1 Homosexualität und sexueller Missbrauch Bei Angst pfeifen… Obwohl sexueller Missbrauch heute scheinbar kein Tabu mehr ist, werden gerade männliche Betroffene in ihrer Not oft alleine gelassen. Das Thema bleibt unterm Deckel: Mann-Sein und Opfer-Sein – das passt nicht zum herrschenden Männlichkeitsbild. Ein Junge hat keine Angst, ein Junge weint nicht, ein Junge kann sich doch wehren. Es sind solche Vorstellungen gepaart mit einem Bündel homophober Vorurteile, die dazu beitragen. Stefan Port, Sozialpädagoge und Selbstbehauptungstrainer für Jungen, von der Beratungsstelle „kibs“ über Mythen, Ängste und Missverständnisse: Elke Amberg: Homosexualität und Missbrauch – von außen betrachtet werden diese Begriffe ja ganz einfach kombiniert: Schwul gleich pädophil gleich Kinderschänder. Woher kommt dieses Stereotyp? Stefan Port: Das hat zum Teil historische Gründe. Früher wurde alles in ein Kiste gepackt und als abartig abgestempelt: Homosexualität, Sodomie, Pädosexualität, sogar Oralverkehr. Meist wird es mit Halbwissen über das antike Griechenland begründet. Zum anderen Teil hängt es einfach mit Unaufgeklärtheit zusammen. Die meisten Leute denken ja auch, dass Kinder von Fremden missbraucht werden. Auch das ist eindeutig falsch. Der Großteil der Täter und Täterinnen kommt aus dem Bekanntenkreis oder der eigenen Familie. Und der Großteil der Täter sind ganz „normale“, heterosexuell lebende Männer und Familienväter. Auch diejenigen, die Jungs missbrauchen! EA: Hat das Geschlecht des Täters Einfluss auf die spätere Verarbeitung des sexuellen Missbrauchs? 2 SP: Ja, das kann mehrere Facetten haben. Der Großteil der Täter sind nach dem heutigen Stand des Wissens Männer. Der Missbrauch ist also häufig sexualisierte Gewalt eines Mannes gegen einen Jungen. Und das wird von außen als ein Akt schwuler Sexualität betrachtet. In unsere Beratungsstelle kommen also Eltern, die befürchten – und das sind ihre schlimmsten Ängste! – ihr Sohn könnte aufgrund des Missbrauchs durch einen Mann schwul werden oder später selbst zum Täter werden. Mal davon abgesehen, dass die Not der Kinder hier herunter gespielt wird: Für Beides gibt es keine Belege im Sinn von Wenn-Dann! Durch Missbrauch durch einen Mann wird man nicht schwul und durch Missbrauch wird ein Junge nicht unweigerlich als Erwachsener zu einem Täter. Aber das Beispiel zeigt weit verbreitete gesellschaftliche Vorstellungen: Missbrauch an Jungen ist verknüpft mit den unterschiedlichsten Ängsten und Phantasien rund um das Thema „Schwul-Sein“. Das hat Auswirkungen auf die Helferszene und auf den betroffenen Jungen, der ja erstmal alleine da steht. Viele missbrauchte Jungen haben nicht nur massive Schuld- und Schamgefühle, sondern stellen sich, ausgelöst durch den Missbrauch, auch die Frage „Könnte-Ich-Schwul-Sein“ oder „Könnte-ich-Schwul-Werden“. Egal ob sie später hetero oder schwul leben, kann ihre sexuelle Identitätsentwicklung sehr schwierig sein. Diese „Doppelbelastung“ ist kennzeichnend für die psychischen Folgen für Jungen (im Gegensatz zu Mädchen) und stellt das zentrale Hindernis beim Hilfe holen oder sich jemandem anzuvertrauen dar. EA: Wie macht sich diese „Doppelbelastung“ bemerkbar? SP: Oft wird der eigene, zunehmend männlich werdende, Körper abgelehnt. Viele hassen ihn und denken: „Er hat damals nicht richtig reagiert.“ Vor allem dann, wenn sie vielleicht selbst eine Erektion dabei hatten. Dieses Thema taucht in den Beratungen immer wieder auf und ist ganz besonders schuld- und schambesetzt. Dazu muss man sagen: Oft werden die Jungen vorher oder währenddessen stimuliert um sie in Laune zu bringen. Sie fühlen sich erregt trotz Angst und Ekel. Das ist so ähnlich, wie wenn man anfängt aus Angst zu Singen oder zu Pfeifen, also sich gänzlich anders verhält, als man sich eigentlich fühlt. Und auch wenn solche Lustgefühle mit dem Missbrauch einhergehen, wird man davon nicht schwul! Aber es kann sich ein starkes Ablehnen bis hin zu Hass gegenüber Schwulen oder gleichgeschlechtlicher Sexualität entwickeln. Denn auch die Betroffenen interpretieren die Gewalt, die ihnen angetan wurde, als schwule Sexualität. Es gibt da so typische Situationen, insbesondere bei heterosexuellen Männern, so Anfang 20, wenn sie betrunken sind und ein Mann 3 sich ihnen annähert, tauchen dann mitunter die verdrängten Erinnerungen auf. EA: Keiner wird also schwul durch sexuellen Missbrauch, aber kann sich der Missbrauch auch auf ein späteres Coming-Out auswirken? SP: Es kann, muss aber nicht. Es kann zum Einen vorkommen, dass ein Junge von einer Frau missbraucht wurde, und in der Folge vor intimem Kontakt zu einer Frau Angst hat und nur schwule Sexualität lebt. – Lieber nimmt er das „Stigma des Schwul-Seins“ in Kauf, als Opfer von sexuellem Missbrauch geworden zu sein! In vielen Fällen ist das Coming-Out ganz normal, denn der Jugendliche unterscheidet zwischen dem was ihm an Gewalt widerfahren ist und dem, was er an sexuellen Gefühlen Richtung Männer entdeckt. Aber bei manchen Jungen kann das Coming-Out bereits früher eintreten und/oder schwieriger werden. Früher, weil einfach eine frühere Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität stattfindet. Schwieriger, weil durch die Gewalterfahrung das gesamte Selbstwertgefühl im Keller ist und die Sexualität mit einem Mann Ängste und Erinnerungen auslöst. Wer sich an sein eigenes ComingOut erinnert, kann sich vielleicht vorstellen, wie so eine „Doppelbelastung“ das Coming-Out überschattet … Manche schwule Männer fühlen sich z.B. extrem schuldig, weil sie denken, sie hätten den ansonsten „braven Familienvater“ damals durch ihr erwachendes Schwul-Sein „verführt“ – das versuchen die Täter ihnen ja auch immer einzureden. Manche Männer denken später, sie seien von dem Täter aufgrund von irgendwelchen Attributen (zart, feminin, passiv) ausgewählt worden, die darauf hinweisen, dass sie vielleicht schwul sind und der Täter habe es dadurch leichter gehabt. Andere haben später große Probleme mit der Schwulenszene, meiden sie sogar, weil sie mit der Übersexualisierung nicht zu Recht kommen. EA: Wie reagieren Eltern und Freunde angesichts dieser Vermischung von Homosexualität und Missbrauch durch einen Mann? SP: Ein 16-jähriger Betroffener hat mir erzählt, dass er anal vergewaltigt wurde und dies damals einer Klassenkameradin anvertraute. Die Reaktion: Sie stand auf und sagte „Igitt, der lässt sich in den Arsch ficken.“ Man kann sich vorstellen, wie sehr im Stich gelassen dieser Jugendliche sich fühlte! Oder, ich hatte schon den Fall, dass Eltern ihren Sohn, nachdem er missbraucht wurde, in ein Bordell gefahren haben, um ihm zu zeigen, was „richtige“ Sexualität ist. Die Verletztheit des Jungen wird ignoriert. Ein Junge 4 wird ja auch nicht so gezielt vor sexueller Gewalt geschützt, wie ein Mädchen. Wer bringt schon seinem Sohn bei, wenn er z.B. im Schwimmbad ist und ein Mann seine Badehose runterzieht und an seinem Penis rumfummelt, dann musst du den Bademeister rufen. EA: Und wie reagieren professionelle Helferinnen und Helfer? SP: Oft werden die Signale, die ein Junge aussendet nicht verstanden. Es herrschen bei Pädagogen und Therapeuten die gleichen Stereotype gegenüber Schwul-Sein und sexuellem Missbrauch, wie insgesamt in der Gesellschaft. Da ist noch viel Sensibilisierung notwendig. Wenn ein Erwachsener selbst Angst vor solchen Themen hat, wird es ihm sicher nicht gelingen, bei einem betroffenen Jungen richtig zu reagieren und feinfühlig nachzuhaken. Da findet sich auch viel Toleranz an der falschen Stelle. Einige Pädagogen deuten aus Unwissenheit sogar Situationen, die sie selbst mitkriegen, um. Da wird der Missbrauch durch einen älteren Jugendlichen als pubertäres Jungenspiel mit dem gleichen Geschlecht abgetan und nicht nach Freiwilligkeit oder Zwang gefragt. Und es gibt auch Betreuer in Jugendzentren, die sich gegen Schwule diskriminierend äußern. Wie kann ihm da ein Junge anvertrauen, dass ihn ein älterer Jugendlicher missbraucht hat? EA: Schwule Männer sind ja in mindestens gleich hohem Maß von sexuellem Missbrauch betroffen. Geht die Schwulenszene ihrer Meinung nach angemessen damit um? SP: Erstmal muss man sagen, dass sich schwule Männer, die missbraucht wurden, leichter damit tun Hilfsangebote wahr zu nehmen. Da scheinen die Auseinandersetzung mit dem Coming-Out und die entsprechenden Beratungsangebote eine Arte Brücke zu sein, Hilfe anzunehmen ist vorstellbarer. Auch ein Artikel in „Leo“ kann dazu beitragen! Heteromänner müssen da von ihren Freundinnen eher „gebracht“ werden. In der Szeneöffentlichkeit insgesamt wird das Thema allerdings eher abgetan. Da findet oftmals eine Umdeutung statt: „Mensch toll, der hat mit 7 Jahren schon den ersten Mann verführt!“ Dahinter steckt auch in der Szene Unwissen. Männlich-Sein und Opfer-Sein scheint nicht zusammen zu passen. Und die Schwulenszene ist ja auch eine Szene mit Erwachsenen, die überwiegend nur wenig mit Kindern zu tun haben. Da können solche Umdeutungen leichter greifen, die ja teils auch von den Betroffene selbst kommen – zum Selbstschutz oder weil sie den Zusammenhang zu Problemen, die sie haben, 5 nicht wahrnehmen. Was ich sehr begrüße sind Initiativen wie „Diversity“, wo Jugendlichen ein Raum geboten wird unter Gleichaltrigen die ersten Schritte zu tun. Auch das SUB hat sich zu diesem Thema qualifiziert und wir arbeiten gut zusammen. Teile der Schwulenbewegung haben sich ja auch bereits deutlich von der Pädoszene abgegrenzt. Allerdings sollte da noch mehr geschehen. Wer sich mit den subtilen und für den betroffenen Jungen oft verwirrenden Strategien auskennt, mit denen Täter vorgehen, der weiß, dass kein Kind und auch kein 12-jähriger Jugendlicher z.B. zwanglos einen 40-Jährigen oral befriedigt. Für mich gibt es keine Pädophilie oder Pädosexualität. Ich verwende den Ausdruck Pädokriminalität. Und Pädokriminalität ist keine Identität wie Schwul-Sein, die qua Selbsthilfegruppe gepflegt und von den anderen toleriert werden sollte. Im Gegenteil, noch mehr Männer sollten sich trauen und bei der Aufklärung helfen. Der weit verbreitete Jugendlichkeitswahn in der Szene darf nicht dazu verleiten, zu denken, es gehe bei Pädokriminellen um gleichberechtigten Sex mit einem jüngeren Partner, der halt noch zufällig in der Pubertät ist! EA: Vielen Dank für das Interview. © Elke Amberg, Wildwasser München e.V. Dieser Artikel wurde im Rahmen des Projektes "Talk about it! Radio gegen sexuellen Missbrauch“ verfasst. Ziel des Projekts ist es, das Thema sexuelle Gewalt zu enttabuisieren und Betroffenen zu helfen, das Schweigen und die Sprachlosigkeit zu überwinden. „Talk about it!“ ist ein Kooperationsprojekt von Radiofabrik - Freier Rundfunk Salzburg (Ö), Selbsthilfegruppe Überlebt (Ö), Radio Corax (D) und Wildwasser München e.V. (D) mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union. Weitere Artikel, Links und Radiosendungen zum Nachhören: www.talkaboutit.eu ++++++++++++++++++++ Beratung und Hilfe: kibs – Kontakt-, Information-, Beratung für männliche Opfer sexueller Gewalt (bis 21 Jahre) Kathi-Kobus-Straße 9 80797 München Tel.: (089) 23 17 16 91 – 20 E-Mail: [email protected] Internet: www.kibs.de Sub – Beratungsstelle für schwule Männer 6 Pestalozzistraße 6 80469 München Tel.: (089) 260 250 70 E-Mail: [email protected] Internet: www.subonline.org ++++++++++++++++++++ Spenden-Konto-Nummer: Kinderschutz und Mutterschutz e. V. 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