Psychologie-Prof. Schulte-Cloos Grundstudium Einführung in die Entwicklungspsychologie Ines Neumann Thesenpapier - Entwicklungspsychologie - Aspekte einer Definition Entwicklungspsychologie widmet sich der Untersuchung von Verhaltensände- rungen und Verhaltenskontinuität von Individuen und Gruppen (vom Kleinkindalter bis ins hohe Alter). Sie entstand Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß der Evolutionstheorie Charles Darwins. Die Entwicklungspsychologie spiegelt die Ansicht wider, dass das menschliche Verhalten während der gesamten Lebenszeit eine Funk- tion der Interaktion zwischen biologisch festgelegten Faktoren, wie Größe oder Tempe- rament, und Umwelteinflüssen, wie Familie, Bildung, religion und Kultur, ist. Entwicklung: Aufbau immer komplexerer Strukturen, wobei aus der Art der im System hergestellten Relationen (grammatische, logische, räumliche, zeitliche usw.) die qualitativen oder struktturellen Veränderungen abgelesen werden können. Modelle des Wandels (Flavell, 1972) Die Suche nach Kontinuität in individuellen Lebensläufen zielt auf Erklärungen individueller Entwicklungen aus Vorraussetzungen, die als Personenmerkmale, als Erfahrungen oder als Selbstkonzept zu fassen sind Flavell hat in einer vielbeachteten theoretischen Analyse Kontinuität als Entwicklungssequenz interpretiert und mehrere Formen unterschieden: Addition, Substitution, Modifikation, Differenzierung, hierarchische Integration. Addition: quantitatives Wachstum, das Hinzukommen einer neuen Form oder neuer Elemente, ohne daß das Bisherige aufgegeben wird (Wissen, Fertigkeiten, Lösungs-möglichkeiten für Probleme...) 3 Repräsentationsmodi nach Bruner, Olver und Greenfield (1966) 1. enaktive (handlungsmäßige) 2. ab 2. Lebensjahr - ikonische (bildhafte) 3. symbolische (sprachliche) Substitution: Ersetzung des Bisherigen durch etwas Neues ( die Fortbewegungsart des Robbens wird durch Krabbeln ersetzt; phys. Aggressionen werden durch verbale ersetzt) Modifikation: neue Form im Sinne als die verbesserte, reifere Version; insofern ein qualitativer Wandel, Strukturtransformation Differenzierung: Aufbauprozeß, in dem eine Ausgangsstruktur oder ein Ausgangssystem durch den Einbezug zusätzlicher Inhalte und Relationen spezifiziert wird; Begriffe werden genau bestimmt hierarchische Integration: Unterscheidung spezifischer inhaltlicher Merkmale oder Komponenten an einen ursprünglichen undifferenzierten Ganzen; Herstellen spezifischer Relationen Aktivität und Passivität des Subjektes Umwelt aktiv interaktionistische Theorien nicht aktiv Selbstgestaltungstheorien exogenistische Theorien endogenistische Theorien Passung: Entwicklungsprobleme=Passungsprobleme (Brandtstädter, 1985) Entwicklungsprobleme bedeutet, daß bestimmte Entwicklungsstandards nicht erreicht sind, bzw. wenn Entwicklungsaufgaben (Selbständigkeit, Partnerschaft, Berufsfindung usw.) nicht bewältigt werden. Die Entwicklungsprobleme werden als Diskrepanz bzw. fehlende Passung angesehen, zwischen a) den Entwicklungszielen des Individuums selbst b) seinen Entwicklungspotentialen (Dispositionen, Kompetenzen) c) den Entwicklungsanforderungen im familiären, schulischen und subkulturellen Umfeld des Individuums, d.h. den dort existierenden alters-, funktions- oder bereichsspezifischen Standards d) den Entwicklungsangeboten (Lern- und Hilfsangeboten, Ressourcen) in der Umwelt des Individuums Entwicklungspsychologie unter dem Aspekt der gesamten Lebensspanne 1. Entwicklung endet nicht im frühen Erwachsenenalter - Entwicklung enthält über die gesamte Lebensspanne gleichzeitig die Aspekte Wachstum oder Gewinn und Abbau oder Verlust - neue Funktionen ersetzen alte, Entwicklung ist immer auch Spezialisierung (oder selektive Optimierung) unter Vernachlässigung alternativer Optionen (Baltes & Baltes, 1989) - neben beruflichlichem Expertenwissen werden heute vor allem soziale Intelligenz, Lebens- wissen und Lebensweisheit als mögliche Wachstumsfunktionen im mittleren und höheren Erwachsenalter in Betracht gezogen 2. Verschiedene Dimensionen einer Funktion haben unterschiedliche Entwicklungsverläufe - Dimensionierung in fluide Intelligenz (Mechanik) und kristallisierte Intelligenz (Pragmatik) (Cattell & Horn, 1971) - beide Fähigkeitsintelligenzen haben in Kindheit und Jugend eine parallele Entwicklung, nehmen aber im Erwachsenen- und insbesondere im höheren Alter verschiedene Entwick lungsverläufe vor - die kristallisierte Intelligenz (das Erfahrungswissen, die kulturellen Wissensbestände, allgemeines Wissen über Problemlösestrategien und Gedächtnisstrategien) bleibt bis ins hohe Alter durchschnittlich erhalten und kann in Einzelfällen durchaus ansteigen - die fluide Intelligenz (insbesondere die Geschwindigkeit der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen) fällt mit zunehmendem Alter dagegen ab 3. Es gibt Spielräume und Grenzen für eine Entwicklungsförderung Handelt es sich beim Abfall der fluiden Intelligenzleistung um fehlende Übung, fehlende Anforderung oder um neurobiologische Funktionsverluste? - ein erster Schritt war die Untersuchung nach unterschiedlichen Entwicklungsverläufen bei Menschen mit unterschiedlichen Berufen, die mehr oder weniger Anforderungen an kognitive Leistungen stellen - ein zweiter Schritt waren Versuche, die fluide Intelligenz zu trainieren - die fluide Intelligenz erwies sich auch im höheren Alter als trainierbar, damit wurde eine ungenutzte Reservekapazität nachgewiesen 4. Verluste können potentiell kompensiert werden Kompensation: In der Psychologie werden unter Kompensation solche psychischen Mechanismen verstanden die auf den Ausgleich bestehender psychischer Defizite und/ oder gegebenfalls ihrer organischen Ursachen gerichtet sind.( Microsoft Encarta 98) Ein Beispiel für einen Kompensationsprozeß hat Salthouse (1984) beschrieben: - er beobachtete, daß ältere Schreibkräfte genauso schnell schreiben wie jüngere, obwohl die psychomotorische Reaktionsgeschwindigkeit (zum Anschlagen der Tasten) nachweislich langsamer war - diese Verlangsamung wird durch die erfahrungsbedingt optimierte Fähigkeit den zu schreibenden Text vorauszulesen und zu verstehen, ausgeglichen - so könnten auch Einbußen in Bezug auf elementare Prozesse der Mechanik der Intelligenz und des Gedächtnisses unter Umständen durch Wissen und prozedurale Strategien kompensiert werden 5. Entwicklung hat interindividuell unterschiedlich Verläufe - im mittleren und höheren Erwachsenalter sind nur wenige generelle Veränderungen bekannt - die Veränderungen scheinen eher kultur-, subkultur-, oder personenspezifisch - sie sind unterschiedlich je nach Lebensschicksal, je nach gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen, je nach Qualität der sozialen Einbindung und Unterstützung, je nach eigenen Kompetenzen, Interessen und Einstellungen - auch die ererbten Anlagen, der Genotyp, wirken nachweislich lebenslang - schon die Lebensdauer eines Menschen ist in erheblichem Maße genetisch beeinflußt 6. Ontogenetische Entwicklung geschieht in Interaktion mit Kontexten und unterliegt folglich einem historischen Wandel - die Soziologie und die Geschichtswissenschaften haben sozialen Wandel beschrieben als Wandel der Institutionen, als Veränderungen der herrschenden Ideologien, der polizischen unds ökonomischen Situation usw. - auch in der Psychologie schlägt sich der gesellschaftliche Wandel in beschreibbaren Veränderungen nieder: in unterschiedlichen Bildungs-, Berufs- und Familienbiographien, in Veränderungen des Verhaltens, Wertens, Urteilens und Erlebens (Mayer, 1993) - als Folge des raschen gesellschaftlichen Wandels unterscheiden sich auch nah aufeinander- folgende Jahrgänge hinsichtlich ihrer Entwicklung - konsequenterweise müßte so die Entwicklungspsychologie für jede Generation neu geschrieben werden Literatur: Asanger, R.: Handwörterbuch Psychologie, 4. Auflage, Weinheim 1992 Oerter; Montada: Entwicklungspsychologie, 2. Auflage, Weinheim 1987