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NZFam 13/2016
Kircher, Gefährdung aus psychiatrischer Sicht
Aufsätze
Dr. med. Bettine Kircher*
Gefährdung des Kindeswohls aus kinder- und
jugendpsychiatrischer Sicht
Ein Kind und Heranwachsender ist immer Teil seines individuellen Bezugsrahmens. Um die Frage zu beantworten, ob
die Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen gefährdet
ist, ist mit der kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnostik
auch die Betrachtung seiner individuellen Beziehungsdynamik verbunden. Obwohl diese Dynamik schwer zu objektivieren ist, soll sie in der folgenden Übersicht besonderes
Gewicht bekommen.
I. Der Begriff des Kindeswohls
Das Bemühen, den Begriff des Kindeswohls unserer gutachterlichen Tätigkeit zugrunde zu legen und als wissenschaftlich begründbares Kriterium zu nutzen, ist zwar notwendig,
birgt aber die Gefahr, dass wir zwar eine Norm des Kindeswohls unter verschiedenen Gesichtspunkten formulieren
können, jedoch damit immer in einer verallgemeinernden
Begrenzung bleiben, die der Individualität des einzelnen Lebens, mit der wir es in unserer Arbeit zu tun haben, nicht
gerecht werden kann. Die Besonderheit einer einzelnen Biographie sprengt immer wieder die Gesetzmäßigkeiten von
Entwicklungs- und Heilungsprozessen.
Dennoch sind wir in der Sachverständigentätigkeit gezwungen, die Einzigartigkeit einer individuellen Notsituation unter normative Gesichtspunkte unterzuordnen, um zu einer
rechtlichen Entscheidung beizutragen. Zwangsläufig führt
dies zu den häufig entstehenden Widersprüchen zwischen
den verschiedenen Sichtweisen und Einschätzungen aller an
der Entscheidungsfindung mitwirkenden Professionen darüber, was am ehesten dem Kindeswohl entspreche. Diese Widersprüche könnten als Chance genutzt werden, um die
Komplexität einer Lebenskrise, die die Frage nach der Kindeswohlgefährdung immer darstellt, auch so komplex und
vielseitig wie möglich zu betrachten, und um einer nicht
absolut richtigen, aber einer bestmöglichen Entscheidung
näher zu kommen.
Dettenborn1 definiert das Kindeswohl aus psychologischer
Sicht als „die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes oder Jugendlichen günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingungen“.
Die Gestaltung dieses Gleichgewichts zwischen Führung,
Versorgung und Schutz sowie zugleich Stärkung der Autonomie eines Kindes ist Aufgabe, aber auch Freiheit der Sorgeberechtigten und des Familiensystems.
Je jünger die Kinder sind, umso geschützter und abgeschlossener nach außen ist das Familiengefüge. Erst mit zunehmenden Sozialkontakten der Kinder, den Integrationsmöglichkeiten außerhalb der Familie und der Schulpflicht entstehen
mehr und mehr Regulationen durch die Außenwelt, jedoch
auch mehr Einblick, Kontrolle und Kritik an der Art und
Weise, wie die jeweilige Familie das Wohl ihres Kindes definiert und gestaltet bis zum Extremfall, in dem der Staat als
Wächter und Vertreter definierter Normen in die Dynamik
eingreifen muss.
Während es bei der positiven Definition des Kindeswohls
noch um Gestaltung, Optimierung, Orientierung oder Regelung durch entsprechende unterstützende Maßnahmen geht,
entsteht bereits durch die Frage nach der Gefährdung des
Kindeswohls eine neue Dynamik. Die bisherige natürliche
Autorität und Autonomie der Eltern des Kindes wird in
Frage gestellt und an einer Norm gemessen, die von den
unterschiedlichsten Wertesystemen, professionellen Erfahrungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, juristischen Vorgaben, aber auch subjektiven Interpretationen geprägt ist.
Diese Infragestellung der Erziehungskompetenz der Eltern
stört das Beziehungsgefüge Familie grundlegend.
Nicht nur die Eltern werden in ihrer Kompetenz, ihre Erziehung zu gestalten, angezweifelt, was zu einer Krise führen
muss; auch das Kind wird in seinem Selbstwert beschädigt,
wenn die Mutter oder der Vater, die bisher als Garant der
eigenen Entwicklung galten, nicht mehr als solche wahrgenommen werden können. Denn unabhängig davon, was
ein Kind in der Beziehung zu seinen Eltern erlebt, selbst
wenn es Schmerzen, Traumatisierungen, Verunsicherungen
oder Vernachlässigungen erlebt; es hat – zumindest in den
ersten Lebensjahren – nicht den distanzierten Blick einer
Norm auf seine Eltern, die etwas „falsch“ machen. Es kennt
keine Alternative, ist identifiziert mit seinen Eltern und wird
zumindest in den ersten Lebensjahren das Primat seiner Eltern nicht in Frage stellen, selbst wenn es sich schlecht fühlt
und seine eigene Entwicklung bedroht ist.
Oft ist sogar die Identifizierung mit einem Elternteil, bei dem
ein Kind belastende, verunsichernde oder gar quälende Erfahrungen macht, größer, als bei Kindern, die überwiegend
positive und entwicklungsfördernde Erfahrungen machen,
da bei ersteren die Angst vor Verlust, das Erleben der Unsicherheit der Beziehung und die Sorge um den selbst instabilen Erwachsenen groß und dominant sein kann. Wird nun
von außen in dieser krisenhaften Situation die Mutter oder
der Vater in seiner Kompetenz in Frage gestellt, so wird auch
die im Kind verinnerlichte Repräsentanz der Mutter oder des
Vaters destabilisiert und der Selbstwert erschüttert.
Auch wenn die Notwendigkeit besteht, das Kind von den
Sorgeberechtigten zu trennen, und ein Schutz nicht anders
geregelt werden kann, bedeutet die Herausnahme eines Kindes aus seinem Bezugssystem einen Bruch, durch den alle
Beteiligten verletzt werden. Einschneidend ist nicht nur der
Verlust der Beziehung, sondern die Verletzung der eigenen
Persönlichkeit, weil den Eltern in ihrer Elternrolle ein Versagen zugeschrieben wird und das Kind in seinem Wunsch
nach Identifizierung mit Mutter und/oder Vater verunsichert
wird.
II. Was kann aus kinder- und jugendpsychiatrischer
Sicht zur Kindeswohlgefährdung führen?
1. Frühe Störungen
Die frühen Störungen fallen noch kaum in den Bereich der
Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich möchte sie hier dennoch
erwähnen, weil sie häufig Anlass zu Kindeswohlgefähr*
1
Die Autorin ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin in München.
Dettenborn, Kindeswohl und Kindeswille, 2010.
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dungsmeldungen geben und häufig auch zu übereilten Entscheidungen darüber führen, das Kind fremdunterzubringen.
die Erkrankung des Kindes so gravierend sind, dass an eine
Kindeswohlgefährdung gedacht werden muss.
Bei Kindern unter zwei Jahren lässt sich eine psychiatrische
Diagnostik nur schwer durchführen. In diesem Alter ist es
eher Aufgabe des Pädiaters, der als erster mit den Störungen
früher Eltern-Kind-Interaktion konfrontiert ist, den Gesundheitszustand zu beurteilen. In dieser frühen Phase zeigen sich
Störungen der Versorgung in Form von frühen Regulationsund Kommunikationsstörungen (zB Fütterstörungen, Gedeihstörungen, wiederholtes und anhaltendes Schreien,
Schlafstörungen etc).
Selbst bei gravierenden Störungen in der Interaktion zwischen Eltern und Kind sollte zunächst immer intensiv geprüft
werden, welche Umstellungs- und Entwicklungsmöglichkeit
die Bezugsperson auf Grund ihrer Vorgeschichte, ihrer Erkrankung, ihrer Persönlichkeit und ihrer Motivation hat.
Bei diesen Auffälligkeiten kann es sich um vorübergehende
Symptome handeln, die nicht gravierend einzuschätzen sind
und in der Normabweichung jeder Kindesentwicklung liegen. Dennoch verunsichern sie die Eltern-Kind-Beziehung
erheblich. Es sind basale Bedürfnisse aller Eltern, ihr Kind,
beruhigen, ernähren und fördern zu können. Gelingt dies
nicht, dann wird möglicherweise das Beruhigen, das Ernähren forciert, was ein Abwehrverhalten des Kindes erzeugt,
und schon ist ein Teufelskreis entstanden, der von Schuldgefühlen, Verunsicherung, Wut und Hilflosigkeit geprägt ist.
Stabile und selbstsichere Eltern werden sich in diesem Fall
Hilfen holen, können diese annehmen und davon profitieren.
Selbstunsichere Eltern, kranke, isolierte Eltern werden sich
schwerer tun, Hilfen in Anspruch zu nehmen, was die negative Dynamik verstärken und zu zunehmender Anspannung
führen kann. Als Ursache der Fütterstörung zB können Frühgeburtlichkeit, Zustand nach Sondenernährung und noch
unentwickelter Mund- und Schluckmotorik vorliegen, organische Störungen des Verdauungsapparates oder Schwäche
des Kindes nach Mangelgeburt – Symptome also, die pädiatrisch, logopädisch oder physiotherapeutisch gut behandelt
werden können und nicht zwangsläufig zu gravierenden Entwicklungsstörungen führen.
Fütterstörungen können jedoch auch schwerwiegende Ursachen haben wie ein Deprivationssyndrom, was auf eine pathologische Interaktion mit der primären Bezugsperson verweist, die zB unter einer postpartalen Depression leidet,
familiär belastet und überfordert ist oder an einer gravierenden Störung wie etwa einer Persönlichkeitsstörung oder
Sucht erkrankt ist.
Die Bindung zwischen Mutter/Vater und Kind als Grundlage
der Persönlichkeitsentwicklung wächst bereits präpartal in
der Sorge, der Phantasie und der gedanklichen Zuwendung
zum Kind und setzt sich postpartal fort im Aufbau unzähliger Begegnungen zwischen Mutter/Vater und Kind durch
Berührungen, Sprechen, Blicken und insbesondere Lächeln.
Krause2 hat nach eigenen Studien beschrieben, dass ein gesundes Kind in den ersten sechs Monaten ca. 30.000 Lächelbegegnungen hat, dh offene und von freudiger Erwartung
geprägte Begegnungen. Diese hochfrequente, kontinuierliche
und positive Beziehungsaufnahme ist einer belasteten kranken Mutter oder einem belasteten, kranken Vater nicht möglich. Dieses „Versagen“ in der Beziehung, das Sich-nichtfreuen-können über das eigene Kind ist fast immer mit großen Schuldgefühlen verbunden.
In diesem Fall benötigen Eltern intensive Zuwendung, Respektierung ihrer Verunsicherung und therapeutische Hilfen.
Diese sensible frühe Phase der Interaktion, in der sich die
Eigenregulation des Kindes entwickelt, aber auch die Eigenwahrnehmung der Mutter in ihrer Funktion als Mutter bzw.
des Vaters in seiner Funktion als Vater und ihrer beider
Interaktion mit dem Kind benötigt deshalb eine äußerst sensible Herangehensweise an die Frage, ob die Interaktion und
Oft wird mit dem Argument, dass gerade der frühe Bindungsaufbau zur Beziehungsperson wichtig ist, ein Säugling
rasch in Pflege gegeben, wenn die Erziehungsfähigkeit der
Mutter in Frage steht, um dann die eventuelle Rückführung
vom Verlauf des Umgangs abhängig zu machen. Dies ist sehr
oft problematisch und kaum durchführbar, da durch die
Herausnahme des Kindes eine solche Verletzung der Mutter/
Vater-Kind-Beziehung geschieht, und der Sorgeberechtigte in
seiner Kompetenz und seinem Selbstwert so beschädigt und
entwertet wird, dass eine Umgangsbeziehung dies nicht wieder normalisieren kann und oft zum Scheitern führt. Dagegen können Maßnahmen wie die Unterbringung in einem
Mutter-Kind-Heim zB, in der der Schutz des Säuglings gewährleistet ist, und die Mutter sich vor eigenen destruktiven
Impulsen geschützt fühlt, eine Entlastung darstellen und die
Zeitspanne schaffen, um eine dauerhafte Lösung zu finden.
2. Kinder- und Jugendpsychiatrische Diagnostik
Um aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht zu einer
Einschätzung der Belastungen und Gefährdungen und sich
daraus ergebenden therapeutischen Konsequenzen zu kommen, wird die Diagnose nach ICD 10 der WHO 2012 auf
verschiedenen Ebenen gestellt. (Tabelle 1)
Tabelle 1:
Achse 1: Psychiatrische Diagnose
Achse 2: Umschriebene Entwicklungsverzögerungen
Achse 3: Intelligenzniveau
Achse 4: Organische Erkrankungen
Achse 5: Assoziierte akute abnorme psychosoziale Umstände
Achse 6: Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus
und der psychosozialen Gefährdung
Die ersten vier Achsen beschreiben die Belastungen auf Seiten des Kindes, die fünfte Achse die Belastungen durch seine
Lebensumstände, während auf der sechsten Achse eine Gesamtbewertung der psychosozialen Gefährdung beschrieben
wird.
Werden Diagnosen auf den ersten vier Achsen beschrieben –
psychische oder körperliche Erkrankung, Entwicklungsverzögerung oder Leistungsbeeinträchtigung – so liegt in jedem
Fall ein erhöhter Zuwendungsbedarf vor. Die Kinder benötigen bei Diagnosestellung auf einer dieser Achsen professionelle Hilfen und Maßnahmen, dh es müssen die entsprechenden Ressourcen bei den Bezugspersonen gegeben sein. Diese
müssen in der Lage sein, den Kindern adäquate Hilfen zukommen zu lassen und für die angeratene Förderung oder
Unterstützung zu sorgen. Es gibt für keine Erkrankung eine
spezifische Folge des Handelns in Bezug auf das Kindeswohl.
Nur der Gesamtkontext der Symptomatik, des Beziehungsgefüges und der Lebenssituation kann die Feststellung einer
Entwicklungsgefährdung rechtfertigen.
2
Krause, Mutter und Kind, 2001.
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3. Die Besonderheit der kinder- und
jugendpsychiatrischen Störungsbilder
Ab dem Kindergartenalter treten vor allem Störungen der
sozialen Integration in den Vordergrund. Bisher bestehende
Beziehungskonflikte und Störungen im Bindungsverhalten
werden durch die erhöhten Erwartungen an sozialer Integration noch verstärkt oder treten eklatant in Erscheinung und
können bei zunehmenden Leistungsanforderungen durch die
Schule zu Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Symptomen führen.
Es kann in diesem Zusammenhang nicht auf die Krankheitsbilder im Einzelnen eingegangen werden. Im Grundschulalter überwiegen Störungen des Sozialverhaltens, emotionale
Störungen und Störungen, die die Entwicklung von schulischen und anderen Fertigkeiten betreffen wie Entwicklungs- und Teilleistungsstörungen. Eine umfassende Betrachtung der individuellen Situation des Kindes auf allen Lebensebenen ist entscheidend, um die entsprechenden Unterstützungsmöglichkeiten einzuleiten.
So kann zB das Fernbleiben von der Schule unterschiedlichste Ursachen haben (1. Schuleschwänzen etwa bei Verwahrlosung, bei Störung des Sozialverhaltens oder bei Sucht,
2. Schulangst bei zB Versagensängsten und Überforderung
oder bei Mobbing-Situationen und 3. Schulphobie bei intrapsychischer Konfliktdynamik mit großen Trennungsängsten,
die mit der Schule im eigentlichen Sinne gar nichts zu tun
haben). Die ursächliche Klärung der Schulabstinenz erfordert unterschiedliche Behandlung und ggf. unterschiedliche
Beurteilung der Kindeswohlgefährdung.
Je älter die Jugendlichen werden, umso mehr ähneln die
Symptome ihrer psychischen Erkrankungen denen der Störungen des Erwachsenenalters (affektive Störungen,
Zwangs- und Angststörungen, Sucht, Selbstverletzendes Verhalten, Somatisierungsstörungen uvm) Der gravierende Unterschied liegt jedoch in der besonderen Dynamik der Adoleszenz mit ihren spezifischen Ablösungs-, Autonomie- und
Individuationskämpfen. Die körperlichen und seelischen
Veränderungen, die Realanforderungen durch Ausbildung
und soziale Integration sowie die Loslösung von Eltern und
Familie stellen auch an psychisch stabile Jugendliche gewaltige Anforderungen und können auch in gefestigtem Beziehungsgefüge zu Überforderungssymptomen und psychischen
Störungen führen. Eltern sind in diesen Zeiten Zerreißproben ausgesetzt zwischen den Unterstützungsbedürfnissen
und -notwendigkeiten ihrer Kinder und zugleich deren Selbständigkeitsbestrebungen – Konflikte, die bei allen Eltern
eigene Ängste und Enttäuschungen hervorrufen, die häufig
zu chaotischen, affektiv hoch aufgeladenen und oft erfolglosen Erziehungsversuchen führen.
Eltern brauchen in dieser Zeit Unterstützung und Ermutigung, den gefahrvollen und belastenden Prozess der Abnabelung und Autonomie ihrer Kinder, der oft mit gravierenden
Symptomen und Auffälligkeiten verläuft, durchzustehen.
Keine professionelle Hilfe kann diesen schmerzhaften Beziehungsprozess ersetzen. Trennung und Kontaktabbruch von
den Eltern führen daher in dieser Lebensphase zu einer zusätzlichen Destabilisierung der Jugendlichen.3 Halt-Geben
im Sinne der Elternschaft heißt nicht nur Versorgen und
Fördern, sondern heißt auch Standhalten im Bekämpft- und
Entwertet-Werden. Zweifelsohne kann die „vorzeitige“
Trennung von den Eltern und eine Fremdunterbringung
manchmal unumgänglich sein, um die Entwicklung des Jugendlichen oder auch der Eltern zu schützen, dennoch wird
damit oft eine für die Persönlichkeit wichtige Entwicklungs-
phase abgebrochen, und es werden Schuldgefühle beim Jugendlichen ebenso wie bei den Eltern bleiben, diesen Entwicklungskonflikt nicht durchgestanden zu haben.
Zugleich sind jedoch auch die Entwicklungspotenzen und
die Fähigkeit zu Wandlung und Reifung wie auch zur Heilung nie mehr so groß wie in dieser Lebenszeitspanne.
4. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung ist
umso schwieriger zu stellen je jünger die Kinder sind. Während sich im Jugendalter die Symptomatik und die Diagnosekriterien denen des Erwachsenenalters angleicht (Schlafstörungen mit Alpträumen, die mit dem traumatischen Ereignis
in Zusammenhang stehen, Intrusionen, flash backs, Panikzustände, Dysregulationen, Stimmungslabilität und Depression, selbstschädigendes Verhalten) ist die Symptomatik, je
jünger die Kinder sind, umso vielseitiger und schwerer einer
Traumatisierung zuzuordnen. So zeigen jüngere traumatisierte Kinder häufig den Verlust bereits erworbener Fähigkeiten, Schlafstörungen mit Dunkelängsten, Vermeidungsverhalten bestimmter Situationen, wiederkehrende Inszenierungen bestimmter, an die traumatische Situation erinnernder Aktivitäten, Affektdysregulationen mit Aggressivität
oder unempathischem Verhalten. Auffällig ist der Entwicklungsknick und ein immer wiederkehrendes ungewohntes
Verhalten in bestimmten Situationen.
Ursächlich führen Ereignisse, die sich direkt gegen die Person
richten (Misshandlung, Missbrauch, Folter) häufiger zu
posttraumatischer Belastungsstörung als naturbedingte oder
nicht spezifisch gegen den Betreffenden gerichtete Traumata
(Kriege, Naturkatastrophen, Unfälle).4
Schutzfaktoren stellen in erster Linie vertraute Personen dar.
Minderjährige, die in Katastrophensituationen von ihren Eltern getrennt und in Sicherheit gebracht werden, erkranken
häufiger an PTBS als Kinder, die in der katastrophalen Situation verbleiben, diese aber im Kontakt mit den Eltern bzw.
entsprechend Vertrauten durchleben.5
5. Bedeutung der Lebensumstände
Die Achse fünf der Diagnoserichtlinien richtet den Blick auf
die Belastungsfaktoren, denen das Kind durch seine Außenwelt und Lebenssituation ausgesetzt ist.
Hier werden Risikofaktoren genannt, die zu psychiatrischen
Auffälligkeiten und zur Kindeswohlgefährdung führen können, aber nicht müssen. (Tabelle 2)
Tabelle 2:
Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände
0 – Keine deutlich gestörte oder inadäquate psychosoziale
Situation
1 – Abnorme intrafamiliäre Beziehungen
1.0 Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung
1.1 Disharmonie in der Familie zwischen Erwachsenen
1.2 Feindliche Ablehnung oder Sündenbockzuweisung gegenüber dem Kind
1.3 Körperliche Kindesmisshandlung
1.4 Sexueller Missbrauch (innerhalb der Familie)
3
4
5
Blos in Bohleber, Adoleszenz und Identität, 1996.
Resick, Stress und Trauma – Grundlagen der Psychotraumatologie,
2003.
Fischer/Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, 2009.
Kircher, Gefährdung aus psychiatrischer Sicht
Aufsätze
2 – Psychische Störung, abweichendes Verhalten, Behinderung
2.0 Psychische Störung eines Elternteils
2.1 Behinderung eines Elternteils
2.2 Behinderung der Geschwister
3 – Inadäquate oder verzerrte intrafamiliäre Kommunikation
4 – Abnorme Erziehungsbedingungen
4.0 Elterliche Überfürsorge
4.1 Unzureichende elterliche Aufsicht und Steuerung
4.2 Erziehung, die eine unzureichende Erfahrung vermittelt
4.3 Unangemessene Anforderungen und Nötigung durch die
Eltern
5 – Abnorme unmittelbare Umgebung
5.0 Erziehung in einer Institution
5.1 Abweichende Elternsituation
5.2 Isolierte Familie
5.3 Lebensbedingungen
Gefährdung
mit
möglicher
psychosozialer
6 – Akute belastende Lebensereignisse
6.0 Verlust einer liebevollen Beziehung
6.1 Bedrohliche Umstände infolge von Fremdunterbringung
6.2 Negativ veränderte familiäre Beziehungen durch neue
Familienmitglieder
6.3 Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbstachtung führen
6.4 Sexueller Missbrauch (außerhalb der Familie)
6.5 Unmittelbare beängstigende Erlebnisse
7 – Gesellschaftliche Belastungsfaktoren
7.0 Verfolgung oder Diskriminierung
7.1 Migration oder soziale Verpflanzung
8 – Chronische zwischenmenschliche Belastung in Zusammenhang mit Schule und Arbeit
8.0 Streitbeziehungen mit Schülern / Mitarbeitern
8.1 Sündenbockzuweisung durch Lehrer
8.2 Allgemeine Unruhe in der Schule /Arbeitssituation
9 – Belastende Lebensereignisse
9.0 Institutionelle Erziehung
9.1 Bedrohliche Umstände infolge von Fremdunterbringung
9.2 Abhängige Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbstachtung
Beispielhaft werden hier zwei Belastungen innerhalb des
Familiensystems herausgegriffen, die bei Bekanntwerden
immer die Frage der Kindeswohlgefährdung nach sich
ziehen müssen: Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch.
a) Kindesmisshandlung. Unter Kindesmisshandlung fallen
körperliche und seelische Misshandlungen.
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Körperlich handelt es sich um eine aktiv und bewusst herbeigeführte Gewalteinwirkung. Körperliche Misshandlungen
können sowohl Folgen einer exzessiv betriebenen Bestrafung
in Folge eines Kontrollverlustes als auch Folge einer vorsätzlichen böswilligen Handlung sein.6 Die Folgen körperlicher
Misshandlungen fallen eher beim Kinderarzt, in Schule,
Sportunterricht oder beim Spielen auf.
In der Entstehungsdynamik der Kindesmisshandlung spielen
die Risikofaktoren der Eltern und deren Belastungen und
Auffälligkeiten eine größere Rolle als die der Kinder.
Die Aufdeckung chronischer Misshandlung ist teilweise
schwer, da der gestellte Verdacht rasch zu einem Rückzugs- und Vermeidungsverhalten der Eltern führt, meistens
hoch schambesetzt ist, und auch die Kinder lange Zeit
nicht bereit sind, gegen ihre Eltern auszusagen. Je jünger
die Kinder sind, umso schwieriger ist die Aufklärung. In
jedem Fall sollte alles versucht werden, die Eltern sofort
in einer respektvollen Weise zu betreuen. Die Herausnahme des Kindes bei feststehender und schwerer Misshandlung und die vorübergehende Unterbringung in Klinik
oder Kurzzeitpflege stehen im Vordergrund. Jedoch ist es
extrem wichtig, die Eltern intensiv einzubeziehen, ihnen
zunächst diagnostisch, sachlich klärend gegenüberzutreten
und von Vorverurteilungen abzusehen. Umso neutraler die
ersten Begegnungen nach Verdacht der Kindesmisshandlung den „Tätern“ gegenüber sind, umso größer ist die
Wahrscheinlichkeit, möglichst viel über die Lebenssituation und die Gewaltbereitschaft im Umfeld des Kindes zu
erfahren und eine prognostische Einschätzung treffen zu
können.
Seelische Misshandlung bedeuten alle aktiven Handlungen,
die Kinder überfordern, ängstigen, Gefühl von Wertlosigkeit
vermitteln oder ihren Selbstwert verletzen.
Vernachlässigung ist sozusagen die passive Seite der Misshandlung: Das Unterlassen von Fürsorge, die Verweigerung
von Zuwendung, Unterstützung und Versorgung, die für
die körperliche und seelische Gesundheit und die Entwicklung des Kindes notwendig wäre. Dies reicht von Unterlassen vorgeschriebener Impfungen, mangelnder Ernährung,
nicht adäquater Pflege der häuslichen Umgebung, fehlender
Förderung bis hin zu Isolation von außerfamiliären Beziehungen oder Verweigerung von Kommunikation und Anerkennung.
b) Sexueller Missbrauch. Nach der WHO-Einteilung wird
sexueller Missbrauch innerhalb der Familie in einem anderen
Kapitel abgehandelt als sexueller Missbrauch außerhalb der
Familie. Als Familie gelten in diesem Fall alle zum Haushalt
gehörigen Personen, ob leibliche Eltern, vertraute Aufsichtspersonen, im Haushalt lebende Verwandte oder Untermieter.
Entscheidend ist, dass eine vertraute Person, die zu dem Kind
in Beziehung steht, ihre Machtstellung ausnutzt, um eine
Form des inzestuösen oder nicht-inzestuösen Missbrauchs zu
praktizieren.
Darunter fallen im Vorfeld, was jedoch noch nicht als Missbrauch gewertet werden kann, sexuelle Anmache, Exhibitionismus oder Voyeurismus. Als Missbrauch im eigentlichen
Sinn gilt: Berühren, Streicheln von Brust, Genitale oder Analregion von Minderjährigen. Verlangen von Berühren, Streicheln der Genitalregionen durch das Kind, oral-genitale sexuelle Handlungen, interfemoraler Verkehr, sexuelle Penetration, bis zu sexueller Ausbeutung wie Pornographie und
6
Hinrichs in Lempp/Schütze/Köhnken, Forensiche Psychiatrie und Psychologie des Kindes- und Jugendalters, 2003.
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Aus der Praxis
Prostitution. Dabei spielt es strafrechtlich keine Rolle, ob
das Kind die Handlungen geduldet oder initiiert hat, genötigt
oder gewaltsam gezwungen wurde; ob es dadurch Schaden
erleidet oder nicht und ob es den Sexualbezug wahrgenommen hat oder nicht.7
Der intrafamiliäre Missbrauch hat eine völlig andere Dynamik in der Verarbeitung des Traumas als der sexuelle Missbrauch durch unvertraute oder fremde Personen. Auch bei
der Misshandlung kann aus der Perspektive des Kindes der
zuvor liebevoll versorgende Vater oder die sorgsam zugewandte Mutter plötzlich zum quälenden Elternteil werden
und die Beziehungskonstanz erschüttern. Bei sexuellen Übergriffen ist der Beziehungsbruch jedoch dramatischer als bei
der Misshandlung und je jünger das Kind ist, umso schwerer
sind die Folgen zu verarbeiten. Der zuvor einschätzbare,
möglicherweise liebevoll zugewandte Kontakt wird plötzlich
zu einem nicht verstehbaren, triebhaften, durch den eigenen
Körper ausgelösten Kontakt, der dadurch jeden Schutz und
jede Verlässlichkeit verliert. Nicht nur der Übergriff alleine
ist das Trauma, sondern der Bruch der bisher vertrauten
Beziehung und, da das Vergehen meistens geheim gehalten
werden muss, der Verlust jeglicher Sicherheit. Da die eigene
Person – im Falle des Missbrauchs der eigene Körper – eine
nicht zu beeinflussende und nicht beabsichtigte Dynamik
ausgelöst hat, ist die Selbstwahrnehmung des Betroffenen
verletzt. Für das Erleben des Kindes ist nicht ein eigenes
Vergehen oder Fehlverhalten Anlass für den Übergriff, sondern es ist seine ganze Person, die zum verursachenden Objekt wird.
Es gibt kein umschriebenes Krankheitsbild, keine einheitliche Symptomatik als Folge sexuellen Missbrauchs. Es können bei jüngeren Kindern Somatisierungsstörungen, Einnässen, Einkoten, Leistungsschwächen, Depression und sozialer Rückzug vorkommen. Ab der Pubertät kann es zu sexuellen Fehlentwicklungen, Prostitution, selbstverletzendem
Verhalten, Essstörungen, Angst- und affektiven Störungen
und Persönlichkeitsstörungen kommen, um nur einige zu
nennen.
Bei sexuellem Missbrauch ist ein Verbleib im Umkreis des
Täters ausgeschlossen, um das Wohl des Kindes nicht noch
stärker zu gefährden.8 Die Verletzung der Persönlichkeit, der
Intimität und der Psyche eines Kindes durch sexuellen Über-
Schmid, Begleiteter Umgang
griff kann vom Kind selbst noch gar nicht in der Tragweite
erfasst werden, die es für seine gesamte Entwicklung haben
kann. Anders als bei der Misshandlung ist sexueller Missbrauch noch stärker mit dem Gefühl der eigenen Verschuldung und des Identitätsverlustes verknüpft.
III. Zusammenfassung
Ohne Anspruch auf umfassende Beschreibung der verschiedenen Krankheitsbilder, versuchte ich exemplarisch deutlich
zu machen, wie wichtig es ist, um zu einer kinder- und
jugendpsychiatrischen Diagnose zu kommen und die Gefährdung des Kindeswohls zu beurteilen, das Kind als eigenständig und gleichzeitig in seinem Beziehungsgefüge zu betrachten.
Selbst wenn schwere Belastungen vorhanden sind, jedoch
keine psychiatrische Störung vorliegt, muss das Kindeswohl
nicht zwingend gefährdet sein – Misshandlung und sexuellen
Missbrauch ausgenommen. Das Kind hat möglicherweise
auf Grund seiner Begabung, Kreativität, auf Grund seiner
Beziehung zu anderen vertrauten Personen oder schützender
glücklicher außerfamiliärer Umstände genügend Kompensationsmöglichkeiten und kann sich gut entwickeln. Häufig
finden wir zB bei kranken Eltern starke, patente und sehr
lebensfähige Kinder, die trotz aller Belastung in ihrer Entwicklung nicht gravierend gefährdet sind. Traumatische Erfahrungen haben nicht zwingend eine posttraumatische Belastungsstörung zur Folge.
Allein die von außen getroffene Annahme, dass ein Kind
unter anderen Umständen bessere Chancen oder glücklichere
Umstände hätte, kann und darf also niemals ein Entscheidungskriterium für eine Herausnahme aus dem elterlichen/
familiären Bezugsrahmen sein. Ausschlaggebend kann nur
die positive Beantwortung der Frage sein, ob das Kind von
den Lebensumständen in seiner Entwicklung so verunsichert
und überfordert ist, dass ein ernsthafter Schaden droht, der
nicht anders verhindert werden kann und der vermutlich
größer ist als die Langzeitfolgen nach Trennung aus seinen
vertrauten Beziehungen.
&
7
8
Häßler/Kinze/Nedopil, Praxishandbuch Forensische Psychiatrie des
Kindes- und Jugendalters und Erwachsenenalters, 2011.
Brisch, Bindung und Trauma, 2012.
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