Montagsakademie – Theologische Fakultät Paderborn Sexueller Missbrauch in katholischen Einrichtungen aus Sicht des forensischen Psychiaters Prof. Dr.med. Hans-Ludwig Kröber Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Charité - Universitätsmedizin Berlin Oranienburger Straße 285 (Haus 10) 13437 Berlin www.forensik-berlin.de 0. Die Missbrauchskampagne im Frühjahr 2010 – was ist neu? Es gibt seit gut 20 Jahren immer wieder intensive Medienkampagnen zum sexuellen Missbrauch. Was war im Frühjahr 2010 überhaupt neu? Frühere 80er Jahre: Realtrauma statt phantasierter Verführung (Freud). Feministische Institute gegründet zur Missbrauchsaufdeckung (Zartbitter, Wildwasser etc) Frühere 1990er Jahre: „Sensibilisierung von Erzieherinnen und Lehrern für „Aufdeckungsarbeit“ 1993 Katharina Rutschky „Der Missbrauch mit dem Missbrauch“ 1993-1995 Montessori-Prozess: Rainer Möllers, Kindergartenerzieher, soll als Mitglied einer pornographische Filme herstellenden Bande innerhalb von acht Jahren in 55 fortgesetzten Handlungen Kinder sexuell mißbraucht, mißhandelt und gequält haben. 1994 „Massenmissbrauch“ in Worms 1996 Dutroux, mehrere Kindermorde in Deutschland im Herbst 1996 Juli 1997 Letztes Urteil Landgericht Mainz im „Wormser Missbrauchsprozeß“ 1998 massive Strafrechtsverschärfungen wegen Verdeckungsmorden an Mädchen: Verschärfung der Strafmaße, Erleichterung der Sicherungsverwahrung, Entfristung der Sicherungsverwahrung, Ausbau der Nebenklage Große Medienkampagnen im „Stern“ (große ungepixelte Täterbilder) und anderswo, zahllose Talkshows, Gründung weiterer Opfer- und Präventionsorganisationen Ausbau von Therapieeinrichtungen Massiver Ausbau der Sozialtherapien im Strafvollzug. Juli 2001 Gerhard Schröder: Wegsperren, und zwar für immer! (angesichts des Falles Ulrike, Eberswalde bzw. der Arbeitslosenzahlen von über 4 Mio) Neu war im Frühjahr 2010 allein die anvisierte Tätergruppe: katholische Priester und Ordensleute, sodann auch sog. Reformpädagogen. I. Täter sexuellen Missbrauchs Wie häufig ist sexueller Missbrauch und wie wird er bestraft? Manchen Journalisten, die jetzt von Dunkelfeldzahlen berichten, erinnern anscheinend nicht, dass wir die Dunkelfeld-Debatte schon mehrmals hatten, am heftigsten in den frühen 90er Jahren. - Was wissen wir zu den Formen und Ursachen sexueller Übergriffe auf Kinder? II. Katholische Funktionsträger als Täter - Gibt es eine "natürliche Sexualität" Erwachsener und verhindert diese Straftaten? Macht Zölibat pädophil? Sind Singles Sexualverbrecher im Wartestand? - Welche Zusammenhänge zwischen den Strukturen der kathol. Kirche bzw. Kirchlicher Schulen/Einrichtungen und Missbrauchsdelikten gibt es? III. Vom Umgang mit Tätern - Sexuelle Übergriffe durch katholische Funktionsträger sind in den letzten 20 Jahren zur Rarität geworden. Was sollte man bei den Tätern der 1960er bis 1980er Jahre bedenken? - Welche Probleme hat die kath. Kirche heute bzw. in den letzten Jahren (nicht 1950 ff.) im Umgang mit Verdachtsfällen? - Was soll man mit Priestern tun, die ihre Strafe bezahlt oder verbüßt haben oder die sich einer Therapie unterzogen haben? Vor allem aus der Kirche entlassen und der Verantwortung für sie ledig werden? IV. Opfer - „Opferschutz geht vor Täterschutz“ (Merkel) - gibt es in Deutschland Täterschutz? Sollten Beschuldigte das Recht haben, über die konkreten Vorwürfe gegen sie aufgeklärt zu werden? Gibt es die Unschuldsvermutung auch bei Priestern? Muss man allen angeblichen Opfern „bedingungslos glauben“? - Ist jedes Opfer danach psychisch gestört, welche Unterschiede gibt es? Vergisst man sexuellen Missbrauch? - Darf und muss man Forderungen an die Opfer stellen? Darf man Mithilfe bei Sachaufklärung verlangen, oder genügt bei sex. Missbrauch ein Verdacht zur Verurteilung? Können Kinder das? - Konsequenzen aus den Taten 1960 bis 1980 im Jahr 2010? Psychische und psychosomatische Folgen von Gewalt und sex. Missbrauch Hans-Ludwig Kröber Wer ist das Opfer? Wer ist der Täter? Der Täter ist bekannt, man hat eine Beziehung zum Täter, die oft auch nach der Tat nicht abreißt. Es geht weiter. Wer sind die Dritten? Opfer: - Kind, Kinder - Partner - alte Menschen - sonstige Familienangehörige Ist der Täter/die Täterin kontinuierlich dominant, oder geht es um punktuelle Durchbrüche von Gewalt (und Rache)? „Opfer“ sein kann sehr Unterschiedliches bedeuten. „Opfer“ sein kann sehr unterschiedliche Gesundheitsfolgen haben. Cave: „Opfer“ zu sein hat gegenwärtig relativ hohes Sozialprestige. Wer „Opfer“ ist, ist auf der moralisch überlegenen Seite. Wer zuerst erklärt, er sei das Opfer, hat Vorteile. Juristisch steht erst beim Urteil fest, wer Opfer war. Es gibt keine spezifischen psychischen Folgen von „Opfersein“. Selbst bei gesicherten massiv traumatisierenden Situationen (Katastrophen, intensive, langdauernde Angstsituationen, erlebte Vergewaltigung, Qual, langdauernde Schmerzen) ist das Spektrum der individuellen Bewältigungsformen und der mittel- und langfristigen Folgen recht breit. Posttraumatische Belastungsstörungen treten keineswegs bei jedem und keineswegs uniform auf. Es gibt insbesondere keine Möglichkeit, von einer psychischen Störung ausgehend zu rekonstruieren, ob ein Trauma vorgelegen hat und welcher Art dies Trauma gewesen sein muß (z.B. sexuelle Gewalt). Mögliche psychische Folgen Depressive Störungen Psychosomatische Beschwerden Ausweichen und kompensatorischer Aufbau von Gewaltkompetenz und Stärke Ausweichen und kompensatorischer Konsum von Drogen oder Alkohol Ausweichen und kompensatorische Pflege sadistischer Rachephantasien Selbstkonzeptwandel zum Looser „Posttraumatische“ Störungsbilder Wiederherstellung von Autonomie Auch wenn manche (Opfer und Angehörige) eine große Neigung dazu haben: Opfer geworden zu sein, befreit nicht davon, daß man für sich selbst und andere weiterhin Verantwortung zu tragen hat. Opfer geworden zu sein, darf nicht zur Scheinerklärung aller Schwierigkeiten werden. Opfer geworden zu sein, darf nicht zur dauerhaften Regression führen. Insbesondere Kinder darf man nicht auf die Opferrolle festlegen. Die Therapie gegenüber Gewaltopfern (vom Kind bis zum Greis) hat vor allem darauf zu fokussieren, die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung dieser Menschen zu wahren und ggf. wiederherzustellen. Besteht Therapie-Notwendigkeit? Therapie nach dem Erleben von Gewalt oder sexueller Gewalt ist stets Hilfe zur Selbsthilfe Es ist nicht stets Therapie erforderlich. Wenn Therapie, müssen ihre Vorteile die Nachteile überwiegen. Wer Hypnose-Verfahren wie EMDR anwendet, muß wissen, was er tut. Insbesondere Kinder nur dann zu Patienten machen, wenn es gar nicht anders geht. Alternativen bedenken! Sich opfern als sozialer Einsatz Es gibt Frauen (auch einzelne Männer), die immer wieder Beziehungen zu gewalttätigen Männern eingehen. Sie werden immer wieder geschlagen. Warum tun sie das? Früher haben sich junge Männer fürs Vaterland geopfert. Sich opfern als neurotisches Fehlverhalten. Langfristige Folgen von innerfamiliärer Gewalt: Geschlagene Kinder erleiden nicht zwangsläufig psychische Dauerschäden. Aber: Kinder, die geschlagen wurden oder Gewalt zwischen Elternpersonen miterlebten, werden als Erwachsene mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit ebenfalls Partner und Kinder schlagen. Sie werden auch wesentlich häufiger mit Gewaltdelikten (v.a. Körperverletzung) als Jugendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene auffällig. Gewalt desensibilisiert gegen Gewalt. Man erträgt sie leichter, und man wendet sie leichter an.