nicht übersehbar. Da ich auf keinen Fall einen Therapeuten auf der Bühne während der Proben oder sogar während der Aufführung haben wollte, musste ich mir etwas einfallen lassen. Ich suchte in der nächsten Outsider Gruppe, nämlich unter ausländischen Darstellern. Ich dachte mir wenn Außenseiter dann bitte alle. Außerdem und ich sollte mich nicht täuschen, würden die ausländischen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen am besten mit den Alten und den Kindern fertig werden. Sie waren es durch ihre Familien gewöhnt, dass das Leben nicht nur unter Gleichaltrigen stattfindet. Darsteller mit Migrationshintergrund würde man meinen, gibt es viele in Berlin. Weit gefehlt. Es gibt sie zwar. Vor allem in Kreuzberg, wo sie in Jugendzentren und inzwischen im Theater in der Naunynstraße sich künstlerisch betätigen können. Aber es sind nicht viele, kaum Mädchen und sie bleiben unter sich. Misstrauen einem, wenn man auf sie zukommt und fragt, ob sie auch außerhalb ihres Ghettos sich vorstellen könnten, Theater zu spielen. Raus aus Kreuzberg? Wohin? In die Staatsoper? Unter den Linden? Sie? Wirklich? Für Geld? War da was faul? Mehrere Wochen besuchte ich ein Jugendzentrum in Kreuzberg. 20 Jugendliche. Einer sagte zu, zwei sagten ab. Schließlich blieben 4. Und auch nur weil ich mit einem, Ayhan Alevit, schon mal zusammen gedreht hatte. Er hatte Vertrauen, brachte seine Schwester mit. Alev wiederum kannte Jose, einen kolumbianischen Hip Hop Dancer, der eine türkische Tänzerin, Lale, überzeugte mitzukommen. Die vier kamen, mit viel Essen, guter Laune und im letzten keine Berührungsangst. Zwar hatten sie Mühe bei den Arien der Opernsänger nicht jedes Mal loszulachen, aber allmählich gewöhnten sie sich dran. Ayhan schnauzte den kleinen Mirco an, wenn er den alten Leuten ein Bein stellte und die schöne Lale wurde zum Tanz gebeten von den Greisen der Produktion. Sie schoben sie hin und her, lächelnd, als wären sie 20 Jahre alt. Von Demenz keine Spur? Alev erzählte den kleinen Mädchen vom Frausein und diese hörten gebannt zu. Jose nahm sich den 10-jährigen Erdan und die zwei tanzten zu Walzermusik als sei es eine house-dance party. 9 Es war ein Theaterabend, der an einen Traum erinnerte wo es ein Zusammen gibt. Ein Tanztee, für Jung und Alt. Eine Erinnerung an eine vergangene Welt, ein Entwurf einer möglichen zukünftigen Gesellschaft, in der es doch ein Miteinander verschiedenster Welten gibt. Wenn ich abends in der letzten Reihe stand und zusah, war ich jedes Mal zutiefst gerührt. Wie die Kleinen die Alten führten, sie baten sich nicht zu bekleckern, auf sich aufzupassen. Die „Ausländer“ selbstverfasste deutsche Lieder sangen, alle zu einer Musik tanzten die nicht unbedingt ihre war. Das war besonders. Nicht selbstverständlich, aber möglich! Das letzte Stück, „Unikate“, drehte sich wieder vermehrt um die Realität von Kindern und Jugendlichen. Um ihre Einzigartigkeit. Kinder, die anders sind, weil sie hochbegabt sind, deshalb aus der Reihe tanzen. Ich fragte mich, wie es ihnen geht. Wie sieht ihr Alltag aus? Was wird aus ihnen? Was wollen sie? Wie werden sie erwachsen. Und wie erleben sie ihre Umwelt. Eine Art Pisa-Studie von innen. Diesmal keine Alten-WGs, keine Pflegeheime. Diesmal Gymnasien, Hochbegabtenzentren, die Charité, das Internet. Bei „Unikate“ waren 16 Kinder und Jugendliche im Alter von 8-25 Jahren meist aus Gymnasien, einige schon am Studieren… Natürlich ging es auch hier extrem heftig zu. Jeder wollte der Beste sein, der Intelligenteste. Beleidigt wenn er in seiner Genialität nicht anerkannt wurde. Ich habe oft laut geschrieen. Eine Journalistin die zu einer Probe kam, fragte mich, ob das so sein muss. „Nein“, habe ich gesagt, „wahrscheinlich nicht, aber dann kommt man bestimmt nicht bis zur Premiere.“ Aber die Jugendlichen merkten bald, hier geht es um etwas. Jenseits von unflätig rumhängen und sich langweilen. Sie wussten, es wird ernst, sie müssen erfinden, ihre Texte, ihren Tanz, ihre Musik, ihre Inhalte an den Mann bringen. Zeigen, was sie drauf haben und was sie zu sagen haben. Sie sind nicht in der Schule mit dem müden Lehrer. Denen sie nicht mehr zuhören, weil sie glauben alles besser zu wissen. Nein. Im echten großen Theater. Das war für sie der Ernstfall. Eine wahre Herausforderung! Das hat sie gelockt, Spaß gemacht. Man könnte sagen: “aber das ist doch nur Theater.“ Ja, stimmt, aber gerade dieses Theater, dieser “ Ort als ob“ ermöglichte ihnen sich anders auszudrücken, ihre anderen Stärken zu zeigen. 17 Jugendliche erfanden alleine einen Abend. Mit ihren Texten, ihren Geschichten ihrer Musik. Spannend, komisch, rührend, ernst. Und manchmal unbeholfen. Denn unbeholfen durften sie sonst nirgends sein. Kunst bietet einen Ort, in dem Dinge passieren können, die sonst nirgendwo passieren. Genug der Beispiele. Nun geht’s zum Fazit. Allerdings bin ich mir sicher Sie haben schon verstanden worauf ich hinaus will. Das Thema der Tagung stellt ja schon die richtigen Fragen: Mitgestaltung der Gesellschaft, Stärkung des Menschen, Weiterbildung aller Altersgruppen und sozialen Schichten. Wenn Sie mich fragen: Ja. Ja und wieder ja zu allen diesen Fragen. Ich glaube nicht nur daran, sondern habe es probiert. Man kann unglaubliches bewirken, man muss es nur probieren. Fangen wir vorne an: 10 Als wir das Theaterstück über Julia Timoschenko machen sollten, damals in Potsdam, wussten wir nichts über sie, und das Theater selbst war eine komplette Baustelle. Man hätte es lassen können, aber gerade die Nutzung der Baustelle machte die Geschichte spannend. Denn das Publikum freute sich an Orte im Theater geführt zu werden, die es sonst nie oder sehr selten zu sehen bekommt. Die Transparenz des Vorgangs machte sie nicht nur zu Zuschauern, zu Sehenden sondern zu Co-Schaffenden. Sie mussten aufpassen, wo sie hintraten, sich ducken oder klettern. Sie gingen mit auf eine Reise. Jeder Raum war anders, klein und dunkel oder riesig und Ehrfurcht einflößend. Sie lernten ihr neues Theater aktiv kennen. Und die Geschichte um Julia Timoschenko wurde zu einem sinnlichen Erlebnis. Ich glaube, dass das schon ein Schlüssel zur Weiterbildung ist. Einbeziehen. Nicht wie vor dem Fernsehsessel mit Chips die Menschen abservieren. Im Gegenteil. Mitdenken, mittun, miterleben lassen, hat jedenfalls meinen Zuschauern gut getan. In Meiningen, wo die Zuschauer im Zirkuszelt saßen, war es nicht unähnlich. Zirkus ist von je her interaktiv. Diesmal in der Weihnachtszeit waren ganze Familien zu Gast. Sie freuten sich an den 14 Pudeln, den 11 Einhörnern, dem Schwein, es schien sie nicht zu stören, dass diese Tiere menschelten, dass es immer die selben Schauspieler waren, die ihnen ihre Geschichten erzählten und nur die Pelzmützen wechselten, gaben Hinweise gab dass es sich hier wohl um ein sprechendes Tier handeln sollte. Der Zuschauer ist immer das Kind, dessen Fantasie grenzenlos ist und er ist dankbar sie endlich wieder in Betrieb zu nehmen. Aber nun zum wirklichen Experiment, den Hyperaktiven, den hochbegabten Kindern, Alzheimerkranken, den Jugendlichen mit Migrationshintergrund. (Es fehlten wirklich eigentlich nur noch Tiere...) Nein, ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass diese Außenseiter, diese Chaoten, Kranken, anstrengenden Wesen jemals in der Lage sein würden einen Theaterabend zu bewältigen. Gemeinsam zu spielen. Und das auch noch in diesen heiligen Hallen der Staatsoper zu Berlin. Ohne Betreuer, Lehrer oder Ärzte. Unter sich sozusagen. Mit einem riesigen Orchester als Gegenüber, vor 300 Zuschauern jeden Abend. Und es ging. Erstens und vor allem, weil man es ihnen zutraut. Weil man sie dort abholt, wo sie sind, ihre speziellen Fähigkeiten ausmacht, erkennt und fordert. Mehr ist es eigentlich nicht. Natürlich, Geduld, Zeit. Alles kostbare Dinge, aber eigentlich geht’s nur darum es zu machen. An die besonderen Fähigkeiten eines jeden Menschen zu glauben. Diese Fähigkeiten erkennen, vergrößern, in einen Rahmen bringen, ins Licht stellen. Und da ist sie die Entwicklung. Die Weiterbildung. Die Stärkung des Menschen! Das ist nebenbei bemerkt unabhängig von Alter, sozialem Umfeld, Status. Natürlich ist es leichter mit Kindern zu arbeiten, die aus sozial starken Häusern kommen, Bildung genossen haben, finanzielle Mittel haben. Aber es ist kein Muss. Lassen Sie ein serbisches Kind ein Wiegenlied aus seiner Heimat singen. Oder einen Bauernburschen eine Erntedankweise. Lassen Sie diese beiden über die Lieder die Melodien miteinander kommunizieren. Es wird funktionieren. Wenn nicht, bitte melden Sie sich bei mir, ich komme sofort angereist. Apropos Kinderlied. Haben Sie eines? Und Heimweh? Was ist das für Sie? Kindheit? Ist es an Gerüche gebunden? An Wetter? An eine Melodie? 11 Gibt es eine Geste, eine Körperhaltung die Sie erinnert? Bitte nehmen Sie sich 1 Minute Zeit dafür. Gerade in Zeiten, wo die Medien überhand nehmen, verliert sich das Gespür für die kleinen Kontakte. In kleinen Städten, aber spielen Jugendclubs, Jugendzentren, Bibliotheken, Seniorentees, alles mit oder ohne Musik eine herausragende Rolle. Und Personen, die sich dieser Außenseiter annehmen. Das spricht sich schneller rum als ein Ausverkauf im Upim, Coin oder Karstadt. Da ist ein Mensch, der an diesem oder jenem Ort mit Kindern oder mit Ausländern oder mit Alten Musik macht, singt, Theater spielt. Wie man häufig in eine Kneipe geht, wo einem der Wirt besser schmeckt als das Essen, könnte es gut sein, dass einen die Persönlichkeit zunächst mehr interessiert, als der Inhalt. Dann ist man vor Ort und dort: gibt es einen Wettbewerb „wer kann das schönste Kinderlied?“ oder “Ein Top-Dichter-Contest“ Eine Aufführung, die die vielen Obstbäume und Geschichten rum um die Obsternte zum Thema hat. Die harten Winter früher. Die Zweisprachigkeit in den Familien. Oder die Sprachlosigkeit. Themen gibt es genug, sie liegen buchstäblich auf der Straße, auch in Bozen/Bolzano. Ich bin mir sicher, auch den hartnäckigsten Internet-Facebook-Freak wird es eines Tages in die Bibliothek locken, wenn er hört, dort würden Freunde von ihm zweisprachig rappen, Siegerpreis: Harry Potters gesammelte Werke, eine Snowboard- oder eine Ski-Saison-Karte… Genug doziert. Ich denke, Sie haben mich verstanden. Nun sind Sie an der Reihe: Bitte stehen Sie nacheinander auf (kommen nach vorne) und sagen einen Satz zu Wer sie sind, Italiener oder Deutscher, glücklich oder verliebt.... Ihrem Traum, Ihrer Fantasie Eine Melodie, ein Lied, eine Geste, und Heimat? Haben Sie Heimweh, wonach? Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. 12