27.03.2009 Texte und Medien – Oralität, Literalität

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Texte und Medien
Günther Stocker
FR, 27.03.2009
Mündlichkeit und Schriftlichkeit – Die Folgen der Verbreitung der Schrift für die Dichtung im
antiken Griechenland
Oskar Werner liest Gedichte von Rainer Maria Rilke
 „Menschen bei Nacht“
 „Herbsttag“
Oskar Werner: Schauspieler (Burgtheater, Film)
mündliches Vortragen eines Textes: immer auch schon eine Interpretation (Pathos, große Pausen,
Betonungen usw.)
vorlesen:
 Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe, Tempo, Deutlichkeit, Stimmumfang, Geschwindigkeit
 kommt auch darauf an, WER vorliest
Stimme
 unterscheidet sich in verschiedenen Situationen
 Erkennen von Stimmen
 Erkennen von Situationen, in welchen sich bekannte Menschen befinden
 Flüchtigkeit der Stimme („verba fugent, litterae manent.“; „verba volant, …“): wenn Stimme
verklingt, ist Vorgang vorbei  im Moment des Erklingens von Stimme ist es schon wieder
Geschichte
 Schnelligkeit des Vorlesens: Geschwindigkeit der Rezeption vorgegeben
 Weniger Spielraum für Entfaltung von Assoziationen im Gegensatz zu Lektüre (Text: man liest eine
Zeile, versinkt eine Weile in Gedankenwelt  bei Lesung nicht möglich, man verpasst etwas)
letztes Mal:
 Einführung Schrift im antiken Griechenland
 Phönizisches Alphabet: keine Zeichen für Vokale
 Griechen übernehmen phönizisches Alphabet: ersetzen Zeichen/fügen Zeichen hinzu
 Aleph  Alpha, He  Epsilon usw.
 mit relativ kleinem Zeichenbestand von 25 Zeichen kann Sprache aufgezeichnet werden
Folgen der Schrift
Rösler, Wolfgang: FOLIEN, Reader
Welche Konsequenzen hatte der Wandel der medialen Bedingungen für soziale Geltung und
Funktion der Literatur?
(Wandlung von rein oraler Kultur zu Schriftkultur)
Charakteristika der oralen Kultur
 Beschränktes kulturelles Gedächtnis: z.B. Dan u. Aleida Assmann; gesamten Wissensbestand,
Überlieferung, Herkunft einer bestimmten Kultur; kommunikatives Gedächtnis: mündliche
Weitertradierung innerhalb einer Familie (Herkunft, Überlieferung der Geschichte einer Familie);
kulturelles Gedächtnis: nicht so beschränkt wie kommunikatives Gedächtnis, hängt stark von
verwendeten Medien ab  wichtig für Identität einer Kultur; verschiedene Medien des kulturellen
Gedächtnisses: in oraler Kultur  Speicherkapazität von kulturellem Gedächtnis beschränkt
(Speichermedien: Weitergabe des Gedächtnisses durch Sänger („oral poets“) usw.); kulturelles
Gedächtnis flexibel, bewegt
 Kulturelle Homöostase (Was nicht gebraucht wird, wird vergessen.): überliefert wird das (aus der
Vergangenheit), was für Gegenwart, sozialen Zusammenhalt, gegenwärtigen
Bedürfnisse/Fragestellungen relevant ist; wenn es nicht gespeichert wird, geht es verloren;
Irrelevantes wird „ausgeschieden“ (Jack Goody, Ian What (?): Kontakt mit Kolonialmächten,
Engländer zeichneten mündlich erzählte Geschichten auf; 60 Jahre später nochmalige
Aufzeichnung in diesem Gebiet (Ghana? Stamm (?): Gonja (?))  Unterschiede: nur dadurch
bemerkbar, dass vieles aufgeschrieben wurde; genealogisch erzählt: Reichsgründung  7 Söhne,
7 Bezirke; Briten kamen in Gebiet, Bezirke wurden aufgelöst; Mythos von Reichsgründung wurde
60 Jahre später erneut aufgezeichnet  Veränderung der politischen Organisationsstruktur 
Veränderung der Erzählung  wäre in oraler Kultur nicht aufgefallen)
 Nur EINE Version der Vergangenheit: nicht nur Irrelevantes, auch andere Versionen der
Geschichte werden vergessen (1 Version wird überliefert: Gruppe muss sich einigen, welche
Version); Kritiken, Blogeinträge usw.: meiste Leute würden sich nicht trauen, das dem/der AutorIn
(oder jem. anderem) ins Gesicht zu sagen
 Dichter („oral poet“) als Medium der Überlieferung: er singt die WAHRHEIT; welches Verständnis
von Dichtung bestimmt die Kultur? Dichtungsbegriff, Rolle: Dichtung wird als WAHR aufgefasst;
Dichter bekommt von Musen (Göttinnen) erzählt/gesagt/übermittelt/eingeflüstert, was Wahrheit ist,
was passiert ist, wie sich Geschichte zugetragen hat  keine eigene Realitätsstufe von Dichtung
(auch keine Unterscheidung von Gattungen usw.); Mittlerfunktion zw. Musen und Menschen;
Musenanrufe: z.B. Epen des Homer („den Mann nenne mir, …“; ca. 7. Jhdt. v.Chr.), Ilyas (?) („den
Zorn nenne mir, …“);
Theory of oral formulaic poetry
Milman Parry: Untersuchung der Epen des Homer  schmückende Beiwörter kommen immer wieder
bei GöttInnen, Helden usw. vor (Odysseus, der Erdbeweger; Zeus, der Herrscher der Wolken usw.) 
Elemente, die von mündlichem Ursprung der Epen zeugen
Albert B. Lord (Schüler von Milman Parry): Feldforschungen in Kulturen, bei denen es noch mündliche
Geschichtenerzähler gab (z.B. Bosnien: Vortrag von langen Heldenerzählungen)  versuchte, das
aufzuschreiben und zu analysieren  entdeckte Charakteristika: Handlungsmuster, formelhafte
Beschreibungsmuster  Neuformulierung der Geschichte eines Helden; formelhafte Beschreibungen
von Figuren, Handlungen usw.; typische Motive; Zusammensetzen: Neuschaffen im Akt des Auftritts
( wichtig zur Erklärung der Homerischen Epen: heute  zu komplex formuliert, als dass man sie
mündlich hätte erzählen können  Vermutung: Komposition mit Hilfe der Schrift)
Kultur, in der Mündlichkeit verbreitet war: was geschieht, als Schrift auftaucht?
(Konsequenzen der Schriftlichkeit)
Mündliches: wird schriftlich festgehalten (in verschiedenen Phasen/Regionen usw.)  abweichende
Varianten einer Geschichte
Annahme: Dichtung ist wahr  verschiedene Versionen  Denkansatz nicht mehr haltbar (Wahrheit
- Lüge  7. Jhdt.); 8. Jhdt.: Verbreitung der Schrift, Vertrauen in Wahrheit der Dichtung beginnt zu
zerbröckeln
um 700: verschiedene Lösungen der Geschichte  jem. (?) sagt, dass er von Musen auserwählt
worden wäre; anderen wurde falsche Version von Musen übermittelt
Solon (um 600): „Viel Unwahres verkünden die Dichter.“
Rösler: „Was schriftlich fixiert ist, widersetzt sich dem Vergessen-werden. …“  beschränkte
Speicherkapazität einer Kultur wird erweitert: mehr Widersprüche
7. Jhdt.: merkbare Störung der literarischen Kommunikation
Pindar kritisiert Homer (habe zugunsten von Odysseus gelogen: zu positive Darstellung)
Xenophanes kritisiert Hesiod und Homer(Götter werden völlig wahrheitswidrig dargestellt)
Heraklit kritisiert Xenophanes: (sei völlig ohne Verstand, so wie Pythagoras usw.)
Rösler: These dazu  erklärt Störung der literarischen Kommunikation medienhistorisch 
allmähliche Ablösung der Mündlichkeit (Dichtung bleibt auf mündl. Vortrag hin angelegt 
performativer Bereich (Vortragen))  Schaffensvorgang (seit 7. Jhdt.) unter Einfluss der Schrift:
Schrift wird verwendet, um Texte zu schreiben/konzipieren
immer mehr Prosatexte: Verse viel leichter zu merken, durch Schriftlichkeit  Verbreitung Prosa
Konzept der Fiktionalität
nicht Wahrheit und nicht Lüge: anderer Existenzmodus  viele verschiedene, einander
widersprechende Geschichten
Platon: kein solch philosophisches Prinzip, Vorbehalte gegen Schrift (zerstöre das Gedächtnis),
Dichtung im speziellen kritisiert (Dichtung sei Lüge, ihre Wirkung schädlich, wühle Gefühle auf,
verwirre sie/Zusammenleben im Staat), Nachahmung der Wirklichkeit (nutzlos, Dinge sind nur
Abbilder der Ideen  Abbild vom Abbild)
Erfindung der Fiktionalität
Poetik des Aristoteles (*384, + 322 v.Chr.)
 Tragödien: wesentlicher Teil der Kultur
 Angeborener Mimesis-Trieb: Nachahmung ist nicht wertlos, sondern angeborener Trieb (in
menschl. Natur verankert); Mimesis wichtig für Produktion/Rezeption von Dichtung
 Katharsis: Reinigung/Läuterung  Rezipieren der Tragödie hat Zweck/positive Funktion 
Erzeugung von Furcht und Mitleid, Menschen sollen gereinigt aus Theater hinausgehen
(Umdeutung von Platons Philosophie)
 Dichtung bezieht sich darauf, „was geschehen könnte“: Wahrscheinlichkeit als neues Prinzip; bei
Dichtung geht es nicht um das Sagen der Wahrheit, sondern es geht um mögliches
Geschehen/Wahrscheinlichkeit;
„Der Name der Rose“ – Umberto Eco: Überlieferungen des Aristoteles über die Komödie spielen Rolle
Martha Nussbaum: zur Übersetzung von „Katharsis“  genauer Übersetzung: „Klärung“, „Klarheit
herstellen“  Fragen der Erkenntnis, Fragen der menschl. Psyche (Läuterung: stark christlich
angehaucht)  kognitiveres Prinzip; man kommt mit klareren Gefühlen wieder aus Theater; durch
Erregung von Furcht und Mitleid bekommt man Klärung von Problemen (klarere Vorstellungen) 
gesellschaftlicher Nutzen der Tragödie
Wolfgang Rösler: „Was jahrhundertelang dem Vorwurf der Lüge ausgesetzt worden ist, ist nun als
spezifische Wahrheit der Dichtung gerechtfertigt. …“  edlere Form der Erkenntnis
Entwicklung der Argumente: Argumente des Aristoteles  medienhistorischer Hintergrund ist
Einführung der Schrift  Probleme in literarischer Kommunikation (Grundthese von Rösler) 
zentrale Bedeutung des medialen Umbruchs: andere Lösungsmodelle (als das der Musen: einem
sagen sie die Wahrheit, allen anderen Lügen)
Platons Abwehr der Schrift:
Gedanken, Worte, Texte: kommen an Leute, die keine Ahnung haben  kein Lehrer, der ihnen das
etwas erklärt; Platon: Dialoge von Sokrates und anderen Menschen
Platon kritisiert Schrift, andererseits schreibt er Dialoge
Jesper Svenbro (?): Platon geht es nicht um Veröffentlichung seiner Schriften; hat Schrifttexte
geschrieben, aber vor allem im Rahmen der Akademie (Schüler und Lehrer lebten zusammen,
diskutierten, versuchen, in Philosophie weiterzukommen  Athener Stadtteil) glaubte nicht, dass
seine Texte an andere Menschen kommen als an die innerhalb der Akademie
Lesen in der Antike
(Jesper Svenbro)
anders als heute: Schriftrollen
1. Leser dient Geschriebenen als Instrument.
Leser im Dienst des geschriebenen Wortes
2. Geschriebenes Wort ist nicht sinntragend, erst durch Klang der Stimme wird es belebt.
durch Lautes Lesen muss Geschriebenes hörbar gemacht werden; Schrift ist Verfahren, mit dem man
Rede produziert  Stimme wichtig, nicht schriftlicher Text (nur Hilfsmittel, um stimmliche
Kommunikation zu ermöglichen) Mündliches und Schriftliches nicht austauschbar (Paulus:
Schriftliches ist tot (?), der Geist macht lebendig); großer Teil des Publikums vielleicht Analphabeten
3. Empfänger des Geschriebenen sind seine Zuhörer.
4. Lesen heißt, sich dem geschriebenen Wort bzw. dem Schreiber zu unterwerfen.
Vorlesen war minderwertiger als das Schreiben  Leser ist Instrument des Autors (auch nach Tod
des Autors: wie „höriger Sklave“); Unterwerfung des Lesens: Vorlesen als problematisch empfunden
(Vortrag von etw., das jem. anderes geschrieben hatte)  Stimme wird beherrscht
Pederastische Verhältnisse mit Lesen in Analogie gesetzt (ältere Männer hatten mit jüngeren
Männern/Knaben homosexuelle Beziehungen)
Penetration: Autor, Penetriert-Werden: Leser (?)  Metapher für Lesen
Derjenige der liest, unterwirft sich dem, der geschrieben hat
„Der Schreiber der Worte fickt seinen Leser in den Arsch.“
Platonische Liebe: Verzicht auf Sex  hat nichts mit religiöser Enthaltsamkeit zu tun, sondern mit
Rauskommen aus hierarchischem Verhältnis von Penetration/Penetriert-Werden (revolutionär)
Vergleich: Orale Kultur – Schriftkultur
Organisation des Wissens, Charakteristika der Kommunikation, Funktion von Status und Dichtung,
Auswirkungen auf die Texte (FOLIEN)
Mündlichkeit: …
Schriftlichkeit: Botschaft trennt sich vom Körper des Boten
(Luther: Lesen der Bibel durch jeden einzelnen wichtig; Kirche: es soll nicht jeder Laie Bibel lesen
können, weil sonst falsche Interpretation)
Heutzutage: Dichtung, die vor allem von mündlicher Aufführung lebt (aus angloamerikanischem
Raum)  Performanz
Nora Gomringer

Ursprungsalphabet

Du baust einen Tisch
(Sag doch mal was zur Nacht.  FOLIEN)
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