Die Kannibalen

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Proseminar: Jud Süss in den Medien
WS 1993/94
Seminarleiter: Dr. B. Doppler
“Fleisch ist Fleisch, und ich will existieren.”
Das Judentum als Stoff der Unterhaltung
»Die Kannibalen«
von George Tabori
Rainer Henricus Lakmann
3. Semester, Magister Artium
Geschichte, Germanistik, Medienwissenschaft
2
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
3
2. Friß oder stirb!
4
2.1. Das Motiv des Kannibalismus
4
2.2. Das (Über-) Leben im KZ
5
3. »Die Kannibalen«
6
3.1. Tabori
6
3.2. Produktion und Rezeption des Stückes
8
3.3. »Die Kannibalen«
3.3.1. Der Inhalt
3.3.2. Die Personenkonstellation
11
11
15
4. Fazit
20
4. Literaturverzeichnis
22
3
1. Einleitung
Homo homini lupus.
Thomas Hobbes
Wirklichen Hunger hat man erst dann, wenn man einen anderen Menschen als etwas Eßbares betrachtet.
Tadeusz Borowski
Wenn jemand ein Theaterstück zu Thema Auschwitz veröffentlicht, ist dies beachtenswert, vor allem
hier in Deutschland, wo immer noch in gewissen Kreisen von der "Auschwitz-Lüge" gesprochen wird.
Wird dieses Thema noch mit dem Tabu des Kannibalismus verbunden und von einem Juden inszeniert,
stellt dies eine mutige und imposante Leistung dar.
George Taboris »Die Kannibalen«, in Amerika, Deutschland und Österreich teils begeistert, teils entsetzt aufgenommen, ist so komplex, daß es nahezu unmöglich ist, es in all seinen Windungen darzustellen und offenzulegen. Um die Komplexität etwas faßbarer zu machen und Interpretationsansätze
bieten zu können, wird in Kapitel 2.1. der Kannibalismus näher betrachtet, wobei auch der von Tabori
vielbeachtete Sigmund Freud zu Worte kommt. Teil 2.2. gibt einen kleinen Einblick in das Leben der
Häftlinge in den Nazi-Konzentrationslagern, um die gespannte, düstere Athmosphäre des Theaterstücks begreiflich zu machen und auf authentische Elemente hinzuweisen. Der Abschnitt 3.1. verschafft einen Querschnitt über Taboris Leben und Werk, Kapitel 3.2. befaßt sich mit der Produktion
und Rezeption von »Die Kannibalen« und Absatz 3.3. versucht, einen Überblick über den Inhalt und
einige Interpretationsmöglichkeiten zu liefern.
4
2. Friß oder stirb!
2.1. Das Motiv des Kannibalismus
Herodot und Strabo berichten von den skythischen Massageten, die alte Menschen töteten und auffraßen. Kannibalismus
kommt vereinzelt auch bei Kulturvölkern vor, wie Berichte von Schiffbrüchigen und Belagerungen bezeugen. Die
Gewohnheit, verstorbene Blutsverwandte zu verzehren als die pietätsvollste Art, ihre sterblichen Überreste zu beseitigen,
verbindet sich mit dem Brauch, die Alten und Kranken zu töten. Einige Wilde jedoch sind voll Gier nach der Leiche eines
Ermordeten, damit sein Geist sie nicht heimsuchen möge. 1
Nach Vermutungen von Wissenschaftlern und Ethnologen2 gab es bei Urvölkern wie den Azteken
und den Ureinwohnern von Neuseeland, Neuguinea und den Fidschi-Inseln zwei Arten von Kannibalismus. Zum einen trat der Endo-Kannibalismus auf, die Sitte, die Verstorbenen der eigenen Sippe
beim Begräbnisritual ganz oder teilweise zu verzehren. Dahinter stand der Wunsch, die positiven Eigenschaften der Ahnen nicht verlorengehen zu lassen und den Vorfahren somit indirekte Unsterblichkeit zu verschaffen. Die andere Form war der Exo-Kannibalismus: Angehörige fremder Sippen wurden
mit Gewalt getötet, um sich ihre Tugenden anzueignen und ihren rächenden Geist zu bannen. Wenn
ein Feind getötet und verspeist worden war, dann hatte sich der Sieger auch dessen Mut und Stärke
einverleibt. Gleichzeitig wurde der Gegner, auch wenn er schon tot war, durch diese Tat gedemütigt.
Der kannibalische Akt wurde, um das strenge Tötungstabu des Menschen zu überwinden, in religiöse
Riten eingekleidet und mit scharfen Vorschriften und Geboten umgeben. Auch im Europa der römischen Zeit opferten die Britannier, Teutonen und Gallier Kriegsgefangene, um ihre Götter günstig zu
stimmen, wobei das Fleisch aber nicht gegessen wurde. Im nachrömischen Europa wurde Kannibalismus dann als so schlimmes Verbrechen angesehen, daß man es nur Werwölfen, Hexen, Vampiren und
zeitweilig Juden zutraute.3
Etwa im 12. oder 13. Jahrhundert kamen die sogenannten "Blutbeschuldigungen" gegen Juden auf. 4
Es kursierte das Gerücht, Juden würden in der Osterwoche während eines feierlichen Rituals einen
1 KANNIBALEN, S. 137 (147). Da ich das bereits sehr lädierte Programmbuch zu »Die Kannibalen« schonen wollte, habe ich
bei der Beschäftigung mit dem Inhalt des Theaterstücks mit dem in Taboris Buch »Unterammergau oder Die guten Deutschen« (S. 37-138) enthaltenen Textabdruck gearbeitet, dem die Seitenangaben entsprechen. In Klammern sind die zugehörigen Seiten im Programmbuch angegeben. Allerdings sind die beiden Fassungen nicht ganz identisch; vor allem der
Beginn des 2. Aktes ist im Programmheft stark gekürzt.
2 Vgl. dazu die Forschungsberichte von K. Leder, Kannibalismus, S. 87ff, und M. Tzschaschel, Menschenfresser, S. 78ff.
3 Daneben gab es - und gibt es - den Kannibalismus aus Not, der zwar nur selten vorkam, aber noch im letzten Jahrhundert
nichts Ungewöhnliches darstellte. Auf hoher See hatten Schiffbrüchige kurz vor dem Hungertod häufig nur eine Wahl: "Friß
(deinen Nächsten) oder stirb!" Üblich war es in derartigen Situationen, verschieden lange Losstäbchen zu verteilen; wer das
Kürzeste zog, mußte sterben, wer das Zweitkürzeste zog, mußte töten.
4 Lion Feuchtwanger verwendet in seinem Roman "Jud Süß" das Motiv der Blutbeschuldigung gegen Juden mehrmals:
Marie Auguste hatte niemals so in der Nähe einen lebendigen Juden gesehen. Mit gruselnder Neugier erkundigte sie sich: “Schlachtet er
Kinder ab?” - “Nur ganz selten”, tröstete der Geheimrat Fichtel, “im allgemeinen hält er sich lieber an große Herren.”
Aber, schon in der Karosse, zwischen gaffenden, barhäuptigem Volk sagte sie über den Nacken des tief auf ihre Hand geneigten Finanzienrats
mit ihrer langsamen, aufreizenden Stimme: ”Alles fein, Jud, alles schön. Aber das Zimmer, wo die kleinen Christenkinder geschlachtet werden,
hat Er mir doch nicht gezeigt.”
Und jetzt habe er unter den Waren des Juden draußen ein Bündel Kleider gefunden, seien die Kleider der Babett. Müßt das Kind jetzt wohl
nackend herumlaufen, nur mit dem Korallenkettlein. Ja, und jetzt sei den Juden ihr Osterfest. [...] Ein unschuldiges Christenkind scheußlich
gemartert von den Juden, ihm das Blut abgezapft für die Osterkuchen, die verstümmelte Leiche den Schweinen vorgeworfen.
5
Christen, am liebsten ein Kind, schächten, um dessen Blut zu erlangen. In West- und Mitteleuropa
wurden in folgender Zeit immer wieder von Juden begangene Schächtungen "entdeckt". 5
Neben der rein blutigen Variante läßt sich der Kannibalismus auch auf psychologischer Ebene betrachten. Sigmund Freud zufolge war die Totenmahlzeit “das erste Fest der Menschheit”. In grauer
Vorzeit habe an der Spitze der "Urhorde" ein starker, tyrannischer Vater gestanden, der alle Frauen für
sich beanspruchte. Die Söhne verschworen sich daraufhin zu einer "Bruderhorde", erschlugen gemeinsam den Vater, zerstückelten und verspeisten ihn. Diesen legendären Urvater-Mord sah Freud als symbolische Tat an, die jede Generation von neuem vollbringen muß, um sich von der väterlichen Autorität, von der Diktatur väterlicher Wertvorstellungen zu trennen und eigenständig zu werden. 6
Jeder Sohn möchte irgendwann einmal seinen Vater umbringen... 7
Das Reich der Kinder ist angebrochen - die Söhne haben das Kommando übernommen, Sie kommen die Treppen
heruntergerannt, scharenweise, zerschlagen das Geschirr und besudeln die gute Stube. Und später am Abend lauern sie
hinter der Hecke, warten auf den Alten Herrn - und wenn er kommt, aus dem Dunkel fallen sie über ihn her und fällen ihn
und zerstückeln ihn und fressen ihn auf.8
2.2. Das (Über-) Leben im KZ
Nach Goldstein wurde die Athmosphäre in den Konzentrationslagern durch folgende Merkmale charakterisiert: Internierung; Verlust der Freiheit und des gesetzlichen Schutzes, fortwährende Willkür;
Gegenwart von bewaffneten Wachen und Stacheldraht; Verlust der Privatheit, gemeinsame Quartiere,
öffentliche Toiletten, gemeinsame Mahlzeiten; Isolation von der Außenwelt; Geschlechtertrennung;
Trennung von Familienmitgliedern; unterschiedliche Grade von Essensentzug. 9 Allerdings wurden
einige Häftlinge, die die Aufsicht über die anderen KZ-Insassen übernahmen, u.a. die Capos,
bevorzugt behandelt.
Wenn unter den Gefangenen Konflikte auftraten, so wurden diese zumeist durch das Essen ausgelöst
und reichten von Streitereien bis zur körperlichen Gewalt einschließlich der Tötung von Mithäftlingen.
Es herrschte ein ständiger Nahrungsmangel; in den letzten Kriegsmonaten setzte noch einmal eine extreme Verschlechterung ein. Der Hunger wurde zum wichtigsten Generator neuer Verhaltensweisen.10
(aus: Feuchtwanger Lion: Jud Süss. Frankfurt/M.: Fischer 1959. S. 89, 141, 233-234.)
5 Die "Opfer" wurden zumindest seliggesprochen. Der in den Kartagen 1287 nachweislich nicht von Juden ermordete Junge
Werner von Oberwesel wurde von der ansässigen Bevölkerung bis 1963 als Ritualmordopfer verehrt. 1421 wurden aufgrund
des Verdachts der Menschenschächtung einige hundert Juden verbrannt, auch im 16. Jahrhundert gab es noch Anklagen
wegen Ritualmorde. Vgl. dazu: H. Pleticha, Weltgeschichte, S. 160-164, und N. Gidal, Juden, S. 50-85.
6 Vgl. dazu: S. Freud, Totem, S. 165-169.
7 KANNIBALEN, S. 37 (28).
8 Ebd., S. 101 (Dieser Text ist im Programmbuch nicht enthalten).
9 Vgl. dazu: J. Goldstein, Verhalten, S. 25.
10 Viktor Frankl, Leben, S. 53-54, äußert sich dazu:
Die denkbar höchstgradige Unterernährung, unter der die Häftlinge zu leiden hatten, läßt es selbstverständlich erscheinen, daß innerhalb der
primitiven Triebhaftigkeit, zu der das seelische Leben im Lager »regrediert«, der Nahrungstrieb im Mittelpunkt steht. Beobachten wir einmal das
Gros der Häftlinge, wenn sie auf dem Arbeitsplatz beisammenstehen und gerade einmal nicht scharf beaufsichtigt werden. Sogleich werden sie
6
Zuweilen trat sogar Kannibalismus auf, indem von Leichen gegessen wurde; dies geschah allerdings
nur selten oder wurde von den Beteiligten krampfhaft verschwiegen.11
3. »Die Kannibalen«
3.1. Tabori
George Tabori12 wird am 24. Mai 1914 in Budapest als zweiter Sohn des jüdischen Journalisten und
Historikers Cornelius Tabori und seiner Frau Elsa geboren. Cornelius Tabori ist der erste Crime-Reporter Ungarns und gehört vermutlich dem "Galileo-Kreis"13 an. Obwohl er kein Kommunist ist, wird
er 1919 von der ungarischen Regierung auf die Schwarze Liste gesetzt. George wächst zweisprachig
auf, seine Mutter stammt aus dem deutschsprachigen Slowenien. Da er nach dem Willen seines Vaters
auf keinen Fall ein “Schreiberling” werden soll14, schickt man ihn nach Berlin und Dresden, um dort
die Hotelbranche zu studieren, wo er alle Bereiche vom Volontär und Aschenbecherputzer, Koch,
Kellner und Buchhalter durchläuft. 1932 besteht er die Matura; 1935 kehrt er nach Budapest zurück,
als in Nazi-Deutschland die Lage, vor allem für Juden, unruhig zu werden beginnt.15
Sein Bruder Paul verschafft ihm in Budapest eine Stelle als Journalist und Übersetzer; 1936 emigrieren beide nach London. George arbeitet als Übersetzer und Reiseleiter und verfaßt nebenher seine
ersten Theaterstücke und Erzählungen. Ab 1939 ist er als Auslandskorrespondent für ungarische und
schwedische Zeitungen in Bulgarien und der Türkei tätig. zwei Jahre später erhält er die britische
Staatsbürgerschaft und tritt in die britische Armee im Nahen Osten ein. 16 Gegen Ende des Jahres 1943
kehrt Tabori nach London zurück und arbeitet bis 1947 in der ungarischen Abteilung der BBC.
Während Georges Mutter durch einen Zufall den Nazis entkommen kann, werden Cornelius Tabori
und zahlreiche Familienangehörige in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort umgebracht. Erst Ende 1945 erfährt George vom Tod seines Vaters.
1947 wird Tabori von Talentsuchern als Drehbuchautor für Hollywood angeworben und übersiedelt
nach Amerika, wo er auch Bertolt Brecht, William Faulkner, Thomas Mann und Lion Feuchtwanger
vom Essen zu reden beginnen! Sofort wird einer damit anheben, sich nach den Lieblingsspeisen des Kameraden zu erkundigen, der da neben
ihm im Graben arbeitet. Dann fangen sie an, Kochrezepte auszutauschen und Menüs zusammenzustellen für den Tag, an dem sie einander zu
einer kleinen Wiedersehensfeier einladen wollen, dereinst, wenn sie befreit und heimgekehrt sind.
11 Vgl. dazu: J. Goldstein, Verhalten, S. 94f, V. Frankl, Leben, S. 93, und H. Langbein, Menschen, S. 120.
12 Die biographischen Angaben über Tabori stammen größtenteils aus: J. Gronius, Tabori, S. 105-124, und G. Ohngemach,
George Tabori, S. 11-15.
13 Der "Galileo-Kreis" ist eine vor dem ersten Weltkrieg existierende Gruppe von linken Intellektuellen, der u.a. auch Lukács
angehört.
14 Neben Georges Vater sind auch sein Bruder Paul, sein Onkel und zwei Tanten journalistisch oder literarisch tätig.
15 George betont aber in seinen Aufzeichnungen, daß er in dieser Zeit keine direkten Repressalien erleidet.
16 In dieser Zeit verfaßt er seinen ersten Roman »Beneath the Stone«, der vor allem von Amerikanern stark kritisiert wird, da
als Hauptfigur ein Deutscher fungiert.
7
begegnet. In den fünfziger Jahren pendelt er zwischen Amerika, England und Frankreich und erstellt
Drehbücher17, Bühnenwerke18 und Übersetzungen19. Die Periode als Drehbuchautor20 empfindet er
“als die schlimmste Zeit meines Lebens”21; die filmische Umsetzung seiner Vorlagen ist für ihn unbefriedigend; von einigen Filmen versucht er sogar seinen Namen zurückzuziehen. Auch die
Inszenierung von »Flight into Egypt« durch den prominenten Regisseur Elia Kazan verläuft für ihn
enttäuschend. Kazan gibt während der Probenzeit dem politischen Druck von außen nach und entläßt
einen als Marxisten verdächtigten Schauspieler. Tabori selbst wird, ähnlich wie Jahre zuvor sein Vater
in Ungarn, in die Schwarze Liste des Kommunistenjägers McCarthy aufgenommen.22 George zieht als
Fazit:
Damals erfuhr ich zum ersten Mal mit einem Schock, daß die Produktion eines Stückes interessanter sein konnte als das
Stück selbst.
Gegen Ende der fünfziger Jahre beginnt er auch Regie zu führen und tritt in Kontakt mit dem New
Yorker "Actor's Studio" des umstrittenen Schauspiellehrers Les Strasberg23. Die fünfziger und sechziger Jahre wirken, besonders in der Zusammenarbeit mit Brecht 24 und Strasberg, prägend auf Tabori,
was sich auch in seinem Umgang mit Stücken niederschlägt:
Es war eine der großen Neuerungen in den fünfziger und sechziger Jahren, daß man, anstatt Stücke zu bedienen,
Vorlagen, Materialien gesucht hat, um die Menschen, die dieses Theater machen, zu bedienen. Das ist mein Prinzip Nr. 1
[...] Ich finde das ganz legitim. Shakespeare oder Beckett brauchen keine Bedienung, keine Hilfe, sie stehen schon in
Marmor da. Hilfe brauchen die Menschen, die das Theater machen. 25
Als ich sie das letzte Mal sah, bat ich sie, Brechts Methode in ihren Worten zusammenzufassen. Sie sagte: »Er machte
den Schauspielern die Dinge leicht.« Dies ist in Kürze auch mein Versuch, ein äußerst schwieriger, aber der einzige, den
ich unternehmen möchte.26
Für Tabori besteht Theaterarbeit darin, Schauspieler in Menschen zu verwandeln und nicht die Menschen in Schauspieler. Theater soll lebenswahr sein und das Leben mit all seiner Kompliziertheit darstellen, nicht zu einer Parodie reduzieren. Immer wichtiger werden für seine eigenen Werke authentische Dokumente. Persönliche Erfahrungen, dabei vor allem die Deportation und Ermordung seines
Vaters im KZ Auschwitz, Flucht und Exil und die Frage nach einer Bewältigung dieser Vergangen-
17 Er schreibt u.a. für Joseph Losey und Alfred Hitchcock.
18 Sein erstes Bühnenstück »Flight into Egypt« wird 1952 in New York uraufgeführt.
19 Vor allem als Übersetzer der Werke von Bertolt Brecht macht er sich einen Namen.
20 Zuerst arbeitet er bei Metro-Goldwyn-Mayer, dann bei Warner Brothers.
21 J. Gronius, Tabori, S. 118.
22 Auf diese Liste setzt man ihn auch,weil er eine Lesung mit Thomas Mann veranstaltet hat.
23 Strasberg, der von Tabori alsbald sehr geachtet und respektiert wird, legt in seiner Arbeit mit den Schauspielern wert auf
Entwicklung des Körpers und der Stimme, Erforschung der inneren Techniken und Erweiterung des intellektuellen und
kulturellen Bewußtseins durch Beschäftigung mit anderen Künsten.
24 Über sein Verhältnis zu Brecht und der Verbindung von »Arturo Ui« mit den »Kannibalen« sagt George Tabori:
...wie kann man einen solchen Einfluß definieren? Es geht da nicht um das berühmte »Aha-Erlebnis«, es waren gewisse inhaltliche und
formale Elemente, die mich besonders ansprachen. Ich habe mich auch dagegen gewehrt, ihn nachzumachen, aber ich habe natürlich viel von
ihm gelernt. »Kannibalen« enthält gewisse Brechtsche Elemente, Brüche, Verfremdungen usw. Dann habe ich auch vieles falsch verstanden,
aber auch das war nicht schlecht, vielleicht produktiver im Mißverstehen. Mir wurde klar, daß man ihn eigentlich nicht nachmachen soll.
(aus: W. Kässens, Theatermacher, S. 163-164).
25 W. Kässens, Theatermacher, S. 169.
26 G. Tabori, Unterammergau, S. 265. “Sie” ist Brechts Frau Helene Weigel.
8
heit27 beeinflußen maßgeblich alle seine Stücke. Das Theater dient ihm als "Medium der Peinlichkeit",
wo die Zuschauer mit Dingen konfrontiert werden sollen, die sie lieber nicht wahrhaben wollen, vor
allem mit dem Holocaust.28 Das Bühnengeschehen soll ein Gefühl enormer Peinlichkeit erzeugen, um
seiner kathartischen Aufgabe gerecht zu werden. Taboris Anliegen ist es, durch “sinnliche Erinnern”
das Vergessen, Verdrängen und Verschweigen der 'peinigenden' Vergangenheit aufzuhalten. 29
1968 inszeniert Tabori in New York »The Cannibals«, ein Jahr später wird dieses Stück als
"Europäische Erstaufführung" in Berlin unter dem Titel »Die Kannibalen« gezeigt. Tabori erhält ein
Stipendium in Deutschland und inszeniert ab 1972 in Tübingen, Bonn und Bremen. 1976 gründet er,
wohl in Anlehnung an Strasbergs "Actor's Studio", das "Bremer Theaterlabor", um in der
Zusammenarbeit mit Schauspielern neue, experimentelle Wege zu beschreiten. George Tabori wird
zum playmaker: Autor, Schauspieltrainer und Regisseur in Personalunion. Nur ein Jahr später erregt
die Gruppe öffentliches Aufsehen durch ihren Beschluß, für das Stück »Die Hungerkünstler« 42 Tage
unter ärztlicher Aufsicht zu hungern. Nach einem Indendantenwechsel wird das Theaterlabor
aufgelöst.
Danach arbeitet George Tabori in München, Rotterdamm, Bochum, Köln, Berlin und wieder München, wobei er die Spielstätten des öfteren in alternative Räume wie “Keller, Kirchen, Katakomben”
verlegt. Mit seiner ersten Operninszenierung »Der Bajazzo« gelingt ihm 1986 in Wien der endgültige
Durchbruch, die Uraufführung der Farce »Mein Kampf« wird 1987 zum Triumph. Seit Beginn des Jahres 1987 ist Tabori Leiter des Wiener Schauspielhauses in der Porzellangasse, welches seither den
programmatischen Namen "Der Kreis" trägt und an welchem das erste europäische "Actor's Studio"
angeschlossen ist.
3.2. Produktion und Rezeption des Stückes
Wie bereits erwähnt, werden Taboris eigene Stücke von authentischen Dokumenten und Erfahrungen
beeinflußt. »Die Kannibalen«, nach seinen Angaben “eine Rekonstruktion dokumentarischer Fakten
27 Zwangsläufig steht damit auch seine jüdische Herkunft im Mittelpunkt, obwohl George kein gläubiger Jude ist, sondern
das Theater als seine wahre Synagoge betrachtet. Vgl. dazu: G. Ohngemach, George Tabori, S. 39-40.
28Georges Freund und langjähriger Mitarbeiter, der Komponist und Schauspieler Stanley Walden beschreibt George Taboris
Ansprüche an seine Arbeit näher:
George arbeitet nicht mit erhobenem Zeigefinger. Es ist ihm wichtig, daß sich der Zuschauer mit sich selbst beschäftigt. Ich glaube, das ist ihm
am meisten bei Jubiläum gelungen. Am Schluß der Vorstellung gab es nie Applaus. Die Leute saßen still, waren total verblüfft, mit sich selbst
beschäftigt und betroffen, minutenlang. Am besten ist, wenn sie fünf Stunden nach einer Aufführung immer noch nicht schlafen können, weil
Gedanken kommen und sie den Nachklang spüren, die resonance. Ich glaube, daß unsere besten Arbeiten immer Nachklang haben, George
will diese Wirkung. Um sie zu erreichen, muß man gefährlich arbeiten. Gefährlichkeit ist, dramaturgisch gesprochen, die Möglichkeit zu
scheitern. Etwas zu versuchen, was nicht immer erreichbar ist, und auch Dinge anzusprechen, die tabu sind und dadurch unaussprechlich
geworden sind.
(aus: G. Ohngemach, George Tabori, S. 39).
29 Vgl. dazu Taboris Aufsatz »Es geht schon wieder los« (Programmbuch, S. 171-179), wo er sich eingehend mit sinnlichem
Erinnern, peinigenden Erinnerungen und dem Zusammenhang zwischen Theater und Judentum äußert.
9
aus Auschwitz”, verfaßt er “statt einen Nervenzusammenbruch zu kriegen”30. Im Vorwort des
Stückabdrucks führt er aus:
Jeder Sohn möchte irgendwann seinen Vater umbringen; wenn aber - wie in meinem Fall - andere das für ihn erledigen,
und wenn er sich auf lähmende Weise zwischen einer Art von Erleichterung und dem heftigen Verlangen nach Rache
schwanken fühlt - was dann? Cornelius Tabori starb vor 25 Jahren in Auschwitz, mit unantastbarer Würde, wie überlebende
Zeugen versichern; und noch heute kann ich seine Mörder nicht hassen, nicht einmal hier in dieser Stadt, wo sie einst
brüllten und marschierten. Es ist nicht leicht, es öffentlich auszusprechen, aber sein armer Geist ließ mich keine Ruhe
finden, bis dieses Stück geschrieben war; ein Stück, das weder Dokumentation noch Anklage ist, sondern eine Schwarze
Messe, bevölkert von den Dämonen meines eigenen Ich, um mich und diejenigen, die diesen Alptraum teilen, davon zu
befreien. es gibt Tabus, die zerstört werden müssen, wenn wir nicht ewig daran würgen sollen.31
1968 findet die Uraufführung in New York in einer heruntergekommenen Kirche in der Höllenküche,
einem berüchtigtem Gangsterviertel, statt.32 Von der New Yorker Presse wird »Die Kannibalen« mit
Entsetzen aufgenommen; die nahezu einzige Ausnahme ist ein kleines deutschsprachiges Blatt mit
dem Titel "Aufbau", das von Maria Sommer, Mitarbeiterin bei Kiepenheuer, gelesen wird, die
daraufhin das Stück nach Deutschland holt.33 Am 13. Dezember 1969 wird es in der "Werkstatt" des
Berliner Schiller-Theaters gespielt. Die Stimmung während der Probenarbeit und der Premiere in
Berlin schildert George Tabori folgendermaßen:
Als ich mit Marty Fried aufgefordert wurde, das Stück in der Berliner Schiller-Werkstatt zu inszenieren, nahm ich eine
Haltung ein, die mir all die Jahre des Faschismus und Krieges hatten überleben helfen, nämlich die Neugier. Ich war
neugierig herauszufinden, wie ein deutsches Publikum auf diese schwarze Messe reagieren würde, die dem Humor
entsprang, nicht der Frömmigkeit. [...] In der dritten Probenwoche hatte Fried, ein New Yorker Kellerkind, vormals Boxer
und Taxifahrer, der in Berlin eine Ansammlung von Hollywood-Klischee-Nazis sah, ein Fluchtauto organisiert, das uns am
Abend der Premiere nach Tempelhof fahren sollte.
Die Proben waren sehr heikel. Degen und Greenbaum, die beiden Juden der Besetzung, versuchten mehrmals
aufzugeben; das Stück zerbrach unaufhörlich ihre Mythologie. Herr Galinski, Haupt der Jüdischen Gemeinde, rief einige
führende Kritiker an und versuchte, die Produktion stoppen zu lassen. Als ich ihn schließlich fragte, was er beanstande, war
es nicht der Inhalt des Stückes, das er nie gelesen hatte, sondern einige ungehörige Ausdrücke, die ihm hinterbracht
worden waren. »Ich war selber in Auschwitz«, rief er aus, »und ich habe niemals Pisse gesagt.« Auch einige Schauspieler
hatten Scheu vor meinen Obszönitäten, sie konnten nicht begreifen, warum sie so wichtig waren, um das Tabu zu brechen.
Einer wollte nicht Fick sagen, ein anderer bestand darauf, Arschficker durch Arschgeiger zu ersetzen, ein dritter hätte am
liebsten seine Ohren zugehalten, wenn jemand Punze sagen mußte. Diese Beispiele einer zensierenden Prüderie waren
mir neu [...].
Die Premiere balancierte überm Abgrund des Skandals. Einige junge Leute lachten, wie beabsichtigt, über die Witze, die
älteren Leute hielten das Lachen für geschmacklos, ja nun, BB hätte gesagt, manchmal muß man sich eben entscheiden,
ein Mensch zu sein oder guten Geschmack zu haben, aber das Fluchtauto wurde nach allem doch nicht gebraucht. 34
Das Stück findet beim Publikum so großen Anklang35, daß sich Tabori entscheidet, nun endgültig in
Deutschland zu bleiben und zu arbeiten.36 Auch die Kritiker sind überwiegend angetan. Beckelmann
bezeichnet das Werk als ein “mutiges, rigoroses Stück - eine grandiose Aufführung”37. Kienzle meint:
30 G. Tabori, Unterammergau, S. 265.
31 KANNIBALEN, S. 37 (28-29). Mit “dieser Stadt” meint er Berlin, wo die "Europäische Erstaufführung" stattfindet.
32 Im Gegensatz dazu wird im Stückabdruck erwähnt, die Uraufführung habe am 17. 10. 1968 im American Place Theatre in
New York stattgefunden. Vgl. dazu: KANNIBALEN, S. 41, und G. Tabori, Unterammergau, S. 265.
33 Vgl. dazu: G. Ohngemach, George Tabori, S. 48-56.
34G. Tabori, Unterammergau, S. 266. “Degen und Greenbaum” sind die Schauspieler Michael Degen (er spielt den Onkel)
und Herbert Grünbaum. “BB” ist natürlich Bertolt Brecht.
10
Tabori schreibt ein Auschwitzdrama und gewinnt damit der Bewältigungsliteratur eine neue Perspektive ab: kein
Märtyrerstück wie »Eli« von Nelly Sachs, kein dokumentarischer Bericht wie »Die Ermittlung« von Peter Weiss oder die
Verherrlichung des sich aufopfernden Helden wie Hochhuths »Stellvertreter«. Tabori sieht im KZ die Ausnahmesituation, in
der sich Menschen bewähren oder versagen, aber stets als Menschen fragwürdig bleiben. »Es gibt Tabus, die zerstört
werden müssen, wenn wir nicht ewig daran würgen sollen.« Der Autor nimmt sich vor, mit seinem Stück »auf mythischzeremoniöse Art jene Gemeinschaft zu schaffen, auf deren Boden alles verhöhnt werden kann, was als heilig gilt, und sei
es nur, um zu entdecken, was davon noch Gültigkeit besitzt.«
Wagner, der »Die Kannibalen« als “wichtigstes neues Stück der vergangenen Spielzeit” bewertet, erkennt zwar “dramaturgische Mängel und darstellerische Schwächen”, wertet diese aber zugunsten der
inhaltlichen Aussage nur gering, denn “wichtig, ja unfaßbar mutig, erscheint mir die Verbindung von
Vatermordmotiv und Hamlet-Paraphrase mit Auschwitz”38. Und Christoph Müller kommentiert:
Die Inszenierung, vom Autor zusammen mit Martin Fried besorgt, ist so, als könne das Stück auch "Oh, what a lovely
meal!" heißen. Will sagen: Schreckensvisionen mit einem hochkarätigen Wirklichkeitsgrad werden zu Orgien schwarzen
Humors, ruckhafte Bewegungen und Schmatz-Geräusche bekommen gespenstische Tiefenwirkung, doppelt gebrochen
gehen Raum und Zeit ineinander über, Beklagenswertes wird komisch, Komisches beklagenswert, alles zusammen
kunstästhetisch schauderhaft schön; das Ganze hat einen eigenartig zeitlupenhaften choreographischen Gestus, eben eine
zelebrierte "schwarze Messe". Sämtliche vierzehn Darsteller [...] schaffen es scheinbar mühelos, diese unheimlich
komische und noch unheimlicher wirklichkeitswahrscheinliche Dimension in der Balance zu halten. 39
Es gibt aber auch Kritikpunkte. Vor allem wird bemängelt, daß George Tabori den Juden die Möglichkeit eines Widerstands eingeräumt habe. Beckelmann meint dazu:
Tabori hat mit äußerster Ehrlichkeit ein jüdisches Trauma abreagiert, das Trauma, daß auch jüdische Opfer nicht
durchweg untadelig waren. Sein Stück hat eine gleichsam therapeutische Wirkung. Aber es berücksichtigt zuwenig die
tatsächlichen Machtverhältnisse von damals. Wenn Tabori meint, die Juden hätten sich gegen die Gewalt zur Wehr setzen
sollen und können, so baut er nachträglich eine Illusion auf. Solche Gegenwehr von jüdischer Seite war damals nicht
möglich, weil die Juden nicht [...] auf den Nationalsozialismus vorbereitet waren. Sie glaubten am wenigsten daran, daß die
totale Unmenschlichkeit des Faschismus eine länger währende Chance hätte. Hier spricht Tabori Schuld, wo keine war. 40
Auch Michaelis ist der Ansicht, daß der Autor den KZ-Häftlingen unrecht tut, “wenn er ihnen die
Möglichkeit eines Widerstands gegen die Übermacht der bewaffneten Verbrecher einräumt. Ebenso
fragwürdig ist die andere Deutung: die widerstandslos Abgeschlachteten hätten ein Menetekel gesetzt,
wie man durch Gewaltlosigkeit die Herrschenden entlarvt.”41
1987 findet George Tabori selbst kritische Worte zu seinen »Kannibalen«:
»Kannibalen« kam aus einer ganz anderen Ecke. Das habe ich in New York geschrieben. In Deutschland erhielt es eine
andere Färbung. Ich habe nie gedacht, daß dieses Stück nach Deutschland kommt oder gar ich. Nie im Leben! [...] Ich
wurde öfters gefragt, ob ich »Kannibalen« wieder machen würde. Ich glaube nicht. Die Selbstentblößung ist dafür zu
extrem.42
35 Michaelis beschreibt, während der ersten Aufführung habe es einen zaghaften Buh-Ruf in der Pause und donnernden
Applaus am Schluß gegeben. Vgl. dazu: R. Michaelis, Mahlzeit, S. 10.
36 Seine Ex-Frau Viveca Lindfors schreibt dazu:
Ausgerechnet G. T. würde sich dafür entscheiden, sich in Deutschland niederzulassen! [...] Während unserer achtzehnjährigen Ehe wollte er
nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden setzen oder jemals ein deutsches Produkt kaufen.
(aus: Lindfors, Viveca: Viveka-Viveca. New York: Everest House 1981. S. 28).
37 J. Beckelmann, Nachruhm.
38 K. Wagner, Tabori »Kannibalen«, S. 84.
39 C. Müller, Darf man denn das?, S. 15.
40 J. Beckelmann, Nachruhm.
41 R. Michaelis, Mahlzeit, S. 10.
42 G. Tabori, Gespräch, S. 324.
11
Dennoch wird das Stück im September 1987 wieder aufgeführt. Als George Tabori zu Beginn des
Jahres 1987 Theaterdirektor des "Kreis"-Theaters wird, präsentiert er einen Spielplan für vier Jahre,
aber schon im Juli verwirft er ihn mit der Begründung: “Ich möchte darauf reagieren, was jetzt in
Österreich passiert.” Theater mit dem Anspruch, eine politische Kraft im Lande zu sein, müsse sich
geistesgegenwärtig in den aktuellen Diskurs einschalten und politische Klimaänderungen - in diesem
Fall die Wahl von Kurt Waldheim zum österreichischen Staatspräsidenten - reaktionsschnell parieren.
Daher findet zu Beginn der neuen Theatersaison eine Doppelpremiere aus aktuellem Anlaß statt.
Neben den »Kannibalen« wird das Stück »Schuldig geboren«, eine Sammlung von Gesprächsprotokollen mit Kindern und Enkeln von Nationalsozialisten43 aufgeführt. Da Tabori bei »Schuldig Geboren« Regie führt, inszeniert Martin Fried allein das Auschwitz-Stück. Beide Produktionen sind mehrfach miteinander verbunden. Zum einen spielen beide in der selben Dekoration 44; zum zweiten lautet
in beiden Stücken die Schlüsselfrage: "Vater, was hast du im Krieg getan? In »Kannibalen« wird diese
Frage in erster Linie den Opfern des Holocaust gestellt, in dem anderen Stück den Tätern. Ähnlich wie
bei Taboris »Die Hungerkünstler« stimmen sich die »Kannibalen«-Schauspieler auf die Aufführung
ein, indem sie mehrere Wochen fasten, das Hungern proben und somit als Hungerkünstler, im Wortsinn und metaphorisch, vor das Publikum treten. Allerdings merkt Löffler kritisch an, daß “die
wochenlangen Gruppenübungen dieses Kollektivs von Fasten-Fanatikern” in erster Linie
“akrobatische Bemühtheit” und “schmissige Arrangements” hervorbringen und “Martin Frieds
Männerteam Taboris vertrackten Humor nicht überzeugend gewachsen ist”45.
3.3. »Die Kannibalen«
3.3.1. Der Inhalt
Schauplatz des Geschehens ist eine Häftlingsbaracke im Konzentrationslager Auschwitz, in welcher
kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges zwölf Männer verschiedenen Alters und unterschiedlicher
Herkunft ihr erbärmliches Dasein fristen. Laut Regieanweisung besteht die Bühne aus einem schwarzen Raum46, in dem sich nur wenige Gegenstände befinden: ein langer Tisch mit Bänken und Hockern,
ein Stahlrohr-Pritschengestell mit drei übereinanderliegenden Pritschen, ein Ofen und ein Kessel.
43 Diese Gesprächsprotokolle entstanden aus Interviews des 1947 in Wien geborenen Autors Peter Sichrovsky.
44 Diese wird von Sigrid Löffler folgendermaßen beschrieben:
...in einem mit Papier weißgekachelten und mit weißer Plastikfolie ausgelegten Raum, dessen klinisch helle Abstraktheit auch die weißen
Sitzstufen der Zuschauer miteinschließt und nur von drei bedeutungsvollen Objekten akzentuiert wird: Herd, Tisch und Stockbett (das an KZPritschen, aber auch an die nach Auschwitz rollenden, menschenüberfüllten Viehwaggons denken läßt). In »Schuldig geboren« wird dann aus
dem Herd, dem Verbrennungsofen, gar noch rote Farbe tropfen und sich in einer Blutlache zu Füßen des Publikums sammeln, als krasser
Schauer-Effekt.
(aus: S. Löffler, Gegenwart, S. 24)
45 Ebd., S. 25.
46 Bemerkenswerterweise ist die Bühne, als das Stück in Wien inszeniert wird, strahlend weiß. Vgl. dazu Fußnote 44.
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Eine entscheidene Rolle spielt der Hunger; der Zuschauer wird darauf eingestimmt, indem zu Beginn
des Stückes über Lautsprecher die Stimmen der Häftlinge zu hören sind, die im Schlaf nach ihren
Leibgerichten rufen. Frühmorgens steht einer der Männer, der dicke Puffi Pinkus leise auf, holt aus
seiner Achselhöhle ein kleines Stück Brot hervor und beginnt davon zu essen. Von den Kaugeräuschen
wachen die anderen Männer auf und stürzen sich auf Puffi; es entsteht ein Handgemenge, in dessen
Verlauf Pinkus von den anderen ungewollt getötet wird. Doch nur Onkel, der Gruppenälteste und
Wortführer, bedauert die Tat, was ihn aber nicht davon abhält, auch ein Stückchen Brot zu verlangen.
Die Häftlinge sind so gierig auf Nahrungsmittel, dazu gehören auch Fliegen und sogar der eigene Kot
und Urin47, da es seit einem Monat offiziell nichts mehr zu essen gegeben hat 48, daher tut sich Onkel
auch sehr schwer, als er am Kochkessel, der als Pißeimer dient, seine Notdurft verrichten will.
Onkel bereitet sich auf das Begräbnis vor, indem er sich laut eine Grabrede ausdenkt:
Hier brach ein edles Herz, nicht ohne Nachhilfe seiner Freunde. Puffi Pinkus, ruhe in Frieden. Er war der zweitfetteste
Mann Europas, keine geringe Leistung. Die Aufseher machten gern Fotos von ihm, um der Nachwelt zu beweisen, wie gut
man uns Judenschweine verpflegte. Er liebte sein Kind [...] wurde wohlhabend, indem er Gänse züchtet und ihre [...] Leber
in alle zivilisierten Länder exportierte, sic transit gloria mundi. [...] Möge seine Grabinschrift lauten: »Er speiste seine
Mitmenschen.«49
Der letzte Satz, durchaus doppeldeutig verstehbar, inspiriert Onkels Leidensgenossen allerdings zu
einem wenig christlichen Tun. Anstatt Pinkus zu begraben, beschließen sie, ihn in dem Pißeimer zu
kochen; er soll ihnen buchstäblich als Leibspeise dienen. Sie verteilen seine Kleidung unter sich ebenfalls schon eine Leichenfledderei - und bereiten den Kochvorgang vor, der dadurch erleichtert
wird, daß einer der Männer, Weiss, ein Koch und ein anderer, Klaub, ein Medizinstudent ist. Als Onkel, als einziger im Besitz eines Messer, sich weigert, dieses herauszugeben, um die Tat zu verhindern,
wird ihm entgegnet:
HIRSCHLER
Hör zu, Onkel, laß uns die Dinge mal richtig sehen. Der Kuchen ist zu klein, es langt nicht für alle.
Jedesmal, wenn du ißt, nimmst du einem anderen das Brot vom Munde weg. Jetzt, in diesem Augenblick, wo du soviel
Wind machst, sterben Millionen in Indien an Hunger; aber vielleicht sind wir heute zufällig auf die eleganteste Lösung
gestoßen. Die Friedhöfe sind voll von Leckerbissen; die Öfen arbeiten, daß es nur so raucht, und hübsche fette
Selbstmörderleichen schwimmen in jedem Bach. Und all dieses absolut brauchbare Material liegt ungenutzt herum! Hängt
dir der ewig gleiche Fraß nicht zum Hals heraus? Was glaubst du, was für ein wunderschönes gebratenes Mastschwein du
abgeben würdest, mit einer Zitrone im Maul! 50
Onkel versucht, ihnen mit moralischen Argumenten und Bibelzitaten51 den Appetit auf Puffis Fleisch
zu versalzen und beschwört die unvergänglichen Werte der Menschenwürde. Doch die anderen nehmen in der Extremsituation auch eine Extremmoral für sich in Anspruch:
47 KANNIBALEN, S. 54 (43), 105 (110).
ONKEL
HELTAI
Wo warst du, als Altschul seine eigene Scheiße aß?
[...] Ich habe meine eigene Pisse getrunken.
48 An späterer Stelle im Stück heißt es, daß die Köche bereits fünf Wochen zuvor weggefahren seien.
49 KANNIBALEN, S. 50-51 (37-39).
50 Ebd., S. 54-55 (44).
51 Markant und aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß George Tabori, Unterammergau, S. 267, die Bibel als ersten
jüdischen Witz bezeichnet, wobei er näher erläutert:
Mit »Witz« und »absurd« meine ich nicht Mißachtung. Ich finde die Bibel komisch, weil: things go always wrong darin, ein wahres Bild unserer
Existenz. Der Einzige Gott, beileibe kein furchteinflößender Geist, ist ein Clown, der von Buster Keaton gespielt werden müßte, wie er von
Genesis 1/1 bis zum Ende herumrennt, die Dinge zu organisieren versucht, und immer mißlingt es, alles geht schief; er hat etwas sehr
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KLAUB
Ich weiß, was du erreichen möchtest, aber ich laß mir von dir nicht den Appetit verderben oder das Herz
schwer machen für alle Ewigkeit. Fleisch ist Fleisch, und mein Vater im Himmel kann mich am Arsch lecken! Ich bin kein
böser Mensch. Ich würde keinem Lämmchen auf der Weide ein Haar krümmen. Wenn ich sehen würde, wie ihm einer was
tut, würde ich den Kerl umbringen. Ja, ihm würde ich vielleicht den Schädel einschlagen, aber: in jeder Küche wird täglich
gemordet! Hühnchen werden geschlachtet, Fischen wird der Kopf abgeschnitten und so weiter - und wo soll man die
Grenze ziehen? Wenn mir jemand ein Lammkotelett hinstellt, würd' ich darüber keine Träne vergießen, ich würd' es nicht
stehen lassen und hungrig weggehen. Ich bin kein Narr! Es ist kein Verdienst, ein Narr zu sein! - Fleisch ist Fleisch, und ich
will existieren, ich will Zeugnis ablegen.52
Die Garzeit für Menschenfleisch ist relativ lang und gibt Gelegenheit, die Männer eingehend vorzustellen, ihre berufliche und private Vergangenheit, ihre Verhältnisse zueinander, die teilweise homoerotischer, aber auch todfeindlicher Art sind.53 Sie werden nicht zu Helden und Märtyrern hochstilisiert, sondern als normale Menschen präsentiert, deren private Schwächen wie Gewalttätigkeit, Eigennutz, Geschwätzigkeit und Grobheit in der Extremsituation des ständigen Bedrohtseins, in Hunger,
Angst und Verzweiflung noch krasser hervortreten. Die Gefangenen schlagen sich54, werfen sich exkrementische Ausdrücke an den Kopf55, küssen, singen, zitieren schwelgerisch die üppigen Speisekarten von dazumal und erzählen sich Witze56. George Tabori begründet diese Tabuverletzungen im Vorwort zum Stück:
Es gibt Tabus, die zerstört werden müssen, wenn wir nicht ewig daran würgen sollen. [...] Ich hoffe, daß ich [...] nicht die
heilende Kraft eines Theaters zu verteidigen brauche, das nachdrücklich darauf besteht, himmlische und exkrementale
Schau zu vermischen, und das auf vornehme Umschreibung und Propaganda verzichtet. Schließlich heißt sacer nicht nur
heilig, sondern auch unrein. Heilige werden nicht als solche geboren, sondern vom Leben gemacht, Helden haben
Gedärme, und einige unserer ältesten Mythen, vom ersten Vatermord bis zum Abendmahl, haben den gedeckten Tisch
zum Mittelpunkt. Was nach Auschwitz unmöglich geworden ist, das ist weniger das Gedicht als vielmehr Sentimentalität
oder auch Pietät. Es wäre eine Beleidigung der Toten, etwa um Sympathie für ihre Leiden zu werben oder die
zermalmende Wucht ihrer totalen Ausgesetztheit zu bejammern. Das Ereignis ist jenseits aller Tränen. [...] Da ich ihr
Vermächtnis nie angezweifelt habe, durfte ich es mir erlauben, auch den Hohn und Ekel ihrer Menschlichkeit zu zeigen,
ehe ich am Ende ihren Widerstand feierte.57
Die Figuren agieren auch als ihre Darsteller und verweisen damit auf die Authenzität des Stückes; die
Schauspieler verlassen mehrfach Rolle und Situation, um den Vorgang des Erinnerns zum Thema zu
Deutsches an sich, nach Gesetz und Ordnung schreiend, voll großer Ideen und Konzeptionen, die an der Realität zerschmettern, inmitten eines
Chaos von Menschen, die nicht hören wollen, unaufhörlich ihre Unvollkommenheit beklagen, die doch nur ein Widerschein der seinen ist.
Damit betonen die Bibelzitate nur die Hilflosigkeit Onkels in einer chaotischen Umwelt.
52 KANNIBALEN, S. 115 (121-122). Bei diesen Worten Klaubs fühlt man sich an den »Kaufmann von Venedig« erinnert, vor
allem an den Vorwurf von Graziano an Shylock (IV,1):
So daß ich's halte mit Pythagoras, daß Tieresseelen in die Leiber sich
Von Menschen stecken; einen Wolf regierte sein hünd'scher Geist, der, aufgehängt für Mord,
Die grimme Seele weg vom Galgen riß und, da du lagst in deiner schnöden Mutter,
In dich hineinfuhr: denn dein ganz Begehren ist wölfisch, blutig, räuberisch und hungrig.
Es stellt sich im übrigen die Frage: Was hätte Shylock wohl mit dem Pfund Fleisch gemacht?
53 Auf diese Aspekte wird in Kapitel 3.3.2. näher eingegangen.
54 Der zwölfjährige Ramaseder wird sogar hinterrücks erstochen, als er versucht, vom Fleisch zu kosten.
55Die obszöne Sprache dient dazu, die Authenzität des Stückes zu betonen; unrealistische, gestelzte Theatersprache wäre hier
fehl am Platze. George Steiner zufolge gibt es ohnehin keine Sprache, in der sich adäquat über Auschwitz reden läßt. Vgl.
dazu: G. Steiner, Metaphorik, S. 150-155.
56 Zu Witzen hat George Tabori eine besondere Einstellung:
Inhalt eines jeden Witzes ist die Katastrophe oder etwas ganz Schönes...Der Witz ist sozusagen ein Rettungsring, nicht Flucht vor der Realität,
sondern Realität. Und es stimmt ja, wenn man die schlimmsten Dinge - ob es eine Probe oder eine Beziehung ist - als Überlebender erzählt,
lacht man darüber. Diese Fähigkeit müßte man eigentlich haben, während das Schlimme passiert. [...] Jeder Witz ist schwarzer Humor. Alle
meine Lieblingswitze haben etwas Furchtbares an sich.
(aus: G. Tabori, Gespräch, S. 325.) Der kürzeste jüdische Witz heißt nach Tabori übrigens Ausch-witz.
57 KANNIBALEN, S. 37-38 S. (29-30).
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machen. Die Geschichte wird aus der Perspektive der Überlebenden Hirschler und Heltai und der
Nachgeborenen, vor allem Onkels Sohn, in dem sich George Tabori selber spiegelt, erzählt 58; die
Geschehnisebenen durchdringen einander.59
Der Frage nach Widerstand der Gefangenen kommt besondere Bedeutung zu, speziell in der vielkritisierten Viehwagen-Sequenz: Klaub wirft Onkel vor, durch seine Passivität und strikte Ablehnung
von Gewalt, als es möglich war, während des Transportes nach Auschwitz zu entkommen, vierzig
Häftlinge in den sicheren Tod geschickt zu haben. Beckelmann folgert zu Recht:
Hier plädiert das Stück für die rechtzeitig angewandte Gewalt gegen die Gewalt. Es verdammt das stille "ehrenwerte"
Sterben, das bislang der Nachruhm der jüdischen Opfer war. Kurz und grob gesagt: Tabori hält solchen Nachruhm für
widersinnig; als schlechthin widersinnig erscheint ihm ein Sichermordenlassen ohne Gegenwehr.60
Als Puffi gar ist, bringt es zunächst keiner über sich, vom Fleisch zu kosten. Da betritt der Aufseher
Schrekinger mit seinem Gehilfen Kapo die Szenerie und durchschaut die Lage sehr schnell. Er stellt
die Häftlinge vor die Wahl: Friß oder stirb! Entweder sie essen vom Fleisch und erhalten dafür die
Freiheit oder sie weigern sich und müssen sofort in die Gaskammer gehen.
Nur Hirschler und Heltai essen und überleben; die anderen weigern sich und demonstrieren ihr Ende,
indem sie an den Rand der Bühne treten und Zischlaute hervorbringen, die das Brausen der Gaskammern verdeutlichen. Sie werden solidarisch im Zeichen dieses Widerstehens und versteifen sich auf
ihren vorher versäumten Widerstandswillen:
Gewalt kann eine große befreiende Kraft sein, aber es gibt Zeiten, in denen der praktischste, der menschlichste und [...]
gewalttätigste Akt einfach in der Weigerung besteht, sich zu etwas zwingen zu lassen; eine Geste der Verneinung, die nicht
ohne tiefes Geheimnis ist: nicht zu essen, obgleich man verhungert. 61
Zum Schluß greift Schrekinger zu und verschlingt das Fleisch seines "Feindes", vor allem das Judenherz, “in einem Akt der atavistischen Einverleibung, so wie manche Indianer das Herz ihres Feindes
aßen, um dessen rächenden Geist zu bannen oder um sich dessen Tugenden anzueignen”62:
STIMME
[...] Einige Wilde jedoch sind voll Gier nach der Leiche eines Ermordeten, damit sein Geist sie nicht
heimsuchen möge, und deshalb, liebe Brüder in Christo, empfehle ich euch das Judenherz, in Aspik oder mit einer
pikanten Sauce - so zart, es zergeht auf der Zunge.63
58 George Tabori erläutert:
Das Ereignis ist jenseits aller Tränen, und ich habe meine Gefangenen nur aus der Sicht ihrer Söhne präsentieren können - Söhne, die
versuchen, jenseits von Gut und Böse sich das Gewesene zurückzurufen, mit der kühlen Neugier von Leuten, die überzeugt sind, daß ihre
Väter vor den Augen der Nachwelt bestehen werden.
(aus: KANNIBALEN, S. 38 (30)).
59Die Verschiebung der Zeiten und das ständige Changieren der Ebenen findet seine Ursprünge in der amerikanischen
Literatur, vor allem in den Werken von William Faulkner, mit dem Tabori in Hollywood zusammengearbeitet hat. Vgl. dazu:
J. Gronius, Tabori, S. 25.
60 J. Beckelmann, Nachruhm. Diese Interpretationsmöglichkeit ist schon allein deswegen nicht von der Hand zu weisen, weil
im Programmheft zu »Die Kannibalen« ein Aufsatz von George Steiner mit dazu passender Aussage abgedruckt ist: Die
jüdische Weigerung, Jesus als Messias anzuerkennen, habe den Ausbruch von Frieden und Gerechtigkeit, vor allem zwischen
Juden und Christen, verhindert. Daher trügen die Juden auch die Mitschuld am Holocaust. Vgl. dazu: G. Steiner, Metaphorik,
S. 149-164.
61 KANNIBALEN, S. 38-39 (30). Gronius merkt an, daß jemand, der in Hungerstreik tritt, sich selbst verzehrt und damit
praktisch Autokannibalismus betreibt. Vgl. dazu: J. Gronius, Tabori, S. 20.
62 S. Löffler, Gegenwart, S. 25.
63 KANNIBALEN, S. 137 (147).
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Am Ende haben also nicht die Häftlinge, bis auf zwei Ausnahmen, vom Fleisch gegessen, sondern
der KZ-Aufseher hat sich als wahrer Kannibale erwiesen.64
3.3.2. Die Personenkonstellation
Puffi Pinkus, ein fetter Mann
Pinkus65 ist nicht nur korpulent, er ist “der zweitfetteste Mann Europas”, was bei der eher kärglichen
Küche im KZ eine bemerkenswerte Leistung darstellt. Daher ist er das “Lieblingsobjekt” der KZ-Wärter, die gern Fotos von ihm machen, “um der Nachwelt zu beweisen, wie gut man uns Judenschweine
verpflegte”66. Er entspricht dem, auch von Nazis emsig verbreiteten, Klischee des feisten, häßlichen
Juden, der rücksichtslos, aber gewinnbringend seine Geschäfte als Händler betreibt.
Auch im KZ, wo die Häftlinge auf gegenseitiges Entgegenkommen und Vertrauen angewiesen sind,
um gemeinsam überleben zu können, bleibt er egoistisch und verschlagen. Der Umstand, daß er es geschafft hat, in Auschwitz sein Körpergewicht zu halten, läßt darauf schließen, daß das Stück Brot,
welches ihm schließlich sein Leben kostet, nicht das erste Nahrungsmittel ist, welches er heimlich beiseitegebracht und vor den anderen verborgen hat; womöglich hat er von den Aufsehern noch Extraportionen bekommen und nicht mit den anderen geteilt.
Da er so unsympathisch wirkt, erleichtert er den anderen Gefangenen die Entscheidung, ihn zu essen
und den Zuschauern die Möglichkeit, mit den "Kannibalen" zu sympathisieren. Obwohl Pinkus keine
Vaterautorität darstellt, sieht Gronius einen Zusammenhang mit Freuds These vom "Urvater-Mord"67,
64 Der Schluß von »Die Kannibalen« weist bemerkenswerte Parallelen zu der Art und Weise auf, wie George Tabori 1963 im
amerikanischen Berkshire den »Kaufmann von Venedig« inszeniert:
G. T. hatte bei seinen Nachforschungen über seines Vaters Tod ein vergilbtes altes Flugblatt gefunden, das eine Theateraufführung des
Stückes in Theresienstadt von einer Gruppe Gefangener ankündigte. [...] Das Stück, wie wir es in Berkshire spielten, begann auf einer leeren
Bühne, leer mit Ausnahme eines dünnen und nackten toten Mannes in der Mitte. Während ein Militärorchester fröhlich >Lilli Marleen< spielt,
tragen ihn zwei Männer in Gefangenenkleidung nach draußen. Ein großes Hitler-Bild wird an die Rückwand gehängt. Zuletzt nehmen einige
deutsche Offiziere ihren Platz in der ersten Zuschauerreihe ein. [...] Aber Der Kaufmann von Venedig gespielt in Theresienstadt, so unser Titel,
endet in der Gerichtsszene. Einer der Offiziere geht auf die Bühne und übernimmt die Rolle des Richters. Mit dem Manuskript in der Hand
befiehlt der Nazi dem Kaufmann, dem Juden, auf die Knie zu gehen und um Verzeihung zu bitten - so wie es in Shakespeares Text
vorgeschrieben ist. Die Spannung ist unerträglich. Die anderen Gefangenen ahnen, daß es um Leben und Tod geht, alle kommen auf die
Bühne. Wird er sich unterwerfen? Der Jude schaut umher und geht langsam in die Knie. Aber er ist nicht allein. Porzia [...] ist die erste, die sich
ihm anschließt. Einer nach dem anderen schließt sich ihnen an. Wir fangen an, langsam in Richtung Zuschauerraum zu kriechen [...]. In dem
Moment, wo wir am Rande der Bühne stehen, gibt es einen Black-Out. Wenn das Licht dann langsam wieder angeht, sind nur noch Haufen
von unseren Kleidern übrig.
(aus: Lindfors, Viveca: Viveka - Viveca. New York: Everest House 1981. S. 251-252.)
65 Schon sein Name kann bei näherer Betrachtung Aufschlüsse über sein Äußeres und seinen Charakter vermitteln. Das Wort
Puff hat unter anderem die Bedeutung Wulst, Bausch, aber auch Aufprall, Stoß. Der wulstige Puffi stirbt durch harte Püffe
seiner Mithäftlinge. Pinkus erinnert zum einen an das jiddische 'Pinkel', so nennt man einen Geck und Vornehmtuer, zum
anderen an das Umgangssprachwort Pinke, gleichbedeutend mit Geld. Pinkus hat als Exporteur von Gänseleber viel Geld
verdient und ist zu einem reichen, fetten Mann geworden.
Den Namen Puffi hat Tabori wohl von einem Schauspieler entlehnt:
Zuerst wird ein Film gezeigt, der erste meines Lebens, ein Schwank in einem Schuhgeschäft, in der Hauptrolle Puffi Huszár, der fetteste
Schauspieler der Welt.
(aus: G. Tabori, Tode, S. 181.)
66 KANNIBALEN, S. 50 (38).
67 Vgl. dazu Kapitel 2.1.
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da Puffi durch Onkels Spruch - ”Er speiste seine Mitmenschen.” - die väterliche Funktion des Ernährers zugewiesen werde.68
Cornelius Tabori, der Onkel
Onkel ist ein ehemaliger Schauspieler aus Ungarn und heißt nicht nur zufällig so wie George Taboris
Vater, der tatsächlich in Auschwitz umgekommen ist, so daß der Stoßseufzer von Onkel-Sohn über
Onkel-Vater - “Ich werde auch nicht klug aus ihm. Ich versuche es, ich versuche es seit 25 Jahren [...]
Es stimmt, er war immer ein bescheidener Esser”69 - ein direkter Kommentar von George ist.70
Onkels Motto lautet:
Die einzige Methode, Gänsen zu widerstehen, ist die, einer Gans so unähnlich wie möglich zu bleiben. 71
Er will die Gewalt der Nazi-Machthaber gegen ihn nicht mit Gegengewalt beantworten, sondern
immer menschlich und nächstenliebend bleiben. Schon seine weißen Handschuhe, die er als
“Erinnerung” bezeichnet, signalisieren seine Herkunft aus einer moralischen Frühzeit der 'sauberen
Hände'. Seine Ablehnung von Gewalt führt sogar so weit, daß er einen Ausbruch während des Transports im Viehwagen zum KZ ablehnt, um die Wächter zu schonen und somit die Rettung von vierzig
Gefangenen verhindert. Für das (Über-) Leben in Auschwitz hat er sich feste Regeln geschaffen, z.B.
sich beim Essenfassen hinten anzustellen, da unten im Topf die Suppe am besten sei 72; er versucht, aus
seiner Situation das Beste zu machen, fügt sich in das in seinen Augen Unvermeidliche und denkt
nicht an revolutionäre Veränderungen. Onkel bemüht sich, auch im Elend seinen Stolz zu bewahren
und begehrt gegen aufkommende niedere Instinkte auf:
Noch hab ich meinen Stolz - in diesem Schlamm, dieser Wildnis, dieser Stätte des Mordes, diesem Auschwitz! 73
Als einziger ist er entsetzt und schockiert über das homoerotische Verhältnis zwischen Haas und
Weiss. Er wirkt weltfremd und abgehoben von den banalen Dingen des Lebens:
Ich habe mein Leben lang kein unanständiges Wort gebraucht. Wir waren anständige Leute. [...] Natürlich kam es
gelegentlich vor, daß wir Stuhlgang hatten, oder urinierten, oder koitierten, wir hatten sechs Kinder, aber gefickt hab ich
mein Lebtag noch niemand, das kann ich euch versichern! 74
68 Gronius führt die Rolle Puffis weiter aus:
Gänseleberpastete zählt nicht zu den Grundnahrungsmitteln. Tabori läßt keinen Brotbäcker, nicht einmal einen Metzger zum Gegenstand des
Kannibalismus werden, sondern den Verkäufer einer Luxusschlemmerei, die mit Hilfe einer gewaltsamen Mästung des Geflügels gewonnen
wird. Puffi Pinkus verdiente am Überfluß. Jetzt, unter den diktatorischen Verhältnissen des Mangels am Existenzminimum, fällt der
Verschwender der Verschwendung zum Opfer. Not, so lautet das Sprichwort, kennt kein Gebot. Auch kein Tabu, beim besten Wissen um seine
Notwendigkeit. Wie die Schiffbrüchigen in Poes Geschichte des Arthur Gordon Pym, umgeben von der Unendlichkeit des Wassers, aus
Mangel an Trinkwasser die Portweinfässer leeren und dadurch der Alkoholvergiftung anheimfallen, greifen die Gefangenen hier zum Material,
ohne seinem >spiritus< Achtung zu zollen: dort vergiftet er den Körper, hier das humane Gewissen, dem die Religiosität innewohnt.
(aus: J. Gronius, Tabori, S. 20).
69 KANNIBALEN, S. 125 (133).
70 Auch in »Jubiläum« (1983) taucht das Vater-Motiv auf: Arnold erinnert sich an seinen Vater Cornelius, der freiwillig zur
Gestapo ging und in Auschwitz ermordet wurde.
71 KANNIBALEN, S. 91 (97).
72 Eine von unten geschöpfte Suppe zu bekommen, war für KZ-Häftlinge ein hoher Genuß:
Oft erfanden auch die Kameraden selber derartige drollige Zukunftsträume, indem sie etwa prophezeiten, in Gesellschaft, zum Nachtmahl
eingeladen, würden sie sich beim Einschenken der Suppe leicht vergessen können und die Herrin des Hauses - so wie zu Mittag den Capo am
Arbeitsplatz - darum anbetteln, daß man ihnen die Suppe »von unten« schöpfe, so daß ein paar Erbsen oder gar eine halbe Kartoffel im Teller
schwimmt.
(aus: V. Frankl, Leben, S. 75.)
73 KANNIBALEN, S. 100 (Dieser Text ist im Programmbuch nicht enthalten).
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Darum reagiert er zunächst recht naiv, als die anderen mit den Kochvorbereitungen beginnen und erkennt erst spät die wahren Absichten. Doch sein Verhalten ist zwiespältig. Zwar ist er über Puffis gewaltsamen Tod entrüstet, dies hält ihn aber nicht davon ab, seinen Anteil an dem geraubten Brot
einzufordern. Ordinäre Ausbrüche75 zeigen den beginnenden Verlust der Kontrolle über sich selbst an.
Um den kannibalischen Vorgang zu verhindern, argumentiert er in erster Linie mit Bibelzitaten,
längst überkommenden und im KZ deplazierten Ansichten und Weisheiten und ist damit
genausowenig erfolgreich wie mit der List, zu behaupten, es gäbe Schafe in der Küche. Daher geht er
in seiner Rolle als Gruppenältester und Wortführer unter und verliert die Initiative an Klaub und
Weiss.
Hirschler und Heltai, die Überlebenden
Sie schließen sich willig Klaub als Helfer und Handlanger an, vor allem, als es darum geht, Onkel das
Messer zu entreißen. Beide sind auf ihren Vorteil bedacht, besonders Heltai versteht es, sein Fähnchen
nach dem Winde zu drehen:
HELTAI
In diesem Fall bin ich ganz deiner Meinung, Onkel, aber nur aus Gesundheitsgründen. Puffi ist zu fett für
meine Magengeschwüre.
W EISS
Gekochtes kann dir nicht schaden.
HELTAI
verblüfft Was? Ja, natürlich, wenn man's so betrachtet...76
Als sie von Schrekinger vor das Friß-oder-stirb!-Ultimatum gestellt werden, fressen sie als einzige
lieber. Sie überleben und erlangen in Amerika zu beruflichem und privatem Erfolg, doch die Schuldgefühle bleiben. Hirschler verleugnet, als er viele Jahre später mit Heltai spricht, seine Taten und
versucht sie zu verdrängen, aber die Erinnerungen steigen immer wieder hoch, z.B. beim
Spanferkelessen oder während des Vietnamkrieges77, so daß er einen Psychiater - eine SigmundFreud-Karikatur - zu Rate ziehen muß. Heltai wird zum Vegetarier und kann den Anblick von Messern
nicht ertragen.78
Klaub, der Medizinstudent, und Weiss, der Koch
Beide übernehmen bei der "Beseitigung" der Leiche die Initiative, da sie aufgrund ihrer Berufe die
dafür nötige Qualifikation besitzen. Klaub ist der erste, der den Einfall hat; er überzeugt als
“angehender Mediziner” die anderen, “daß sie keinerlei üble Folgen zu befürchten” haben und “der
74 Ebd., S. 76 (78-79).
75 Vgl. ebd., S. 76 (79).
76 Ebd., S. 57 (47).
77 Vgl. ebd., S. 59-60 (51), S.106 (111):
In meinem Traum sah ich dieses Kind im Reisfeld...
78 Interessanterweise haben beide ein differenziertes Bild vom Judentum; Heltai scheint sogar Minderwertigkeitskomplexe zu
empfinden. Vgl. ebd., S. 57-58 (48):
HIRSCHLER
Es war zweifellos kein Kampf in irgendeinem sportlichen oder angelsächsischen Sinn. Das Ganze hatte etwas zutiefst
Jüdisches - - HELTAI
Du meinst, Dilettantisches?
HIRSCHLER
Nein! [...] Es war mehr eine Balgerei - behutsam, alptraumhaft, unwirklich.
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Geschmack angenehm und der Nährwert hoch”79 sei. Damit übernimmt er die Führungsrolle und wird
zum Widersacher von Onkel. Kaltschnäuzig und ohne Skrupel geht er buchstäblich über Leichen und
schlägt alle moralischen Argumente Onkels aus dem Wind. Klaub ist auch einer der Initiatoren des
geplanten Viehwagen-Ausbruchs gewesen und nimmt Onkel sein damaliges Eingreifen sehr übel.
Möglicherweise ist er es, der Ramaseder beim Versuch, vom Fleisch zu kosten, von hinten ersticht, um
zu verhindern, daß er selber zu kurz kommt; auf alle Fälle ist er, neben Ghoulos und dem Zigeuner, an
Puffis gewaltsamen Tod am meisten beteiligt.
Auch Weiss zeigt keine Skrupel, als er daran geht, die Leiche zu fleddern. Bekleidet mit Puffis Unterwäsche, verrichtet er mit dem Messer die blutige Arbeit des Fleischzerlegens. Dabei fallen ihm
keine Gewissensbisse sondern Kochrezepte ein; Fleisch ist nur zum Kochen da. Pragmatisch veranlagt,
ist er durchaus den schönen Dingen ergeben, als er genießerisch seine Rezepte rezitiert. Doch zuweilen
liegen bei ihm die Nerven blank, vor allem, als er erwägt, an den Draht zu laufen oder einen der
Aufseher umzubringen.80 Offener zutage tritt seine homosexuelle Neigung; er hat ein Verhältnis mit
Haas81 und gibt zu, es insgeheim genossen zu haben, als er von zwei Gestapo-Offizieren vergewaltigt
worden ist.82
Professor Glatz und der stille Haas
Beide sind eher intellektuell orientiert; der eine ist Akademiker, der andere ein politischer Häftling,
der Flugblätter verteilt hat. Doch sind sie nicht in der Lage, sich gegen die niederen Instinkte der anderen durchzusetzen, wollen dies wohl auch nicht. Haas83 fällt nur durch sein permanentes Krächzen auf,
ein Laut der Hilflosigkeit. Auch Glatz ist ängstlich und legt eine “hündische Ergebenheit” 84 an den
Tag. Er versucht als Buckler und Duckmäuser seine Haut zu retten und hat bei den Nationalsozialisten
viele Juden denunziert, darunter auch Weiss, Haas und Heltai:
GLATZ
Man erkauft sich ein bißchen Luft zum Atmen [...] ein Stückchen Leben. Unter den gegebenen Umständen ist
es das einzig Moralische weiterzuatmen. Das ist eine Sache der Logik. Eine Hand wäscht die andere. Es liegt eine gewisse
Eleganz in der Formel: Atmen ist gleich Verraten.85
Ähnlich wie Onkel ist ihm Widerstand suspekt, allerdings aus anderen Beweggründen. Seine Rolle
verdeutlicht, welche verhängnisvollen Folgen fehlende Gegenwehr haben kann. Sogar zum Schluß, als
fast alle Gefangenen solidarisch zusammenstehen und sich verweigern, widersteht er nur zögernd
79 Ebd., S. 52 (39-40).
80 Vgl. ebd., S. 95 (100-101).
81 Sexualität, auch Homosexualität, spielte in den Konzentrationslagern aber kaum eine Rolle, da die Unterernährung in der
Regel eine virtuelle Abwesenheit des Geschlechtstriebes und der sexuellen Potenz zur Folge hatte. Nur in früheren Perioden,
als die Ernährungssituation etwas besser war, gab es verstärkt homosexuelle Aktivitäten. Allerdings kam es auch vor, daß KZAufseher, vor allem Capos, junge Häftlinge sexuell mißbrauchten. Vgl. dazu: J. Goldstein, Verhalten, S. 25.
82 Ebd., S. 96 (101).
83 Sein Name suggeriert bereits Feigheit und Hasenfüßigkeit.
84 KANNIBALEN, S. 112 (Diese Anmerkung ist im Programmbuch nicht enthalten).
85 Ebd., S. 109 (115).
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Schrekingers Anweisung. Haas dagegen ist in seinem Willen erst durch die Mißhandlungen, die ihm
die Nazis haben angedeihen lassen, gebrochen worden, was sich in seiner Stimme manifestiert, die
vorher schön und klar gewesen ist. Er ist aber der erste, der sich weigert, von Puffis Fleisch zu essen
und somit für die anderen ein Zeichen setzt, daß man im Widerstand über sich hinauswachsen kann.
Der kleine Lang und der Ramaseder-Junge
Die Kleinsten in der Gruppe treten am wenigsten in Erscheinung. Lang wird ständig ohnmächtig, er
ist wehleidig und leicht beeinflußbar; er ist ein Umfaller, sowohl mit seinem Körper als auch in seinen
Gedanken. Dies macht ihn für die Machthaber zu einem gefügigen Opfer. Schrekinger faßt während
der Selektion den Beschluß, ihn sexuell zu mißbrauchen86 und hat es wohl schon einige Male getan.87
Ramaseder ist zwar erst zwölf Jahre alt, hat aber schon die komplette Grausamkeit des Konzentrationslagers erfahren.88 Zu Onkel pflegt er eine Sohn-Vater-Beziehung, dieser kann aber nicht verhindern, daß Ramaseder erstochen und zum möglichen “Mittagessen für morgen” wird.
Laci Rácz, der Zigeuner, und Ghoulos, der Grieche
Die beiden sind die einzigen Nichtjuden in der Baracke. Sie haben mal versucht, sich gegenseitig umzubringen; das Verhältnis ist immer noch gespannt; während einer Auseinandersetzung um die genaue
Uhrzeit geht der Zigeuner auf Ghoulos los und würgt und beißt ihn. Dies verdeutlicht, in welch gereiztem, unmenschlichem Klima die Gefangenen leben müssen und zu Mördern mutieren können, zeigt
aber auch die gewalttätige Natur der beiden Personen an.
Der Zigeuner, ein Geiger, der sich “Laci Rácz der Fünfzehnte” nennt, hat einmal nur wegen eines
Wurstzipfels einen Menschen ermordet und brüstet sich mit dieser “Bluttat des LeberwurstMörders”89 auch noch. Er stammt aus niederen Kreisen, wo u.a. Huren verkehren; er ist ordinär und
nur auf Äußerlichkeiten bedacht, z.B. auf seine spitzen Ziegenlederschuhe. An Puffis Tod ist er, genau
wie Ghoulos und Klaub, maßgeblich beteiligt, und er schließt sich Klaubs Aktionen vorbehaltlos an.
Ghoulos bewundert zwar Onkel, doch in der Not wendet er sich von ihm ab und will ihn sogar erschlagen.90 Zügellos und ohne Scham onaniert er vor aller Augen.91
Schrekinger, der Engel des Todes und Kapo, sein Gehilfe
86 Vgl. dazu Fußnote 81.
87 KANNIBALEN, S. 130-131 (140):
SCHREKINGER ohne Lang anzusehen
Dreh dich um. Ach, du bist das. [...] Die Liebe höret nimmer auf.[...] Komm in mein Dienstzimmer.
88 Vgl. ebd., S. 54 (43).
89 Ebd., S. 66 (69).
90 Vgl. ebd., S. 56-57 (46-47).
91 Vgl. ebd., S. 66 (Diese Regieanweisung ist im Programmheft nicht enthalten).
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Schon die Namen verdeutlichen ihre Funktion: der eine ist der Schreckenerregende, er übt eine
Schreckensherrschaft aus und dient als Symbol für den verbrecherischen, gewissenlosen Nazischergen.
Der andere ist ein Capo, ein aufsichtführender Häftling, Versinnbildlichung des unterwürfigen Untertanen, der nach oben buckelt und nach unten tritt.
Schrekinger hat einen festgefügten Verhaltenskodex:
Es gab drei Möglichkeiten: zu diesen Untermenschen nett zu sein, sie sofort zu erledigen, oder beides. 92
Offiziell bemüht er sich um ein gutes Verhältnis zu den Inhaftierten, z.B. spielt er Schach mit ihnen,
und heuchelt Verständnis. Doch dann mißbraucht er seine Gewalt, treibt perfide Spiele und läßt sie
ohne Zögern in die Gaskammer bringen. Zum Schluß wird er selbst zum Kannibalen und ißt das Judenherz. Er betreibt eine Art Exo-Kannibalismus, wohl um die Juden zusätzlich zu demütigen.
Ähnlich wie die 'Kannibalen' Hirschler und Heltai macht er nach dem Krieg eine gutbürgerliche Karriere und hat ebenso Probleme mit der Bewältigung seiner Vergangenheit. Als sein Sohn ihn fragt, was
er im Krieg gemacht habe, redet er sich heraus:
Ich habe Befehle befolgt. Alle haben Befehle befolgt. Auch den besten von uns liegt ein Führer im Blut. 93
George Tabori klagt damit das Schweigen und Verleugnen der Wahrheit der damals
Verantwortlichen an94, denn ihm ist nach eigenen Angaben noch kein Deutscher begegnet, “der gesagt
hätte, daß er ein Nazi war. In der Armee, ja, im Theater, ja, in der Jugendbewegung, ja, aber Nazi,
nein, niemals. Manchmal scheint es, als hätte Hitler alles eigenhändig gemacht. Jene 12 braunen Jahre
scheinen in einem Loch verschwunden zu sein, jetzt unter Stahl und Beton vergraben. Wenn ich
manchmal durch diese ordentlichsten und friedlichsten Straßen der Welt gehe, sticht mir ein Geruch in
die Nase. Presse und Medien graben in diesem Loch, aber die Straßen sind schweigend, auch wieder
ein Schweigen.”95
4. Fazit
Was Auschwitz war, wissen nur die Häftlinge. Niemand sonst. Weil wir uns also nicht hineindenken können in die Lage
der Häftlinge, weil das Maß ihres Leidens über jeden bisherigen Begriff geht und weil wir uns deshalb auch von den
unmittelbaren Tätern kein menschliches Bild machen können, deshalb heißt Auschwitz eine Hölle und die Täter sind
Teufel. So könnte man sich erklären, warum immer, wenn von Auschwitz die Rede ist, solche aus unserer Welt
hinausweisenden Wörter gebraucht werden. Nun war aber Auschwitz nicht die Hölle, sondern ein deutsches
Konzentrationslager.
92 Ebd., S. 128 (137).
93 Ebd., S. 132 (142).
94 Allerdings ist Tabori nicht daran interessiert “deutsches Schuldgefühl zu manipulieren (auch heute noch nicht), dieses
ganze sado-masochistische Verkleidungsspiel, das unsere Beziehung vergiftet, die offizielle Frömmigkeit, die all unseren
Kummer und Haß und auch unsere Liebe verschleiert. Wenn wir nicht über die Tabus und Klischees hinwegsehen und
einander als Menschen und nicht als Abstraktionen betrachten können, dann kann man genausogut die Öfen wieder
anzünden.”
(aus: G. Tabori, Unterammergau, S. 266).
95 Ebd., S.266-267.
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Martin Walser
Durchleuchtet man »Die Kannibalen« auf mögliche Aussageabsichten des Autors, so kommen einige
Motive zusammen:
¡ Anhand des teilweise recht obszönen Treibens auf der Bühne wird veranschaulicht, daß im Zusammenhang mit dem Holocaust Sentimentalität und hochstilisiertes Heldentum fehl am Platze sind,
welche ein weiteres Zusammenleben von Juden und Deutsche nur noch erschweren.
¡ Tabori erhebt Anklage gegen alle Beteiligten, sowohl Täter als auch Opfer, wegen fehlender Bewältigung und mangelhafter Aufarbeitung der Vergangenheit.
¡ Den Juden wird eine Mitschuld an ihrem Schicksal zugeschrieben, da sie die Bereitschaft zu aktivem und passivem Widerstand vermissen ließen.
¡ In der Not zeigt sich der wahre Charakter des Menschen und es tun sich bisweilen seelische und
moralische Abgründe auf. Der Mensch wird dann des Menschen Wolf und geht über Leichen, um
seine eigene Existenz zu bewahren.
¡ Werden Menschen nach bestimmten Klischees eingestuft, so fügen sie sich, ähnlich wie Schillers
"Verbrecher aus verlorener Ehre", in die ihnen vorgegebenen Verhaltensmuster. Angeblich
'skrupellose, menschenfressende Juden' verwandeln sich mit der Zeit wirklich in skrupellose, menschenfressende Juden.
¡ Das Grundmotto des Lebens lautet: Friß oder stirb! Wer sich den gegebenen Machtverhältnissen
anpaßt und sich beizeiten zum Buckler und Mitläufer verwandelt überlebt. Nur wer sich verweigert,
wer nur “ein bescheidener Esser” ist, bleibt auf der Strecke.
Das ehrliche Bemühen George Taboris ist deutlich erkennbar, meiner Ansicht nach tut er aber
bisweilen des Guten zuviel. Die zahlreichen Brüche und Verfremdungen in der Handlung, die
Verschiebung der Zeiten und das Changieren der Ebenen, die vielen Zitate, z.B. aus der Bibel und aus
den Werken der Mythologie und Tiefenpsychologie, die Vermischung vieler Stile und Moden des
zeitgenössischen Theaters führen zuweilen zu einer Überforderung des Zuschauers, der die komplexen
Windungen nicht immer nachvollziehen kann. Tabori, der doch eigentlich bestrebt ist, nur die Realität,
das wahre Leben aufzuzeigen, schafft damit eine neue Art von Künstlichkeit, die den Anspruch des
Stückes auf Authenzität verwässert und sich von der Beschreibung dessen, was in Auschwitz
geschehen ist, immer weiter entfernt.
Gelungen erachte ich dagegen den Versuch, den Holocaust mit tiefschwarzem und teilweise relativ
geschmacklosem Humor zu betrachten. Der Effekt, daß der Zuschauer des öfteren nicht weiß, ob er
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nun lachen oder weinen soll, löst tiefergehende Wirkungen aus als eine fortwährende Präsentation von
tragischen und grausigen Details, vor der er recht bald die Augen verschließt.
Exemplarisch ist die Wirkung, die eine Szene aus »Mein Kampf« auf Gundula Ohngemach gemacht
hat. Sie beschreibt:
Vor dem Beginn des fünften Aktes kommen Hitlers Anhänger und bekleben die Wände mit Hakenkreuz-Plakaten. Die Zeit
des Scherzens ist vorbei. Im Hintergrund rutscht George Tabori als Lobkowitz auf allen Vieren über den Bühnenboden. Er
trägt einen Smoking. Komisch, er scheint etwas zu suchen. Nein, er putzt den Boden. Mit einer Zahnbürste. Ich lache. Mit
einer Zahnbürste. Ich stocke.96
96 G. Ohngemach, George Tabori, S. 36.
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4. Literaturverzeichnis
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 Frankl, Viktor E.: ...trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. 3.
Aufl. München: Kösel 1979.
 Freud Sigmund: Totem und Tabu. Gott essen. In: Tabori, Programmbuch Kannibalen. S. 165-169.
 Gidal, Nachum T.: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik. Gütersloh: Bertelsmann 1988.
 Goldstein, Jacob, I.F. Lukoff u. H.A. Strauss: Individuelles und kollektives Verhalten in Nazi-Konzentrationslagern. Soziologische und psychologische Studien zu Berichten ungarisch-jüdischer Überlebender. Frankfurt/M., New York: Campus 1991.
 Gronius, Jörg W. u. W. Kässens: Tabori. Frankfurt/M.: Athenäum 1989.
 Kässens, Wend u. J.W. Gronius: Theatermacher. Frankfurt/M.: Athenäum 1987.
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1945. Stuttgart. Alfred Kröner 1973.
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 Leder, Karl B. u. K. Gröper: Kannibalismus. In: PM Heft 11 [1981]. S. 87-97.
 Löffler, Sigrid: Die Gegenwart der Vergangenheit. Das KZ-Stück «Die Kannibalen» und die FallSzenen «Schuldig geboren» als Saisonauftakt in George Taboris Wiener «Kreis»-Theater. In: Theater
heute. November 1987. S.24-25.
 Michaelis, Rolf: Mahlzeit. Tabori »Die Kannibalen«, Schloßparktheater Berlin. In: Theater heute.
Februar 1970. S. 10.
 Müller, Christoph: Darf man denn das? In: Die Zeit vom 9. 1. 1970. S. 15.
 Ohngemach, Gundula: George Tabori. Frankfurt/M.: Fischer 1989.
 Pingel, Falk: Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im
Konzentrationslager. Hamburg: Hoffmann und Campe 1978.
 Pleticha, Heinrich (Hrsg.): Weltgeschichte Bd. 5. Gütersloh: Bertelsmann 1988.
 Steiner, George: Das lange Leben der Metaphorik. Gekürzt in: Tabori, Programmbuch Kannibalen,
S. 149-164. Ebenfalls in: Akzente Heft 3 [1987].
 George Tabori im Gespräch mit Ursula Voss und Reinhard Palm. In: Spectaculum Bd. 46. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988. S. 322-326. Ebenfalls in: Programmbuch Nr. 17, Burgtheater Wien, 1987.
 Tabori, George: Die Kannibalen. Programmbuch 2. Wien: G. Walla 1987.
 Tabori, George: Die Kannibalen. In: Tabori, Unterammergau. S. 37-138.
 Tabori, George: Ein Goi bleibt immer ein Goi... Zur »Nathan«-Inszenierung Claus Peymanns in
Bochum 1981. In: Tabori, Unterammergau. S. 29-35.
 Tabori, George: Es geht schon wieder los. In: Tabori, Programmbuch Kannibalen. S. 171-179.
 Tabori, George: Tode am Nachmittag. Aus: Die sehr kurzen Memoiren eines älteren Bühnen-Arbeiters. In: Tabori, Unterammergau. S. 179-198.
 Tabori, George: Unterammergau oder Die guten Deutschen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981 (= edition
suhrkamp 1118).
 Tabori, George: Unterammergau oder die guten Deutschen. In: Spectaculum Bd. 38. Frankfurt/M.:
Suhrkamp 1984. S. 259-267.
 Tzschaschel, Martin: Kannibalen. Hat es nun Menschenfresser gegeben oder nicht? In: PM Heft 2
[1991]. S. 78-83.
 Wagner, Klaus: Tabori »Kannibalen«. In: Theater heute. Jahressonderheft: Theater 1970. S. 15.
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