Der Mensch ist ein Lauftier und auf Bewegung angewiesen

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INTERVIEW· DR. GERHARD MÜLLER-SCHWEFE
"Der Mensch ist ein Lauftier und auf Bewegung angewiesen"
Die Muskulatur ist schuld
am schmerzhaften Rücken,
aber nicht nur - vitawell-Redakteurin Petra Biebrich
hat bei Dr. Gerhard MüllerSchwefe, Leiter des
Schmerzzentrums DGS in
Göppingen, nachgefragt.
Wo kommt der schmerzhafte
Rücken her?
DR. MÜLLER-SCHWEFE: Die
häufigste Ursache für Rückenschmerzen liegt in der Muskula tur des Rückens sowie in den
Kreuz-Darmbein-Gelenken,
der Verbindung vom Ende der
Wirbelsäule mit dem Becken.
Hier kommt es häufig zu
Funktionsstörungen der Bänder, der Muskulatur und dann
zu ganz akuten Schmerzen.
Werden diese Schmerzen nicht
frühzeitig und effektiv behandelt, drohen sie chronisch zu
werden, dann bestehen sie oft
überlange Zeit weiter, und weitere Strukturen der körperaufrichtenden Muskulatur und
des gesamten körperaufrichtenden System werden mit einbezogen.
Wie kann man die Ursache des
Rückenschmerzes feststellen?
MÜLLER-SCHWEFE: Sorgfältige Rückenschmerzdiagnostik
fängt bei der ausführlichen Befragung des Patienten an. Die
Schmerzqualität
(brennend
oder einschießend oder drückend) gibt bereits Auskünfte
über die Ursache, ebenso wie
die Frage, ob die Schmerzen
ganz plötzlich angefangen haben oder sich allmählich entwickelt haben. Als nächstes
kommt immer die sorgfältige
körperliche Untersuchung, bei
der sowohl die Funktion des Bewegungssystems, der Muskel
und Bänder untersucht wird
als auch die Funktion der einzelnen Nerven. Hier ist es wichtig, Gefühlsstörungen zu erkennen, Abschwächungen der Muskelkraft wie auch die Muskelreflexe zu untersuchen. Entsteht
bei dieser Untersuchung der
Verdacht, dass Druck auf eine
Nervenwurzel,
beziehungsweise durch einen Bandscheibenvorfall, die Ursache ist,
folgt eine bildgebende Untersuchung (Computertomogramm,
Kernspintomogramm), um zu
klären, ob dies der Hintergrund
ist. Allerdings spielt die Band-
Dr. Gerhard Müller-Schwefe ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für
Schmerztherapie und Leiter des Schmerzzentrums DGS in GÖppingen.
Foto: Archiv/ H-H Bauer
scheibe eine untergeordnete
Rolle bei Rückenschmerzen,
nur zwei von 1000 Rückenschmerzpatienten leiden aufgrunavon Bandscheibenveränderungen an Rückenschmerzen. Selbst wenn man im Computertomogramm einen Bandscheibenvorfall sieht, heißt das
noch lange nicht, dass er auch
für Schmerzen verantwortlich
ist. Dies spielt nur eine Rolle,
wenn tatsächlich eine Nervenwurzel unter Druck gerät, die
Schmerzen sind dann typischerweise einschießend, elektrisierend und es gibt Gefühlsstörungen, Kribbeln.
Ist der Schmerz einmal da, helfen dann Cremes, Salben und
Tabletten wie oft in der Werbung versprochen?
MÜLLER-SCHWEFE: Wichtiger als alle Cremes und Salben
ist es, in Bewegung zu bleiben.
.Das RuhigstelIen der Rückenmuskulatur führt dazu, dass
die Muskulatur sich weiter verkürzt und Schmerzen verstärkt
werden. Bei verspannter Muskulatur können wärmende
Cremes und Salben tatsächlich
wohltuend wirken, auch Tabletten können wirksam sein. Dies
sind allerdings nicht die "normalen" entzündungshemmenden Schmerzmittel wie Diclofenac und Ibuprofen oder ASS,
sondern Medikamente, die die
Muskelspannung reduzieren,
beziehungsweise Nervenzellen, die übererregbar geworden
sind, stabilisieren.
Wann ist es Zeit zum Arzt zu gehen, und welche Möglichkeiten
tun sich dann auf?
MÜLLER-SCHWEFE:
lmmer
wenn es zu Gefühlsstörungen
kommt, zu Störungen der Muskelkraft oder zu Störungen der
Blasen- und Darmfunktion
oder auch, wenn Rückenschmerzen länger als 14 Tage
bestehen, ist es Zeit, zum Arzt
zu gehen, um eine sorgfaItige
Diagnostik zu erhalten. Die
Möglichkeiten der Therapie beruhen auf der sorgfältigen und
gründlichen Erhebung der Vorgeschichte und der sorgfältigen körperlichen und neurologischen Untersuchung.
Was kann man im Vorfeld tun,
damit scho-n gar kein Schmerz
entsteht?
MÜLLER-SCHWEFE:
Der
Men's ch als Lauftier hat eine
Muskulatur, die auf Be~egung
angewiesen ist. Die moderne
Lebens- und Arbeitsweise hat
uns leider zum Sitztier degradiert. Die auf Bewegung konstruierte Muskulatur vollbringt
überwiegend Haltearbeit und
verkürzt sich dabei häufig. Deshalb ist es extrem wichtig, jeden Tag regelmäßig Bewegung
zu haben, nicht nur einmal am
Tag eine halbe Stunde Fitness,
sondern beispielsweise während der Arbeit auch 'immer
wieder aufzustehen, den Drucker außer Reichweite zu stellen, dass man nach dem Drucken aufstehen und sich bewegen muss und auch immer wieder Treppen zu laufen und
nicht lang anhaltende Sitzungen durchzuführen, sondern
höchstens eine Stunde am
Stück zu sitzen. Die beste Vorbeugung ist also regelmäßige
Bewegung, wobei es keine isolierte Sportart gibt, die zu empfehlen ist, Hauptsache es
macht Spaß.
Krankenkassen,
Fitness-Studios, VHS und viele mehr bieten
Rückenkurse an, was halten Sie
davon? Einmal die Woche' den
Rücken stärken, genügt das?
MÜLLER-SCHWEFE: Rückenkurse können hilfreich sein,
wenn man ganz gezielt Probleme angehen muss, zum Beispiel eine Fehlhaltung oder einseitige Belastung. Einmal die
Woche den Rücken zu stärken,
das genügt allerdings nicht.
Wir brauchen täglich Bewegung, weil unsere gesamte Muskulatur die Wirbelsäule stabilisiert, dazu gehört auch die
Bauchmuskulatur.
Gibt es einen speziellen Tipp
von Ihnen, damit erst gar keine
Rückenprobleme auftauchen?
MÜLLER-SCHWEFE:
Auch
wenn wir älter werden und Gelenke und Organe abgenützt
werden, gibt es zwei Bereiche
beim Menschen, die mit Benützung besser werden: das Gehirn und die Muskulatur werden durch Gebrauch jedes Mal
noch besser. Beides jeden Tag
zu gebrauchen garantiert Lebensfreude und Schmerzfreiheit auch noch im hohen Alter.
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