Die eigene Stärke entwickeln - Jede Minute ohne Schmerz ist Leben

Werbung
Die eigene Stärke entwickeln
Missbrauch? „Das betrifft mich doch nicht“, glaubte Marion L.
lange Zeit. Dass ihre chronischen Schmerzen tief in ihrer
verletzten Kinderseele wurzeln, erkannte sie erst, als eine
Rundfunksendung sie auf den Zusammenhang von Schmerz du
Missbrauch stieß. Als elfjähriges Mädchen war sie von ihrem
Nachbarn sexuell missbraucht worden. Mit keinem Menschen
hatte sie damals über das schreckliche Erlebnis gesprochen –
auch nicht mir ihrer Mutter „Die war doch selbst total
überfordert“, erinnert sich die heute 45-jährige.
Experten wissen schon lange, dass sexuelle, körperliche du
seelische Misshandlung Gesundheit, Lebensqualität und das
Schmerzempfinden negativ beeinflussen.
„Missbrauch jeder Art ist ein großes gesellschaftliches Problem.
Noch schlimmer ist aber, dass keiner darüber spricht“, sagt Dr.
Gerhard Müller-Schwefe, Präsident des Schmerztherapeutischen
Kolloquiums – Deutsche Schmerzgesellschaft. In Deutschland
werden laut einer Studie der Universität Essen 25 Prozent der
Mädchen und sechs Prozent der Jungen missbraucht. Für viele
Frauen ist Gewalt in Beziehung oder Ehe fast alltäglich, jede
vierte wird im Laufe ihres Lebens Opfer einer Vergewaltigung.
Welche Auswirkungen Gewalterfahrungen auf Körper und Seele
haben, belegen neuere britische und amerikanische Studien:
Bis zu 60 Prozent der chronischen Schmerzpatienten sind in
ihrer Kindheit körperlich, sexuell oder seelisch misshandelt
worden. Auf Deutschland übertragen würde dies bedeuten, dass
bis zu sieben der insgesamt elf Millionen chronisch
Schmerzkranken nicht nur Gewalt erfahren haben, sondern
auch unter einer „blutenden Seele“ leiden.
Vergewaltigung geht aus Sicht von Medizinern, Psychologen
und Beratungsstellen weit über das klassische Bild hinaus, dass
ein Mann eine junge Frau zum Sex zwingt. Das individuelle
Erleben eines Kindes oder einer Frau entscheidet darüber, ob
ein Missbrauch geschehen ist. „Jedes Verhalten, dass in die
Selbstbestimmung,
Entwicklung
und
Intimsphäre
eines
Menschen eingreift, ist für mich Gewalt“, erklärt Müller-
Schwefe. Das kann bedeuten, dass der Täter nicht nach dem
Willen und Wohlbefinden der Betroffenen fragt oder ein
Abhängigkeitsverhältnis ausnutzt. Die Ergebnisse sind jedoch
erschreckend ähnlich: Das Selbstbewusstsein und die
Persönlichkeit bekommen einen gehörigen „Knacks“.
Wer über weniger persönliche Stärke verfügt, kann auch mit
Schmerzen
schlechter
umgehen.
Die
so
genannte
Schmerzkontrolle des Körpers geht verloren. Das beobachten
Wissenschaftler besonders bei Fibromyalgie - Patienten. Ihnen
tut einfach alles weh, ohne dass ihr Leiden diagnostizierbare
körperliche Ursache hätte.
Auslöser für die Schmerzkarriere der zumeist weiblichen
Patienten, berichtet Müller-Schwefe, Schmerztherapeut mit
eigener Praxis im schwäbischen Göppingen, „sind häufig
gynäkologische Operationen, Unfälle oder andere physische
Traumen“. Konfrontiert mit Schmerzen versagt dann das
Schmerzkontrollsystem. Für diese Menschen ist die Grenze der
Belastbarkeit überschritten. Fast immer wurden sie als Kinder
missbraucht oder zum Beispiel als ältestes Kind in der Familie
extrem überfordert, wie aus Berichten von Selbsthilfegruppen
hervorgeht.
Weitere Erkrankungen, die vermehrt als (Spät-) Folgen von
Missbrauch
und
Gewalt
auftreten,
sind
chronische
Rückenscherzen, verschiedene Kopfschmerzformen sowie
unklare Bauch- und Unterleibsschmerzen. Dabei können die
Schmerzen in späteren Jahren an anderen Organen auftreten,
als sie bei der Misshandlung erfahren wurden. Das Leid
vergrößert sich noch durch Fehldiagnosen. Es ist keine
Seltenheit, dass Betroffene zuerst einmal mit der Diagnose
„Begatellerkrankung“ abgespeist werden, sagt Müller-Schwefe,
obwohl sich ihre Beschwerden mit der Zeit eher verschlimmern.
Neben der Schmerzsymptomatik leiden Opfer von Missbrauch
und Gewalt vermehrt unter psychischen Erkrankungen, etwa
Depression oder Angststörungen. Zudem entstehen, wenn der
Missbrauch nicht erkannt wird, enorme Kosten durch häufige
Besuche bei Ärzten und deutlich erhöhte Operationsraten.
Allerdings gibt es keine Merkmale, die den behandelnden Arzt
unmittelbar
auf
sexuelle,
körperliche
oder
seelische
Misshandlung schließen lassen. „Im Gegenteil: Betroffene fallen
eher positiv auf und funktionieren perfekt in ihrem Alltag“, weiß
Müller-Schwefe. Doch in anbetracht der großen Häufigkeit
sollten Therapeuten bei Patienten mit chronischen Schmerzen
eine Traumatisierung nicht ausschließen.
Die Erkenntnis „ich bin missbraucht worden“ trifft viele
Menschen wie ein Schock. Doch sie sollte keine Sackgasse sein,
empfiehlt Müller-Schwefe, sondern vielmehr zu neuer
Lebensqualität verhelfen: „Endlich gibt es einen Anhaltspunkt
für die chronischen Schmerzen. In der Therapie ist es wichtig,
nach vorne zu schauen. Die Patienten sollten Selbstvertrauen
erlernen
und
eigene
Stärke
entwickeln.“
Entspannungstechniken
und
Verhaltenstherapien
zur
Stressbewältigung können dabei sinnvolle Schritte sein. Den
meisten Erfolg verspricht eine kombinierte Therapie, in der
Körper und Seele als Einheit gesehen und zusammen behandelt
werden. Dazu gehören der Einsatz moderner Schmerzmittel
ebenso wie psychologische Strategien.
„Wer durch Missbrauch schwere Verletzungen erlebt hat, ist
zutiefst verunsichert und braucht echtes Mitgefühl.“ Von
tiefenpsychologischen Therapien nach dem Motto „zurück in
den Uterus“ rät Müller-Schwefe allerdings strikt ab: „Gerade
das intensive Besprechen und wiederholte Durcharbeiten der
Traumata kann die Betroffenen überlasten und überfordern.“
Weitere Informationen im Internet:
Bundesarbeitsgemeinschaft für Prävention und Prophylaxe:
www.praevention.org
Bundesvernetzungsstelle
autonomer
Frauennotrufe mit Adressen und Telefonnummern in Ihrer
Nähe: www.frauennotruf.de
Dieser Bericht ist Titelthema aus der Nova 2/2002.
Herunterladen