Hermann Hesse - Lektüre für Minuten Gedanken aus seinen Büchern und Briefen Inhalt Politisches......................................................................... 7 Gesellschaft und Individuum .......................................... 37 Aufgaben des Einzelnen ................................................. 59 Bildung, Schule, Erziehung ............................................ 79 Religion und Kirche ....................................................... 91 Wissen und Bewusstsein .............................................. 107 Lesen und Bücher ......................................................... 119 Wirklichkeit und Imagination....................................... 129 Kunst und Künstler ....................................................... 145 Humor ........................................................................... 183 Glück ............................................................................ 187 Liebe ............................................................................. 195 Tod ............................................................................... 203 Jugend und Alter .......................................................... 209 Der Aphorismus ist so etwas wie ein Edelstein, der durch Seltenheit an Wert gewinnt und nur in winzigen Dosen ein Genuss ist. Hermann Hesse [eMail] Politisches In der ganzen Welt ist jeder Politiker sehr für Revolution, für Vernunft und Niederlegen der Waffen – nur aber beim Feinde, ja nicht bei sich selber! (1) Warum ist man nur dort für die Selbstbestimmung der Nationen, wo man Profit davon erhofft? (2) An einen Krieg dachte niemand, man rüstete nur so für alle Fälle, weil reiche Leute gern Eisenwände um ihr Geld sehen. (3) Die ganze Weltgeschichte scheint immer um Ziele und Gesinnungen oder Weltveränderungen zu gehen, die sich dann sehr bald als nur halb so ernst-gemeint herausstellen. Man war gestern noch voll edler Gesinnung, heut kann man aber auch anders, das ist das Ödeste. (4) Bedroher unserer Welt und jedes Friedens sind jene, die den Krieg wünschen, die ihn vorbereiten und uns durch vage Versprechungen eines kommenden Friedens oder durch die Angst vor Überfällen von außen zu Mitarbeitern an ihren Plänen zu machen versuchen. (5) Der Krieg bringt die Welt nicht vorwärts, erschiebt nur auf, wirft nur den Leidenschaften vorübergehend neue Ziele hin, und nachher, früh oder spät, wird die soziale Not wieder dastehen, groß und furchtbar wie zuvor. (6) Der Patriotismus setzt an Stelle des Einzelnen einen größeren Komplex. Aber so richtig als Tugend geschätzt wird er doch erst, wenn das Schießen losgeht. (7) Ich bin gerne Patriot, aber vorher Mensch, und wo beides nicht zusammengeht, gebe ich immer dem Menschen recht. (8) Wie jeder totgeschossene Soldat die ewige Wiederholung eines Irrtums ist, so wird auch die Wahrheit in tausend Formen ewig und immer wiederholt werden müssen. (9) Niemand ist schuldig. Man schießt und brennt die Welt in Trümmer und ist dabei völlig unschuldig. Man ist >>Exponent<< oder >>Faktor<< oder irgendetwas Geistreiches, aber kein Mensch, kein moralisches, unter Gott stehendes, ihm verantwortliches Wesen. Ich gebe keinen roten Pfennig dafür. (10) Ein Feigling, wer sich den Leistungen, Opfern und Gefahren entzieht, die sein Volk zu bestehen hat. Aber ein Feigling und Verräter nicht minder, wer die Prinzipien des geistigen Lebens an materielle Interessen verrät, wer also z. B. die Entscheidung darüber, was zwei mal zwei sei, den Machthabern zu überlassen bereit ist. Den Sinn für die Wahrheit, die intellektuelle Redlichkeit, die Treue gegen die Gesetze und Methoden des Geistes irgend einem andern Interesse zu opfern, auch dem des Vaterlandes, ist Verrat. Wenn im Kampf der Interessen und Schlagworte die Wahrheit in Gefahr kommt, ebenso entwertet, entstellt und vergewaltigt zu werden wie der Einzelmensch, dann ist es unsere einzige Pflicht zu widerstreben und die Wahrheit, das heißt das Streben nach Wahrheit als unseren obersten Glaubenssatz zu retten. (11) Besser ist es, Unrecht leiden als Unrecht tun. Falsch ist es, mit verbotenen Mitteln das Erwünschte verwirklichen zu wollen. Das sind Torheiten für die Generäle, und die Staatsmänner lachen darüber, doch sind das alte und bewährte Wahrheiten. (12) Ein Krieg kommt nicht aus dem blauen Himmel herab, er muss gleich jeder anderen menschlichen Unternehmung vorbereitet werden, er bedarf der Pflege und Mitwirkung vieler, um möglich und wirklich zu werden. Gewünscht aber, vorbereitet und suggeriert wird er durch die Menschen und Mächte, denen er Vorteil bringt. Er bringt ihnen entweder direkten baren Geldgewinn wie der Rüstungsindustrie (und sobald Krieg ist – wie unzählige, vorher harmlose Gewerbe werden da zu Rüstungsgeschäften, und wie automatisch strömt das Kapital diesen Geschäften zu!), oder er bringt ihnen Gewinn an Geltung, Achtung und Macht wie etwa den stellenlosen Generälen und Obersten. (13) Zwei Geisteskrankheiten sind es nach meiner Meinung, denen wir den heutigen Zustand der Menschheit verdanken: der Größenwahn der Technik und der Größenwahn des Nationalismus. Sie geben der heutigen Welt ihr Gesicht und ihr Selbstbewusstsein, sie haben uns zwei Weltkriege samt ihren Folgen beschert und werden, bis sie sich ausgetobt haben, noch manche ähnliche Folgen zeitigen. Der Widerstand gegen diese beiden Weltkrankheiten ist heute die wichtige Aufgabe und Rechtfertigung des Geistes auf Erden. Diesem Widerstand hat auch mein Leben gedient, eine kleine Welle im Strom. (14) Ich finde, unser Leben, das durchschnittliche Leben eines heutigen Abendländers, ist so scheußlich, dass es nur von Klötzen, von Idioten, von Leuten ohne Nerven, ohne Geschmack, ohne feine Schwingungen ertragen werden kann, der >>Heroismus<< ist ja denn auch das Ideal dieser Zeit und endet bei vierzig Grad Frost im Schützengraben. Nein, die Menschen ertragen dies Leben nur, weil sie sich die zarteren und darunter die besten und schönsten Gaben des Menschen schon abgewöhnt haben. (15) Je mehr einzelne da sind, welche dem Welttheater mit Ruhe und Kritik zuzuschauen vermögen, desto geringer ist die Gefahr der großen Massendummheiten, obenan der Kriege. (16) Heute liegt die politische Vernunft nicht mehr dort, wo die politische Macht liegt. Es muss ein Zustrom von Intelligenz und Intuition aus nichtoffiziellen Kreisen stattfinden, wenn Katastrophen verhütet oder gemildert werden sollen. (17) Wohl jenen Einfältigen, welche sich selber lieben und ihre Feinde hassen konnten, wohl jenen Patrioten, welche nie an sich zu zweifeln brauchten, weil an allem Elend und Unheil ihres Landes niemals sie selbst im geringsten eine Schuld hatten, sondern natürlich die Franzosen oder die Russen oder die Juden, einerlei wer, nur eben immer ein anderer, ein >>Feind<<! Vielleicht waren diese Menschen, neun Zehntel der Lebenden, wirklich glücklich in ihrer barbarischen Urreligion, vielleicht lebten sie beneidenswert froh und leicht in ihrem Panzer von Dummheit oder von äußerst schlauer Denkfeindschaft. (18) Der Heroismus, der in Tagesbefehlen und Siegesberichten so gut aussieht, ist eine Sentimentalität. Wenn ein Besiegter und Unglücklicher sich zu Füßen seiner Fahne das Leben nimmt, oder wenn einer, der Pech gehabt hat, nun nichts mehr von Freundschaft, Liebe und Güte wissen will, weil sie ihn seiner Meinung nach im Stich gelassen haben, so ist das ein Benehmen, das nur Theaterbesuchern imponiert. Mit den Zähnen knirschen, ist kein Heldentum, und mit der Faust in der Tasche sich auf ferne Revanchen vertrösten, ist jämmerlich. (19) Bekanntlich haben die krassesten Atavismen am heftigsten das Bedürfnis, sich als modern und als Fortschritt zu verkleiden. (20) Einen Rückfall in die faschistische Massensuggestion, wenn auch nur für kurze Perioden, halte ich in mehreren Ländern, nicht nur Europas, für möglich. Je mehr die individuelle Persönlichkeit und die Familie in den modernen Staaten an Wertschätzung und Wirkungsmöglichkeit verliert und durch Kollektiv und Gleichschaltung ersetzt wird, desto größer die Gefahr. (21) Der faschistische Versuch ist ein rückläufiger, unnützer und gemeiner Versuch, der kommunistische Versuch aber ist einer, den die Menschheit machen musste, und der trotz seinem traurigen Steckenbleiben im Unmenschlichen wieder und wieder wird gemacht werden müssen, um zwar nicht die dumme >>Diktatur des Proletariats<<, aber doch etwas wie Gerechtigkeit und Brüderlichkeit zwischen Bürgertum und Proletariat zu verwirklichen. Man vergisst das leicht bei der Ähnlichkeit der Methoden, mit der Faschismus und Kommunismus arbeiten. (22) Zum Herrschen braucht man keineswegs dumm und brutal zu sein, wie eitle Intellektuelle zuweilen meinten, wohl aber bedarf es zum Herrschen einer ungebrochenen Freude an einer nach außen gewendeten Aktivität, einer Leidenschaft des sich Identifizierens mit Zielen und Zwecken und auch einer gewissen Raschheit und Unbedenklichkeit in der Wahl der Wege zum Erfolg. Lauter Eigenschaften also, welche ein Gelehrter nicht haben darf und nicht hat, denn für ihn ist Betrachtung wichtiger als Tat. In der Wahl der Mittel und Methoden, um zu seinem Ziel zu kommen, hat er gelernt, so skrupulös und misstrauisch wie nur möglich zu sein. (23) Der primitive Mensch hasst das, wovor er sich fürchtet, und in manchen Schichten seiner Seele ist auch der zivilisierte und gebildete Mensch ein Primitiver. So beruht auch der Hass von Völkern und Rassen gegen andere Völker und Rassen nicht auf Überlegenheit und Stärke, sondern auf Unsicherheit und Schwäche. Ein wirklich Überlegener, ein wirklicher Herr wird den, dem er sich überlegen weiß, bemitleiden, vielleicht auch gelegentlich verachten, niemals aber hassen. (24) Die ganze Weltgeschichte scheint mir oft nichts anderes zu sein als ein Bilderbuch, das die heftigste und blindeste Sehnsucht der Menschen spiegelt: die Sehnsucht nach Vergessen. Tilgt da nicht jede Generation mit den Mitteln der Verbotes, des Totschweigens, des Spottes immer gerade das aus, was der vorigen Generation das Wichtigste schien? Haben wir es nicht eben erst erlebt, das ein ungeheurer, jahrelanger, grauenhafter Krieg von ganzen Völkern jahrelang vergessen, verleugnet, verdrängt und weggezaubert worden ist und das diese Völker jetzt, wo sie sich ein klein wenig ausgeruht haben, mit Hilfe spannender Kriegsromane sich dessen wieder zu erinnern suchen, was sie vor einigen Jahren selber angerichtet und erlitten haben? (25) Überall sucht man die >>Freiheit<< und das >>Glück<< irgendwo hinter sich, aus lauter Angst, an die eigene Verantwortlichkeit, an den eigenen Weg erinnert zu werden. Ein paar Jahre wird gesoffen und gejubelt, und dann kriecht man unter und wird ein seriöser Herr im Staatsdienst. (26) Jeder Mensch ist etwas Persönliches und Einmaliges, und an Stelle des persönlichen Gewissens ein kollektives setzen zu wollen, das heißt schon Vergewaltigung und ist der erste Schritt zu allem Totalitären. (27) Vielmals habe ich zugesehen, wie ein Saal voll Menschen, eine Stadt voll Menschen, ein Land voll Menschen von jenem Rausch und Taumel ergriffen wurde, bei dem aus den vielen Einzelnen eine Einheit, eine homogene Masse wird, wie alles Individuelle erlischt und die Begeisterung der Einmütigkeit, des Einströmens aller Triebe in einen Massentrieb Hunderte, Tausende oder Millionen mit einem Hochgefühl erfüllt, einer Hingabelust, einer Entselbstung und einem Heroismus, der sich anfänglich in Rufen, Schreien, Verbrüderungsszenen mit Rührung und Tränen äußert, schließlich aber in Krieg, Wahnsinn und Blutströmen endet. Vor dieser Fähigkeit des Menschen, sich an gemeinsamem Leid, gemeinsamem Stolz, gemeinsamem Hass, gemeinsamer Ehre zu berauschen, hat mein Individualisten- und Künstlerinstinkt mich stets aufs heftigste gewarnt. Wenn in einer Stube, einem Saal, einem Dorf, einer Stadt, einem Land dieses schwüle Hochgefühl spürbar wird, dann werde ich kalt und misstrauisch, dann schaudere ich und sehe schon das Blut fließen und die Städte in Flammen stehen, während die Mehrzahl der Mitmenschen, Tränen der Begeisterung und Ergriffenheit in den Augen, noch mit dem Hochrufen und der Verbrüderung beschäftigt sind. (28) An eine künftige >>bessere<< Menschheit glaube ich nicht, ich glaube nicht, dass sie je besser oder je schlechter ist, sie ist immer gleich. Aber die Einbrüche des Dämonischen ins Menschliche geschehen eben zu manchen Zeiten nicht nur verborgen unter Verbrechern und Psychopathen, sondern manchmal offen und im Großen, machen Politik und reißen ganze Völker mit. (29) Ich sehe nur noch mit Erstaunen, nicht mehr mit eigentlichem Verstehenwollen zu, wie noch die kindlichsten, ja viehischsten politischen Triebe sich als >>Weltanschauungen<< etc. geben, ja die Gebärden von Religionen annehmen. Diese Systeme haben mit dem so sehr viel geistvolleren Marxischen Sozialismus das gemein, dass sie den Menschen für nahezu unbegrenzt politisierbar halten, was er nicht ist – ich halte die Krämpfe der heutigen Welt größtenteils für eine Folge dieses Irrtums. (30) Ich habe mich im Lauf meiner Entwicklung den Problemen der Zeit nicht entzogen und nie, wie meine politischen Kritiker meinen, im elfenbeinernen Turme gelebt – aber das erste und brennendste meiner Probleme war nie der Staat, die Gesellschaft oder die Kirche, sondern der einzelne Mensch, die Persönlichkeit, das einmalige, nicht normierte Individuum. (31) Ich verstehe es und billige es, wenn ein Mensch viel von sich selbst verlangt, wenn er aber diese Forderung auf andere ausdehnt und sein Leben zum >>Kampf<< für das Gute macht, so muss ich mich des Urteils darüber enthalten, denn ich halte von Kampf, Aktion, Opposition nicht das mindeste; ich glaube zu wissen, dass jeder Wille zur Änderung der Welt zu Krieg und Gewalt führt, und kann darum mich keiner Opposition anschließen, denn ich billige die letzten Konsequenzen nicht, und halte das Unrecht und die Bosheit auf Erden nicht für heilbar. Was wir ändern können und sollen, das sind wir selber: unsere Ungeduld, unseren Egoismus (auch der geistige), unser Beleidigtsein, unseren Mangel an Liebe und Nachsicht. Jede andere Änderung der Welt, auch wenn sie von den besten Absichten ausgeht, halte ich für nutzlos. (32) Die Berührungen mit Rohheit und Neid, Schadenfreude und oft ungebreiflichem Hass in unserer Umwelt sind immer schrecklich, obwohl wir ja wissen sollten, dass es so ist, dass die Mehrheit der Menschen nur Halbmenschen sind und viele Bestien darunter. Wir sind von der Gemeinheit ebenso umgeben und bedroht wie vom Tode. Unser Erschrecken darüber hängt wohl damit zusammen, dass wir zwar die Gemeinheit nicht mit Gemeinheit erwidern, dass wir aber heimlich doch wissen oder ahnen, dass die Lebensbedingungen der meisten Menschen unwürdige sind und naturnotwendig Gemeinheit erzeugen müssen, und das wir etwas besser erzogenen, Gebildeteren und Verwöhnteren heimlich doch teilhaben an der Schrecklichkeit der Zustände. (33) Ich halte den Kommunismus nicht nur für berechtigt, sondern ich halte ihn für selbstverständlich – er würde kommen und siegen, auch wenn wir alle dagegen wären. Wer heute auf Seiten des Kommunismus steht, der bejaht die Zukunft. Nun aber fragen sie vermutlich: Warum ich, wenn ich doch an die Richtigkeit des Kommunismus glaube und es mit den Unterdrückten gut meine, denn nicht mit ihnen in den Kampf ziehe und meine Feder in den Dienst Ihrer Partei stelle. Darauf ist schwieriger zu antworten, denn hier handelt es sich um Dinge, die für mich heilig und bindend sind, die aber für Sie kaum existieren. Ich lehne es vollkommen und entschieden ab, als Parteimitglied einzutreten oder meine Schriftstellerei in den Dienst eines Programms zu stellen, obwohl die Aussicht auf Brüder und Kameraden, auf Gemeinschaft mit einer Welt von Gleichgesinnten lockend genug wäre. (34) Ich glaube an den Kommunismus als Programm für die kommende Menschheits-Stunde, ich halte ihn für unentbehrlich und unumgänglich. Aber ich glaube deswegen keineswegs daran, dass der Kommunismus auf die großen Lebensfragen bessere Antworten habe als irgendeine frühere Weisheit. Ich glaube, dass er nach hundert Jahren Theorie und dem großen russischen Versuch, jetzt nicht nur das Recht, sondern die Pflicht habe, sich in der Welt zu verwirklichen, und ich glaube und hoffe aufrichtig, dass es ihm gelingen werde, den Hunger abzuschaffen und einen großen Alpdruck von der Menschheit zu nehmen. Aber, dass damit das geleistet werde, was die Religionen, Gesetzgebungen und Philosophien früherer Jahrtausende nicht leisten konnten, das glaube ich nicht. Dass der Kommunismus über die Verkündigung vom Recht eines jeden Menschen auf Brot und auf Geltung hinaus recht habe und besser sei als irgendeine frühere Glaubensform, das glaube ich nicht. Er hat seine Wurzeln im neunzehnten Jahrhundert, mitten im Boden der dürrsten und dünkelhaftesten Verstandesherrschaft eines besserwissenden, phantasielosen und lieblosen Professorentums. (35) Ich rate keinem ab, sich einer Partei anzuschließen, sage aber jedem, dass, wenn er es zu jung tut, er Gefahr läuft, nicht nur das eigene Urteil zu verkaufen gegen die Annehmlichkeit, von Genossen umgeben zu sein, sondern ich weise jeden, auch meine Söhne, vor allem darauf hin, dass Zugehörigkeit zu Programm und Partei kein Spiel sein darf, sondern völlige Gültigkeit haben muss: dass also, wer sich auf Revolution einlässt, nicht bloß selber mit Leib und Leben seiner Sache zur Verfügung stehen, sondern auch zum Töten, zum Maschinengewehr und Gas entschlossen und fähig sein muss. (36) Der Faschismus und Bolschewismus sind zwar feindliche Brüder, aber doch Brüder, und wo der eine wächst, düngt er das Feld für den anderen und ruft ihn hervor. (37) Mit liegt alles Politische nicht, sonst wäre ich längst Revolutionär. (38) Zwischen Marx und mir ist, abgesehen von den viel größeren Dimensionen von Marx, der Unterschied der: Marx will die Welt ändern, ich aber den einzelnen Menschen. Er wendet sich an Massen, ich an Individuen. (39) Wahrscheinlich gehört die Zukunft dem Kommunismus. Eine andere Frage ist, wie lang die Zukunft dauern werde. Anno 1500 gehörte die Zukunft eindeutig dem Protestantismus. (40) Sich zum Kommunismus bekennen, heißt für den, der von sich selber gedankliche Rechenschaft fordert, die Frage: >>Will und billige ich die Revolution? Kann ich ja dazu sagen, dass Menschen totgeschlagen werden, damit andere Menschen es dann vielleicht etwas besser haben?<< Dort liegt das gedankliche Problem. Ich gestehe mir das Recht zur Revolution und zum Totschlag nicht zu. Das hindert nicht, dass ich die Volksmenge, welche irgendwo totschlägt und in Not und Wut explodiert, für unschuldig halte. Ich selber aber wäre, wenn ich dabei mittäte, nicht unschuldig, denn ich würde einen der wenigen unbedingt heiligen Grundsätze verleugnen, die ich habe. (41) Revolution ist nichts anderes als Krieg, ist genau wie dieser eine >>Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln<<. (42) Solange sich der Kommunismus nicht etwa die Verteilung von Macht und Besitz unter alle zum Ziel setzt, sondern die >>Diktatur des Proletariats<<, ist er mit Marx verglichen ein Rückschritt, und solange seine Nutznießer nicht das Volk, sondern die kleine Clique von Bonzen sind, ist ja nicht weiter darüber zu reden. (43) Die meisten Menschen haben ja keine persönlichen Gesinnungen, sondern die ihrer Kaste, sowohl die Kapitalisten wie die Sozialisten sind zu 99 Prozent Anhänger von Meinungen, zu deren Nachprüfung ihr Geist gar nicht ausreicht. (44) Das Gleichschalten, sei es noch so wohl gemeint, geht wider die Natur. Es führt zu Fanatismus und Krieg. (45) Es ist heute mit dem Sozialen, mit dem Kult der Gemeinschaft und des Kollektiven so, dass gerade die Egoisten und moralisch Kranken oft am heftigsten in soziale Theorien und Bindungen fliehen und uns andere verdächtigen, bei denen das Soziale, das heißt die Pflicht der Einordnung und das Ideal der Liebe, sich von selbst verstehen. (46) Ich hab in meinem Leben, das reich an Bekanntschaften mit Menschen vieler Länder war, bis jetzt nur eine ganz erstaunlich kleine Zahl von Menschen kennen gelernt, deren politische Ansichten tatsächlich sehr weit von denen der Leitartikel, die sie lesen, abweichen. Darum bin ich geneigt, die politische Meinung nicht als ein echtes Merkmal einer Persönlichkeit anzuerkennen, und interessiere mich viel mehr für das, was hinter diesen Meldungen steht, für die Menschen selbst. (47) Du hast recht, dass wir gegen den Staat und ähnliche Mächte wehrlos sind. Aber du hast nach meiner Meinung vollkommen unrecht, wenn du daraus den Schluss ziehst, wir müssten darauf antworten, indem wir uns >>skrupellos<< wehren. Gerade das dürfen wir nicht: über die Welt schimpfen, weil sie skrupellos ist, und selber ebenso skrupellos sein. Gerade das ist unser Vorrecht und unser Adel, dass wir Skrupel haben, dass wir nicht alles für erlaubt halten, dass wir das Hassen und Töten und alle übrige Sauerei nicht auch noch mitmachen. Die ruppige Gebärde >>Ich scheiße auf alles<< ist nicht erst von Euch erfunden worden. Sie ist in der Geschichte schon hundert mal da gewesen, man kann sie dulden, man kann sie verstehen als Reaktion schwacher und unerzogener Menschen auf grausame Übermacht – aber billigen und richtig finden kann man sie nicht. (48) Ob die Arbeiter ihre Fabrikanten totschlagen, oder ob Russen und Deutsche aufeinander schießen, es werden nur Besitzer getauscht. (49) Person und Programm sind nicht dasselbe. Man kann an Gegnern, ja an erklärten Feinden mehr Freude haben und mehr Gutes lernen als an Gesinnungsgenossen, die es nur mit dem Verstande, nur mit dem Worte sind. (50) Das Wort >>Persönlichkeit<< gilt heute nicht mehr unbedingt als ein Ideal, wie es das etwa zu Goethes Zeiten war: Sowohl von bürgerlicher, wie von proletarischer Seite her wird die Einzelpersönlichkeit heute als Selbstzweck abgelehnt – man sucht nicht, geniale Einzelne zu züchten, sondern einen normalen, gesunden, tüchtigen Durchschnitt. Die Fabriken gedeihen dabei vorzüglich. Aber es hat sich zum Beispiel schon in ganz kurzer Frist in Deutschland gezeigt, wie ganz lebenswichtige Funktionen des Volkskörpers Not leiden und in tödliche Krisen geraten, wenn es an jener Energie, Verantwortlichkeit und innerer Reinheit gebricht, die nur der hochgesinnte Einzelne aufbringt. Die grauenhafte Entartung des politischen Betriebes, des Parteilebens und des Parlamentarismus zeigt uns deutlich, wo es fehlt, und dieselben Parteien, die es einem auch nur wenig über Durchschnitt differenzierten Menschen unmöglich machen, in ihnen auszuharren, schreien nachher nach dem >>starken Mann<<. (51) Für mich gibt es zwei Menschengeschichten, die politische und die geistige. Etwas wie Fortschritt ist in beiden nicht feststellbar. Ob Simon die Philister mit einem Knochen totschlägt, oder Hitler Raketengeschosse nach England speit, ist dasselbe. Und von der Philosophie der Upanishaden bis zu Heidegger ist auch kein Fortschritt wahrzunehmen. Dagegen unterscheiden sich die beiden Historien doch sehr. Die sogenannte Weltgeschichte mag man betrachten, in welchem Abschnitt man will, so ist sie hässlich, grausam und teuflisch. Die Geschichte der Sprachen, der Denkweisen, der Künste aber ist auf jeder Strecke voll schöner, liebenswerter Bilder und Blüten. (52) Ich habe trotz allem in der Französischen Revolution von 1789 nie die Revolutionäre geliebt und bewundert, sondern stets die in guter Haltung sterbenden Aristokraten. Denn trotz allen christlichen, demokratischen und sozialistischen Wahrheiten, die auf einem flacheren Felde ja wahr bleiben, beruht jede Kultur, jede Schönheit auf Adel, auf einem Wohlgeborensein in Sinnen, Geist und Seele – heute müssen die edleren hinsterben, da sie wache und zarte Augen, Ohren und Seelen haben. (53) Es ist nicht nur der Völkerkrieg mit den Waffen, dessen Grauen und dessen Unsinn mir klargeworden sind. Es ist jeglicher Krieg, es ist jegliche Art von Gewalt und streitbarem Eigennutz, es ist jede Art von Geringschätzung des Lebens und von Missbrauch des Mitmenschen. Ich verstehe unter Friede nicht nur das Militärische und Politische, sondern ich meine den Frieden jedes Menschen mit sich selbst und mit dem Nachbarn, die Harmonie eines sinnvollen und liebevollen Lebens. (54) Man lacht über die Militärdienstverweigerer! Nach meiner Meinung sind sie das allerwertvollste Symptom der Zeit, auch wenn der Einzelne sonderbare Gründe angibt für sein Tun. Jetzt aber ist man schon so weit, dass eine ernsthafte Motion im Gange ist, man sollte denen, die aus sittlichen Gründen den Dienst verweigern, Gelegenheit schaffen, ihren Dienst in ziviler Arbeit abzulösen. Vielleicht wird das nicht durchgehen, heut noch nicht, aber kommen wird es absolut sicher, und vielleicht kommt dann auch eine Zeit wo auf drei Soldanten zehn Zivildienstleistende kommen werden, wo man ganz natürlich das Kriegshandwerk, soweit es noch existiert, den geborenen Raufbolden und Sauhunden überlässt. Aber alles das wäre nie gekommen, wenn nicht zuerst eine Anzahl Menschen den Mut gehabt hätten, einem starken Gefühl zulieb gegen die Allgemeinheit zu protestieren und den Dienst zu verweigern. (55) Krieg war immer, seit wir von Menschengeschicken wissen, und es wird so lange Krieg sein, als die Mehrzahl der Menschen nicht im Reich des Geistes mitlieben kann. Krieg wird noch lange sein, er wird vermutlich immer sein. Dennoch ist die Überwindung des Krieges nach wie vor unser edelstes Ziel. Der Forscher, der das Mittel gegen eine Seuche sucht, wird seine Arbeit nicht wegwerfen, wenn eine neue Epidemie ihn überrascht. Noch viel weniger wird >>Friede auf Erden<< und Freundschaft unter den Menschen, die eines guten Willens sind, jemals aufhören, unser Ideal zu sein. Menschliche Kultur entsteht durch Veredlung tierischer Triebe, durch Scham, durch Phantasie, durch Erkenntnis. Dass das Leben Wert sei, gelebt zu werden, ist der letzte Inhalt und Trost jeder Kunst, obgleich alle Lobpreiser des Lebens noch haben sterben müssen. Dass Liebe höher sei als Hass, Verständnis höher als Zorn, Friede höher als Krieg, dass muss ja eben dieser unselige Weltkrieg uns tiefer einbrennen, als wir es vorher je gefühlt. (56) Völlig falsch war die Meinung, die man während des Krieges oft äußern hörte: dieser Krieg sei schon durch seinen bloßen Umfang, seine grässliche Riesenmechanik geeignet, künftige Generationen vom Kriege abzuschrecken. Abschrecken ist kein Erziehungsmittel. Wem das Töten Spaß macht, dem wird es durch keinen Krieg verleidet. Die Handlungen der Menschen entspringen kaum zu einem Hundertstel rationellen Erwägungen. Man kann völlig von der Unsinnigkeit irgendeines Tuns überzeugt sein und es dennoch inbrünstig tun. (57) Es gibt nichts Gehässigeres als Grenzen, nichts Stupideres als Grenzen. Sie sind wie Kanonen, wie Generale: solange Vernunft, Menschlichkeit und Friede herrscht, spürt man nichts von ihnen und lächelt über sie – sobald aber Krieg und Wahnsinn ausbricht, werden sie wichtig und heilig. (58) Der Soldat, der Feinde totschießt, gilt doch eigentlich immer für den größeren Patrioten als der Bauer, der sein Land möglichst gut anbaut. Denn letzterer hat davon selber Vorteil. Und komischerweise gilt in unserer verzwickten Moral stets diejenige Tugend für zweifelhaft, die ihrem Inhaber selber wohl tut und nützt! Warum eigentlich? Weil wir gewohnt sind, Vorteile immer auf Kosten anderer zu erjagen. Weil wir voll Misstrauen meinen, immer gerade das begehren zu müssen, was ein anderer hat. (59) Wenn ein unartiges Kind sich gegen Strafe und Besserung sträubt, weil andere Kinder ebenso unartig seien, so lächeln wir und haben die Antwort schnell bereit. Aber ebenso wie das unartige Kind haben wir den ganzen traurigen Krieg hindurch uns immer wieder darauf berufen, dass unsere Feinde zum mindesten nicht besser seien als wir. (60) Zum Amtlichen und Offiziellen verhalte ich mich nach wie vor zähneknirschend und finde es schade und lächerlich, dass ganze Völker noch immer krampfhaft Kniebeugen machen und Befehlen folgen, während die Regierungen selber nicht wissen, was sie wollen und sollen. (61) Ich bin ein Ofen, aber ich könnte genauso gut ein Staatsmann sein. Ich habe einen großen Mund, wärme wenig, speie Rauch durch ein Rohr, trage einen guten Namen und wecke große Erinnerungen. (62) Leider hat man mit den Bibelzitaten im Mund von Staatsmännern bisher keine frohen Erfahrungen gemacht. (63) Hatten die Politiker denn je recht gehabt? War ein Vers von Hölderlin nicht mehr wert als alle Weisheit der Potentaten? (64) Der Vernünftige strebt nach Macht, sei es auch nur, um das >>Gute<< durchzusetzen. Seine größte Gefahr liegt hier, im Streben nach Macht, in ihrem Missbrauch, im Befehlenwollen, im Terror. Trotzki, dem es ganz unerträglich ist, einen Bauern prügeln zu sehen, lässt seiner Idee zuliebe ohne Skrupel Hunderttausende schlachten. (65) Die Gewalt ist das Böse, und die Gewaltlosigkeit der einzige Weg derer, die wach geworden sind. Diese Weg wird niemals der aller sein, und niemals der der Regierenden und derer, die die Weltgeschichte machen und die Kriege führen. Die Erde wird nie ein Paradies und die Menschheit nie mit Gott eins und versöhnt sein. Aber wenn man weiß, auf welcher Seite man steht, lebt man freier und ruhiger. Immer muss man auf Leiden und Vergewaltigung gefasst sein, niemals aber darf man selbst zum Töten bereit sein. (66) Einzig im Krieg wird das Töten erlaubt, weil im Krieg keiner aus Hass oder Neid zum eigenen Vorteil tötet, sondern alle nur das tun, was die Gemeinschaft verlangt. (67) Kriege führen auch die Ameisen, Staaten haben auch die Bienen, Reichtümer sammeln auch die Hamster. (68) Wer für geistige Werte arbeitet, wird immer sowohl die Hurrah-Patrioten, wie auch die Portemonnaie-Patrioten gegen sich haben, und sehr oft sind beide in einer Person vereinigt. (69) Man kann nicht den Patriotismus als atavistisch ansehen und dabei Mitglied von Kegelclubs oder Dichterkränzchen sein. (70) Es gibt für mich kein >>Vaterland<< und keine Ideale mehr, das ist alles bloß Dekoration für die Herren, die das nächste Schlachten vorbereiten. (71) Die an Tragik und Größe berauschte Jugend war einst, als sie mit Rucksack und Gitarre herumzog, halb drollig halb liebenswürdig, eignete sich aber bald darauf vorzüglich zum Kriegsführen, Erobern und Foltern. (72) Ich glaube, man wird später, wenn von unserer Zeit die Rede ist, bei ihr eine Neigung zur religiösen Überschätzung der Gemeinschaft und eine richtige >> Flucht<< aus den persönlichen Aufgaben in die sozialen feststellen. Diese Ansicht, das alles, was die Gemeinschaft betreffe, an sich und unbedingt besser und heiliger sei als das, was Sache des Einzelnen ist, kann ich nicht teilen. Die Anlage und Pflicht zur Sozialität ist eine von unseren Anlagen und Pflichten, eine wichtige, aber nicht die einzige und nicht die höchste, denn >>höchste<< Pflichten gibt es überhaupt nicht. Der fromme, auf Gott bezogene Mensch früherer Kulturen ist ganz von selber sozial von hohem Wert gewesen, obwohl er alle Sorgfalt nur auf sein persönliches Verhältnis zu Gott wendete. Und so ist es immer gewesen, bei den alten Chinesen schon und zu allen Zeiten: der tugendhafte, wertvolle, wünschenswerte, zur Vollkommenheit geeignete Mensch war immer der, der sich in direkter Beziehung zu Gott weiß, ganz einerlei, ob er General war oder Eremit, und wenn er an seinem Ort das tut, wozu der Mensch da ist: sich selber zu dem höchsten Grad von Wert reifen, dann war er ganz von selber auch im Wirken auf andre, auf Gemeinschaft und Staat wertvoll und wichtig. (73) Es lebe die Mannigfaltigkeit, die Differenzierung und Stufung. Herrlich ist es, dass es viele Rassen und Völker gibt, viele Sprachen, viele Spielarten der Mentalität und Weltanschauungen. Wenn ich ein Hasser und unversöhnlicher Gegner der Kriege, der Eroberungen und Annexionen bin, so bin ich es unter andrem auch aus dem Grunde, weil diesen finstern Mächten so viel an geschichtlich Gewordenem, hoch Individualisiertem, reich Differenziertem an menschlicher Kultur zum Opfer fällt. (74) Intensiv leben kann man nur auf Kosten des Ichs. Der Bürger nun schätzt nichts höher als das Ich (ein nur rudimentär entwickeltes Ich allerdings). Auf Kosten der Intensität also erreicht er und Sicherheit, statt Gottbesessenheit erntet er Gewissensruhe, statt Lust Behagen, statt Freiheit Bequemlichkeit, statt tödlicher Glut eine angenehme Temperatur. Der Bürger ist deshalb seinem Wesen nach ein Geschöpf von schwachem Lebensantrieb, ängstlich, jede Preisgabe seiner selbst fürchtend, leicht zu regieren. Er hat darum an Stelle der Macht die Majorität gesetzt, an Stelle der Gewalt das Gesetz, an Stelle der Verantwortung das Abstimmungsverfahren. (75) Die Gesetze und Rezepte sind nicht für die Einzelnen da, sondern für die Vielen, für die Herden, Völker und Kollektive. Die wirklichen Persönlichkeiten haben es schwerer, aber auch schöner, sie genießen nicht den Schutz der Herde, aber die Freuden der eigenen Phantasie, und müssen, wenn sie die Jugendjahre überstehen, eine sehr große Verantwortung tragen. (76) Der Dichter ist weder etwas Besseres noch etwas Geringeres als der Minister, als der Ingenieur, als der Volksredner, aber er ist etwas vollkommen anderes als sie. Ein Beil ist ein Beil, und man kann damit Holz spalten oder auch Köpfe. Eine Uhr aber oder ein Barometer sind zu anderen Zwecken da, und wenn man mit ihnen Holz oder Köpfe spalten will, gehen sie kaputt, ohne dass irgendjemand davon Nutzen hat. (77) Gesellschaft und Individuum Je näher man beieinander sitzt, desto schwerer lernt man sich kennen. (78) >>Wirklich<< nennt der Bürger nur die Dinge, die von allen oder doch von vielen ähnlich wahrgenommen werden. (79) >>Ein Verbrecher<<, das sagt man so und meint damit, dass einer etwas tut, was andere ihm verboten haben. (80) Für den Mitbürger ist alles ein Heiligtum, was gemeinsam und gemeinschaftlich ist, was er mit vielen, womöglich mit allen teilt, was ihn nie an Einsamkeit, an Geburt und Tod, an das innerste Ich erinnert. (81) Mir ist es so gegangen: Bespuckt und angegriffen bin ich noch niemals wegen irgendeiner dummen und halben und wertlosen Sache worden, sondern wenn ich ausgepfiffen wurde, so war es jedes Mal für eine Leistung oder Gesinnung, die sich nachher bewährt hat. (82) Wer stärker individualisiert ist, muss erkennen, dass das Leben ein Kampf zwischen Opfer und Trotz, zwischen Anerkennung der Gemeinschaft und Rettung der Persönlichkeit ist. (83) Wenn in besonders begabten und zart organisierten Menschenseelen die Ahnung ihrer Vielspältigkeit aufdämmert, wenn sie, wie jedes Genie, den Wahn der Persönlichkeitseinheit durchbrechen und sich als mehrteilig, als ein Bündel aus vielen Ichs empfinden, so brauchen sie das nur zu äußern, und alsbald sperrt die Majorität sie ein, ruft die Wissenschaft zu Hilfe, konstatiert Schizophrenie und beschützt die Menschheit davor, aus dem Munde dieser Unglücklichen einen Ruf der Wahrheit vernehmen zu müssen. (84) Was ist groß oder klein, wichtig oder unwichtig? Die Psychiater erklären einen Menschen für gemütskrank, der auf kleine Störungen, kleine Reizungen, kleine Beleidigungen seines Selbstgefühls empfindlich und heftig reagiert, während derselbe Mensch vielleicht Leiden und Erschütterungen gefasst erträgt, welche der Majorität sehr schlimm erscheinen. Und ein Mensch gilt für gesund und normal, dem man lange auf die Zehen treten kann, ohne dass er es merkt, der die elendeste Musik, die kläglichste Architektur, die verdorbenste Luft klaglos und beschwerdelos erträgt, der aber auf den Tisch haut und den Teufel anruft, sobald er beim Kartenspiel ein bisschen verliert. Ich habe in Wirtshäusern schon sehr häufig Menschen von gutem Ruf, die für durchaus normal und ehrenwert gelten, wegen eines verlorenen Spiels, namentlich wenn sie einem Mitspieler meinten die Schuld am Verlust aufbürden zu müssen, so fanatisch, so grob, so säuisch fluchen und toben hören, dass ich sehr das Bedürfnis fühlte, beim nächsten Arzt die Internierung dieser Unglücklichen zu beantragen. Es gibt eben vielerlei Maßstäbe, die man alle gelten lassen kann; aber irgendeinen von ihnen, sei es auch der der Wissenschaft oder der der augenblicklichen öffentlichen Moral, für heilig zu halten, will mir nicht gelingen. (85) Jeder Mensch ist Mittelpunkt der Welt, um jeden scheint sie sich willig zu drehen, und jeder Mensch und jedes Menschen Lebenstag ist der End- und Höhepunkt der Weltgeschichte: hinter ihm die Jahrtausende und Völker sind abgewelkt und dahingesunken, und vor ihm ist nichts, einzig der Augenblick, dem Scheitelpunkt der Gegenwart scheint der ganze riesige Apparat der Weltgeschichte zu dienen. Der primitive Mensch empfindet jede Störung dieses Gefühls, dass er Mittelpunkt sei, dass er am Ufer stehe, während die anderen vom Strom herabgerissen werden, als Bedrohung, er lehnt es ab, erweckt und belehrt zu werden, er empfindet das Erwachen, das Berührtwerden von der Wirklichkeit, er empfindet den Geist als feindlich und hassenswert und wendet sich mit erbittertem Instinkt von jenen ab, die er von Zuständen des Wachwerdens befallen sieht, von den Sehern, Problematikern, Propheten, Besessenen. (86) Der Mensch, der sich selber zuliebe nicht das kleinste Sittengebot übertreten darf – für die Gemeinschaft, für Volk und Vaterland darf er alles tun, auch das Verbotenste, auch das Furchtbarste, und jeder sonst verpönte Trieb wird hier zu Pflicht und Heldentum. (87) Jeder von uns muss für sich selber finden, was erlaubt und was verboten – ihm verboten ist. Man kann niemals etwas Verbotenes tun und kann ein großer Schuft dabei sein. (88) Den Führer braucht und verlangt, wer selbst nicht verantworten und selber nicht denken mag. (89) Wer zu bequem ist, selber zu denken und selber sein Richter zu sein, der fügt sich eben in die Verbote, wie sie nun einmal sind. Er hat es leicht. (90) Was ich niemals wünsche, auch in den schlechtesten Stunden nicht, das ist ein mittlerer Zustand zwischen Gut und Schlecht, so eine laue erträgliche Mitte. Nein, lieber noch eine Übertreibung der Kurve – lieber die Qual noch böser und dafür die seligen Augenblicke noch um einen Glanz reicher! (91) Der Mensch, so glaube ich, ist großer Erhebungen und großer Schweinereien fähig, er kann zum Halbgott steigen und zum Halbteufel sinken; aber er fällt, wenn er etwas recht Großes oder recht Säuisches getan hat, immer wieder auf seine Füße und auf sein Maß zurück, und dem Pendelschlag der Wildheit und Dämonie folgt unweigerlich der Rückschlag, folgt die dem Menschen unentrinnbar eingeborene Sehnsucht nach Maß und Ordnung. (92) Die Wissenden sind immer nur wenige. Aber vielleicht bedürfen sie der Masse, die sie umhüllt und verbirgt, ebenso sehr, wie die Masse ihrer bedarf. (93) Leute mit Mut und Charakter sind den anderen Leuten immer sehr unheimlich. (94) Wo die edleren Tiere verrecken, siegt das Karnickel; es macht keine Ansprüche, fühlt sich wohl und pflanzt sich zahllos fort. (95) Es gibt nichts so Böses, Wildes und Grausames in der Natur wie die Normalmenschen. (96) >>Charakter<< nennt man einen Mann, der einige eigene Ansichten und Ahnungen hat, aber nicht nach ihnen lebt. Er lässt nur ganz fein so je und je durchblicken, dass er anders denkt, dass er Meinungen hat. (97) Dieselbe Menschheit, die den Gehorsam gegen ihre willkürlichen Gesetze als höchste Tugend bei den Lebenden preist und fordert, nimmt in ihr ewiges Pantheon gerade jene auf, die jener Forderung Trotz boten und lieber ihr Leben ließen, als ihrem >>eigenen Sinn<< untreu wurden. (98) Was meine Schritte im praktischen Leben oft hemmt oder verlangsamt, was wie Zögern oder Unentschlossenheit aussieht, ist vielleicht bei mir Schwäche, ist aber das Gegenteil von Leichtsinn, beruht auf einem sehr gesteigerten Gefühl der Verantwortlichkeit des Menschen für jeden seiner Schritte. (99) Der Mensch hat auf der Erde das Regiment erobert, und er ist kein guter Regent. Aber die Erwachten und Gutgesinnten müssen dennoch das ihre tun, nicht mit Lehren und Predigten, sondern indem jeder in seinem Kreise sinnvoll zu leben sucht. (100) Es sind eigentlich nur die >>nützlichen<< Erfindungen, denen ich abgeneigt bin und misstraue. Bei diesen angeblich nützlichen Errungenschaften ist immer so ein verfluchter Bodensatz dabei, sie sind alle so schäbig, so ungroßmütig, so kurzatmig, man stößt so schnell auf ihren Antrieb, auf die Eitelkeit oder die Habsucht, und überall hinterlassen diese nützlichen Kulturerscheinungen einen langen Schweif von Schweinerei, von Krieg, von Tod, von verheimlichten Elend. Hinter der Zivilisation her ist die Erde voll von Schlackenbergen und Abfallhaufen, die nützlichen Erfindungen haben nicht nur hübsche Weltausstellungen und elegante Automobilsalons zur Folge, sondern es folgen ihnen auch Heere von Bergwerkarbeitern mit blassen Gesichtern und elenden Löhnen, es folgen ihnen Krankheiten und Verödung, und dass die Menschheit Dampfmaschinen und Turbinen hat, dafür zahlt sie mit unendlichen Zerstörungen im Bild der Erde und im Bilde des Menschen, dafür zahlt sie mit Zügen im Gesicht des Arbeiters, mit Zügen im Gesicht des Unternehmers, mit Verkümmerungen der Seele, mit Streiken und mit Kriegen, mit lauter schlimmen und abscheulichen Dingen, während dagegen dafür, dass der Mensch die Violine erfunden, und dafür, dass jemand die Arien im Figaro geschrieben hat, keinerlei Preis bezahlt werden muss. Mozart und Mörike haben der Welt nicht viel gekostet, sie waren wohlfeil wie der Sonnenschein, jeder Angestellte in einem technischen Bureau kommt teurer. (101) Auch der ungeistige, oberflächliche, dem Denken abgeneigte Mensch hat noch jenes uralte Bedürfnis, einen Sinn seines Lebens zu erkennen, und wenn er keinen mehr findet, steht das Privatleben unter dem Zeichen wildgesteigerter Selbstsucht und gesteigerter Todesangst. (102) Man kann Zeit leicht in Geld verwandeln, wie man elektrischen Strom leicht in Licht und Wärme verwandeln kann. Irrsinnig und gemein an jenem dümmsten aller Menschheitssätze ist ja nur dies, dass >>Geld<< unbedingt als Bezeichnung für einen höchsten Wert gesetzt wird. (103) Mir schiene für sehr viele schwer selenkranke Menschen der rasche Verlust ihres Vermögens und die Erschütterung ihres Glaubens an die Heiligkeit des Geldes durchaus kein Unglück, sondern die sicherste, ja die einzig mögliche Rettung zu bedeuten, und ebenso scheint mir inmitten unseres heutigen Lebens, im Gegensatz zum alleinigen Kultus der Arbeit und des Geldes der Sinn für das Spiel des Augenblicks, das Offenstehen für den Zufall, etwas durchaus Wünschenswertes, woran wir alle sehr Mangel leiden. (104) Wir kennen zwar nicht >>gute<< und >>schlechte<< Gesinnungen, nicht rechte und linke – wir kennen aber zweierlei Menschen und urteilen einzig danach: solche, die ihre Gesinnungen zu leben suchen, und solche, die ihre Gesinnungen nur in der Brusttasche tragen. (105) Es kommt, wenn ein Mensch das Bedürfnis hat, sein Leben zu rechtfertigen, nicht auf eine objektive, allgemeine Höhe der Leistung an, sondern eben darauf, dass er sein Wesen, das ihm Mitgegebene, so völlig und rein wie möglich in seinem Leben und Tun zur Darstellung bringe. Tausend Verführungen bringen uns ständig von diesem Wege ab, aber die stärkste aller Verführungen ist die, dass man im Grunde ein ganz anderer sein möchte als man ist, dass man Vorbildern und Idealen folgt, die man nicht erreichen kann und auch gar nicht erreichen soll. Diese Verführung ist darum für höher veranlagte Menschen besonders stark und gefährlicher als die vulgären Gefahren des bloßen Egoismus, weil sie den Anschein des Edlen und Moralischen hat. (106) Meine Aufgabe ist es nicht, andern das objektiv Beste zu geben, sonder das Meine so rein und aufrichtig wie möglich. (107) Nach meiner Erfahrung ist der ärgste Feind und Verderber der Menschen der auf Denkfaulheit und Ruhebedürfnis beruhende Drang nach dem Kollektiv, nach Gemeinschaften mit absolut fester Dogmatik, sei diese nun religiös oder politisch. (108) Es kommt einzig auf den Mut an. Er geht auch dem Tapfersten oft verloren, dann neigen wir zum Suchen nach Programmen, nach Sicherheiten und Garantien. Der Mut bedarf der Vernunft, aber er ist nicht ihr Kind, er kommt aus tieferen Schichten. (109) Der echte Heilige, obwohl er selbst hohe Grade der Askese von sich verlangt, ist maßvoll, ja lässlich in den asketischen Forderungen, die er an andere stellt. (110) Gehorchen ist wie Essen und Trinken. Wer es lange entbehrt hat, dem geht nichts darüber. (111) Was lange leben will, muss dienen. Was aber herrschen will, das lebt nicht lange. (112) Der Machtmensch geht an der Macht zugrunde, der Unterwürfige am Dienen, der Lustsucher an der Lust. (113) Geld und Macht sind Erfindungen des Misstrauens. (114) Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf. (115) Klarheit über ihre Gefühle und über die >>Tragweite<< und Folgen ihrer Handlungen haben nur die guten, gesicherten Menschen, die an das Leben glauben und keinen Schritt tun, den sie nicht auch morgen und übermorgen werden billigen können. Ich habe nicht das Glück, zu ihnen zu zählen, und ich fühle und handle so wie einer, der nicht an morgen glaubt und jeden Tag für den letzten ansieht. (116) Wir können einander verstehen, aber deuten kann jeder nur sich selbst. (117) Das Bürgerliche als ein stets vorhandener Zustand des Menschlichen ist nichts anderes als das Streben nach einer ausgeglichenen Mitte zwischen den zahllosen Extremen und Gegensatzpaaren menschlichen Verhaltens. (118) Wer höher steigt und größere Aufgaben bekommt, wird nicht freier, er wird nur immer verantwortlicher. (119) Es ist der Beginn jedes Niedergangs: Das Ernstnehmen der großen Dinge und das Nichternstnehmen der kleinen für selbstverständlich zu halten. Das man die Menschheit hoch achtet, seine Dienstboten aber plagt – dass man Vaterland oder Kirche oder Partei heilig hält, seine Tagesarbeit aber schlecht und schluderig macht, damit fängt jede Korruption an. Es gibt gegen sie nur ein Erziehungsmittel: dass man bei sich selbst wie bei den anderen alle die sogenannten ernsten und heiligen Dinge wie Gesinnung, Weltanschauung, Patriotismus vorerst ganz beiseite lässt, dagegen allen Ernst dem Kleinen und Kleinsten, dem Dienst des Augenblicks zuwendet. (120) Ich halte nicht den pflichttreuen Offizier für weniger als den wehrlos beleibenden Märtyrer, jeder steht an seinem Platz und taugt genau so viel, als er an Treue und Opfer leistet. Wenn ein Offizier seine Pflicht erfüllt, hat er meine volle Anerkennung – wenn er das nicht tut, wenn er zwar genau darauf achtet, ob seine Soldaten ihn pünktlich grüßen, im Fall der Not aber zuerst an sich selbst denkt, dann ist er eben ein Lump. Und ebenso: wenn ein Pazifist sein Leben lang Wehrlosigkeit und Verzicht auf Gewalt predigt, im Fall der Gefahr dann aber doch nach Kanonen und Bomben zu seiner Rettung schreit, dann ist er ebenfalls ein Lump. (121) Wenn wir bereit sind, unser Wohlsein, unsre Bequemlichkeit, unser Leben dem Volk zu opfern, wenn es in Gefahr ist, so schließt das nicht mit ein, dass wir den Geist selbst den Interessen des Tages, der Generäle oder des Volkes zu opfern bereit wären. Den Sinn für die Wahrheit, die intellektuelle Redlichkeit irgendeinem anderen Interesse opfern, auch dem des Vaterlandes, ist Verrat. Der Gelehrte, der wissentlich das Falsche sagt, wissentlich Lügen und Fälschungen unterstützt, handelt nicht nur gegen organische Grundgesetze, er tut außerdem, jedem aktuellen Anschein zum Trotz, seinem Volk keinen Nutzen, sondern Schaden, er vergiftet das Denken und das Recht und hilft allem Bösen und Feindlichen. (122) Wir Geistigen haben, allen Dampfwalzen und Normierungen zum Trotz, das Differenzieren zu üben und nicht das Verallgemeinern. (123) In einer Sache schweigen, über die alles klatscht, über Menschen und Einrichtungen ohne Feindschaft lächeln, das Minus an Liebe in der Welt durch ein Plus an Liebe im Kleinen und Privaten bekämpfen: durch vermehrte Treue in der Arbeit, durch größere Geduld, durch Verzicht auf manche billige Rache des Spotts und der Kritik: das sind allerlei Wege, die man gehen kann. (124) Suchen Sie mit allen Kräften eine Ihnen gemäße Lebensform, auch wenn Sie alle >>Pflichten<< dafür versäumen. Die Pflichten beziehen einen großen Teil ihrer Heiligkeit, wenn nicht die ganze, aus einem Mangel an Mut im Kampf um ein Privatleben. (125) Wer >>nicht in die Welt passt<<, der ist immer nahe daran, sich selber zu finden. Wer in die Welt passt, findet sich nie, er wird jedoch Nationalrat. (126) Sie sollten nicht fragen: >>Ist meine Art und Einstellung dem Leben gegenüber die richtige?<< denn darauf gibt es keine Antwort: jede Art ist ebenso richtig wie jede andre Art, jede ist ein Stück Leben. Sie sollten vielmehr fragen: >>Da ich nun einmal so bin, wie ich bin, da ich diese Bedürfnisse und Probleme in mir habe, die so vielen andern scheinbar ganz erspart bleiben – was muss ich tun, um dennoch das Leben zu ertragen und womöglich etwas Schönes aus ihm zu machen?<< Und die Antwort darauf wird, wenn sie wirklich auf die innerste Stimme hören, etwa so sein: >>Da du nun einmal so bist, solltest du andre wegen ihres Andersseins weder beneiden noch verachten und sollst nicht nach der >>Richtigkeit<< deines Wesens fragen, sondern solltest deine Seele und ihre Bedürfnisse ebenso hinnehmen wie deinen Körper, deinen Namen, deine Herkunft etc.: als etwas Gegebenes, Unentrinnbares, wozu man ja sagen und wofür man einstehen muss, und wenn auch die ganze Welt dagegen wäre.<< (127) Für gewöhnlich weiß man genau und ist davon überzeugt, dass der Herr Beamte ein einwandfreier Bürger, ein gerechtfertigtes Kind Gottes, ein richtig nummeriertes und nützliches Mitglied der Menschheit ist, während der Irre eben ein armer Kerl ist, ein unglücklicher Kranker, den man duldet, den man bedauert, der aber keinen Wert hat. Aber dann kommen Tage oder doch Stunden, etwas wenn man ungewöhnlich viel mit Professoren oder mit Irren verkehrt hat, da plötzlich das Gegenteil wahr ist: Dann sieht man in dem Irren einen stillen, in sich sichern Glücklichen, einen Weisen, einen Liebling Gottes, charaktervoll in sich selbst und in seinem Glauben von sich selbst begnügt – der Professor oder Beamte aber scheint einem entbehrlich, von mäßigem Charakter, eine persönlichkeitslose und naturlose Figur, von welcher zwölf aufs Dutzend gehen. (128) Jeder Aufstieg in der Stufe der Ämter ist nicht ein Schritt in die Freiheit, sondern in die Bindung. Je größer die Amtsgewalt, desto strenger der Dienst. Je stärker die Persönlichkeit, desto verpönter die Willkür. (129) Die Leute lieben Originale nicht, sie haben alles lieber aus zweiter Hand. Man hat das Neue nur gern, wenn es schon verdaut und verändert, verkleinert und verzierlicht serviert wird. (130) Nur der Einzelne kann im Kampf gegen die natürlichen Triebe das Unmögliche erreichen. Eine Gemeinschaft, ein Volk kann das nicht, die wollen mit Zugeständnissen und Anpassungen rein praktisch behandelt sein. (131) Natürlich gibt es sehr viele Menschen, denen das Leben leichter fällt und die scheinbar oder wirklich >>glücklicher<< sind; es sind die nicht stark Individualisierten, die keine Probleme kennen. (132) Ich bin mein Leben lang ein Verfechter des Einzelnen, der Persönlichkeit gewesen und glaube nicht daran, dass es Allgemeingesetze gibt, mit denen dem Einzelnen gedient wäre. Die Gesetze und Rezepte sind im Gegenteil auch nicht für den Einzelnen da, sondern für die Vielen, für die Herden, Völker und Kollektive. Die wirklichen Persönlichkeiten haben es auf Erden schwerer, aber auch schöner, sie genießen nicht den Schutz der Herde, aber die Freuden der eigenen Phantasie, und müssen, wenn sie die Jugendjahre überstehen, eine sehr große Verantwortung tragen. (133) Die Normalen, so sah ich, waren dazu da, die gefundene Form einer Lebensweise, einer Rasse und Art festzuhalten, zu schützen und zu befestigen, damit Rückhalt und Lebensvorrat da sei. Die Phantasten aber waren dazu da, ihre Sprünge zu machen und das nie Erdachte zu träumen, damit vielleicht einmal aus dem Fisch ein Landtier und aus dem Affen ein Affenmensch werden könne. (134) Das >>private<<, das individuelle Leben in seiner Bedrohtheit durch die Mechanisierung, durch den Krieg, durch den Staat, durch die Massenideale war es, das ich zu verteidigen hatte. Auch war mir nicht unbekannt geblieben, dass nicht selten mehr Mut dazu gehört, unheroisch und einfach menschlich statt heldisch zu sein. (135) Für mich ist erster Glaubenssatz die Einheit hinter und über den Gegensätzen. Natürlich leugne ich nicht die Möglichkeit, solche Schemata aufzustellen, wie >>aktiv<< und >>kontemplativ<<, und leugne nicht, dass es nützlich sein kann, die Menschen aufgrund solcher Typenlehren zu beurteilen. Es gibt Aktive und es gibt Kontemplative. Aber dahinter steht die Einheit, und wirklich lebendig und im günstigen Fall vorbildlich ist für mich nur der, der beide Gegensätze in sich hat. Ich habe nichts gegen den rastlosen Arbeiter und Schaffer und habe auch nichts gegen den nabelbeschauenden Einsiedler, aber interessant oder gar vorbildlich kann ich beide nicht finden. Der Mensch, den ich suche und erwünsche, ist der, der sowohl der Gemeinschaft wie des Alleinseins, sowohl der Tat wie der Versenkung fähig ist. Und wenn ich in meinen Schriften, wie es scheint, dem beschaulichen Leben den Vorzug vor dem tätigen gebe, so ist es vermutlich deswegen, weil ich unsre Welt und Zeit voll von aktiven, tüchtigen, rührigen, der Kontemplation aber unfähigen Menschen sehe. (136) Ein Flugapparat und ein Projektil zum Monde sind gewiss ergötzliche und freudige Dinge, aber dass durch sie die Menschen und ihre Beziehungen untereinander wesentlich geändert werden könnten, mögen wir doch angesichts der Weltgeschichte nicht gerne glauben. (137) Auf der Stufe der Unschuld bekämpfen sich Fromm und Vernunft so, wie Kinder von verschiedener Veranlagung sich bekämpfen. Auf der zweiten Stufe bekämpfen sich, wissend geworden, die beiden Gegenpole mit der Heftigkeit, Leidenschaft und Tragik der Staatsaktionen. Auf der dritten Stufe beginnen die Kämpfer einander zu erkennen, nicht mehr in ihrer Fremdheit, sondern in ihrem Aufeinanderangewiesensein. Sie beginnen, einander zu lieben, sich nacheinander zu sehnen. Von hier führt der Weg in Möglichkeiten des Menschentums, deren Verwirklichung bisher von Menschenaugen noch nicht erblickt wurden. (138) Wenn man jemand fürchtet, dann kommt es daher, dass man diesem Jemand Macht über sich eingeräumt hat. (139 – aus Demian) Je weniger ich an unsere Zeit glauben kann, je mehr ich das Menschentum verkommen und verdorren zu sehen meine, desto weniger stelle ich diesem Verfall die Revolution entgegen, und desto mehr glaube ich an die Magie der Liebe. (140) Es bleibt zwischen Menschen, sie seien noch so eng verbunden, immer ein Abgrund offen, den nur die Liebe, und auch die nur mit einem Notsteg, überbrücken kann. (141) Stets ist >>die Menschheit<<, d. h. die Majorität der Menschen, gegen die gewesen, die das Gute wollen, denn die Masse ist weder gut noch böse, sie ist vor allem träge und hasst nichts mehr als alle Anrufe, die an ihr Gewissen ergehen. Stets wird die Entwicklung zum Höheren, die Überwindung des Egoismus und der Trägheit nur von Einzelnen geleistet, nie von Majoritäten. (142) Wessen Persönlichkeit sich schwer und kämpfend von seinen Herkünften losgelöst hat, der neigt nicht dazu, seine teuer erkaufte Freiheit und Verantwortlichkeit an irgendein Schema und Programm, eine Schule, eine Richtung, eine Clique hinzugeben. (143) Aufgaben des Einzelnen Ja, sagen Sie ja zu sich, zu ihrer Absonderung, Ihren Gefühlen, Ihrem Schicksal! Es gibt keinen andern Weg. Wohin er führt, weiß ich nicht, aber er führt ins Leben, in die Wirklichkeit, ins Brennende und Notwendige. Sie können ihn unerträglich finden und sich das Leben nehmen, das steht jedem offen, der Gedanke daran tut oft wohl, auch mir. Aber ihm entgehen, durch Entschluss, durch Verrat am eigenen Schicksal und Sinn, durch Anschluss an die >>Normalen<<, das können Sie nicht. Es würde nicht lang gelingen und größere Verzweiflung bringen als die jetzige. (144) Furcht vor Wahnsinn ist meistens nichts anderes als Furcht vor dem Leben, vor den Forderungen unserer Entwicklung und unserer Triebe. Zwischen dem naiven Triebleben und dem, was wir bewusst sein möchten und zu sein streben, ist immer eine Kluft, man kann sie nicht überbrücken, wohl aber immer wieder überspringen, hundertmal, und jedes Mal gehört Mut dazu und befällt uns vor dem Sprung einige Angst. (145) Schicksal kann man nur durch Begreifen überwinden. (146) Mancher hält sich für vollkommen, nur weil er geringere Ansprüche an sich stellt. (147) Der Mensch ist ja keine feste und dauernde Gestaltung (dies war, trotz entgegengesetzter Ahnungen ihrer Weisen, das Ideal der Antike), er ist vielmehr ein Versuch und Übergang, er ist nichts andres als die schmale, gefährliche Brücke zwischen Natur und Geist. Nach dem Geiste hin, zu Gott hin treibt ihn die innerste Bestimmung – nach der Natur, zur Mutter zurück zieht ihn die innigste Sehnsucht: zwischen beiden Mächten schwankt angstvoll sein Leben. (148) Die Würde des Menschen steht und fällt damit, dass er sich Ziele im Unerreichbaren setzen kann, wie seine Tragik darin liegt, dass er den Wettlauf und die Praktiken der Welt gegen sich hat. (149) Wir sollen nicht suchen, sondern finden, nicht urteilen, sondern schauen und begreifen, einatmen und das Aufgenommene verarbeiten. Wir sollen unser eigenes Wesen dem Ganzen verwandt und eingeordnet fühlen. Erst dann haben wir wirkliche Beziehungen zur Natur. (150) Das Chaos will anerkannt, will gelebt sein, ehe es sich in neue Ordnung bringen lässt. (151) Immer wieder klammert man sich an das Liebgewonnene und meint, es sei Treue, es ist aber bloß Trägheit. (152) Die Praxis sollte das Ergebnis des Nachdenkens sein, nicht umgekehrt. (153) Ich glaube, dass ich für die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit des Lebens nicht verantwortlich bin, dass ich aber dafür verantwortlich bin, was ich selber mit meinem eigenen, einmaligen Leben anfange. (154) Wem Schicksal von außen kommt, den erlegt es, wie der Pfeil das Wild erlegt. Wem Schicksal von innen und aus seinem Eigensten kommt, den stärkt es und macht ihn zum Gott. (155) Dein Leben wird dadurch nicht flach und dumm, wenn du weißt, dass dein Kampf erfolglos sein wird. Es ist viel flacher, wenn du für etwas Gutes und Ideales kämpfst und nun meinst, du müsstest es auch erreichen. (156) Es gibt Frieden, gewiss, aber nicht einen, der dauernd in uns wohnt und uns nicht mehr verlässt. Es gibt nur einen Frieden, der immer und immer wieder mit unablässigen Kämpfen erstritten wird und von Tag zu Tag neu erstritten werden muss. (157) Mit der körperlichen Verwöhnung und Trägheit geht die geistige Hand in Hand. (158) Mit körperlichen Schmerzen fertig zu werden, wenn sie länger dauern, ist gewiss etwas vom Schwierigsten. Die Heldennaturen wehren sich gegen den Schmerz, suchen ihn zu leugnen und beißen die Zähne zusammen, in der Art der römischen Stoiker, aber so hübsch diese Haltung ist, so neigen wir doch dazu, an der Echtheit der Schmerzüberwindung zu zweifeln. Meinerseits bin ich mit starken Schmerzen immer am besten fertig geworden, wenn ich mich nicht gegen sie gewehrt habe, sondern mich ihnen überlassen habe, so wie man sich einem Rausch oder Abenteuer überlässt. (159) Jeder Versuch, die Kultur, den Geist und ihre Forderungen ernst zu nehmen und nach ihnen zu leben, führt unfehlbar zur Verzweiflung. Die Erlösung kommt dann jeweils aus der Erkenntnis, dass wir subjektive Erlebnisse und Zustände zu sehr objektiviert haben. Diese Erlebnisse des Erlöstwerdens sichern natürlich nicht gegen neue Verzweiflungen. Aber sie fördern den Glauben daran, dass jede Verzweiflung von innen überwindbar sei. (160) Das Gewissen hat nichts zu tun mit Moral, nichts mit Gesetz, es kann zu ihnen in die furchtbarsten, tödlichsten Gegensätze kommen, aber es ist unendlich stark, es ist stärker als Trägheit, stärker als Eigennutz, stärker als Eitelkeit. (161) Kein kostbarstes Kleinod ist so unanfechtbar schön, dass ihm nicht Gewöhnung und Lieblosigkeit den Glanz des Wertvollen rauben könnte; darum erscheint es mir eine erstrebenswerte Kunst: die Andacht und Liebe, die wir gern den fern stehenden und entrückten Schönheiten gönnen, auch den nahen und gewohnten zu schenken. (162) Meinungen interessieren mich nur da, wo sie zu Taten und Opfern führen. Ein Mann, der das Gegenteil denkt wie ich, mir aber als Kerl gefällt und imponiert, ist mir viel lieber als irgendein Gesinnungsgenosse, der vielleicht ein Feigling und Schwätzer ist. (163) Die Wirklichkeit ist das, womit man unter gar keinen Umständen zufrieden sein, was man unter gar keinen Umständen anbeten und verehren darf, denn sie ist der Zufall, der Abfall des Lebens. Sie ist auf keine andere Weise zu ändern, als indem wir sie leugnen, indem wir zeigen, dass wir stärker sind als sie. (164) Uns, denen von der Kunst, von der Natur oder den Wissenschaften her der Sinn für Qualität und der Dienst an ihr als Aufgabe geworden ist, uns kann es niemals obliegen, der Quantität zu dienen und, sei es auf westliche oder östliche Weise, den Irrtum zu fördern, dass die menschlichen Probleme sich wie mathematische lösen ließen. Wir haben den Werten zu dienen, an die wir wirklich glauben, auch wenn wir ihnen nur auf engstem Raum dienen können. (165) Dass ich den mir wichtigen Kreis der Dinge dauernd im Blickfeld meines Bewusstseins habe, ist nicht entscheidend für den Wert und die Steigerung meines Ich, sondern nur das, dass ich zwischen dem Bezirk des Bewusstseins und des Unterbewussten gute, leichte, flüssige Beziehungen habe. Wir sind nicht Denkmaschinen, sondern Organismen. (166) Wir müssen nicht hinten beginnen bei den Regierungsformen und politischen Methoden, sondern wir müssen vorn anfangen beim Bau der Persönlichkeit, wenn wir wieder Geister und Männer haben wollen, die uns Zukunft verbürgen. (167) Der Mensch ist nichts Festes, Gewordenes und Fertiges, nichts Einmaliges und Eindeutiges, sondern etwas Werdendes, ein Versuch, eine Ahnung und Zukunft, Wurf und Sehnsucht der Natur nach neuen Formen und Möglichkeiten. (168) Tugend ist: Gehorsam. Die Frage ist nur, wem man gehorche. Nämlich auch der Eigensinn ist Gehorsam. Aber alle andern, so sehr beliebten und belobten Tugenden sind Gehorsam gegen Gesetze, welche von Menschen gegeben sind. Einzig der Eigensinn ist es, der nach diesen Gesetzen nicht fragt. Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, dem >>Sinn<< des >>Eigenen<<. (169) Was mir zuwider ist, existiert für mich nicht minder als das, was ich liebe. Aber, was ich nicht kenne und nicht kennen mag, was mir gleichgültig ist, was keine Beziehung zu mir, keinen Ruf an mich hat, das existiert für mich nicht, - und je mehr dessen ist, desto niedriger stehe ich selber. (170) Die Tat – die ward noch niemals getan von einem, der zuvor gefragt hat, >>was soll ich tun?<< (171) Alle Menschen sind bereit, das Unglaubliche zu tun, wenn ihre Ideale bedroht werden. Aber keiner ist da, wenn ein neues Ideal, eine neue, vielleicht gefährliche und unheimliche Regung des Wachstums anklopft. (172) Je höher die Bildung eines Menschen, je größer die Privilegien, die er genoss, desto größer sollen im Fall der Not die Opfer sein, die er bringt. (173) Ursachen erkennen, das eben ist Denken, und dadurch allein werden Empfindungen zu Erkenntnissen und gehen nicht verloren, sondern werden wesenhaft und beginnen auszustrahlen. (174) Nenne keine Empfindung klein, keine Empfindung unwürdig! Gut, sehr gut ist jede, auch der Hass, auch der Neid, auch die Eifersucht, auch die Grausamkeit. Von nichts anderem leben wir als von unseren armen, schönen, herrlichen Gefühlen, und jedes, dem wir unrecht tun, ist ein Stern, den wir auslöschen. (175) Von allem, was der Mensch begehrte, war er immer nur durch Zeit getrennt, durch Zeit, diese tolle Erfindung. Sie war eine der Stützen, eine der Krücken, die man vor allem fahren lassen musste, wenn man frei werden wollte. (176) Wenn jemand sucht, dann geschieht es leicht, dass sein Geist nur noch das Ding sieht, das er sucht – dass er nichts zu finden, nichts in sich einzulassen vermag, weil er immer nur an das Gesuchte denkt, weil er ein Ziel hat, weil er vom Ziel besessen ist. Suchen heißt: ein Ziel haben. Finden aber heißt: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben. (177) Geduld ist das Schwerste und das Einzige, was zu lernen sich lohnt. Alle Natur, alles Wachstum, aller Friede, alles Gedeihen und Schöne in der Welt beruht auf Geduld, braucht Zeit, braucht Stille, braucht Vertrauen, braucht den Glauben an langfristige Vorgänge von viel längerer Dauer, als ein einzelnes Leben dauert, die keiner Einsicht eines Einzelnen ganz zugänglich und in ihrer Gänze nur von Völkern und Zeitaltern, nicht von Personen erlebbar sind. (178) Das Leben stellt jedem eine andre, einmalige Aufgabe, und so gibt es auch nicht eine angeborene und vorbestimmte Untauglichkeit zum Leben, sondern es kann der Schwächste und Ärmste an seiner Stelle ein würdiges und echtes Leben führen und andern etwas sein, einfach dadurch, dass er seinen nicht selbst gewählten Platz im Leben und seine besondere Aufgabe annimmt und zu verwirklichen sucht. Das ist echtes Menschentum und strahlt immer etwas Edles und Heilendes aus, und wenn der Träger dieser Aufgabe in den Augen aller ein armer Teufel ist, mit dem man nicht tauschen möchte. (179) Die Einsicht oder Ansicht, dass das Vollkommene und die Wissenschaft Stückwerk ist, darf niemand daran hindern, doch stets weiterzubauen und eben doch das Mögliche erreichen. (180) Gegen die Infamitäten des Lebens sind die besten Waffen: Tapferkeit, Eigensinn und Geduld. Die Tapferkeit stärkt, der Eigensinn macht Spaß und die Geduld gibt Ruhe. (181) Meistens sind die schlimmen und dummen Perioden mir nachher besser bekommen als die vernünftigen und scheinbar gedeihlichen. Ich muss Geduld haben, nicht Vernunft. Ich muss die Wurzeln tiefer treiben, nicht an den Ästen rütteln. (182) Das Leben ist sinnlos, grausam, dumm und dennoch prachtvoll – es macht sich nicht über den Menschen lustig (denn dazu gehört Geist), aber es kümmerst sich um den Menschen nicht mehr als um den Regenwurm. Dass ausgerechnet der Mensch eine Laune und ein grausames Spiel der Natur sei, ist ein Irrtum, den der Mensch sich erfindet, weil er sich zu wichtig nimmt. Wir müssen erst sehen, dass wir Menschen es keineswegs schwerer haben als jeder Vogel und jede Ameise, sondern eher leichter und schöner. Wir müssen die Grausamkeit des Lebens und die Unentrinnbarkeit des Todes erst in uns aufnehmen, nicht durch Jammern, sondern durch Auskosten dieser Verzweiflung. Erst dann, wenn man die ganze Scheußlichkeit oder Sinnlosigkeit der Natur in sich aufgenommen hat, kann man beginnen sich dieser rohen Sinnlosigkeit gegenüber zu stellen und sie zu einem Sinn zu zwingen. Es ist das Höchste, wozu der Mensch fähig ist, und es ist das Einzige, wozu er fähig ist. Alles andere macht das Vieh besser. Für die meisten ist die Sinnlosigkeit gar kein Leid, so wenig wie für den Regenwurm. Aber eben die Wenigen, die vom Leid ergriffen werden und nach dem Sinn zu suchen beginnen, machen den Sinn der Menschheit aus. (183) Probleme sind nicht da, um gelöst zu werden, sie sind lediglich die Pole, zwischen denen sich die fürs Leben nötige Spannung erzeugt. (184) Jeder starke Mensch erreicht unfehlbar das, was ein wirklicher Trieb ihn suchen heißt. (186) Es hat jeder Mensch, sofern er überhaupt eine Person ist und ein Gesicht hat, auch seine Art von Schicksal, ihm zubestimmt und zugeboren, und oft sieht es aus, als wähle er dies Schicksal sich selber und absichtlich, so sicher tut und erlebt er das ihm Zubestimmte. (187) Der Mensch, so wie ihn Gott gedacht und wie die Dichtung und Weisheit der Völker ihn manche tausend Jahre lang verstanden hat, ist geschaffen mit einer Fähigkeit, sich zu freuen an Dingen, auch wenn sie ihm nicht nützen, mit einem Organ für das Schöne. An der Freude des Menschen am Schönen haben stets Geist und Sinne in gleichem Maße teil, und solange Menschen fähig sind, sich mitten in den Drangsalen und Gefährdungen ihres Lebens solcher Dinge zu freuen: eines Farbenspiels in der Natur oder im gemalten Bilde, eines Anrufes in den Stimmen der Stürme und des Meeres oder einer von Menschen gemachten Musik, solange ihnen hinter der Oberfläche der Interessen und Nöte die Welt als Ganzes sichtbar oder fühlbar werden kann, worin vom Kopfdrehen einer spielenden Katze bis zum Variationsspiel einer Sonate, vom rührenden Blick eines Hundes bis zur Tragödie eines Dichters ein Zusammenhang, ein tausendfältiger Reichtum an Beziehungen, Entsprechungen, Analogien und Spiegelungen besteht, aus deren ewig fließender Sprache den Hörern Freude und Weisheit, Spaß und Rührung zuteil wird – solange wird der Mensch seiner Fragwürdigkeiten immer wieder Herr werden und seinem Dasein immer wieder Sinn zuschreiben können, denn der >>Sinn<< ist ja eben jene Einheit des Vielfältigen, oder doch jene Fähigkeit des Geistes, den Wirrwarr der Welt als Einheit und Harmonie zu ahnen. (188) Geist ist wohltätig und edel nur im Gehorsam gegen die Wahrheit; sobald er sie verrät, sobald er die Ehrfurcht ablegt, käuflich und beliebig biegsam wird, ist er das Teuflische in Potenz, ist sehr viel schlimmer als die animalische, triebhafte Bestialität, welche immer noch etwas von der Unschuld der Natur behält. (189) Das Leid der Welt soll uns im Innersten unzerstörbar, aber es soll uns nicht kraft einer perfekten Philosophie zugeknöpft finden. (190) Es ist nicht eine blinde Macht von außen, deren Spielball wir sind, sondern es ist die Summe der Gaben, Schwächen und anderen Erbschaften, die ein Mensch mitgebracht hat. Ziel eines sinnvollen Lebens ist den Ruf dieser inneren Stimme zu hören und ihm möglichst zu folgen. Der Weg wäre also: sich selbst erkennen, aber nicht über sich richten und sich ändern wollen, sondern das Leben möglichst der Gestalt anzunähern, die als Ahnung in uns vorgezeichnet sind. (191) Man kann jederzeit wieder unschuldig werden, wenn man sein Leid und seine Schuld erkennt und zu Ende leidet, statt die Schuld daran bei anderen zu suchen. (192) Ich bin im ganzen gegen das Heroische, und so auch gegen die Stoa, eher misstrauisch, und so habe ich es in meinem ganzen Leben mit seltenen Ausnahmen gehalten, dass ich für den kürzesten Weg durch die Welt der Schmerzen den ansah, der mitten durch den Schmerz hindurch führt. (193) Fühle mit allem Leid der Welt, aber richte deine Kräfte nicht dorthin, wo du machtlos bist, sondern zum Nächsten, dem du helfen, den du lieben und erfreuen kannst. (194) Unsere Bestimmung ist, die Gegensätze richtig zu erkennen, erstens nämlich als Gegensätze, dann aber als Pole einer Einheit. (195) Es ist nicht unsere Aufgabe, einander näher zukommen, so wenig wie Sonne und Mond zueinander kommen oder Meer und Land. Unser Ziel ist, einander zu erkennen und einer im anderen das zu sehen und ehren zu lernen, was es ist: des anderen Gegenstück und Ergänzung. (196) Gewonnen hat immer der, der lieben, dulden und verzeihen kann, nicht der, der besser weiß und aburteilt. (197) Wir töten, indem wir vor Armut, Not, Schande die Augen zudrücken. Wir töten, indem wir aus Bequemlichkeit abgestorbenen Einrichtungen in Gesellschaft, Staat, Schule, Religion gelassen zusehen und Billigung heucheln, statt ihnen entschlossen den Rücken zu kehren. Wie für den konsequenten Sozialismus das Eigentum ein Diebstahl ist, so ist für den konsequenten Gläubigen unserer Art jedes Nichtanerkennen von Leben, jede Härte, jede Gleichgültigkeit, jede Verachtung nichts anderes als Töten. Man kann nicht nur Gegenwärtiges töten, sondern auch Zukünftiges. (198) Wir haben vom Führen nicht viel, vom Dienen alles. Wir pflegen vor allen anderen Tugenden die Ehrfurcht, aber wir bringen diese Ehrfurcht nicht Personen dar. (199) Es gibt keinen anderen Weg der Entfaltung und Erfüllung als den der möglichst vollkommenen Darstellung des eigenen Wesens. >>Sei Du Selbst<< ist das ideale Gesetz, zumindest für den jungen Menschen, es gibt keinen andern Weg zur Wahrheit und zur Entwicklung. Dass dieser Weg durch viele moralische und andre Hindernisse erschwert wird, dass die Welt uns lieber angepasst und schwach sieht als eigensinnig, daraus entsteht für jeden mehr als durchschnittlich individualisierten Menschen der Lebenskampf. Da muss jeder für sich allein, nach seinen eigenen Kräften und Bedürfnissen, entscheiden, wieweit er sich der Konvention unterwerfen oder ihr trotzen will. Wo er die Konvention, die Forderungen von Familie, Staat, Gemeinschaft in den Wind schlägt, muss er es tun mit dem Wissen darum mit dem Wissen, das es auf seine eigene Gefahr geschieht. Wie viel Gefahr einer auf sich zu nehmen fähig ist, dafür gibt es keinen objektiven Maßstab. Man muss jedes Zuviel, jedes Überschreiten des eigenen Maßes büßen, man darf ungestraft weder im Eigensinn, noch im Anpassen zu weit gehen. (200) So hübsch auch die Anpassung an den Geist der Zeit und die Umwelt sei, die Freuden der Aufrichtigkeit sind größer und haltbarer. (201) Die Welt wird nicht rascher fortschreiten, wenn ihr Dichter zu Volksrednern, Philosophen zu Ministern macht. Sie wird fortschreiten überall da, wo ein Mensch das tut, wozu er da ist, was seine Art von ihm fordert, was darum gut und gerne tut. (202) Wenn wir uns heute, den heutigen Nöten und Forderungen gegenüber, einigermaßen menschlich und anständig halten, wird auch die Zukunft menschlich sein können. (203) Der Mensch, der Charakter hat, offenbart diesen am deutlichsten und reinsten, wenn er, seinem gewohnten Lebenskreis entrückt, sich vor etwas Neues gestellt findet. (204) Die tiefste Reiselust ist nicht anders und nicht besser als jene gefährliche Lust, unerschrocken zu denken, sich die Welt auf den Kopf zu stellen und von allen Dingen, Menschen und Ereignissen Antworten haben zu wollen. Sie wird nicht mit Plänen und aus Büchern gestillt, sie fordert mehr und kostet mehr, man muss schon Herz und Blut daran rücken. (205) Bildung, Schule, Erziehung Echte Bildung ist nicht Bildung zu irgendeinem Zwecke, sondern sie hat, wie jedes Streben nach dem Vollkommenen, ihren Sinn in sich selbst. So wie das Streben nach körperlicher Kraft, Gewandtheit und Schönheit nicht irgendeinen Entzweck hat, etwa den, uns reich, berühmt und mächtig zu machen, sondern seinen Lohn in sich selbst trägt, indem es unser Lebensgefühl und unser Selbstvertrauen steigert, indem es uns froher und glücklicher macht und uns ein höheres Gefühl von Sicherheit und Gesundheit gibt, ebenso ist auch das Streben nach >>Bildung<<, das heißt nach geistiger und seelischer Vervollkommnung, nicht ein mühsamer Weg zu irgendwelchen begrenzten Zielen, sondern ein beglückendes und stärkendes Erweitern unseres Bewusstseins, eine Bereicherung unsrer Lebens- und Glücksmöglichkeiten. Darum ist echte Bildung, ebenso wie echte Körperkultur, Erfüllung und Antrieb zugleich, ist überall am Ziele und bleibt doch nirgends rasten, ist Unterwegssein im Unendlichen, ein Mitschwingen im Universum, ein Mitleben im Zeitlosen. Ihr Ziel ist nicht Steigerung einzelner Fähigkeiten und Leistungen, sondern sie hilft uns, unserem Leben einen Sinn zu geben, die Vergangenheit zu deuten, der Zukunft in furchtloser Bereitschaft offen zustehen. (206) Vom Erziehen habe ich niemals sehr viel gehalten, das heißt ich habe stets starke Zweifel daran gehabt, ob der Mensch durch Erziehung überhaupt irgendwie geändert, gebessert werden könne. Statt dessen hatte ich ein gewisses Vertrauen zu der sanften Überzeugungskraft des Schönen, der Kunst, der Dichtung, ich selbst war in meiner Jugend durch sie mehr gebildet und auf die geistige Welt neugierig gemacht worden als durch alle offiziellen oder privaten >>Erziehungen<<. (207) Kein Mensch kann das beim andern sehen und verstehen, was er nicht selbst erlebt hat. (208) Die Wahrheit wird gelebt, nicht doziert. (209) Ein Schulmeister hat lieber zehn notorische Esel als ein Genie in seiner Klasse, und genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner. Wer aber mehr und Schwereres vom anderen leidet, der Lehrer vom Knaben oder umgekehrt, wer von beiden mehr Tyrann, mehr Quälgeist ist, und, und wer von beiden es ist, der dem anderen Teil seiner Seele und seines Lebens verdirbt und schändet, das kann man nicht untersuchen, ohne bitter zu werden. (210) Die Schule ist die einzige moderne Kulturfrage, die ich ernst nehme und die mich gelegentlich aufregt. An mir hat die Schule viel kaputt gemacht, und ich kenne wenig bedeutendere Persönlichkeiten, denen es nicht ähnlich ging. Gelernt habe ich dort nur Latein und Lügen. (211) Unsere Lehrer forderten Tugenden von uns, die sie selber nicht hatten, und so war wohl auch die Weltgeschichte, die sie uns vorsetzten, so ein Schwindel der Erwachsenen, um uns herabzusetzen und klein zu machen. (212) Unsre Lehrer lehrten uns in jenem amüsanten Lehrfach, das sie Weltgeschichte nannten, dass stets die Welt von solchen Menschen regiert und gelenkt und verändert worden war, welche sich ihr eigenes Gesetz gaben und mit den überkommenen Gesetzen brachen, und es wurde uns gesagt, dass diese Menschen verehrungswürdig seien. Allein dies war ebenso gelogen wie der ganze übrige Unterricht, denn wenn einer von uns, sei es nun in guter oder böser Meinung, einmal Mut zeigte und gegen irgendein Gebot, oder auch bloß gegen eine dumme Gewohnheit oder Mode protestierte, dann wurde er weder verehrt, noch uns zum Vorbild empfohlen, sondern bestraft, verhöhnt und von der feigen Übermacht der Lehrer erdrückt. (213) Es war mit dem Dichter genau so, wie es mit dem Helden war und mit allen starken oder schönen, hochgemuten und nicht alltäglichen Gestalten und Bestrebungen: in der Vergangenheit waren sie herrlich, alle Schulbücher standen voll ihres Lobes, in der Gegenwart und Wirklichkeit aber hasste man sie, und vermutlich waren die Lehrer gerade dazu angestellt und ausgebildet, um das Heranwachsen von famosen, freien Menschen und das Geschehen von großen, prächtigen Taten nach Möglichkeit zu verhindern. (214) Der Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares, Undurchsichtiges, Feindliches. Er ist ein von unbekanntem Berge herbrechender Strom und ist ein Urwald ohne Weg und Ordnung. Und wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muss, so muss die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken; ihre Aufgabe ist es, ihn nach obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen und die Eigenschaften in ihm zu wecken, deren völlige Ausbildung alsdann die sorgfältige Zucht in der Kaserne krönend beendigt. (215) Jesus war zwölfjährig, als er im Tempel die Gelehrten beschämte. Wir alle haben mit zwölf Jahren unsere Gelehrten und Lehrer beschämt, waren klüger als sie, genialer als sie, tapferer als sie. (216) Auch rechnet man ja so vieles zu den Unarten, nur weil es die Eltern stört, während das Kind mit bestem Gewissen tut, was ihm natürlich ist und unverfänglich scheint. (217) Nur das Denken, das wir leben, hat einen Wert. Du hast gewusst, dass deine >>erlaubte<< Welt bloß die Hälfte der Welt war, und du hast versucht, die zweite Hälfte dir zu unterschlagen, wie es die Pfarrer und Lehrer tun. (218) Ein Faustschlag ins Gesicht der Pietät gehört zu den Taten, ohne welche man nicht von der Schürze der Mutter loskommt. (219) Man hatte sich, als wir Kinder waren, viel Mühe damit gegeben, uns den >>Willen zu brechen<<, wie die fromme Pädagogik das damals nannte, und man hatte in der Tat allerlei in uns gebrochen und zerstört, aber gerade nicht den Willen, gerade nicht das Einmalige und mit uns Geborene, nicht jenen Funken, der uns zu Outsiders und Sonderlingen machte. (220) Als ich etwa 15 Jahre alt war, verblüffte uns einmal einer unserer Lehrer mit der Behauptung, der Selbstmord sei die größte moralische Feigheit, die der Mensch begehen könne. Ich hatte bis dahin eher dazu geneigt zu glauben, dass ein gewisser Mut, ein gewisser Trotz und Schmerz dazu gehöre, und hatte für die Selbstmörder eine mit grauen gemischte Hochachtung empfunden. So war der mit dem Anspruch eines Axioms vorgetragene Spruch des Lehrers mir wirklich für den Moment eine Verblüffung, ich stand stumm und ohne Erwiderung vor diesem Spruch, er schien ja alle Logik und alle Moral für sich zu haben. Doch hielt die Verblüffung nicht lange vor, ich kehrte bald dazu zurück, auch meinen eigenen Gefühlen und Gedanken wieder zu glauben, und so sind die Selbstmörder mir zeitlebens beachtenswert, sympathisch und irgendwie, wenn auch auf düstere Weise, ausgezeichnet erschienen, Beispiele eines menschlichen Leidens, dem die Phantasie jenes Lehrers nicht nachkam, und eines Mutes und Trotzes, den ich nur lieben konnte. Auch sind in der Tat die Selbstmörder, die ich gekannt habe, lauter zwar problematische, aber wertvolle, überdurchschnittliche Menschen gewesen. Und dass sie außer der Courage, sich die Kugel in den Kopf zu schießen, auch noch die Courage und den Trotz gehabt hatten, sich den Lehrern und der Moral unbeliebt und verächtlich zu machen, konnte mein Mitgefühl nur erhöhen. (221) Der Gebildete kennt und hat Prinzipien. Er achtet eine Menge von Dingen, die ihn im Grunde wenig anziehen, und verzichtet auf andere, nach denen es ihn hinzöge, wenn eben die Bildung nicht Hemmungen geschaffen hätte. (222) Nach meiner Meinung sind in meiner Generation weit mehr Menschenleben durch allzu große Einschnürung und Hemmung des Trieblebens verpfuscht worden als durch das Gegenteil. Darum habe ich in einigen meiner Bücher mich zum Anwalt und Helfer dieses unterdrückten Trieblebens gemacht – aber nie, ohne die Ehrfurcht vor den hohen Forderungen beiseite zu lassen, die von den Weisen und von den Religionen gestellt werden. Unser Ziel ist auch nicht: auf Kosten der Güte, der Liebe und Menschlichkeit ein möglichst wildes Willkürleben zu führen. Sondern wir müssen zwischen den beiden Forderungen, denen der Natur und denen des Geistes, unsern Weg suchen, aber nicht einen starren Mittelweg, sondern jeder seinen eigenen, elastischen, auf welchem Freiheit und Bindung abwechseln wie Einatmen und Ausatmen. (223) Der Vernünftige rationalisiert die Welt und tut ihr Gewalt an. Er neigt stets zu grimmigem Ernst. Er ist Erzieher. (224) Wissen hat keinen ärgeren Feind al das Wissen wollen, als das Lernen. (225) Nach meiner Erfahrung lassen immer nur jene Gewissen sich anrufen und schärfen, die ohnehin schon wach sind. (226) Es gibt Leser, welche zeitlebens mit einem Dutzend Bücher auskommen und dennoch echte Leser sind. Und es gibt andre, die alles geschluckt haben und über alles mitzureden wissen, und doch war all ihre Mühe vergebens. Denn Bildung setzt etwas zu Bildendes voraus: einen Charakter nämlich, eine Persönlichkeit. Wo die nicht vorhanden ist, wo sich Bildung ohne Substanz gewissermaßen im Leeren vollzieht, da kann wohl Wissen entstehen, nicht aber Liebe und Leben. Lesen ohne Liebe, Wissen ohne Ehrfurcht, Bildung ohne Herz ist eine der schlimmsten Sünden gegen den Geist. (227) Der Gebildete ist ja nur gebildeter, keineswegs aber gescheiter als das Volk. (228) Ob du nun Lehrer, Gelehrter oder Musikant wirst, habe Ehrfurcht vor dem >>Sinn<<, aber halte ihn nicht für lehrbar. Mit dem Lehrenwollen des >>Sinnes<< haben die Geschichtsphilosophen die halbe Weltgeschichte verdorben. (229) Urteile sind nur wertvoll, wenn sie bejahen. Jedes verneinende, tadelnde Urteil, wenn es als Beobachtung noch so richtig ist, wird falsch, sobald man es äußert. Was Menschen übereinander reden, davon sind zwei Drittel solche >>Urteile<<. Wenn ich von einem Menschen sage, er sei mir zuwider, so ist das eine ehrliche Aussage. Wer sie hört, dem ist es anheim gegeben, ob er die Schuld an diesem Zuwidersein mir oder dem andern zuschreiben will. Sage ich aber von jemand, er sei eitel oder geizig, oder er trinke, so tue ich unrecht. Auf diese Art ließe jeder Mensch sich rasch durch Urteile >>erledigen<<. Für diese Art von Urteil ist Jean Paul ein Biertrinker, Feuerbach eine Sammetjacke und Hölderlin ein Verrückter gewesen. Ist damit etwas über sie gesagt, etwas von ihnen gegeben? Ebenso gut kann einer sagen: die Erde ist ein Planet, auf dem es Flöhe gibt. Diese Art von >>Wahrheiten<< sind der Inbegriff aller Fälschung und Lüge. Wirklich wahr sind wir nur, wo wir ja sagen und anerkennen. Das Feststellen von >>Fehlern<<, und klinge es noch so fein und geistig, ist nicht Urteil, sondern Klatsch. (230) Zweierlei Aufgaben hat jede Geistigkeit und Kultur: den Vielen Sicherheit und Antrieb geben, sie zu trösten, ihrem Leben einen Sinn zu unterlegen – und dann die zweite, geheimnisvollere, nicht minder wichtige Aufgabe: den Wenigen, den großen Geistern von morgen und übermorgen das Aufwachsen zu ermöglichen, ihren Anfängern Schutz und Pflege zu leihen, ihnen Luft zum Atmen zu geben. (231) Religion und Kirche Eine Religion ist ungefähr so gut wie die andere. Es gibt keine, in der man nicht ein Weiser werden könnte, und keine, die man nicht auch als dümmsten Götzendienst betreiben könnte. Aber es hat sich in den Religionen fast alles wirkliche Wissen der Menschheit angesammelt, zumal in den Mythologien. Jede Mythologie ist >>falsch<<, wenn wir sie anders als fromm ansehen; aber jede ist ein Schlüssel zum Herzen der Welt. Jede weiß von den Wegen, aus dem Götzendienst am Ich einen Gottesdienst zu machen. (232) Mir ist das humanistische Ideal nicht ehrwürdiger als das religiöse, und auch innerhalb der Religionen würde ich nicht einer vor der andern den Vorzug geben. Eben darum könnte ich keiner Kirche angehören, weil dort die Höhe und Freiheit des Geistes fehlt, weil jede sich für die beste, die einzige, und jeden ihr nicht Zugehörigen für verirrt hält. Der Weg in die Kirchen ist leicht zu finden, die Tore stehen weit offen, an Propaganda fehlt es auch nicht. (233) Die Weisheit aller Völker ist eine und dieselbe, es gibt nicht zwei oder mehr, es gibt nur eine. Das einzige, was ich etwa gegen die Religionen und Kirchen einzuwenden habe, ist ihre Neigung zur Unduldsamkeit: Welcher Christ noch Mohammedaner wird gerne zugeben, dass sein Glaube gut und heilig zwar, nicht aber privilegiert und patentiert sei, sondern ein Bruder all der andern Glaubensarten, in denen die Wahrheit sich sichtbar zu machen sucht. (234) Wir sind vergänglich, wir sind werdend, wir sind Möglichkeiten, es gibt für uns keine Vollkommenheit, kein völliges Sein. Dort aber, wo wir von der Potenz zur Tat, von der Möglichkeit zur Verwirklichung schreiten, haben wir teil am wahren Sein, werden dem Vollkommenen und Göttlichen um einen Grad ähnlicher. Das heißt: sich verwirklichen. (235) Indem ein Mensch mit den ihm von Natur gegebenen Gaben sich zu verwirklichen sucht, tut er das Höchste und einzig Sinnvolle, was er tun kann. (236) Du sollst dich nicht nach einer vollkommenen Lehre sehnen, sondern nach Vervollkommnung deiner selbst. Die Gottheit ist in dir, nicht in Begriffen und Büchern. (237) Es gibt kein adliges und erhöhtes Leben ohne das Wissen um die Teufel und Dämonen und ohne den beständigen Kampf gegen sie. (238) Jede reformatorisch gefärbte Religion erzieht zu einem Kultus der Minderwertigkeitsgefühle, etwas davon spürt man auch im Buddhismus. (239) Frommsein ist nichts anderes als Vertrauen. Vertrauen hat der einfache, gesunde, harmlose Mensch: das Kind, der Wilde. (240) Wer zu sich selber nein sagt, kann zu Gott nicht ja sagen. (241) Der Weg in die Unschuld, ins Unerschaffene, zu Gott führt nicht zurück, sondern vorwärts, nicht zum Wolf oder Kind, sondern immer weiter in die Schuld, immer tiefer in die Menschwerdung hinein. (242) Glaube und Zweifel sind einander entsprechend, sie gehören komplementär zueinander. Wo nie gezweifelt wird, da wird auch nicht richtig geglaubt. (243) Der Fromme verliebt sich leicht in Mythologien. (244) Ich halte es nicht für das Wichtigste, welchen Glauben ein Mensch habe, sondern dass er überhaupt einen habe. (245) Man kann jeden Menschen mit Jesus vergleichen, der, von einer der magischen Wahrheiten gestreift, das Denken vom Leben nicht mehr trennt und dadurch inmitten seiner Umgebung vereinsamt und zum Gegner aller wird. (246) Im politischen Denken fortgeschrittener Leute ist Nationalismus etwas Gewesenes, Vergangenes, in den Religionen herrscht der Kinderglaube an die Alleingültigkeit des eigenen Glaubens noch überall. (247) Ich glaube, dass trotz des offensichtlichen Unsinns das Leben dennoch einen Sinn hat, ich ergebe mich darein, diesen letzten Sinn mit dem Verstand nicht erfassen zu können, bin aber bereit, ihm zu dienen, auch wenn ich mich dabei opfern muss. Diesen Glauben kann man nicht befehlen und sich nicht zu ihm zwingen. Man kann ihn nur erleben. Wer es nicht kann, der sucht seinen Glauben dann bei der Kirche oder bei der Wissenschaft oder bei den Patrioten oder Sozialisten oder irgendwo, wo es fertige Moralen, Programme und Rezepte gibt. (248) Wir verlangen, dass Leben müsse einen Sinn haben – aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selber ihm zu geben imstande sind. Weil der Einzelne das nur unvollkommen vermag, hat man in den Religionen und Philosophien versucht, die Frage tröstend zu beantworten. Diese Antworten laufen alle auf das Gleiche hinaus: den Sinn erhält das Leben einzig durch die Liebe. Das heißt: je mehr wir zu lieben und uns hinzugeben fähig sind, desto sinnvoller wird unser Leben. (249) Was den Pessimismus oder Optimismus oder überhaupt die Weltanschauungen betrifft, so kann ein lebendiger Mensch, und gar ein Künstler, sich kaum auf eines festlegen. Ich wenigstens kann es nicht, und ich habe auch nie das Bedürfnis Recht zu haben, ich freue mich der Mannigfaltigkeit, auch der der Meinungen und Glaubensformen. Das hindert mich auch, ein richtiger Christ zu sein, denn ich glaube weder, dass Gott nur einen Sohn gehabt hat, noch dass der Glaube an ihn der einzige Weg zu Gott oder zur Seligkeit sei. Mir ist Frömmigkeit stets sympathisch, während ich die autoritären Theologien mit ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht mag. (250) Wäre die Menschheit ein Individuum, so wäre sie durch das >>reine<< Christentum zu heilen, Tier und Dämon müssten zu bannen sein. Aber es ist nicht so. Die >>reinen<< Religionen sind für eine kleine Schicht Hochstehender, während die Völker der Magien und Mythologien bedürfen. An einen Prozess der Entwicklung von unten nach oben glaube ich nicht. Immer wieder steigen aus dem trüben Ganzen der Menschheit die einzelnen Reinen und Heilande auf und werden von den Vielen erst dann verehrt, wenn man sie gekreuzigt und zu Göttern gemacht hat. (251) Ich glaube, dass die Elite und beste Lebenskraft des Christentums immer bei denen liegt, denen das Formulierte schal zu werden droht, und das trotzdem die ersehnten >>neuen<< Ordnungen nur die alten sind, und dass die alten Formulierungen in dem Maß ihren lebendigen Zauber wiedergewinnen, als der Suchende bereit ist, die Formel als Symbol anzunehmen. (252) Wären seine Kirchen und Priester so wie Christus selbst, dann bedürfte es der Dichter nicht. (253) Ich habe den Weg des Egoisten oder Religiösen gewählt und betrachte die Pflichten nach außen als nebensächlich gegen die Pflichten, die wir unserer eigenen Seele schulden. Ich habe das Gefühl in mir erneuert, dass meine Seele im kleinen ein Stück Menschheitsentwicklung darstellt und dass im Grunde jede kleine Zuckung in uns innen so wichtig ist wie Krieg und Frieden in der äußeren Welt. (254) Jeder Mensch ist nicht nur er selber, er ist auch der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall – wichtige und merkwürdige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder. Darum ist jedes Menschen Geschichte wichtig, ewig, göttlich, darum ist jeder Mensch, solange er irgend lebt und den Willen der Natur erfüllt, wunderbar und jeder Aufmerksamkeit würdig. In jedem ist der Geist Gestalt geworden, in jedem leidet die Kreatur, in jedem wird ein Erlöser gekreuzigt. (255) Wir ziehen die Grenzen unserer Persönlichkeit immer viel zu eng! Wir rechnen zu unserer Person immer bloß das, was wir als individuell unterschieden, als abweichend erkennen. Wir bestehen aber aus dem ganzen Bestand der Welt, jeder von uns, und ebenso wie unser Körper die Stammtafeln der Entwicklung bis zum Fisch und noch viel weiter zurück in sich trägt, so haben wir in der Seele alles, was je in Menschenseelen gelebt hat. Alle Götter und Teufel, die je gewesen sind, alle sind mit in uns, sind da, als Möglichkeiten, als Wünsche, als Auswege. Wenn die Menschheit ausstürbe bis auf ein einziges, halbwegs begabtes Kind, das keinerlei Unterricht genossen hat, so würde dieses Kind den ganzen Gang der Dinge wiederfinden, es würde Götter, Dämonen, Paradiese, Gebote und Verbote, Alte und Neue Testamente, alles würde es wieder produzieren können. (256) Ich halte die Frömmigkeit oder Pietät für die beste Tugend, die wir haben können, mehr Wert als alle Talente, und ich verstehe unter Frömmigkeit nicht das Pflegen von feierlichen Gefühlen in einer einzelnen Seele, sondern vor allem die Pietät, die Achtung des Einzelnen vor dem Ganzen der Welt, vor der Natur, vor den Mitmenschen, das Gefühl des Einbezogenenseins und Mitverantwortlichseins. (257) Mein ganzes Leben steht im Zeichen eines Versuchs zu Bindung und Hingabe, zu Religion. Ich bilde mir nicht ein, für mich oder gar für andere so etwas wie eine neue Religion, eine neue Formulierung und Bindungsmöglichkeit finden zu können, aber auf meinem Posten zu bleiben und, auch wenn ich an meiner Zeit und an mir selbst verzweifeln muss, dennoch die Ehrfurcht vor dem Leben und vor der Möglichkeit seines Sinns nicht wegzuwerfen, auch wenn ich damit alleinstehen sollte, auch wenn ich damit sehr lächerlich werde – daran halte ich fest. Ich tue es nicht aus irgendeiner Hoffnung, dass damit für die Welt oder für mich irgendetwas besser würde, ich tue es einfach, weil ich ohne irgendeine Ehrfurcht, ohne Hingabe an einen Gott nicht leben mag. (258) Jeder echte Protestant wehrt sich gegen die eigene Kirche wie gegen jede andere, weil sein Wesen ihn das Werden mehr bejahen heißt als das Sein. (259) >>Schlechtes Gewissen<< ist, christlich wie psychologisch genommen, stets das Anzeichen für die Existenz eines lebendigen, gesunden, wenn schon beunruhigten Gewissens. (260) Unser Gewissen ist eine hohe Instanz, aber ich zweifle daran, dass es immer die Stimme Gottes sei; und dass ihm die andere Instanz, der reine Lebenstrieb gegenübersteht, ist gewiss ein Glück. (261) Die Reue allein hilft nichts, man kann die Gnade nicht durch Reue erkaufen, man kann sie überhaupt nicht erkaufen. (262) Die Religionen und Mythen sind, ebenso wie die Dichtung, ein Versuch der Menschheit, eben jene Unsagbarkeit in Bildern auszudrücken, die Ihr vergeblich ins flach Rationale zu übersetzen versucht. (263) In Zeiten von Untergangsstimmungen kommen stets seltsame neue Götter auf, die mehr wie Teufel aussehen, das bisher Vernünftige wird sinnlos, das bisher Verrückte wird positiv, wird hoffnungsvoll, scheinbar wird jede Grenze verwischt, jede Wertung unmöglich, es kommt der Demiurg herauf, der nicht gut noch böse, nicht Gott noch Teufel ist, sondern nur Schöpfer, nur Zerstörer, nur blinde Urkraft. Dieser Augenblick scheinbaren Untergangs ist derselbe, der im Einzelnen zum erschütternden Erlebnis, zum Wunder, zur Umkehr wird. Es ist der Moment des erlebten Paradoxen, der aufblitzende Augenblick, wo getrennte Pole sich berühren, wo Grenzen fallen, wo Normen schmelzen. Es gehen dabei unter Umständen Moralen und Ordnungen unter, der Vorgang selbst aber ist das denkbar Lebendigste, was sich vorstellen lässt. (264) Die Mythen der Bibel, wie alle Mythen der Menschheit, sind für uns wertlos, solang wir sie nicht persönlich und für uns und unsere Zeit zu deuten wagen. Dann aber können sie uns sehr wichtig werden. (265) Es ist nichts damit getan, dass man Krieg, Technik, Geldrausch, Nationalismus etc. als minderwertig ankreidet. Man muss an Stelle der Zeitgötzen einen Glauben setzen können. (266) Freiheit von Konventionen ist nicht gleichbedeutend mit innerer Freiheit. Für edlere Menschen ist das Leben in einer Welt ohne fest formulierten Glauben nicht leichter, sondern viel schwerer, weil sie sich alle Bindungen, unter die sie ihr Leben stellen sollen, eigentlich erst selbst schaffen und wählen müssen. (267) Ich vermeide es, Angehörige einer Kirche und Religionsgemeinschaft in ihrem Glauben irre zu machen. Für die Mehrzahl der Menschen ist es sehr gut, einer Kirche und einem Glauben anzugehören. Wer sich davon löst, der geht zunächst einer Einsamkeit entgegen, aus der sich mancher bald wieder in die frühere Gemeinschaft zurücksehnt. Er wird erst am Ende seines Weges entdecken, dass er in eine neue große, aber unsichtbare Gemeinschaft eingetreten ist, die alle Völker und Religionen umfasst. Er wird ärmer um alles Dogmatische und alles Nationale, und wird reicher durch die Brüderschaft mit Geistern aller Zeiten und aller Nationen und Sprachen. (268) Alle lebendige (d. h. unmittelbar ins Leben wirkende) Erkenntnis hat nur einen Gegenstand. Er wird von Tausenden erkannt und in tausend Arten ausgedrückt, ist aber stets nur Eine Wahrheit. Es ist die Erkenntnis des Lebendigen in uns, des geheimen Zaubers, der geheimen Göttlichkeit, die jeder von uns in sich trägt: die Erkenntnis von der Möglichkeit, von diesem innersten Punkt aus alle Gegensatzpaare aufzuheben. Der Inder sagt Atman, der Chinese sagt Tao, der Christ sagt Gnade. (269) Die Gnade oder das Tao umgibt uns immerzu. Sie ist das Licht und ist Gott selbst. Wo wir einen Augenblick offen stehen, geht sie in uns ein, in jedes Kind, in jeden Weisen. (270) Der Fromme mythologisiert die Welt und nimmt sie häufig darüber nicht ernst genug. Er neigt stets etwas zum Spielen. Er erzieht die Kinder nicht, sondern preist sie selig. (271) Weihnachten ist ein Inbegriff, ein Giftmagazin aller bürgerlichen Sentimentalitäten und Verlogenheiten, Anlass wilder Orgien für Industrie und Handel, großer Glanzartikel der Warenhäuser, riecht nach lackiertem Blech, nach Tannennadeln und Grammophon, nach übermüdeten, heimlich fluchenden Austrägern und Postboten, nach verlegener Feierlichkeit in Bürgerzimmern unterm aufgeputzten Baum, nach Zeitungsextrabeilagen und Annoncenbetrieb, kurz – nach tausend Dingen, die mir alle bitter verhasst und zuwider sind und die mir alle viel gleichgültiger und lächerlicher vorkämen, wenn sie nicht den Namen des Heilandes und die Erinnerung unserer zartesten Jahre so furchtbar missbrauchten. (272) Gott: der über allen Bildern und Vielheiten in sich einige Geist. (273) Wissen und Bewusstsein Für die Erkenntnis gibt es keine endgültigen Ziele, sondern der Fortschritt der Erkenntnis ist nichts als eine Differenzierung der Fragestellungen. (274) Für die bloße ratio sieht die Welt immer zweidimensional aus. (275) Wissen ist Tat. Wissen ist Erlebnis. Es beharrt nicht. Seine Dauer heißt Augenblick. (276) Für Erinnerungen sind Sinneseindrücke ein tieferer Nährboden als die besten Systeme und Denkmethoden. (277) Wer das Denken zur Hauptsache macht, der kann es darin zwar weit bringen, aber er hat doch eben den Boden mit dem Wasser vertauscht, und einmal wird er ersaufen. (278) Je schärfer und unerbittlicher wir eine These fordern, desto unwiderstehlicher ruft sie nach der Antithese. (279) Dies wäre der eigentlichste Inhalt meiner Lebensgeschichte: die plumpe Unsichtbarkeit unter der Tarnkappe zu ersetzen durch die Unsichtbarkeit des Wissenden, welcher erkennend stets unerkannt bleibt. (280) Der Mensch, den ich mit Furcht, mit Hoffnung, mit Begehrlichkeit, mit Absichten, mit Forderungen ansehe, ist nicht Mensch, er ist nur ein trüber Spiegel meines Wollens. Ich blicke ihn, wissend oder unbewusst, mit lauter beengenden, fälschenden Fragen an: Ist er zugänglich oder stolz? Achtet er mich? Kann man ihn anpumpen? Versteht er etwas von Kunst? Mit tausend solchen Fragen sehen wir die meisten Menschen an, mit denen wir zu tun haben, und wir gelten für Menschenkenner und Psychologen, wenn es uns glückt, in ihrer Erscheinung, in ihrem Aussehen und Benehmen das zu deuten, was unseren Absichten dient oder widerstrebt. Aber diese Einstellung ist eine ärmliche, und in dieser Art Seelenkunde ist der Bauer, der Hausierer, der Winkeladvokat den meisten Politikern oder Gelehrten überlegen. (281) Okkult ist jedes Erlebnis, während jede Feststellung ohne Erlebniswert wissenschaftlich ist. (282) Klarheit und Wahrheit sind Worte, die man sehr oft nebeneinander nennen hört, beinah als bedeuteten sie ungefähr das gleiche. Und doch bezeichnen sie so ganz verschiedene Dinge! Selten, sehr selten ist die Wahrheit klar, noch seltener ist die Klarheit wahr! Wahrheit ist fast immer kompliziert, dunkel und vieldeutig – jedes Wort, besonders das >>klare<< Wort, tut ihr schon Gewalt an. >>Klarheit<< ist immer Gewalt, ist gewaltsamer Versuch, das Vielfache zu vereinfachen, das Natürliche als verständlich, ja als verständig erscheinen zu lassen. Klarheit ist die Tugend der Sentenzen. Sentenzen sind hübsch, sind wertvoll, sie sind erzieherisch, geistvoll, aufschlussreich – nur wahr sind sie nie. Denn von jeder Sentenz ist auch das Gegenteil wahr. (283) Der Vernünftige verliebt sich leicht in Systeme. Er ist immer geneigt, seinen Instinkten zu misstrauen. (284) Der Vernünftige fühlt sich der Natur und der Kunst gegenüber stets unsicher. Bald blickt er verächtlich auf sie herab, bald überschätzt er sie abergläubisch. Er ist es, der die Millionenpreise für alte Kunstwerke zahlt oder Reservationen für Vögel, Raubtiere, Indianer einrichtet. (285) Der Vernünftige glaubt, den >>Sinn<< der Welt und seines Lebens in sich selbst zu besitzen. Er überträgt den Anschein von Ordnung und Zweckgebundenheit, den ein vernünftig geordnetes Einzelleben hat, auf die Welt und Geschichte. Er glaubt darum an Fortschritt. Er sieht, dass die Menschen heute besser schießen und schneller reisen können als früher, und er will und darf nicht sehen, dass diesen Fortschritten tausend Rückschritte gegenüberstehen. Er glaubt, der Mensch von heute sei entwickelter und höher als Konfuzius, Sokrates und Jesus, weil der Mensch von heute gewisse technische Fähigkeiten stärker ausgebildet hat. (286) Dass Gut und Böse, Schön und Hässlich und alle Gegensatzpaare in eine Einheit auflösbar sind, das ist eine esoterische, geheime, nur den Eingeweihten zugängliche (und auch ihnen oft wieder entgleitende) Wahrheit, aber nicht eine exoterische, allen verständliche und bekömmliche. Es ist die Weisheit des Lao Tse, wenn er die Tugenden und guten Werke verachtet. Aber auch Lao Tse hätte sich sehr gehütet, diese Weisheit dem Volk anzubieten. (287) Die Zeit vergeht, und die Weisheit bleibt. Sie wechselt ihre Formen und Riten, aber sie beruht zu allen Zeiten auf demselben Fundament: auf der Einordnung des Menschen in die Natur, in den kosmischen Rhythmus. Mögen unruhige Zeiten immer wieder die Emanzipierung des Menschen von diesen Ordnungen anstreben, stets führt diese Scheinbefreiung zur Sklaverei, wie ja auch der heutige, sehr emanzipierte Mensch ein willenloser Sklave des Geldes und der Maschine ist. (288) Nichts war, nichts wird sein; alles ist, alles hat Wesen und Gegenwart. (289) Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man kann von ihr erfüllt sein und getragen werden, aber sagen und lehren kann man sie nicht. Eine Wahrheit lässt sich immer nur aussprechen und in Worte hüllen, wenn sie einseitig ist. Einseitig ist alles, was mit Gedanken gedacht und mit Worten gesagt werden kann. Es entbehrt der Ganzheit, des Runden, der Einheit. Die Welt selbst aber, das Seiende in uns innen und um uns her, ist nie einseitig. (290) Die Dinge, die wir sehen, sind dieselben Dinge, die in uns sind. Es gibt keine Wirklichkeit als die, die wir in uns haben. Darum leben die meisten Menschen so unwirklich, weil sie die Bilder außerhalb für das Wirkliche halten und ihre eigene Welt ins sich gar nicht zu Worte kommen lassen. Man kann glücklich dabei sein. Aber wenn man einmal das andere weiß, dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen. (291) Jede Wissenschaft ist, unter anderem, ein Ordnen, ein Vereinfachen, ein Verdaulichmachen des Unverdaulichen für den Geist. Wir glauben, in der Geschichte einige Gesetze erkannt zu haben, und versuchen, auf sie beim Erkennen der geschichtlichen Wahrheit Rücksicht zu nehmen. Nun, wer Geschichte betrachtet, soll meinetwegen den rührendsten Kinderglauben an die ordnende Macht unsres Geistes mitbringen, aber außerdem und trotzdem soll er Respekt haben vor der unbegreiflichen Wahrheit, Wirklichkeit und Einmaligkeit des Geschehens. Geschichte treiben setzt das Wissen darum voraus, dass man damit etwas Unmögliches und dennoch Notweniges und Wichtiges anstrebt. Geschichte treiben heißt: sich dem Chaos überlassen und dennoch dem Glauben an die Ordnung und den Sinn bewahren. (292) Eine gute, eine richtige Wahrheit muss es vertragen, dass man sie auch umkehrt. Was wahr ist, davon muss das Gegenteil auch wahr sein können. Denn jede Wahrheit ist eine kurze Formel für den Blick in die Welt von einem bestimmten Pol aus, und es gibt keinen Pol ohne Gegenpol. (293) Ich bin nicht gegen das Ergründen und Ausdeuten, sondern nur gegen die Erstickung und Verdrängung des naiven durch das rationale Verhalten. (294) Es kommt nicht auf die Worte an. Jedes Wort kann ebenso gut sein Gegenteil bedeuten. Wenn Professoren reden, merkt man das nie, ihre Worte sind immer so beruhigend eindeutig, sie wecken immer die Täuschung, es gebe ein sicheres Wissen, das in Worten mittelbar sei. (295) Intellektuelle Erkenntnisse sind Papier. (296) Vertrauen hat immer nur der, der von Erfahrenem redet. (297) Sprüche sind alle einmal im Kopf des Ersten, der sie tat, Wahrheiten und wesentliche Erkenntnisse gewesen, und sie sind alle schon im Mund des ersten Nachbeters und Denkfaulen, der sie zitierte, Dummheiten und Missverständnisse geworden. (298) Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit. (299) Vielleicht hat der Mensch nach dem Hunger nach Erlebnis keinen stärkeren Hunger als den nach Vergessen. (300) Das für uns Wesentliche erleben wir, unabhängig von allem Äußeren, ganz allein in uns selber. Wie die inneren Strahlungen sich nach außen projizieren, was für Mythen, Gefahren, Lüste, Götter und Teufel wir uns schaffen, das ist objektiv belanglos. (301) Wenn man darüber redet, wird auch das Einfachste gleich kompliziert und unverständlich. (302) Natur und Geist ergeben keine Harmonie und die Welt ist für den einzeln ihr gegenüberstehenden Menschen keine Einheit und der Versuch, jene von einem innersten Menschenverlangen dennoch geforderte Harmonie und Einheit zu suchen, ist unfehlbar tragisch, sobald ein Mensch von wirklicher Größe und Potenz ihn unternimmt. (303) Wie das fromme und vernünftige Genie einander recht wohl kennen, einander heimlich lieben, einer vom anderen angezogen werden, so ist auch das höchste geistige Erlebnis, dessen wir Menschen fähig sind, stets eine Versöhnung zwischen Vernunft und Ehrfurcht, ein Sich-als-Gleich-Erkennen der großen Gegensätze. (304) Ich habe gegen Gescheitheit und hochgezüchtete intellektuelle Technik keine Schutzwaffen, noch weniger Waffen der Erwiderung und des Angriffs. Ich habe aber ein Gefühl dafür, ob hinter Reden und Schriften eines Mannes ein Glaube stehe. Mit dieser naiven Wünschelrute bestehe ich die Begegnungen mit den Philosophien der Zeit. (305) Man soll auf alles achten, denn man kann alles deuten. (306) Lesen und Bücher Wer sich in der unsterblichen Welt der Bücher etwas heimisch gemacht hat, der wird bald nicht nur zum Inhalt der Bücher, sondern zum Buch selbst in ein neues Verhältnis treten. Man findet heute viele junge Menschen, denen es lächerlich und unwürdig scheint, statt lebendigen Lebens Bücher zu lieben, sie finden, dafür sei unser Leben allzu kurz und allzu wertvoll, und finden dennoch Zeit, sechsmal in der Woche viele Stunden Kaffeehausmusik und Tanz hinzubringen. (307) Die Bücher sind nicht dazu da, unselbständige Menschen noch unselbständiger zu machen, und sie sind noch weniger dazu da, lebensunfähigen Menschen ein wohlfeiles Trug- und Ersatzleben zu liefern. Im Gegenteil, Bücher haben nur einen Wert, wenn sie zum Leben führen und dem Leben dienen und nützen, und jede Lesestunde ist vergeudet, aus der nicht ein Funke von Kraft, eine Ahnung von Verjüngung, ein Hauch von neuer Frische sich für den Leser ergibt. (308) Unter leidlich gesunden Menschen, denen der Zweifel an sich selber fremd ist, wird der Leidenschaftliche am Dichter die Leidenschaftlichkeit, der Gescheite die Gescheitheit, der Gütige die Güte lieben; unter schlechter balancierten Lesern wird sehr häufig das Gegenteil eintreten, dass der stark Geistige nach naiver Sinnlichkeit, der Unbeherrschte nach beherrschter Kühle hungert. (309) Gedankenloses, zerstreutes Lesen ist geradeso wie Spazieren gehen in schöner Landschaft mit verbundenen Augen. Wir sollen auch nicht lesen, um uns und unser tägliches Leben zu vergessen, sondern im Gegenteil, um desto bewusster und reifer unser eigenes Leben wieder in feste Hände zu nehmen. Wir sollen zu Büchern kommen nicht wie ängstliche Schüler zu kalten Lehrern und auch nicht wie Nichtsnutze zur Schnapsflasche, sondern wie Bergsteiger zu den Alpen und wie Kämpfer ins Arsenal, nicht als Flüchtige und zum Leben Unwillige. (310) Je differenzierter, je feinfühliger und beziehungsreicher wir zu lesen verstehen, desto mehr sehen wir jeden Gedanken und jede Dichtung in ihrer Einmaligkeit, in Ihrer Individualität und engen Bedingtheit, und sehen, dass alle Schönheit, aller Reiz gerade auf dieser Individualität und Einmaligkeit beruht – und zugleich glauben wir dennoch, immer deutlicher zu sehen, wie alle diese hunderttausend Stimmen der Völker nach demselben Ziele streben, unter anderem Namen dieselben Götter anrufen, dieselben Wünsche träumen, dieselben Leiden leiden. Aus dem tausendfältigen Gespinste unzähliger Sprachen und Bücher aus mehreren Jahrtausenden blickt in erleuchteten Augenblicken den Leser eine wunderlich erhabene und überwirkliche Chimäre an: das Angesicht des Menschen, aus tausend widersprechenden Zügen zur Einheit gezaubert. (311) Ein altes Buch ist immer tröstlich, das redet so aus der Ferne her, man kann zuhören oder nicht, und wenn plötzlich mächtige Worte aufblitzen, so nimmt man sie nicht wie aus einem Buch von heute, nicht von einem so und so genannten Verfasser, sondern wie aus erster Hand, wie einen Möwenschrei und einen Sonnenstrahl. (312) Ein Buch lesen, heißt für den guten Leser: eines fremden Menschen Wesen und Denkart kennen zu lernen, ihn zu verstehen suchen, ihn womöglich zum Freund zu gewinnen. (313) Manche Bauersfrau, die nur die Bibel besitzt und kennt, hat aus ihr mehr herausgelesen und mehr Wissen, Trost und Freude geschöpft, als irgendein verwöhnter Reicher je aus seiner kostbaren Bibliothek holen kann. (314) Man stößt immer wieder auf den Einwand, Sachen von großen Dichtern gehören nicht vor die „Vielzuvielen“, wie Perlen nicht vor die Säue. Aber das ist Geschwätz. Die etwaige Gefahr der Wirkung einer guten Dichtung auf Naive ist zumindest nicht halb so groß als die der Zeitung, die jeder in die Hand bekommt, ja als die der Bibel. (315) Was den Grund und Urwert jeder Dichtung angeht, nämlich ihre sprachliche Potenz, so ist da das >>Volk<< in seinem Urteil eher sicherer und unbeirrbarer als die Leute mit den philologischen und ästhetischen Analysen und Urteilsbegründungen. Und namentlich bei negativen, absprechenden Urteilen empfinde ich die vom >>Volk<< her kommenden tiefer und schmerzlicher als die der Intellektuellen. (316) Das Destillieren der >>Klassiker<< hat das lesende Volk besorgt, nicht die Wissenschaft, und auf vielen Gebieten ist diese hinter dem Volk noch um viele Schritte Wegs zurück. (317) Die Feinde der guten Bücher und des guten Geschmacks überhaupt sind nicht die Bücherverächter, sondern die Vielleser. (318) Man darf ruhig die vielen Lehrbücher, Überblicke und Philosophiegeschichten ungelesen lassen, jedes Werk eines originalen Denkers gibt uns mehr, denn es nötigt zum Selbstdenken und erzieht und steigert unser Bewusstsein. (319) Je mehr mit der Zeit gewisse Unterhaltungs- und gewisse volkstümliche Belehrungsbedürfnisse durch andere Erfindungen befriedigt werden können, desto mehr wird das Buch an Würde und Autorität zurückgewinnen. Wir haben heute den Punkt noch nicht ganz erreicht, wo die jungen Konkurrenzerfindungen wie Radio, Film usw. dem gedruckten Buch gerade jenen Teil seiner Funktionen abnehmen, um den es nicht schade ist. (320) Den neuesten Roman des neuesten Modeautors nicht zu kennen, halten viele für eine Schande, während sie zeitlebens die >>alten Schmöker<< Schmöker sein lassen und nicht einmal ahnen, wie viel vom Neuesten und Beliebtesten nichts als ein eilig aufgewärmtes und für neu serviertes Altes ist. (321) Wer keinen Sinn für Verse hat, wird gewiss auch beim Lesen guter Prosa die feinsten Werte und Reize sprachlicher Schönheit übersehen. (322) Es ist mit dem Lesen wie mit jedem anderen Genuss: er wird stets desto tiefer und nachhaltiger, je inniger und liebevoller wir uns ihm hingeben. (323) Lesen ohne Liebe, Wissen ohne Ehrfurcht, Bildung ohne Herz ist eine der schlimmsten Sünden gegen den Geist. (324) Nicht zwei von tausend Büchern vermögen das Gefühl zu erwecken, nicht einen Autor, sondern die Dinge selbst reden zu hören. (325) Je höher die Bildung (also das Selbstbewusstsein, das Gefühl der eigenen Persönlichkeit), desto rascher und sicherer scheidet jeder das ihm nicht Gemäße aus, desto durchdringender aber erfasst er auch alles, was ihm verwandt ist. (326) Ich weiß, wenn ich mich in ein schönes Buch verliere, so tue ich Besseres, Klügeres, Wertvolleres, als alle Minister und Könige dieser Welt seit Jahren getan haben. Ich baue, wo sie zerstören – ich sammle, wo sie zerstreuen – ich lebe Gott, wo sie ihn leugnen oder kreuzigen. (327) Etwas geistig Lebendiges zu töten ist schwerer, als etwas Totes wieder zum Leben zu bringen. (328) Nach meiner Erfahrung gibt es für Ferienzeiten gar keinen schöneren Vorsatz als den, keine Zeile zu lesen und nachher nichts Hübscheres, als bei guter Gelegenheit dem guten Vorsatz mit einem wirklich schönen Buch untreu zu werden. (329) Wirklichkeit und Imagination Wahr ist an einer Geschichte immer nur das, was der Zuhörer glaubt. (330) Wie der Abonnent, wenn er die Zeitung überflogen hat, für einen Augenblick die Illusion genießt, er wisse nun in der Welt für vierundzwanzig Stunden Bescheid, und es sei im Grunde nichts passiert, als was kluge Redakteure schon in der Donnerstagsnummer teilweise vorausgesagt hätten, ganz ebenso malt und lügt sich jeder von uns jeden Tag und jede Stunde den Urwald der Geheimnisse in einen hübschen Garten oder in eine flache, übersichtliche Landkarte um, der Moralist mit Hilfe seiner Maximen, der Religiöse mit Hilfe seines Glaubens, der Ingenieur mit Hilfe seiner Rechenschieber, der Maler mit Hilfe seiner Palette und der Dichter mit Hilfe seiner Vorbilder und Ideale. (331) Unrein und verzerrend ist der Blick des Wollens. Erst wo wir nichts wollen, erst wo unser Schauen reine Betrachtung wird, tut sich die Seele der Dinge auf: die Schönheit. Wenn ich einen Wald beschaue, den ich kaufen oder abholzen oder mit einer Hypothek belasten will, dann sehe ich nicht den Wald, sondern nur seine Beziehungen zu meinem Wollen. Will ich aber nichts von ihm, blicke ich nur >>gedankenlos<< in seine grüne Tiefe, dann erst ist er Wald, ist Natur und Gewächs, ist schön. (332) Langeweile ist etwas, was die Natur nicht kennt, sie ist eine Erfindung der Städter. (333) Es darf nicht jeder die Welt nur daraufhin ansehen, was im Augenblick und bei genauester Prüfung sich als wertvoll und wichtig erweist, vielmehr ist die reine Kunst des Genießens, des ruhigen Anschauens und Geltenlassens ein Gut, das uns kein noch so kühner und feiner Intellektueller rauben darf, sonst zerstört er mehr Kultur, als aller Verstand der Welt wieder geben kann. (334) Der Reiche könnte wohl, aber er kann nicht. (335) Schönheit beglückt nicht den, der sie besitzt, sondern den, der sie lieben und anbeten kann. (336) Wir handeln nicht aus irgendwelchen abstrakten Einsichten und Überlegungen heraus, sondern tun im Grunde alle Schritte unseres Lebens, nur aus dem puren Urgrund unseres Wesens, aus unserem Temperament unserer Rasse, aus unbewussten Antrieben heraus. Dazu suchen wir dann die Weltanschauung, die dazu passt. (337) Gründe, so scheint mir, sind immer unklar. Kausalität findet im Leben nirgends statt, nur im Denken. Es gibt keine Menschen, die aus >>Gründen<< handeln, sie bilden sich das bloß ein, und namentlich versuchen sie, im Interesse der Eitelkeit und Tugend, anderen dies einzubilden. (338) Ich habe immer gefunden, dass nicht nur ich, sondern auch jene beneidenswerten Menschen, die für ihre Tagen Gründe anzugeben wissen, in Wahrheit niemals von diesen Gründen bewegt und geleitet werden, sondern stets von Verliebtheiten, und habe nichts dagegen, mich zu dieser Verliebtheit zu bekennen. (339) Stets ist es ein wunderlicher Augenblick, wenn zwei uns nahestehende, unter sich fremde Lebenskreise und Freundesgruppen sich berühren. Selten werden Erwartungen erfüllt, noch seltener wird uns der Trost, unsere >>Persönlichkeit<< bestätigt und aufs Neue als Einheit sehen zu dürfen: meistens erscheint in diese Lagen das Ich lediglich als leichtes Zelt, als vergänglicher Schnittpunkt vieler Beziehungen, ohne Dauer, ohne An-Sich, ohne Eigenwert. (340) Vielleicht ist jedem Menschen wie einem geschleuderten Ball seine Wurfbahn vorgezeichnet und er folgt einer bestimmten Linie, während er das Schicksal zu zwingen oder zu hänseln meint. Jedenfalls aber ruht das >>Schicksal<< in uns und nicht außer uns, und damit bekommt die Oberfläche des Lebens, das sichtbare Geschehen eine gewisse Unwichtigkeit. Was man gewöhnlich schwer nimmt und gar tragisch nennt, wird dann oft zur Bagatelle. Und dieselben Leute, die vor dem Anschein des Tragischen in die Knie sinken, leiden und gehen unter an Dingen, die sie nie beachtet haben. (341) Mancher von uns weiß mit dem Verstand oder mit dem Herzen, dass es sich nicht um Fortschritt und Romantik, um Vorwärts oder Rückwärts handelt, sondern um außen und innen, dass wir nicht die Eisenbahn und das Auto scheuen, nicht das Geld und die Vernunft, sondern nur das Vergessen Gottes, das Verflachen der Seelen. (342) Ein Beruf ist immer ein Unglück, eine Beschränkung und Resignation. (343) Eine Wahrheit lässt sich immer nur aussprechen und in Worte hüllen, wenn sie einseitig ist. Die Welt aber, das Seiende um uns her und in uns innen ist nie einseitig. (344) Die Einheit, die ich hinter der Vielheit verehre, ist keine langweilige, keine graue, gedankliche, theoretische Einheit. Sie ist ja das Leben selbst voll Spiel, voll Schmerz, voll Gelächter. (345) Kein Ich, auch nicht das naivste ist eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten. Dass jeder einzelne dies Chaos für eine Einheit anzusehen bestrebt ist und von seinem Ich redet, als sei dies eine einfache, fest geformte, klar umrissene Erscheinung: diese jedem Menschen (auch dem höchsten) geläufige Täuschung scheint eine Notwendigkeit zu sein, eine Forderung des Lebens. (346) Es gibt Millionen Gesichter der Wahrheit, aber nur eine Wahrheit. (347) Die Tiefe ist im Klaren und Heiteren. (348) Oft ist die Welt schlecht gescholten worden, weil der, der sie schalt, schlecht geschlafen oder zu viel gegessen hatte. Oft ist die Welt selig gepriesen worden, weil der, der sie pries, eben ein Mädchen geküsst hatte. (349) Nichts ist wichtig, nichts ist unwichtig, das Leben ist ein Schattenspiel, aber die Spiegelbilder der Dinge in unseren Seelen haben eine tiefe, unheimliche Realität. (350) Utopien sind nicht da, um sklavisch realisiert zu werden, sondern um die Möglichkeit des Schwierigen und doch Ersehnten zur Diskussion zu stellen und den Glauben an diese Möglichkeiten zu stärken. (351) Gefühle und Phantasien haben das an sich, dass sie bis zu einer gewissen Steigerung an Macht und Schönheit und Wert gewinnen, darüber hinaus aber wieder flau und faul werden – dann ist es Zeit, andere Phantasien, andere Empfindungsreihen aufsteigen zu lassen. (352) Niemand träumt, was ihn nicht angeht. (353) Die Magie des Traumes versagt am Tage oft, weil auch noch der beste Träumer die Außenwelt im Wachen wichtiger nimmt als er sollte. Die Verrückten können das besser, sie erklären sich für Kaiser und die Zelle für ihr Schloss, und alles stimmt wunderbar. Die Außenwelt umzaubern zu können, ohne doch verrückt zu werden, das ist unser Ziel. Es ist nicht leicht, dafür aber ist wenig Konkurrenz da. (354) Ich weiß von Geistern gar nichts, ich lebe in meinen Träumen. Die anderen Leute leben auch in Träumen, aber nicht in ihren eigenen, das ist der Unterschied. (355) Ich habe mich für Geister nie interessiert und habe darum auch nie einen angetroffen, bin aber überzeugt, dass ich es nur zu wünschen brauchte, so würden sie in Scharen kommen. Ich glaube aber nicht, dass sie interessanter sind als andere Leute. (356) Der Mensch ist eine aus hundert Schalen bestehende Zwiebel, ein aus vielen Fäden bestehendes Gewebe. Erkannt und genau gewusst haben dies die alten Asiaten, und im buddhistischen Yoga ist eine genaue Technik dafür erfunden, den Wahn der Persönlichkeit zu entlarven. Lustig und vielfältig ist das Spiel der Menschheit: der Wahn, zu dessen Entlarvung Indien tausend Jahre lang sich so sehr angestrengt hat, ist derselbe, zu dessen Stützung und Stärkung der Okzident sich ebenso viele Mühe gegeben hat. (357) Wirklichkeit ist ein Blitz, der in jedem Steine gefangen zuckt. Weckst du ihn nicht, so bleibt der Stein ein Stein, die Stadt eine Stadt, die Schönheit schön, die Langeweile langweilig, und alles schläft den Traum der Dinge, bis du, aus deinen hochgespannten Strömen her, sie mit dem Gewitter >>Wirklichkeit<< überflutest. (358) Ich habe das Unglück, dass ich mir selber stets widerspreche. Die Wirklichkeit tut das immer, bloß der Geist tut es nicht und die Tugend nicht. Zum Beispiel nach einem scharfen Marsch im Sommer kann ich vom Verlangen nach einem Becher voll Wasser völlig besessen sein und Wasser für das wunderbarste Ding in der Welt erklären. Eine Viertelstunde später, wenn ich getrunken habe, ist nichts auf Erden mir so uninteressant wie Wasser und Trinken. Ebenso halte ich es mit dem Essen, mit dem Schlafen, mit dem Denken. Mein Verhältnis zum sogenannten >>Geist<< zum Beispiel ist genau dasselbe wie das zum Essen oder Trinken. Manchmal gibt es nichts in der Welt, was mich so heftig anzieht und mir so unentbehrlich scheint wie der Geist, wie die Möglichkeit der Abstraktion, der Logik, der Idee. Dann wieder, wenn ich davon satt bin und das Gegenteil brauche und begehre, ekelt aller Geist mich an wie verdorbenes Essen. Ich weiß aus Erfahrung, dass dies Verhalten für willkürlich und charakterlos, ja für unerlaubt gilt, doch habe ich nie verstehen können, warum? Denn ebenso wie ich zwischen Essen und Fasten, Schlafen und Wachen beständig abwechseln muss, muss ich auch zwischen Natürlichkeit und Geistigkeit, zwischen Erfahrung und Platonismus, zwischen Ordnung und Revolution, zwischen Katholizismus und Reformationsgeist beständig hin und her pendeln. Dass ein Mensch sein Leben lang immer und immer den Geist verehren und die Natur verachten kann, immer Revolutionär und niemals Konservativer sein kann oder umgekehrt, das scheint mir zwar sehr tugendhaft, charaktervoll und standhaft, aber es scheint mir auch ebenso fatal, widerlich und verrückt, als wenn einer immerdar essen oder immerdar nur schlafen wollte. Und doch beruhen alle Parteien, politische und geistige, religiöse und wissenschaftliche, auf der Voraussetzung, ein so verrücktes Verhalten sei möglich, sei natürlich. (359) Die Kathedralen, die heute zerstört werden, soll man nicht wieder aufbauen. Sie sind nur Steine. Ihr Geist aber soll wieder Macht gewinnen. Dann ist es um die Steine nicht schade. (360) Die Welt ist außerhalb der Irrenhäuser nicht minder drollig als drinnen. (361) Wir laufen auf dieser Erde herum, immer auf der Reise, und oft schwingen wir den Hut und rufen unseren Gruß, wenn der andre Wandrer gerade im Tal und unsichtbar und vielleicht ganz im Finstern ist. (362) Das >>Geworfensein<< als das die Philosophie unsrer Tage das Menschenleben bezeichnet, genügt mir nicht, ist ja auch ein nervös-hysterisches Drapieren des Ungenügens ins scheinbar Tragische hinauf. Dabei verliert auch eine hohe Wertbezeichnung wie >>tragisch<< jeden Wert, und der Mensch wird schon bloß durch sein Geborensein und sein Unvermögen, aus diesem Geborensein etwas Rechtes zu machen, zu einer Art Held. (363) Wie alle Knaben, liebte und beneidete ich manche Berufe: den Jäger, den Flößer, den Fuhrmann, den Seiltänzer, den Nordpolfahrer. Weitaus am liebsten aber wäre ich ein Zauberer geworden. Dies war die tiefste, innigst gefühlte Richtung meiner Triebe, eine gewisse Unzufriedenheit mit dem, was man die >>Wirklichkeit<< nannte und was mir zuzeiten lediglich wie eine alberne Vereinbarung der Erwachsenen erschien; eine gewisse bald ängstliche, bald spöttische Ablehnung dieser Wirklichkeit war mir früh geläufig, und der brennende Wunsch, sie zu verzaubern, zu verwandeln, zu steigern. (364) Einer, der sich für die naivsten Ideale der Welt hinzugeben bereit ist, ist mir viel lieber als jemand, der über alle Gesinnungen und Ideale klug zu reden versteht, aber für keines auch nur zum kleinsten Verzicht fähig wäre. (365) Sentimentalität ist das Sich-Erlaben an Gefühlen, die man in Wirklichkeit nicht ernst genug nimmt, um ihnen irgendein Opfer zu bringen, um sie irgend je zur Tat zu machen. (366) Es gibt in der Natur keine Sentimentalität. (367) Es wird dahin kommen, dass man auch auf dem Gebiet der Krankheiten und Gesundheiten die Relativität entdeckt und wahrnimmt, dass die Krankheiten von heute die Gesundheiten von morgen sein können, und das nicht immer das Gesundbleiben das untrüglichste Symptom für Gesundheit ist. (368) Der Kleinere sieht am Größeren das, was er eben zu sehen vermag. (369) Unsere Neigungen haben stets eine erstaunliche Begabung, sich als Weltanschauung zu maskieren. (370) Schwer ist es, die Tugenden, die wir haben, nicht zu überschätzen. Schwerer ist es, die Tugenden, die wir gerne haben möchten, nicht zu überschätzen. Leicht unterschätzen wir die Leiden der anderen. Noch leichter überschätzen wir das Glück der anderen. (371) Ich sah in einer Nacht, wo ich bei einer Gebärenden helfen musste: dass der größte Schmerz und die höchste Wollust einen ganz ähnlichen Ausdruck hat. (372) Man ist nur unruhig, solange man noch Hoffnungen hat. (373) Die Reiseromantik ist zur Hälfte nichts anderes als Erwartung des Abenteuers. Zur anderen Hälfte aber ist sie unbewusster Trieb, das Erotische zu verwandeln und aufzulösen. Wir Wanderer sind darin geübt, Liebeswünsche gerade um ihrer Unerfüllbarkeit willen zu hegen, und jene Liebe, welche eigentlich dem Weib gehörte, spielend zu verteilen an Dorf und Berg, See und Schlucht, an die Kinder am Weg, den Bettler an der Brücke, das Rind auf der Weide, den Vogel, den Schmetterling. Wir lösen die Liebe vom Gegenstand, die Liebe selbst ist uns genug, ebenso wie wir im Wandern nicht das Ziel suchen, sondern den Genuss des Wanderns selbst, das Unterwegssein. (374) Das ist eigentlich die »Fremde«: nicht, dass man lauter neue und unbekannte Sachen und Menschen um sich hat, sondern, dass man selbst – überall, wohin man kommt, ein Fremder ist, Lachen oder Verwunderung erweckt und von den anderen nicht ohne weiteres zugelassen und aufgenommen wird. (375) Jeder Ort, an dem wir eine Weile leben, gewinnt erst einige Zeit nach dem Abschiednehmen eine Form in unserem Gedächtnis und wird zu einem Bilde, das unveränderlich bleibt. Solange wir da sind und alles vor Augen haben, sehen wir noch das Zufällige und das Wesentliche fast gleich betont, erst später erlischt das Nebensächliche. Unsere Erinnerung behält nur das, was des Behaltens wert ist; wie könnten wir sonst ohne Angst und Schwindelgefühl auch nur ein Jahr unseres Lebens überschauen. (376) Es sollen schon viele Menschen gesehen worden sein, welche viel vom Hund oder vom Fuchs, vom Fisch oder von der Schlange in sich hatten, ohne, dass sie darum besondere Schwierigkeiten gehabt hätten. In manchem Manne, der es weit gebracht hat, war es mehr der Fuchs oder Affe als der Mensch, der sein Glück gemacht hat. (377) Kunst und Künstler Kunst ist Vereinigung von väterlicher und mütterlicher Welt, von Geist und Blut; sie kann im Sinnlichen beginnen und ins Abstrakteste führen oder kann in einer reinen Ideenwelt ihren Anfang nehmen und im blutigsten Fleische enden. Alle Kunstwerke, die nicht nur gute Gauklerstückchen sind, haben dies gefährlich lächelnde Doppelgesicht, dies Mann-Weibliche, dies Beieinander von Triebhaftem und reiner Geistigkeit. (378) Die Natur hat zehntausend Farben, und wir haben uns in den Kopf gesetzt, die Skala auf zwanzig zu reduzieren. (379) Der Anfang aller Kunst ist die Liebe. Wert und Umfang jeder Kunst werden vor allem durch des Künstlers Fähigkeit zur Liebe bestimmt. (380) Nichts ist so heiter und so erheiternd wie das Schöne und die Kunst – wenn wir nämlich dem Schönen und der Kunst so hingegeben sind, dass wir darüber uns selbst und das brennende Leid der Welt vergessen. Es braucht nicht eine Fuge von Bach, nicht ein Bild von Giorgione zu sein, es genügt ein Inselchen Blau im Wolkenhimmel, der bewegliche Fächer eines Möwenschwanzes, es genügen die Regenbogenfarben eines Ölflecks auf dem Straßenasphalt. Es genügt noch viel weniger. Kehren wir aus der Seligkeit zum Bewusstsein des Ichs und zum Wissen vom Elend des Lebens zurück, dann wandelt sich die Heiterkeit in Traurigkeit, die Welt zeigt uns statt ihrer strahlenden Himmel ihren schwarzen Grund, das Schöne und die Kunst wird traurigmachend. Aber es bleibt schön, es bleibt göttlich, sei es Fuge, Bild, Möwenschwanzgefieder, Ölfleck oder noch weniger. Und wenn die Seligkeit jenes ich- und weltvergessenen Glückes nur Augenblicke dauern darf, so kann die mit Trauer gesättigte Bezauberung durch das Wunder des Schönen Stunden, Tage, ein Leben lang dauern. (381) Das Sichhingeben an irrationale, krause, seltsame Formen der Natur erzeugt in uns ein Gefühl von der Übereinstimmung unseres Inneren mit dem Willen, der diese Gebilde werden ließ – wir spüren bald die Versuchung, sie für unsere eigenen Launen, für unsere eigenen Schöpfungen zu halten – wir sehen die Grenze zwischen uns und der Natur zittern und zerfließen und lernen die Stimmung kennen, in der wir nicht wissen, ob die Bilder auf unserer Netzhaut von äußeren Eindrücken stammen oder von inneren. Nirgends so einfach und leicht wie bei dieser Übung machen wir die Entdeckung, wie sehr wir Schöpfer sind, wie sehr unsere Seele immerzu teilhat an der beständigen Erschaffung der Welt. Vielmehr ist es dieselbe unteilbare Gottheit, die in uns und die in der Natur tätig ist, und wenn die äußere Welt unterginge, so wäre einer von uns fähig, sie wieder aufzubauen, denn Berg und Strom, Baum und Blatt, Wurzel und Blüte, alles Gebildete in der Natur liegt in uns vorgebildet, stammt aus der Seele, deren Wesen Ewigkeit ist, deren Wesen wir nicht kennen, das sich uns aber zumeist als Liebeskraft und Schöpferkraft zu fühlen gibt. (382) Unsere ganze Kunst ist bloß ein Ersatz, ein mühsamer und zehnmal zu teuer bezahlter Ersatz für versäumtes Leben, versäumte Tierheit, versäumte Liebe. Aber es ist doch nicht so. Man überschätzt das Sinnliche, wenn man das Geistige nur als Notersatz für fehlendes Sinnliches ansieht. Das Sinnliche ist um kein Haar mehr wert als der Geist, so wenig wie umgekehrt. Ob du ein Weib umarmst oder ein Gedicht machst, ist dasselbe. (383) Wir sind für Momente der Einsicht in das Geheimnis der Einheit fähig, unsere Liebesfähigkeit aber beruht auf unserer Fähigkeit zu werten, subjektiv zu werten, ohne sie gibt es weder Kunst noch Liebe. (384) Kunst ist Betrachtung der Welt im Zustand der Gnade. (385) Wie es kein großes Kunstwerk gibt, das nicht aus Liebe entstanden wäre, so gibt es kein edles und förderliches Verhältnis zu Kunstwerken als wieder durch die Liebe. (386) Die Kunst hat es mit Verdichtungen, mit Bildern zu tun. Ihr aber möchtet statt der Bilder Begriffe haben. (387) Ob die Kunst und das Schöne den Menschen wirklich zu bessern und zu stärken vermögen, sei dahingestellt, zum mindesten erinnern sie uns, gleich dem Sternhimmel, an das Licht, an die Idee der Ordnung, der Harmonie, des »Sinnes« im Chaos. (388) Genie ist Liebeskraft, ist Sehnsucht nach Hingabe. (389) Heiterkeit ist eine Tugend der Heiligen und der Ritter, sie ist das Geheimnis des Schönen und die eigentliche Substanz jeder Kunst. Der Dichter, der das Herrliche und Schreckliche des Lebens im Tanzschritt seiner Verse preist, der Musiker, der es als reine Gegenwart erklingen lässt, ist Lichtbringer, Mehrer der Freude und Helligkeit auf Erden, auch wenn er uns erst durch Tränen und schmerzliche Spannung führt. (390) Heiterkeit ist weder Tändelei, noch Selbstgefälligkeit, sie ist höchste Erkenntnis und Liebe, ist Bejahen aller Wirklichkeit, Wachsein am Rand aller Tiefen und Abgründe. Sie ist das Geheimnis des Schönen und die eigentliche Substanz jeder Kunst. (391) Die Kunst zeigt neue Gesichter, neue Sprachen, neue lallende Laute und Gebärden, sie hat es satt, immerzu die Sprache von gestern und vorgestern zu reden, sie will auch einmal tanzen, sie will auch einmal über die Schnur hauen, sie will auch einmal den Hut schief aufsetzen und im Zickzack gehen. Und die Mitbürger sind darüber wütend, fühlen sich verhöhnt und an der Wurzel, in ihrem Wert angezweifelt, werfen mit Schimpfworten um sich und ziehen sich die Decke ihrer Bildung über die Ohren. Und derselbe Bürger, der wegen der leisesten Berührung und Beleidigung seiner persönlichen Würde zum Richter läuft, wird jetzt erfinderisch in furchtbaren Beleidigungen. (392) Wir machen unsere Musik, und aus Missverständnis wirft uns manchmal einer einen Groschen in den Hut, weil er glaubt, unsere Musik sei etwas Didaktisches oder Moralisches oder Gescheites. Wenn er wüsste, dass es bloß Musik ist, würde auch er weitergehen und seinen Groschen behalten. (393) Ich möchte um des Lebens allein willen nicht leben; ich möchte um der Frau allein willen nicht lieben; ich bedarf des Umweges über die Kunst, ich bedarf des einsamen und versponnenen Vergnügens des Künstlers, um mit dem Leben zufrieden zu sein, ja um es ertragen zu können. (394) Es gehört zum Verstehen und Erlebenkönnen jeder Kunst eine natürliche Anlage, die dem künstlerischen Talent oder Trieb selber verwandt sein muss, wer die hat, dem sind künstlerische Genüsse möglich, dem andern nie. (395) Im Streit um die Kunst ist es wie in allem Streit um Meinungen. Man versteht einander nicht, solange man einander nicht liebt. Einander lieben kann man nur, wenn man die Welt mehr in sich selbst erlebt als im Äußeren. (396) Es muss der Begabung ein Charakter, dem Schwung die Zucht, es müssen der Leichtigkeit und Produktionslust die Hemmungen gegenüberstehen und die Waage halten. (397) Was unsere Zeit braucht und verlangt, ist nicht geschicktes Beamtentum und Betriebsamkeit, sondern Persönlichkeit, Gewissen, Verantwortlichkeit. An Intellekt, an »Talent« ist Überfluss. (398) Es ist eine alte Erfahrung, dass gerade die aus der Zeit ins Zeitlose strebenden Geister niemals unklare Schwärmer, sondern ihrer Zeit mit starken Wurzeln verhaftet und verantwortlich waren, dass sie, je mehr wir über sie erfahren, desto bildhafter und damit vorbildlicher werden. (399) Wenn Industrie und Wissenschaft keine Persönlichkeiten mehr brauchen, so sollen sie auch keine haben. Wir Künstler aber, die wir inmitten des großen Kulturbankrotts eine Insel mit noch leidlich erträglichen Lebensmöglichkeiten bewohnen, müssen nach wie vor anderen Gesetzen folgen. Für uns ist Persönlichkeit kein Luxus, sondern Existenzbedingung, Lebenslust, unentbehrliches Kapital. Dabei versehe ich unter Künstlern alle die, denen es Bedürfnis und Notwendigkeit ist, sich selber lebend und wachsend zu fühlen, sich der Grundlagen ihrer Kräfte bewusst zu sein und auf ihnen nach eingeborenen Gesetzen sich aufzubauen, also keine untergeordnete Tätigkeit und Lebensänderung zu tun, deren Wesen und Wirkung nicht zum Fundament in demselben klaren und sinnvollen Verhältnis stünde, wie in einem guten Bau das Gewölbe zur Mauer, das Dach zum Pfeiler. (400) Alle echte Begabung beginnt und wurzelt im Sinnlichen, in einer guten Mitgift an Körper und Sinnen. (401) Bei uns Künstlern könnte man, leicht übertreibend geradezu sagen: der Wert meiner Arbeit entspricht dem Maß an Spaß, das sie mir gemacht hat. Was wirkt und übrig bleibt, ist nicht das Gewollte, Erdachte, Aufgebaute, sondern die Gebärde, der Einfall, der kleine, flüchtige Zauber. So wie bei einer Oper von Mozart nicht die Fabel oder Moral des Stücks Wert hat, sondern die Gebärde und Melodie, die Frische und Anmut, mit der eine Anzahl musikalischer Themen ablaufen und sich verändern. (402) Die Kraft des Genießens und die des Erinnerns sind voneinander abhängig. Genießen heißt einer Frucht ohne Rest ihre Süßigkeit entpressen. Und Erinnerung heißt die Kunst, einmal Genossenes nicht nur festzuhalten, sondern immer reiner auszuformen. (403) Ich bin auch hierin ein unmoderner Mensch, dass ich Gefühle und Sentimentalitäten nicht verwerfe und hasse, sondern mich frage: Womit leben wir denn eigentlich, wo spüren wir das Leben, wenn nicht in unseren Gefühlen? Was hilft mir ein voller Geldsack, ein gutes Bankkonto, eine flotte Bügelfalte und ein hübsches Mädchen, wenn ich dabei nichts fühle, wenn meine Seele sich nicht rührt? Nein, so sehr ich Sentimentalitäten an anderen hassen kann, an mir selbst liebe und verwöhne ich sie eher ein wenig. Das Gefühl, die Zartheit und leichte Erregbarkeit der seelischen Schwingungen, das ist ja meine Mitgift, daraus muss ich mein Leben bestreiten. Wäre ich auf meine Muskelkraft angewiesen und ein Ringer oder Boxer geworden, so würde kein Mensch von mir verlangen, ich solle Muskelkraft für etwas Untergeordnetes ansehen. Wäre ich stark im Kopfrechnen und wäre Leiter eines großen Bureaus, so würde kein Mensch mir zumuten, die Stärke im Kopfrechnen als eine Minderwertigkeit zu verachten. Vom Dichter aber verlangt die jüngste Zeit, und manche jungen Dichter verlangen es selbst von sich, dass sie gerade das, was den Dichter ausmacht, die Erregbarkeit der Seele, die Fähigkeit, sich zu verlieben, die Fähigkeit zu lieben und zu glühen, sich hinzugeben und in der Welt der Gefühle das Unerhörte und Übernormale zu erleben – dass sie gerade diese ihre Stärke hassen und sich ihrer schämen und sich gegen alles wehren sollen, was »sentimental« heißen könnte. Nun ja, mögen sie es tun; ich mache nicht mit, mir sind meine Gefühle tausendmal lieber als alle Schneidigkeit der Welt, und sie allein haben mich davor bewahrt, in den Kriegsjahren die Sentimentalität der Schneidigen mitzumachen. (404) Dem Mangel unseres Sinnes für Rentabilität und Unternehmerlust entspricht bei unseren Antipoden, den Unternehmern und Rentablen, der Mangel einer seelischen Dimension. Unsere romantisch-poetische Infantilität ist nicht infantiler als die kinderstolze Zuversicht des welterobernden Ingenieurs, der an seinen Rechenschieber glaubt wie wir an unsern Gott und der in Zorn oder Angst gerät, wenn die Unbedingtheit seiner Weltregeln durch Einstein erschüttert wird. Wir Romantiker und Sentimentalen, als die wir von der großstädtischen Literatur meist verspottet werden, wir sind ja nicht alle bloß dumme Fanatiker, die wegen eines zum Fall alten Gemäuers die Öffentlichkeit bemühen und die Heimatschutzgarden mobilisieren, manche von uns sind nahezu ebenso klug wie mancher von der Rentabilitätspartei und sind im Herzen vielleicht zukunftsgläubiger und nach der Zukunft begieriger als viele von den Frommen des Fortschritts. (405) Die Einsamkeit des Künstlers, überhaupt des begabten Menschen, halte ich für unvermeidlich, einerlei, ob einer Glück und Erfolg hat oder nicht. Ebenso begreiflich und im Grund richtig scheint mir, dass der Begabte, der Mensch mit Phantasie, diese Einsamkeit möglichst dissimuliert. Denn so unvermeidlich es ist, dass der Mann mit Talent früher oder später die öde, traurige Beschränktheit des Durchschnittsmenschen bemerkt, so sehr muss er sich gegen diese Einsicht wehren, weil sie am Ende zu einer Lieblosigkeit und Menschenverachtung führen würde, die er auch nicht ertrüge. Aber die große, oft eisige Einsamkeit des Künstlers oder Denkers inmitten der Durchschnittsmenschen ist, ob verheimlicht oder nicht, immer da, sie ist der Preis, den wir dafür zahlen, dass wir vor jenen manches voraus haben. (406) Niemand ist eitler, niemand auf Echo und Bejahung erpichter als gerade der Geistige, und er hat Echo und Bejahung in der Tat bitter nötig. (407) Gern vergleicht der Bürger den Phantasten mit dem Verrückten. Der Bürger ahnt richtig, dass er selbst sofort wahnsinnig werden müsste, wenn er sich so wie der Künstler, der Religiöse, der Philosoph auf den Abgrund in seinem eigenen Inneren einließe. Wir mögen den Abgrund Seele nennen oder das Unbewusste oder wie immer, aus ihm kommt jede Regung unseres Lebens. Der Bürger hat zwischen sich und seiner Seele einen Wächter, ein Bewusstsein, eine Moral, eine Sicherheitsbehörde gesetzt, und er anerkennt nichts, was direkt aus jenem Seelenabgrund kommt, ohne erst von jener Behörde abgestempelt zu sein. Der Künstler aber richtet sein ständiges Misstrauen nicht gegen das Land der Seele, sondern eben gegen jede Grenzbehörde, und geht heimlich aus und ein zwischen Hier und Dort, zwischen Bewusst und Unbewusst, als wäre er in beiden zuhause. (408) In unsrer modernen bürgerlichen Welt, welche freilich zurzeit in den Fundamenten zittert, stellt der Künstler eine Art Ersatzfigur dar, und es werden ihm vom Bürger Funktionen zugeschrieben und übertragen, welche eigentlich Sache eines jeden Menschen wären, infolge vielfachen Verfalls aber von der Mehrzahl der bürgerlichen Menschen vernachlässigt werden. Der Künstler stellt innerhalb unsrer Gesellschaft eigentlich den einzigen Menschentyp dar, welcher unbekümmert und unter weitgehender Duldung durch die Gesellschaft sich selber lebt, seiner eigenen Natur treu ist und so ein Gebot erfüllt, das jedem Menschen ins Herz geschrieben ist, dessen Ruf aber für die meisten im trüben Kampf um das Tägliche erstickt. (409) Das Genie, wo es auch auftaucht, wird entweder von der Umgebung erdrosselt oder tyrannisiert sie; es gilt ohne Widerspruch als die Blüte der Menschheit und richtet doch überall Not und Wirrnis an, es tritt stets vereinzelt auf, zur Einsamkeit verurteilt, ist unverderblich und hat stets eine Tendenz zur Selbstaufgabe. (410) Ich fasse das Genie, in jeder Form auf als einen Versuch der Natur, unter großen Opfern das Beispiel eines besseren, geglückteren, lebenswerteren Typus aufzustellen, als der Mensch es sonst ist. (411) Wenn ich vom Genie als von einer biologischen Angelegenheit spreche, so meine ich damit, dass das Genie, der bedeutende Mensch in seinen gelungensten Exemplaren, nahezu immer ein tragisches Leben hat und in einem fahlen Licht der Untergangsnähe lebt – was nichts zu tun hat mit der philiströsen Bourgeoislehre, dass Genie stets mit Irrsinn verwandt sei. Nein: Genie, das höchstgesteigerte Leben, schlägt so leicht in seinen Gegenpol, in Tod oder Wahnsinn um, weil in ihm das menschliche Dasein sich als ein furchtbares Missgeschick, als ein großer und kühner, aber nicht ganz geglückter Wurf der Natur erkennt. Das Genie, ohne Widerspruch als erwünschteste und edelste Frucht am Baum der Menschheit anerkannt, wird von dem biologischen Mechanismus in keiner Weise geschützt, geschweige denn fortgepflanzt, es kommt zur Welt inmitten eines Lebens, dem es Leuchte und Sehnsuchtsziel wird, während es zugleich an ihm ersticken muss. (412) Alle hochgetriebene Individuation kehrt sich gegen das Ich und neigt wieder zu dessen Zerstörung. (413) Man neigt dazu, aus den Lebensläufen der sogenannten Genies den beruhigenden Schluss zu ziehen, dass schließlich noch jedes Mal der wirklich Starke und Begabte seinen Weg gefunden und seine Werke geschaffen habe. Das ist ein feiger Trost und eine Lüge; es sind in Wahrheit viele Berühmtheiten trotz hoher Leistung nie das geworden, wozu der Wurf und die Berufung in ihnen lag, und es sind zu allen Zeiten viele Begabte nicht auf den ihrer würdigen Weg gekommen und viele Lebensläufe gebrochen und ins Elend getrieben worden. (414) Ich sehe die Welt als Künstler an und glaube, zwar demokratisch zu denken, fühle aber durchaus aristokratisch, das heißt, ich vermag jede Art von Qualität zu lieben, nicht aber die Quantität. (415) Die Kunst sollte keinem Zwang unterliegen. Weder sollte der Kunstfreund, dem es bei der zeitgenössischen Kunst nicht wohl wird, dieses anklagen, noch auch sollte er sich zu ihrem »Genuss« zwingen. Da wir z. B. in der Musik die Werke von annähernd drei Jahrhunderten besitzen und genießen können, sollten wir von den heutigen Musikern nicht verlangen, dass sie auf ihre Versuche und neuen Wegen verzichten, durch welche die Welt der Kunst ja nicht ärmer sondern reicher wird. Und wenn uns heutige Musik zuweilen kühl und konstruiert klingt, so müssen wir auch dran denken, dass sie die Reaktion auf mehr als ein halbes Jahrhundert vielleicht allzu süßer, allzu sinnlicher Musik ist. (416) Was der Weise im kontemplativen Verzicht auf jedes Tun zu erreichen sucht: die Aufhebung der Zeit, das streben die Künstler auf dem umgekehrten Weg an: durch erhöhte Aktivität im Dienst des Festhaltens und Verewigens. (417) Es hat im Laufe der Jahrhunderte tausend »Gesinnungen« und Parteien und Programme gegeben, tausend Revolutionen, sie haben die Welt verändert und (vielleicht) vorwärts gebracht. Aber keines ihrer Programme und Bekenntnisse hat seine Zeit überdauert. Die Bilder und Worte einiger echter Künstler und auch die Worte einiger echter Weiser und Liebender und sich Opfernder haben die Zeiten überdauert und tausendmal hat ein Wort Jesu, oder ein Worte eines griechischen oder andern Dichters, nach Jahrhunderten noch Menschen getroffen und aufgeweckt und ihnen den Blick für das Leid und das Wunder des Menschentums geöffnet. In der Reihe dieser Liebenden und Zeugen ein kleiner, einer von Tausenden zu sein, wäre mein Wunsch und Ehrgeiz, nicht aber für »genial« und dergleichen zu gelten. (418) Was heute neu und interessant ist, ist es übermorgen nicht mehr. Was aber erst einmal einige Jahrhunderte überdauert hat und noch immer nicht vergessen oder untergegangen ist, dessen Wertschätzung wird auch innerhalb unsrer Lebenszeit vermutlich keine großen Schwankungen mehr durchmachen. (419) Der Geist, sei er nun theologisch gekleidet oder anders, neigt immer ein wenig zu sehr zum Begriff, zur Verflachung, zur Typisierung, er ist mit »Baum« zufrieden, während Leib und Seele mit »Baum« nichts anfangen können, sondern Linde, Eiche, Ahorn brauchen und lieben. Eben darum sind die Künstler vermutlich Gottes Herzen näher als die Denker. Wenn nun Gott sich im Inder und Chinesen anders ausdrückt als im Griechen, so ist das nicht ein Mangel, sondern ein Reichtum, und wenn man alle diese Erscheinungsformen des Göttlichen mit einem Begriff zusammenfassen will, entsteht keine Eiche und keine Kastanie, sondern bestenfalls ein »Baum«. (420) Sie gehören unbedingt und untrennbar zusammen, Geist und Seele, Verstand und Gemüt, und wer eines von ihnen auf Kosten des anderen oder gar im Kampf gegen das andre überschätzt und überzüchtet, der sucht und pflegt das Halbe statt des Ganzen… Es ist eine drollige Erfahrung: der reine Verstandesmensch, mag er noch so goldene Worte und noch so scharf gespitzte Urteile von sich geben, wird uns sehr bald langweilig. Und ebenso werden uns die edlen Schwärmer für das Gemüt, die poetischen und enthusiastischen Spezialisten des Herzens bald langweilig. Der auf sich allein gestellte edle Geist, wie das auf sich allein vertrauende Gemüt, sie haben beide eine Dimension zu wenig. Man merkt das im Leben des Alltags und im politischen Leben, man merkt es noch deutlicher in der Kunst. (421) Wenn ich sämtliche Werke von Bach und Haydn im Kopf habe und die gescheitesten Sachen darüber sagen kann, so ist damit noch keinem Menschen gedient. Wenn ich aber mein Blasrohr nehme und einen zügigen Shimmy spiele, so mag der Shimmy gut sein oder schlecht, er wird doch den Leuten Freude machen, er fährt ihnen in die Beine und ins Blut. Darauf allein kommt es an. (422) »Deuten« ist ein Spiel des Intellekts, ein oft ganz hübsches Spiel, gut für kluge, aber kunstfremde Leute, die Bücher über Negerplastik oder Zwölftonmusik lesen und schreiben können, aber nie ins Innere eines Kunstwerkes Zugang finden, weil sie am Tor stehen, mit hundert Schlüsseln daran herumprobieren, und gar nicht sehen, dass das Tor ja offen ist. (423) Es ist immer misslich und kommt immer schief heraus, wenn man von den »Aufgaben« der Kunst redet, von dem, was die Kunst und der Künstler eigentlich »sollen«. Der Künstler »soll« überhaupt nicht; der wirkliche Künstler erfüllt seine Aufgabe niemals aus dem Bewusstsein eines Sollens heraus, sondern triebhaft, indem er einfach tut, wozu seine Natur ihn antreibt… Weit darüber hinaus aber hat der Künstler, wie jeder geistige und über das Mittelmaß hinaus feinorganisierte Mensch, auch seine Bedeutung für die Zukunft der Menschheit. Jeder solche eigenartige, feine, zarte, temperamentvolle, unruhige Mensch, wie Künstler es sind, stellt einen Versuch der Menschheit zu neuen Möglichkeiten dar, und je mehr der Künstler dies ahnt und in seinen Werken ausspricht, desto stärker wird seine Wirkung sein, wenn auch vielleicht nicht im Augenblick. (424) Der Dilettant ist dem Fachmann unterlegen im Können, im Wissen um die Mittel, ist ihm aber überlegen durch die Freiheit und Ahnungslosigkeit, mit der er macht, was ihn freut, und ausdrückt, was ihm wichtig ist, ohne die Skrupel und ohne den Ehrgeiz des Fachmanns, ohne dessen Hemmungen. (425) Die geborenen Dilettanten, aus welchen ein so großer Teil der Menschheit zu bestehen scheint, könnte man wohl als Karikaturen der Willensfreiheit bezeichnen. Indem sie nämlich, unendlich weit von der Natur und von der Erkenntnis des notwendigen entfernt, die ursprüngliche Fähigkeit jedes originellen entbehren, den Ruf der Natur im eigenen Inneren zu vernehmen, treiben sie leichtsinnig und unentschlossen in einem wertlosen Leben scheinbarer Willkür dahin. Da sie Eigenes nicht in sich haben, finden sie sich auf das Nachahmen verwiesen und betreiben nun das, was sie andere aus innerer Anlage und Notwendigkeit tun sehen, spielerisch und willkürlich als Affen der Natur. (426) Die höchste Kunst bedarf des Erklärens und aller angewandten Psychologie nicht, sie stellt ihre Gestaltungen hin und vertraut ihrem Zauber, ohne das Nichtverstandenwerden zu fürchten. (427) Für den schaffenden Künstler muss die Wirklichkeit des sinnlich Wahrgenommenen, muss Zeit, Raum und Kausalität als Wesenhaftes außer Zweifel stehen, da sie für ihn die einzigen Mittel der Darstellung und Überzeugung sind. (428) Es ist einerlei, welchen Gegenstand ein Dichter sich »wähle«. Es ist schon darum einerlei, weil überhaupt keine Wahl stattfindet, weil dieses »Wählen« nur eine Einbildung jener Oberlehrer ist, welche die Literaturgeschichten schreiben. (429) Dass Menschen einander erzählen, was sie erlebt haben und was ihnen aus dem Erlebten an innerem Besitze blieb, das wird nie aufhören, solange ein Leben auf der Erde ist. Und immer wieder werden unter diesen Menschen solche sein, denen das Erlebte zum Ausdruck und Symbol uralter Weltgesetze wird, die im Zeitlichen das Ewige und im Wandelbaren und Zufälligen die Spur des Göttlichen und Vollkommenen sehen, und ob diese Dichter ihre Werke Romane oder Offenbarungen oder Seelengeschichten oder sonst wie nennen, wird nicht sonderlich wichtig sein. (430) Nie hat eine menschliche Sprache (ich meine Grammatik) halbwegs den Schwung und Witz, den Glanz und Geist erreicht, den eine Katze in den Windungen ihres Schweifes, ein Paradiesvogel im Silbergestäube seiner Hochzeitskleider verschwendet. Dennoch hat der Mensch, sobald er er selbst war und nicht die Ameisen oder Bienen nachzuahmen strebte, den Paradiesvogel, die Katze und alle Tiere oder Pflanzen übertroffen. Er hat Sprachen ersonnen, die unendlich viel besser mitteilen und mitschwingen lassen als Deutsch, Griechisch oder Italienisch. Er hat Religionen, Architekturen, Malereien, Philosophien hingezaubert, hat Musik erschaffen, deren Ausdrucksspiel und Farbenreichtum weit über alle Paradiesvögel und Schmetterlinge geht. (431) Eine gute, echte Sprache als Selbstzweck kommt nicht vor, sie ist gut und echt, wenn sie Ausdruck echten Erlebens ist. Darum ist die Sprache des Volks voll von uralter überpersönlicher Erfahrung immer so schön. Dass der heutige Durchschnittsdeutsche seine eigene Sprache so schlecht kann, daran ist nicht ein Mangel an Sprachpflege schuld, sondern ein Mangel im tiefsten Wesen, eine Unfähigkeit echt und stark zu erleben. (432) Die Dichtung dient nicht Zwecken, außer unbewusst und so wie alles Lebendige einander dient, und es ist das Schicksal der Lehrdichtungen, dass sie desto mehr als Dichtungen scheitern, je reiner sie sich um die mitzuteilende Lehre mühen. (433) Die dichterische intensive Darstellung seelischer Geschehnisse, auch wenn sie diese nicht zu Ende zu deuten vermag, ist wirksamer und ergreifender als jede nur intellektuelle Analyse. (434) In unserer Zeit ist der Dichter, als reinster Typus des beseelten Menschen, zwischen der Maschinenwelt und der Welt intellektueller Betriebsamkeit gleichsam in einen luftleeren Raum gedrängt und zum Ersticken verurteilt. Denn der Dichter ist ja Vertreter und Anwalt gerade jener Kräfte und Bedürfnisse des Menschen, denen unsre Zeit fanatisch den Krieg erklärt hat. (435) Das Amt des Dichters ist nicht das Zeigen der Wege, sondern vor allem das Wecken der Sehnsucht. (436) Ein Dichter soll das Publikum nicht lieben, sondern die Menschheit, deren bester Teil seine Schriften nicht liest und dennoch braucht. (437) Ob ein Dichter Wirkung tut, liegt nie an einem Einzelvermögen, an Technik, Gescheitheit, Geschmack, sondern an der Rassigkeit seiner Natur, in der Vollkommenheit und Wucht, mit welcher er seinen Typ ausdrückt. (438) Überall, wo ein Dichter Lob oder Tadel erntet, wo er Wirkung tut oder verlacht wird, wo man ihn liebt oder ihn verwirft, überall spricht man nicht von seinen Gedanken und Träumen selbst, sondern nur von dem Hundertstel, das durch den engen Kanal der Sprache und den nicht weiteren des Leserverständnisses dringen konnte. (439) So wie dein Versuch, deinen Traum aufzuschreiben, sich zur Welt verhält, die dein Traum umfasst, so verhält sich das Werk des Autors zu dem, was er sagen wollte. (440) In jedem echten Werk, seine Technik sei, welche sie wolle, wird schließlich Harmonie gesucht, und sei es nur die zwischen dem Erlebten des Dichters und seinen Mitteln, es auszudrücken. Wo diese Harmonie sieghaft wird und über die Skizze und Notiz hinaus ein Werk, eine Dichtung entsteht, in welcher ein Stück Leben einheitlich geschaut und gedeutet ist, da lächeln wir und nicken dankbar, fragen wenig mehr nach der Technik und dem zeitlichen Gewand und sind froh, dass etwas Gutes mehr in der Welt ist. (441) Glücklicherweise war das Fortbestehen und der Ruhm hervorragender Dichtungen niemals von gelehrten Urteilen abhängig und Gott sei Dank hat das Gute und Lebensfähige sich stets von selbst erhalten, während auch das eifrigste Galvanisieren toter Größen selten oder nie von Erfolg gewesen ist. (442) Die Bücher der Dichter bedürfen weder der Erklärung noch der Verteidigung, sie sind überaus geduldig und können warten, und wenn sie etwas wert sind, dann leben sie meistens länger als alle die, die über sie streiten. (443) Für den Dichter ist das abstrakte Denken eine Gefahr, sogar die größte, denn n seiner Konsequenz verneint und tötet es das künstlerische Schaffen. (444) Es gibt wohl kollektivistische Gedanken und Predigten, aber es gibt keine kollektivistische Dichtung. (445) Die Zukunft kommt nicht durch die, die vor dem Anblick jedes Verzweifelten die Augen schließen. Das Sichtbarmachen und Bewusstmachen der verborgenen Abgründe gehört mit zu den Aufgaben des Schrifttums. (446) Persönlichkeit entsteht auf keinem anderen Weg als auf dem des Vergeistigens der tierischen Triebe, und schon von diesem Gesichtspunkt her scheint die Koprophilie in der Dichtung zukunftslos. (448) Erkennen und Schaffen, Denker sein und Künstler sein sind Gegensätze, die sich ausschließen. Die Meinung, es sei Dichten und Denken nahezu dasselbe, und es sei Aufgabe der Dichtung, Weltanschauungen darzustellen, ist ein Irrtum. (449) Die Aufgabe der Literatur, auch der dichterischen, eine überparteiliche Geistigkeit anzustreben, nicht nur Kampforgan des Augenblicks zu sein, lässt sich nicht so kurz als Chimäre abtun. Ein kleiner (zugegeben: ein sehr kleiner) Teil der begabteren Autoren erkennt die Lage recht wohl und ist keineswegs gewillt, sich um ihre Analyse zu drücken; diese paar Geister leben in einer von Jahr zu Jahr erdrückender werdenden Isolierung, und ihre Versuche, diese geistige Krise zum Ausdruck zu bringen, sind nicht Unterhaltungsliteratur, sondern verantwortliches Bekenntnis. Die sozialistische Zukunft wird an den schnell bereiten Autoren, die nach dem ersten Sieg der kommenden Revolution herbeieilen, um sich in die Partei eintragen zu lassen, nicht die besten Wegbereiter haben. (450) Während des Krieges hat man die Künstler, Dichter und Intellektuellen zu Soldaten und Erdarbeitern gemacht. Jetzt will man sie »politisieren« und zu Organen der aktuellen Entwicklung machen. Das ist so, wie wenn man ein Barometer zum Nägeleinschlagen benützen wollte. (451) Der Literat soll an das Licht glauben, er soll von ihm durch unumstößliche Erfahrung wissen und ihm so oft und so weit wie möglich offen stehen, aber er soll sich nicht für einen Lichtbringer oder gar selbst für ein Licht halten. Sonst geht das Fensterchen zu, und das Licht, das auf uns keineswegs angewiesen ist, geht andere Wege. (452) Wenn jemand den Autor einer echten Dichtung fragt: »Hättest du nicht lieber einen anderen Stoff wählen sollen?« - so ist das gerade, wie wenn ein Arzt zu dem Patienten mit der Lungenentzündung sagen wollte: »Ach, hätten Sie sich doch lieber für einen Schnupfen entschieden!« (453) Wenn einer sich selbst portraitieren will, ist es schließlich dasselbe, ob er seine Lebensphilosophie darlegt oder ob er eine Anekdote erzählt. (454) Es kommt beim Denken, ebenso wie beim Dichten, nicht auf das Was an, nicht auf die mehr oder weniger zufälligen Objekte des Denkens, sondern auf die Intensität, auf den Grad von Wärme und Reinheit, mit der ein einzelner die Probleme seiner Zeit erlebt und durchdenkt. (455) Ich bin keineswegs der Meinung ein aufrichtiger Autor könne seine »Stoffe« absolut frei wählen. Vielmehr bin ich durchaus davon überzeugt, das die Stoffe zu uns kommen, nicht wir zu ihnen, und dass daher die scheinbare »Wahl« kein Akt eines losgebunden persönlichen Willens, sondern gleich jeder Entschließung Folge eines lückenlosen Determinismus ist. Nur möchte ich damit nicht den Anschein erwecken, als halte ich nun jeden Einfall und jede Arbeit eines Dichters für sanktioniert, sondern gebe gern und mit Überzeugung zu, dass hier wie im übrigen Leben der Glaube an die Determination keineswegs die persönliche Verantwortlichkeit aufhebt. Dafür haben wir einen untrüglichen Maßstab im Gewissen, und das dichterische Gewissen ist darum das einzige Gesetz, dem der Dichter unbedingt folgen muss, und dessen Umgehung ihn und seine Arbeit schädigt. (456) Sie nehmen an, der Dichter sei dadurch, dass er die Gabe und Übung im Formulieren habe, von seinen Erlebnissen und Lasten befreit. Etwas dergleichen gibt es ja, indem einfach im Aussprechen, im Bekennen eine gewisse Entlastung liegen kann, diese bedarf der künstlerischen Mittel aber nicht, und die einfachste Beichte oder Mitteilung an einen vertrauten Menschen tut denselben Dienst wie das beste Gedicht. Im Gegenteil, der Künstler hebt durch sein Aussprechen das Erlebnis zwar teilweise (nie ganz) ins Bewusstsein, aber meistens dient es ihm nur dazu, das Erlebnis zu intensivieren, nicht es zu lösen. (457) Dichter ist etwas, was man bloß sein, nicht aber werden darf. (458) Wenn die Gesinnung und der gute Wille genügten, dann wäre die Welt voll von Autoren ersten Ranges. (459) Auf Kosten der Verständlichkeit und der klaren eindeutigen Form originell zu sein, das ist nicht Kunst. (460) Das Machen schlechter Gedichte ist noch viel beglückender als das Lesen der allerschönsten. (461) Niemand schreibt bekanntlich so schlecht, wie die Verteidiger alternder Ideologien. (462) Sie haben unrecht, wenn Sie es für möglich halten, »ein Weh wegzudichten«. In den Versen bleibt oft ein gut Teil des Giftes hängen. Jedenfalls machen sie den Schmerz flüssig. Er rinnt durch die holprigsten Trochäen auf’s gutmütigste weg. (463) Das Schreiben von Versen »ganz aus dem Gefühl« ist eine Einbildung, es gibt das nicht. Sondern man bedarf der Form, der Sprache, der Verse, der Wortwahl, und dies alles vollzieht sich nicht »im Gefühl«, sondern im Verstand. Zwar wählen viele kleinere Dichter ihre Formen nur unbewusst, das heißt, sie ahnen aus der Erinnerung Versformen nach, aber dass sie nicht wissen, was sie tun, ändert am Vorgang nichts. Von der Lyrik der Meister, von Pindar bis Rilke, ist nichts »ganz aus dem Gefühl« geschrieben, wie sie es nennen, sondern alles mit größter Wahl und Arbeit, in strengster Konzentration und oft mit peinlichster Nachprüfung der überkommenen Gesetze und Formen. »Aus dem Gefühl« schreibt man zur Not Briefe oder Feuilletons, nicht aber Verse. (464) Die Ursache, warum selten ein Dichter von seiner Arbeit leben kann, wohl aber tausende von Journalisten, liegt darin: dass das Volk neunzig Prozent von dem, was es für geistige Bedürfnisse ausgibt, für die Zeitung ausgibt. Das ist also ein guter Boden, wo viele ihr Futter finden. Und vermutlich sind auch sehr viele von diesen Journalisten ehrliche Arbeiter und wohlgesinnte Leute, und haben gar keine Ahnung davon, dass sie und ihre Zeitungen die Mauer bilden, die das Volk vom Geist trennt. (465) Der lyrische Dichter, wie ich ihn sehe oder ihn in mir erlebt habe, ist beim Dichten nicht nur darum bemüht, seine Gedanken oder Empfindungen mit Hilfe seiner Mittel möglichst gut auszudrücken. Sondern während er das tut, kommt ihm aus den Urkräften der Sprache, den mythischen und magischen, den klanglichen und rhythmischen, den malenden und den beschwörenden, beständig etwas entgegen, was nicht von ihm ist, was ihm aber hilft und ihn zugleich sehr oft von dem weglockt, was er eigentlich gewollt hat. Sein Werkzeug, die Sprache, ist eben nicht nur Werkzeug und tot, sondern ist eine schöpferische Macht, weniger vernünftig aber viel mächtiger als der Dichter. Indem er ein Wort hinsetzt, mit dem er nur etwas Begrenztes und Subjektives auszudrücken meint, kommt ihm aus dem Wort oft eine Mahnung, ein Strom von Assoziationen akustischer, optischer, gemüthafter Art entgegen, der ihn anderswohin mitnimmt als der Herr zu steuern vorhatte. Was also am Ende in einem Gedicht entsteht und es von einem rationalen Text unterscheidet, ist etwas Einmaliges, nicht wiederholbar, nie ganz identisch mit dem vom Autor ursprünglich gewollten, und gerade das ist es, was man, ob wissentlich oder unbewusst, daran liebt. (466) Es ist leicht, komplizierte Charaktere intellektueller Menschen darzustellen, da man diese analysieren und auseinanderlegen kann; nur ein Künstler aber vermag das Einfache, Unzerlegbare, naiv Urtümliche wiederzugeben. (467) Soweit ich mich erinnern kann, habe ich als die Funktion des Dichters immer vor allem das Erinnern gesehen, das Nichtvergessen, das Aufbewahren des Vergänglichen im Wort, das Heraufbeschwören des Vergangenen durch Anruf und Liebevolle Schilderung. Doch ist wohl auch von der alten idealistischen Tradition her etwas vom Amt des Dichters als Lehrer oder Mahner und Prediger in mir hängen geblieben. Doch habe ich das stets weniger im Sinn der Belehrung gemeint als im Sinn der Mahnung zur Beseelung des Lebens. (468) Der Dichter hat heute ein ähnliches Amt wie etwa ein protestantischer Pfarrer: er steht in einer leeren Kirche und predigt, und wenn Leute in die Kirche kommen und sich setzen und zuhören, dann erschrickt er beinah, weil er gar nicht mehr daran gewöhnt ist. Aber es freut ihn natürlich. (469) All mein Tun kommt aus Schwäche, aus Leiden, nicht aus irgendeinem vergnügten Übermut, wie Laien ihn zuweilen beim Dichter vermuten. (470) Das Klügeln und Gescheitreden über Kunst und Dichtung ist zum Sport und Selbstzweck geworden, und unter der Begierde, sie durch kritische Analyse zu bewältigen, hat die elementare Fähigkeit zur Hingabe, zum Schauen, zum Lauschen sehr gelitten. Wenn man damit zufrieden ist, einem Gedicht oder einer Erzählung den Gehalt an Gedanken, an Tendenz, an Erziehlichem oder Erbaulichem abzunötigen, dann ist man mit wenig zufrieden, und das Geheimnis der Kunst, das Wahre und Eigentliche, geht einem verloren. (471) Man kann ein Denker sein und doch schön schreiben. Aber es ist bei uns noch immer Sitte, einen schön schreibenden Denker unter die Dichter zu stellen. Vermutlich darum, weil unsere meisten Dichter zwar keine Denker sind, aber ein Deutsch schreiben, das man sonst nur Denkern verzeiht. (472) Bekanntlich ist jeder Autor eines erfolgreichen Buches ein Genie, jedoch nur bis zur Grenze der hundertsten Auflage. Ist diese überschritten, so sinkt das Genie in der Meinung der Kritik zum Trottel herab. (473) Die Welt will vom Dichter nicht Werke und Gedanken, sondern die Adresse und Persönlichkeit, um sie zu verehren, wieder wegzuschmeißen, zu schmücken und wieder auszuziehen, zu genießen und wieder auf sie zu spucken. (474) So gut einem ein Nobelpreis auf den Kopf fallen kann, so gut kann einem auch ein Dachziegel auf den Kopf fallen; letzteres kommt sogar öfter vor. (475) * 1946 Das Berühmtsein samt den Jubiläen ist ein Versuch, rein geistige Funktionen ins Soziologische zu übersetzen oder geistige Leistung mit den Formeln der Masse, der Quantität, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. (476) Die Gefahr der Bohème besteht für alle über Durchschnitt mit Geschmack und Seele begabten jungen Menschen, bei denen das Talent stärker ist als der Charakter. Heute ist die Bohème eine zwar verlockende, aber rückständige und innerlich unmöglich gewordene Form von verirrtem Künstlertum, und wer in ihr stecken bleibt, ist kein Genie oder Revolutionär, sondern einfach ein armer Teufel, der nicht klug und nicht stark genug ist, um sich eine eigenes, wertvolles Leben einzurichten. (477) »Artisten « haben vor den sogenannten »Künstlern« das voraus: dass sie unbedingt etwas können müssen, weil sie sonst den Hals brechen. (478) Man kann nicht immer dasselbe tun, ohne dabei einzutrocknen und sich an gewisse eingefahrene Gleise zu gewöhnen. Mir geht es auch so, und wenn ich eine Zeitlang nur an einer Dichtung gearbeitet oder nur Rezensionen geschrieben oder nur Geschichtliches gelesen und gedacht habe, dann muss ich wechseln und mich an andren Objekten wieder korrigieren, muss plötzlich für eine Weile Philosophie oder Musikgeschichte treiben oder malen oder irgend was andres. Und ehe man sich diesen Ruck gibt und den Wechsel vornimmt, kommt gewöhnlich eine Zeit großer Unlust und Depression. (479) Der Mensch besteht, nach der alten, bildhaften und schönen Vorstellung aus Körper, Geist und Seele. Meistens sind zwei dieser Elemente miteinander verbündet und das dritte wird vernachlässigt. So hat die Verbindung von Geist und Seele im Christentum den Körper verleumdet und vernachlässigt. Unsere Zeit dagegen übertreibt sowohl die Körperkultur wie die des Verstandes, beides auf Kosten der Seele. Die Kunst ist recht eigentlich das Reich der Seele und strebt doch weit übers Sinnliche hinaus. (480) Im Augenblick, wo eine Dichtung auf einen intelligenten und selbständigen Leser stößt, entsteht sofort Neues und Lebendiges: die Eigenart und Bilderwelt des Dichters geht mit Charakter und Assoziationswelt des Lesers Verbindungen und Mischungen ein, und ich bin oft bei Beurteilern meiner Sachen auf Deutungen gestoßen, an die ich beim Schreiben nie gedacht hätte, und die dennoch völlig zulässig und legitim sind. (481) Stets siegt am Ende das menschliche Urteil über das ästhetische. Denn wir verzeihen dem Talent nicht leicht, das sich missbraucht, wohl aber verzeihen wir dem menschlich wertvollen Werk manchen offenkundigen Formfehler. (482) Humor Der Humor bleibt stets irgendwie bürgerlich, obwohl der echte Bürger unfähig ist, ihn zu verstehen. (483) In der Welt zu leben, als sei es nicht die Welt, das Gesetz zu achten und doch über ihm zu stehen, zu besitzen, »als besäße man nicht«, zu verzichten, als sei es kein Verzicht – alle diese beliebten und oft formulierten Forderungen einer hohen Lebensweisheit ist einzig der Humor zu verwirklichen fähig. (484) Je größer der Komiker ist, je schauerlicher und hilfloser er unsre Dummheit auf die komische Formel bringt, desto mehr muss man lachen! Wie gern doch alle Menschen lachen! Weit von den Vorstädten her laufen sie in der Kälte, zahlen Geld, warten lang, kommen erst um Mitternacht nach Hause, nur um eine Weile lachen zu können. (485) Humor, ein Kristall, der nur in tiefen und dauernden Schmerzen wächst. Die Gesunden klatschen sich dabei auf die Schenkel und wiehern und sind dann immer verdutzt und ein wenig beleidigt, wenn sie von Zeit zu Zeit Nachrichten lesen wie diese, dass der sehr beliebte und erfolgreiche Komiker X sich unbegreiflicherweise in einem Anfall von Schwermut ertränkt habe. (486) Humoristen haben, sie mögen schreiben, was immer sie wollen, alle ihre Überschriften und Themata nur Vorwand, in Wahrheit haben sie alle und immer nur ein einziges Thema: die wunderliche Traurigkeit und Beschissenheit des Menschenlebens und das Staunen darüber, dass dies jämmerliche Leben trotzdem so schön und köstlich sein kann. (487) Tragik und Humor sind ja keine Gegensätze oder sind vielmehr nur darum Gegensätze, weil die eine den andern so unerbittlich fordert. (488) Aller höhere Humor fängt damit an, dass man die eigene Person nicht mehr ernst nimmt. (489) Glück Ich neige manchmal dazu, glückliche Menschen für heimliche Weise zu halten, auch wenn sie dumm scheinen. Was ist dümmer und macht unglücklicher als Gescheitheit? (490) Wo befreundete Wege zusammenlaufen, da sieht die ganze Welt für eine Stunde wie Heimat aus. (491) Die hohe Bewertung der Minute, die Eile als wichtigste Ursache unserer Lebensform ist ohne Zweifel der gefährlichste Feind der Freude. Möglichst viel und möglichst schnell ist die Losung. Daraus folgt immer mehr Vergnügung und immer weniger Freude. (492) Das ist das herrliche an jeder Freude, dass sie unverdient kommt und niemals käuflich ist. (493) Das Verlangen nach dem »Glück« der Rohen und der Dummen ist vielleicht gar nicht ein Stigma der Berufenen. Vielleicht hat jeder Mensch, wenn auch nicht jeder mit gleicher Bewusstheit, Neid in sich auf das »Glück« dessen, den er eine Stufe unter oder über sich sieht. Vielleicht beneidet jedes Leben das andre, und scheint jedem Leben das eigene Schicksal schwerer als jedes andre. (494) Wenn aus bedecktem Himmel ein Sonnenstrahl in eine trübe Gasse fällt, so ist es einerlei, was er trifft: die Flaschenscherbe am Boden, das zerfetzte Plakat an der Wand oder den blonden Flachs eines Kinderkopfes: er bringt Licht, er bringt Zauber, er verwandelt und verklärt. (495) Das Paradies pflegt sich erst dann als Paradies zu erkennen zu geben, wenn wir aus ihm vertrieben sind. (496) Das Schönste ist immer so, dass man dabei außer dem Vergnügen auch noch eine Trauer hat oder Angst. (497) Der Wanderer hat das Beste und Zarteste von allen Genüssen, weil er neben dem Schmecken auch noch das Wissen von der Flüchtigkeit aller Freuden hat. Er schaut auch dem Verlorenen nicht lange nach und begehrt nicht, an jedem Orte, wo es einmal gut sein war, gleich Wurzeln zu schlagen. Es gibt Lustreisende, die gehen Jahr für Jahr an denselben Ort, und es gibt viele, die können von keinem schönen Anblick Abschied nehmen, ohne dass sie beschließen, recht bald wiederzukommen. Das mögen gute Leute sein, gute Wanderer sind es nicht. Sie haben etwas von der dumpfen Trunkenheit der Liebesleute und etwas von dem sorglichen Sammlersinn der Lindenblütenpflückerinnen. Aber den Wandersinn haben sie nicht, den stillen, ernst-fröhlichen, immer abschiednehmenden. (498) Glück kann man nur besitzen, solange man es nicht sieht. (499) Mein Glück bestand aus dem gleichen Geheimnis wie das Glück der Träume, es bestand aus der Freiheit, alles irgend Erdenkliche gleichzeitig zu erleben, Außen und Innen spielend zu vertauschen, Zeit und Raum wie Kulissen zu verschieben. (500) Zum Erleben des Glückes bedarf es vor allem der Unabhängigkeit von der Zeit und damit von der Furcht sowohl wie von der Hoffnung, und diese Fähigkeit kommt den meisten Menschen mit den Jahren abhanden. (501) Stelle dir dein Wesen als einen tiefen See mit kleiner Oberfläche vor. Die Oberfläche ist das Bewusstsein. Dort ist es hell, dort geht das vor sich, was wir denken heißen. Der Teil des Sees aber, der diese Oberfläche bildet, ist ein unendlich kleiner. Er mag der schönste, der interessanteste Teil sein, denn in der Berührung mit Luft und Licht erneuert, verändert, bereichert sich das Wasser. Aber die Wasserteile selbst, die an der Oberfläche sind, wechseln unaufhörlich. Immer steigt es von unten, sinkt von oben, immer geschehen Strömungen, Ausgleichungen, Verschiebungen, jeder Teil Wassers will auch einmal oben sein. – Wie nun der See aus Wasser, so besteht unser Ich oder unsre Seele (es ist nichts an den Worten gelegen) aus tausend und Millionen Teilen, aus einem stets wachsenden, stets wechselnden Gut von Besitz, von Erinnerungen, von Eindrücken. Was unser Bewusstsein davon sieht, ist die kleine Oberfläche. Den unendlich größeren Teil ihres Inhalts sieht die Seele nicht. Reich und gesund nun und zum Glück fähig scheint mir die Seele, in der aus dem großen Dunkel nach dem kleinen Lichtfelde hin ein beständiger, frischer Zuzug und Austausch vor sich geht. Die allermeisten Menschen hegen tausend und tausend Dinge in sich, welche niemals an die Oberfläche kommen, welche unten faulen und sich quälen. Darum, weil sie faulen und Qual machen, werden diese Dinge vom Bewusstsein immer und immer wieder zurückgewiesen, sie stehen unter Verdacht und werden gefürchtet. Dies ist der Sinn jeder Moral – was als schädlich erkannt ist, darf nicht nach oben kommen! Es ist aber nichts schädlich und nichts nützlich, alles ist gut, oder alles ist indifferent. Jeder einzelne trägt Dinge in sich, die ihm angehören, die ihm gut und zu eigen sind, die aber nicht nach oben kommen dürfen. Kämen sie nach oben, sagt die Moral, so gäbe es ein Unglück. Es gäbe aber vielleicht gerade ein Unglück! Darum soll alles nach oben kommen, und der Mensch, der sich einer Moral unterwirft, verarmt. (502) Das Schöne zieht einen Teil seines Zaubers aus der Vergänglichkeit. (503) Mit aller Pflicht und aller Moral und allen Geboten macht man einander selten glücklich, weil man sich selbst damit nicht glücklich macht. Wenn der Mensch »gut« sein kann, so kann er es nur, wenn er glücklich ist. (504) Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann, ist glücklich. (505) Liebe Dass ein vollsinniger, begabter, lebenskräftiger Mann all seine Gaben und Kräfte auf das Geldverdienen richte oder auf den Dienst an einer politischen Partei, scheint heute jedem nicht nur möglich, sondern auch richtig und normal; - dass er diese Gaben und Kräfte den Frauen und der Liebe zuwenden könnte, das kommt heute niemandem in den Sinn. Vom bürgerlichsten Durchschnittsamerika bis zum rötesten Sowjetsozialismus – in keiner wahrhaft »modernen« Weltanschauung spielt die Liebe eine andere Rolle als die unbedeutende eines nebensächlichen Lustfaktors im Leben, zu dessen Regelung einige hygienische Rezepte genügen. (506) Es ist wunderlich mit der Liebe, auch in der Kunst. Sie vermag, was alle Bindung, aller Intellekt, alle Kritik nicht vermag, sie verbindet das Fernste, stellt das Älteste und Neueste nebeneinander. Sie überwindet die Zeit, indem sie alles aufs eigene Zentrum bezieht. Sie allein gibt Sicherheit, sie allein hat Recht, weil sie nicht rechthaben will. (507) Phantasie und Einfühlungsvermögen sind nichts anderes als Formen der Liebe. (508) Es ist ein merkwürdiges, doch einfaches Geheimnis der Lebensweisheit aller Zeiten, dass jede kleinste selbstlose Hingabe, jede Teilnahme, jede Liebe uns reicher macht, während jede Bemühung um Besitz und Macht uns Kräfte raubt und ärmer werden lässt. Das haben die Inder gewusst und gelehrt, und dann die weisen Griechen, und dann Jesus, und seither noch Tausende von Weisen und Dichtern, deren Werke die Zeiten überdauern, während Reiche und Könige ihrer Zeit verschollen und vergangen sind. Ihr möget es mit Jesus halten oder mit Plato, mit Schiller oder mit Spinoza, überall ist das die letzte Weisheit, dass weder Macht, noch Besitz, noch Erkenntnis selig macht, sondern allein die Liebe. Jedes Selbstlossein, jeder Verzicht aus Liebe, jedes tätige Mitleid, jede Selbstentäußerung scheint ein Weggeben, ein Sichberauben und ist doch ein Reicherwerden und Größerwerden, und ist doch der einzige Weg, der vorwärts und aufwärts führt. Es ist ein altes Lied, und ich bin ein schlechter Sänger und Prediger, aber Wahrheiten veralten nicht und sind stets und überall wahr, ob sie nun in einer Wüste gepredigt, in einem Gedicht gesungen oder in einer Zeitung gedruckt werden. (509) Mit der Liebe ist es gerade so wie mit der Kunst: wer das Größte ein klein wenig zu lieben vermag, der ist ärmer und geringer, als wer am Kleinsten aufglühen kann. (510) Wenn wir einen Menschen glücklicher und heiterer machen können, so sollten wir es in jedem Fall tun. (511) Es zeigt sich, dass Lieben und Kennen nahezu dasselbe sind, dass man den Menschen, den man am meisten liebt, auch am besten kennt. (512) Liebe muss nicht bitten, auch nicht fordern. Liebe muss die Kraft haben, in sich selbst zur Gewissheit zu kommen. Dann wird sie nicht mehr gezogen, sondern zieht. (513) Er hatte geliebt und dabei sich selbst gefunden. Die meisten aber lieben, um sich dabei zu verlieren. (514) Ohne Liebe zu sich selbst ist auch die Nächstenliebe unmöglich. Der Selbsthass ist genau dasselbe und erzeugt am Ende dieselbe grausige Isoliertheit und Verzweiflung wie der grelle Egoismus. (515) Es ist kein Glück, geliebt zu werden. Jeder Mensch liebt sich selber, aber lieben, das ist Glück. (516) Dass auch nur zwei Menschen, die aufeinander angewiesen sind, in Frieden miteinander leben, ist seltener und schwieriger als jede andere ethische und intellektuelle Leistung. (517) Was wäre Vernunft und Nüchternheit ohne das Wissen vom Rausch, was wäre Sinneslust, wenn nicht der Tod hinter ihr stünde, und was wäre Liebe ohne die ewige Todfeindschaft der Geschlechter? (518) Ich lernte vor allem, dass die kleinen Spielzeuge, Mode- und Luxussachen nicht bloß Tand und Kitsch sind und eine Erfindung geldgieriger Fabrikanten und Händler, sondern berechtigt, schön, mannigfaltig, eine kleine oder vielmehr große Welt von Dingen, welche alle den einzigen Zweck haben, der Liebe zu dienen, die Sinne zu verfeinern, die tote Umwelt zu beleben, und zauberhaft mit neuen Liebesorganen vom Puder und Parfüm bis zum Tanzschuh, vom Fingerring bis zur Zigarettendose, von der Gürtelschnalle bis zur Handtasche. Diese Tasche war keine Tasche, der Geldbeutel kein Geldbeutel, Blumen keine Blumen, der Fächer kein Fächer, alles war plastisches Material der Liebe, der Magie, der Reizung, war Bote, Schleichhändler, Waffe, Schlachtruf. (519) Man tut das meiste im Leben, auch wenn man andere Gründe vorschützt, der Frauen wegen. (520) Ich bin ein Verehrer der Untreue, des Wechsels, der Phantasie. Ich halte nichts davon, meine Liebe an irgendeinen Fleck der Erde festzunageln. Ich halte das, was wir lieben, immer nur für ein Gleichnis. Wo unsere Liebe hängen bleibt und zur Treue und Tugend wird, da wird sie mir verdächtig. (521) Man kann alles auf der Welt nachahmen und fälschen, nur die Liebe nicht: Liebe kann man nicht stehlen, nicht nachahmen, sie wohnt nur in dem Herzen, das sich ganz zu geben weiß. Das ist die Quelle jeder Kunst. (522) Die Leute wollen nicht gern mit Vertrauen und Liebe bezahlen, sondern lieber mit Geld und Ware. (523) Es gibt nichts Erfolgloseres als das Nachdenken über jemand, den man liebt. Solche Gedankengänge sind wie gewisse Volks- und Soldatenlieder, worin tausenderlei Dinge vorkommen, der Refrain aber hartnäckig wiederkehrt, auch wo er durchaus nicht passt. (524) Den Sinn erhält das Leben einzig durch die Liebe. Das heißt: je mehr wir zu lieben und uns hinzugeben fähig sind, desto sinnvoller wird unser Leben. (525) Die Welt zu durchschauen, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können. (526) Alles, woran wir mit Liebe hängen, ist von uns überschätzt und fordert zuzeiten auch Widerspruch und Kritik heraus, denn lebendig und wertvoll ist nur die Liebe, nicht der Gegenstand, an den wir sie hängen. (527) Tod Eine Agonie ist auch ein Lebensvorgang, nicht weniger als eine Geburt, und oft kann man beides verwechseln. (528) Nach jedem Tod wird das Leben zarter und feiner. (529) Der Vernünftige glaubt, dass die Erde dem Menschen zur Ausbeutung ausgeliefert sei. Sein gefürchtetser Feind ist der Tod, der Gedanke an die Vergänglichkeit seines Lebens und Tuns. An ihn zu denken, vermeidet er, und wo er dem Todesgedanken nicht entgehen kann, flüchtet er in die Aktivität und setzt dem Tode ein verdoppeltes Streben entgegen: nach Gütern, nach Erkenntnissen, nach Gesetzen, nach rationaler Beherrschung der Welt. Sein Unsterblichkeitsglaube ist der Glaube an jenen Fortschritt: als tätiges Glied in der ewigen Kette des Fortschritts glaubt er sich vor dem völligen Verschwinden bewahrt. (530) Schritte, die man getan hat, und Tode, die man gestorben ist, soll man nicht mehr bereuen. (531) Wenn einem Menschen, so denke ich mir, durch Natur, Erziehung und Schicksal der Selbstmord unmöglich und verboten ist, dann wird er ihn, auch wenn gelegentlich die Phantasie ihn mit diesem Ausweg in Versuchung führt, nicht ausführen können, es wird ihm einfach verboten bleiben. Ist es anders, und wirft einer das Leben, das ihm unerträglich geworden ist, entschlossen von sich, so hat er nach meiner Meinung dazu dasselbe Recht, wie andre es auf ihren natürlichen Tod haben. Bei manchen, die sich umgebracht haben, habe ich ihren Tod als natürlicher und sinnvoller empfunden denn so manchen andern. (532) Man stirbt ja so verflucht langsam und stückchenweise: Jeder Zahn, Muskel und Knochen nimmt extra Abschied, als sei man mit ihm besonders gut gestanden. (533) Schmerz und Klage sind unsre erste, natürliche Antwort auf den Verlust eines geliebten Menschen. Sie helfen uns durch die erste Trauer und Not, sie genügen aber nicht, um uns mit den Toten zu verbinden. Das tut auf primitiver Stufe der Totenkult: Opfer, Grabschmuck, Denkmäler, Blumen. Auf unsrer Stufe aber muss das Totenopfer in unsrer eigenen Seele vollzogen werden, durch Gedenken, durch genaueste Erinnerung, durch Wiederaufbau des geliebten Wesens in unsrem Innern. Vermögen wir dies, dann geht der Tote weiter neben uns, sein Bild ist gerettet und hilft uns den Schmerz fruchtbar zu machen. (534) Gegen den Tod brauche ich keine Waffe, weil es keinen Tod gibt. Es gibt aber eines: Angst vor dem Tode. Die kann man heilen. (535) Jugend und Alter Ich glaube, man kann im Leben eine ganz genaue Grenze ziehen zwischen Jugend und Alter. Die Jugend hört auf mit dem Egoismus, das Alter beginnt mit dem Leben für andere. (536) Der Erwachsene, der gelernt hat, einen Teil seiner Gefühle in Gedanken zu verwandeln, vermisst diese Gedanken beim Kinde und meint nun, auch die Erlebnisse seien nicht da. (537) Auf dem Weg vom Jünglings- zum Mannesalter sind die beiden Hauptstufen: Das Innewerden und Bewusstmachen des eigenen Ich und dann die Einordnung dieses Ich in die Gemeinschaft. Je einfacher und problemloser ein Jüngling ist, desto weniger Beschwerden werden beide Aufgaben in ihm bereiten. Die stärker differenzierten und begabten Naturen haben es schwerer, am schwersten die, denen nicht ein Spezialtalent von selber den Weg zeigt. Jedes Leben aber ist ein Wagnis, und das Gleichgewicht zwischen den persönlichen Gaben und Trieben und den sozialen Forderungen muss immer neu gefunden werden; es geht nie ohne Opfer, nie ohne Fehler. Und auch wir Alten, scheinbar Arrivierten und Gefestigten, stehen nicht über den Zweifeln und Fehlern, sondern mitten drin. (538) Wer die Einseitigkeit und kühne Umstürzlerei nicht ertragen kann, wer Jugend lieber weise, lieber gütig, lieber allverstehend sähe als fanatisch und puritanisch, der lehne sie ab. Es wird sein eigener Schade sein. (539) Der Sturm gegen Namen und gegen selbstgemachte geschichtliche Konstruktionen ist etwas Jugendliches, ist nicht nur eine Art oder Unart, sondern ein Recht und Trieb der Jugend (die man ja nicht nach Kalenderjahren zu zählen braucht.) (540) Ich habe Verständnis für eine jugendlich-idealistische Weltanschauung der Verachtung des Geldes. Indessen ist Geld, solange unsere jetzige Gesellschaftsform noch besteht, außer einer blinden und bösen Macht auch noch etwas anderes: es ist der konzentrierte Ertrag von Arbeit, Entbehrung, Sparen, Treue in der Lebensführung. Darum ist jeder Vater, der klein und langsam gespart hat, empfindlich gegen Gebärden der Geldverachtung bei seinen Kindern. (541) Es ist schön, wenn eine alte Familie an ihrem Hause mit Liebe hängt, aber Verjüngung und neue Größe kommen ihr immer nur davon, dass ihre Söhne größeren Zielen als denen der Familie dienen. (542) Das revolutionäre Geschrei bei einem Teil der Jugend muss man nicht allzu ernst nehmen. Ernst daran ist nur das tiefe Bedürfnis, für neue Sorgen neue Emotionen, auch neue Ausdrücke zu finden. (543) Da die junge Generation eine ganze, Jahrzehntealte bürgerliche Welt hinabsinken fühlt, unter deren kleinlicher Rute sie aufwuchs, frohlockt sie mit Recht. (544) So wie die »Erkenntnis«, also das Erwachen vom Geist, von der Bibel als Sünde dargestellt wird (repräsentiert von der Schlange im Paradies), so wird das Menschwerden, die Individuation, das sich Durchkämpfen des Einzelnen aus der Masse heraus zur Persönlichkeit stets von Sitte und Herkommen mit Misstrauen betrachtet, wie ja auch die Reibung zwischen Jüngling und Familie, zwischen Vater und Sohn etwas Natürliches und Uraltes ist, und doch von jedem Vater von neuem als unerhörte Rebellion empfunden wird. (545) Die Wahrheit ist ein typisch jugendliches Ideal, die Liebe dagegen eins des reifen Menschen. Bei den Denk-Menschen hört das Schwärmen für die Wahrheit erst dann auf, wenn sie gemerkt haben, dass der Mensch für das Erkennen der objektiver Wahrheit außerordentlich schlecht begabt ist, so dass also Wahrheitsuchen nicht die eigentlich humane, menschliche Tätigkeit sein kann. Aber auch die, die gar nie zu solchen Einsichten kommen, machen im Lauf der unbewussten Erfahrung die gleiche Wendung durch. Wahrheit haben, Recht haben, Wissen, Gut und Böse genau unterscheiden können, infolgedessen richten, strafen, verurteilen, Krieg führen können und dürfen – das ist jugendlich, und es steht der Jugend auch gut an. Wird man älter und bleibt bei diesen Idealen stehen, so verwelken die ohnehin nicht heftigen Fähigkeiten zum »Erwachen«, zum Ahnen der übermenschlichen Wahrheit, die wir Menschen haben. (546) Sache der Älteren ist es, freier, spielender, erfahrener, gütiger mit der eigenen Liebesfähigkeit zu verfahren, als Jugend es kann. Alter findet immer leicht die Jugend altklug. Aber Alter ahmt selber immer gern die Gebärden und Arten der Jugend nach, ist selber fanatisch, ist selber ungerecht, ist selber alleinseligmachend und leicht beleidigt. Alter ist nicht schlechter als Jugend, Lao Tse ist nicht schlechter als Buddha, Blau ist nicht schlechter als Rot. Alter wird nur gering, wenn es Jugend spielen will. (547) Das Altwerden an sich ist ja ein natürlicher Prozess, und ein Mann von 65 oder 75 Jahren ist, wenn er nicht jünger sein will, durchaus ebenso gesund und normal wie einer von 30 oder 50. Aber man ist eben mit seinem eigenen Alter leider nicht immer auf einer Stufe, man eilt ihm innerlich oft voraus, und noch öfter bleibt man hinter ihm zurück – das Bewusstsein und Lebensgefühl ist dann weniger reif als der Körper, wehrt sich gegen dessen natürliche Erscheinungen und verlangt etwas von sich selber, was es nicht leisten kann. (548) Erst im Altwerden sieht man die Seltenheit des Schönen, und welches Wunder es eigentlich ist, wenn zwischen Fabriken und Kanonen auch Blumen blühen und zwischen den Zeitungen und Börsenzetteln auch noch Dichtungen leben. (549) Das Bedürfnis der Jugend ist: sich selbst ernst nehmen zu können. Das Bedürfnis des Alten ist: sich selber opfern zu können, weil über ihm etwas steht, was es ernst nimmt. Ein geistiges Leben muss zwischen diesen beiden Polen ablaufen und spielen. Denn Aufgabe, Sehnsucht und Pflicht der Jugend ist das Werden, Aufgabe des reifen Menschen ist das Sichweggeben oder, wie die deutschen Mystiker es einst nannten, das »Entwerden«. Man muss erst ein voller Mensch, eine wirkliche Persönlichkeit geworden sein und die Leiden dieser Individuation erlitten haben, ehe man das Opfer dieser Persönlichkeit bringen kann. (550)