16 vita INTERVIEW· DR. GERHARD MÜLLER-SCHWEFE "Der Mensch ist ein Lauftier und auf Bewegung angewiesen" Die Muskulatur ist schuld am schmerzhaften Rücken, aber nicht nur - vitawell-Redakteurin Petra Biebrich hat bei Dr. Gerhard MüllerSchwefe, Leiter des Schmerzzentrums DGS in Göppingen, nachgefragt. Wo kommt der schmerzhafte Rücken her? DR. MÜLLER-SCHWEFE: Die häufigste Ursache für Rückenschmerzen liegt in der Muskula tur des Rückens sowie in den Kreuz-Darmbein-Gelenken, der Verbindung vom Ende der Wirbelsäule mit dem Becken. Hier kommt es häufig zu Funktionsstörungen der Bänder, der Muskulatur und dann zu ganz akuten Schmerzen. Werden diese Schmerzen nicht frühzeitig und effektiv behandelt, drohen sie chronisch zu werden, dann bestehen sie oft überlange Zeit weiter, und weitere Strukturen der körperaufrichtenden Muskulatur und des gesamten körperaufrichtenden System werden mit einbezogen. Wie kann man die Ursache des Rückenschmerzes feststellen? MÜLLER-SCHWEFE: Sorgfältige Rückenschmerzdiagnostik fängt bei der ausführlichen Befragung des Patienten an. Die Schmerzqualität (brennend oder einschießend oder drückend) gibt bereits Auskünfte über die Ursache, ebenso wie die Frage, ob die Schmerzen ganz plötzlich angefangen haben oder sich allmählich entwickelt haben. Als nächstes kommt immer die sorgfältige körperliche Untersuchung, bei der sowohl die Funktion des Bewegungssystems, der Muskel und Bänder untersucht wird als auch die Funktion der einzelnen Nerven. Hier ist es wichtig, Gefühlsstörungen zu erkennen, Abschwächungen der Muskelkraft wie auch die Muskelreflexe zu untersuchen. Entsteht bei dieser Untersuchung der Verdacht, dass Druck auf eine Nervenwurzel, beziehungsweise durch einen Bandscheibenvorfall, die Ursache ist, folgt eine bildgebende Untersuchung (Computertomogramm, Kernspintomogramm), um zu klären, ob dies der Hintergrund ist. Allerdings spielt die Band- Dr. Gerhard Müller-Schwefe ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie und Leiter des Schmerzzentrums DGS in GÖppingen. Foto: Archiv/ H-H Bauer scheibe eine untergeordnete Rolle bei Rückenschmerzen, nur zwei von 1000 Rückenschmerzpatienten leiden aufgrunavon Bandscheibenveränderungen an Rückenschmerzen. Selbst wenn man im Computertomogramm einen Bandscheibenvorfall sieht, heißt das noch lange nicht, dass er auch für Schmerzen verantwortlich ist. Dies spielt nur eine Rolle, wenn tatsächlich eine Nervenwurzel unter Druck gerät, die Schmerzen sind dann typischerweise einschießend, elektrisierend und es gibt Gefühlsstörungen, Kribbeln. Ist der Schmerz einmal da, helfen dann Cremes, Salben und Tabletten wie oft in der Werbung versprochen? MÜLLER-SCHWEFE: Wichtiger als alle Cremes und Salben ist es, in Bewegung zu bleiben. .Das RuhigstelIen der Rückenmuskulatur führt dazu, dass die Muskulatur sich weiter verkürzt und Schmerzen verstärkt werden. Bei verspannter Muskulatur können wärmende Cremes und Salben tatsächlich wohltuend wirken, auch Tabletten können wirksam sein. Dies sind allerdings nicht die "normalen" entzündungshemmenden Schmerzmittel wie Diclofenac und Ibuprofen oder ASS, sondern Medikamente, die die Muskelspannung reduzieren, beziehungsweise Nervenzellen, die übererregbar geworden sind, stabilisieren. Wann ist es Zeit zum Arzt zu gehen, und welche Möglichkeiten tun sich dann auf? MÜLLER-SCHWEFE: lmmer wenn es zu Gefühlsstörungen kommt, zu Störungen der Muskelkraft oder zu Störungen der Blasen- und Darmfunktion oder auch, wenn Rückenschmerzen länger als 14 Tage bestehen, ist es Zeit, zum Arzt zu gehen, um eine sorgfaItige Diagnostik zu erhalten. Die Möglichkeiten der Therapie beruhen auf der sorgfältigen und gründlichen Erhebung der Vorgeschichte und der sorgfältigen körperlichen und neurologischen Untersuchung. Was kann man im Vorfeld tun, damit scho-n gar kein Schmerz entsteht? MÜLLER-SCHWEFE: Der Men's ch als Lauftier hat eine Muskulatur, die auf Be~egung angewiesen ist. Die moderne Lebens- und Arbeitsweise hat uns leider zum Sitztier degradiert. Die auf Bewegung konstruierte Muskulatur vollbringt überwiegend Haltearbeit und verkürzt sich dabei häufig. Deshalb ist es extrem wichtig, jeden Tag regelmäßig Bewegung zu haben, nicht nur einmal am Tag eine halbe Stunde Fitness, sondern beispielsweise während der Arbeit auch 'immer wieder aufzustehen, den Drucker außer Reichweite zu stellen, dass man nach dem Drucken aufstehen und sich bewegen muss und auch immer wieder Treppen zu laufen und nicht lang anhaltende Sitzungen durchzuführen, sondern höchstens eine Stunde am Stück zu sitzen. Die beste Vorbeugung ist also regelmäßige Bewegung, wobei es keine isolierte Sportart gibt, die zu empfehlen ist, Hauptsache es macht Spaß. Krankenkassen, Fitness-Studios, VHS und viele mehr bieten Rückenkurse an, was halten Sie davon? Einmal die Woche' den Rücken stärken, genügt das? MÜLLER-SCHWEFE: Rückenkurse können hilfreich sein, wenn man ganz gezielt Probleme angehen muss, zum Beispiel eine Fehlhaltung oder einseitige Belastung. Einmal die Woche den Rücken zu stärken, das genügt allerdings nicht. Wir brauchen täglich Bewegung, weil unsere gesamte Muskulatur die Wirbelsäule stabilisiert, dazu gehört auch die Bauchmuskulatur. Gibt es einen speziellen Tipp von Ihnen, damit erst gar keine Rückenprobleme auftauchen? MÜLLER-SCHWEFE: Auch wenn wir älter werden und Gelenke und Organe abgenützt werden, gibt es zwei Bereiche beim Menschen, die mit Benützung besser werden: das Gehirn und die Muskulatur werden durch Gebrauch jedes Mal noch besser. Beides jeden Tag zu gebrauchen garantiert Lebensfreude und Schmerzfreiheit auch noch im hohen Alter.