Kriterien und Verfahren bei der Einschätzung von Kindeswohlgefährdung Deutsche Richterakademie Trier Heinz Kindler Oktober 2014 E 16000 14000 12000 10000 Anträge Entzüge 8000 6000 4000 2000 0 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 E Gefährdungsmitteilungen im internationalen Vergleich Deutschland 83 pro 10.000 2012 England USA Kanada Australien 2007 2006 2003 2003 150 pro 10.000 478 pro 10.000 215 pro 10.000 334 pro 10.000 Was könnte das bedeuten? E Fremdunterbringungen pro 10.000 > 18 J. UK Schweden Spanien Neuseel. Italien Irland Deutschland Frankreich Australien 0 E 20 40 60 80 100 120 Eingriffsvoraussetzungen Kindeswohlgefährdung liegt vor Fehlende Bereitschaft und/oder Fähigkeit der SOB zur Abwehr vorhandener Gefahren 1666a: Abwehr durch mildere Mittel / Hilfen nicht möglich Aber: Feststellung, ob Voraussetzungen vorliegen, nicht einziges Q-Kriterium für Verfahren (SFK 2) E Das Konzept der Kindeswohlgefährdung Zukunftsorientierung (beschränkt durch Erfodernis gegenw. Gefahr, trotzdem häufig Überforderung) Beschränkung auf drohende erhebliche Schädigung (Verwirrung mit Alltagsbegriffen, Verengung) Kopplung an den Verantwortungsbereich der SOB (Erkenntnisgrenzen durch Äquifinalität, Fokus Reaktion SOB) E 3 Jahres Katamnese N=150, Aktenauswertung Auffälligkeiten Entwicklung Weitere Gefährdungsereig nisse Index Vernachlässigung 62% 40% Index Misshandlung 44% 28% E Wozu jedes Gutachten etwas sagen muss Was haben die Sorgeberechtigten im Verhältnis zu den Bedürfnissen des Kindes konkret an Schädlichem getan? Oder: Was haben die Sorgeberechtigten im Verhältnis zu den Bedürfnissen des Kindes konkret an Notwendigem unterlassen? Falls dies nicht angegeben werden kann: Aufgrund welcher konkreten Umstände muss angenommen werden, dass eine erhebliche Gefahr eines solchen elterlichen Handelns besteht? Aufgrund welcher Tatsachen muss von einem Fortbestehen der Gefahr ausgegangen werden? E Wozu jedes Gutachten etwas sagen muss Welche Schädigungen sind beim Kind bereits aufgetreten oder drohen mit ziemlicher Sicherheit? Aufgrund welcher tatsächlichen Umstände sind die Sorgeberechtigten als nicht bereit oder nicht in der Lage angesehen, bestehende Gefahren für das Kindeswohl selbst abzuwehren? E Qualitätsstandards für solche Aussagen Prinzip der Mehrfachbelege Aggregationsprinzip (BGH) Multimethodik (APA) Psychometrische geprüfte Verfahren wo möglich Beachtung disziplinärer Grenzen E Unsicherheiten an sehr verschiedenen Stellen im Verfahren Was haben die SOB getan / unterlassen? → Verdachtsklärung Besteht Risiko fort? → Risiko- einschätzung Wie ist das Tun / Unterlassen zu bewerten? → Kind / Forschungsstand Bereitschaft / Fähigkeit zur Abwehr? → Einschätzung / Erprobung Mildere Mittel? → Analyse Hilfestrategie E Abschätzung Risiko erneute Gefährdung Ergebnisse zum Risikomodul des Kinderschutzbogens (Kindler et al., 2008a): Risiko der späteren Schädigung eines Kindes in der Familie 0 – 1 Risikofaktoren 2 – 3 Risikofaktoren 4 oder mehr Risikofaktoren 0% 13% 53% Alle Familien, in denen nachfolgend ein Kind zu Schaden kam, wiesen mindestens 2 Risiken auf, 75% davon vier oder mehr Risiken E Minnesota Mutter-Kind Hochrisikolängsschnitt Ergebnisse jugendpsychiatrische Untersuchung 17 Jahre Mehr als 1 Störung Körperliche Misshandlung 60% Sexueller Missbrauch 73% Emotionale Vernachlässigung 73% Kontrollgruppe 30% E Bekannte und wahrscheinliche Risikomechanismen für frühe Misshandlung & Vernachl. Lebensgeschichtlich verzerrtes Fürsorgebild Konflikt mit anderen Entwicklungsaufgaben Care-/ Control Conflict Suchtverhalten Generelle emotionale Instabilität Antisoziale Entwicklung Generell herabgesetzte Belastbarkeit Negative Selbstwirksamkeit E Einschätzung Erziehungsfähigkeit Verdachtsabklärung Ressourcenabklärung Grundraster Kindeswohlgefähdung Kerneinschätzung Eingriffsvoraussetzungen Risikoeinschätzung Veränderungsmotivation Einschätzung des Risikos wiederholter Misshandlung Wichtige Faktoren Elterliche Entwicklungs- und Lebensgeschichte Elterliche Persönlichkeitsmerkmale und Dispositionen Psychische Gesundheit und Intelligenz Familiäre Lebenswelt Merkmale des Kindes Merkmale gegenwärtiger oder früherer Gefährdungsfälle E Z.B.: Elterliche Entwicklungs- und Lebensgeschichte E Derzeit bezüglich Misshandlung mind. 5 Längsschnittstudien, bzgl. Vernachlässigung mind. 3 Bei der Mehrzahl betroffener Eltern wird keine Gefährdung bekannt Risiko ist aber deutlich erhöht (Risk Ratio in Bezug auf Missh.: 3-6, in Bezug auf Vernachl: 2-3 Risikomechanismus: innere Modelle von Fürsorge und Beziehung, Selbstkontrolle Psychische Gesundheit und Intelligenz In bundesdeutschen Studien weist die Mehrzahl bis die Hälfte der Eltern, die das Wohl eines Kindes gefährden, keine bedeutsamen Einschränkungen im Hinblick auf psychiatrische Erkrankungen und Intelligenz auf; Depression und Sucht gehen als relativ häufige Störungen mit moderaten Erhöhungen des Missh. & Vernachl.-Risikos einher, kausaler Status: gut belegt, Effektstärke Risk Ratio 2-4, (chronische Effekte nicht berücksichtigt) Einige seltenere Erkrankungen (antisoziale Persönlichkeitsstörung, emotional instabile Persönlichkeitsstörung) scheinen ein noch höheres Risiko für Missh. & Vernachl. zu bergen, jedoch schwache Befundlage, bei IQ unter 60 spezifisches Risiko für Vernachlässigung E Merkmale gegenwärtiger oder früherer Gefährdungsfälle Wiederholte Gefährdungsvorfälle: Grundlage mind. 7 Längsschnittstudien, Status als Risikofaktor: gut belegt, Effektstärke: Risk Ratio 2-4, Grundrate wichtig bei Geschwistern Elterliche Verantwortungsabwehr: Grundlage 3 Längsschnittstudien, mehrere klinische Studien, Status als Risikofaktor: sehr wahrscheinlich, Effektstärke: Risk Ratio 1,52,5 E Ambulante Interventionen nach Kindesmisshandlung Wirksamkeit vor allem bei Hilfen, die die Bewältigung von Konfliktsituationen in der Erziehung und die Förderung einer positiven Eltern-Kind Beziehung in den Mittelpunkt rücken; Betrifft 3 von 4 Erfolgskriterien, Status: Empirisch bestätigt; Allgemein familienentlastende Maßnahmen müssen eher als ergänzend angesehen werden; Im Einzelfall kann eine Hinzunahme weiterer Hilfe erforderlich sein. E Ambulante Hilfen nach Vernachlässigung Wissensstand lückenhafter, Status der am besten untersuchten Konzepte: „erfolgversprechend“. Merkmale von Konzepten mit derzeit am besten belegter Wirksamkeit: – ausgedehnte Dauer von mehr als 6 Monaten – Aufsuchende Arbeitsweise – Alltagsnahe, detaillierte und strukturierte Anleitung und Unterstützung der Eltern bei der Versorgung und Erziehung der Kinder – Möglichkeit zur bedarfsgerechten Ergänzung der Hilfe E Entscheidung zwischen ambulanten und stationären Formen der Hilfe nach Gefährdung Fachliche Kriterien: – Aktuelle Sicherheit des Kindes – Mittelfristiges Gefährdungsrisiko – Ausmaß elterliche Veränderungsbereitschaft – Ausmaß Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit – Ausmaß Entwicklungsbelastung Kind – Verfügbarkeit qualitativ guter ambulanter Hilfen E Fallbeispiel Nico (9 Jahre), Mutter geistig behindert, Betreuung für die Bereiche Behörden- und Geldangelegenheiten, lebt mit Kind in eigener Wohnung, langjährig ambulante Familienhilfe, älterer Bruder wurde nach Vorfall mit mangelnder Aufsicht im Wege der Inobhutnahme fremduntergebracht, Nico besucht eine L-Schule mit Hort, kinderpsychiatrische Diagnose: Störung des Sozialverhaltens und emotionale Störung gemischt. E Aktuelle Sicherheit des Kindes kein erkennbarer Anhalt für eine akute Gefährdung Mittelfristiges Gefährdungsrisiko geringfügig erhöht, 3 von 16 RF im KSB Modul Risikoeinschätzung Ausmaß elterliche Veränderungsbereitschaft und –fähigkeit: Hohe Motivation, aber deutliche eingeschränkte Fähigkeit Ausmaß Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit deutliche Einschränkungen in drei Dimensionen, A/D Bindung, Grundregeln in der Familie vorhanden, Bearbeitung von Fehlverhalten außerhalb der Familie misslingt Ausmaß Entwicklungsbelastung Kind behandlungsbedürftige Störung bereits ausgebildet, Kind im Moment nicht bindungsoffen Verfügbarkeit qualitativ guter ambulanter Hilfen Betreutes Wohnen für Mutter und Kind nicht möglich Lücken / Fehler in Entscheidungsvorlagen für das FamG Beispiele für problematische Argumentationen Drogenambulanz stellt bei Mutter stabile Substitution ohne Beikonsum fest und sieht Erziehungsfähigkeit daher als gegeben an Eltern eines Kleinkindes mit belegbaren Verletzungen, die wahrscheinlich auf Fremdeinwirkung zurückzuführen sind, bestreiten Misshandlung, JA sieht daher Rückführung als nicht möglich an Aussagepsychologische Untersuchung eines 4-jährigen Kindes führt nicht zu einer als erlebnisbegründet zu beurteilenden Aussage, SV sieht auf dieser Grundlage im familiengerichtlichen Verfahren Fremdunterbringung als nicht mehr begründbar an Bei Kind mit Schütteltrauma sieht SV aufgrund der Gefährlichkeit der Verletzung Verbleib des Kindes in Familie als unmöglich an SV krankheitswertige psychisch Auffälligkeiten bei Mutter und 5jähriger Tochter, führt die Störungen der Tochter „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ auf das Verhalten der Mutter zurück und sieht Erziehungsfähigkeit als nicht gegeben. Schwer vermüllte Wohnung wird von Polizei und JA mit Fotos dokumentiert, JA legt Fotos beim FamG vor und beantragt aufgrund der offenkundigen Gefährdung Fremdunterbringung der 9 und 14 Jahre alten Kinder E Probleme im Kinderschutzsystem Hohe Unsicherheit auf allen Ebenen – Das zeigen Interviewstudien – Zudem geringe Übereinstimmung zwischen Fachkräften (auch Teams) – Regionale Disparitäten – Sprünge in den Eingriffszahlen trotz konstanter Schwellen International hohe deutsche Quote bei den Fremdunterbringungen Hohe Quote wiederholte Gefährdung Und die Stärken? – Hohe Bereitschaft zum Einsatz finanzieller Mittel – Formal hoch qualifizierte, motivierte Fachkr. – Zukunftsbezogenes und erkenntnisoffenes Recht E Literatur zum Weiterlesen Kindler H., Lillig S., Blüml H., Meysen T. & Werner A. (2006). Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). München: DJI (online zugänglich unter www.dji.de/asd Kindler H. (2008). Gefährdungseinschätzung durch psychologische Sachverständige im Kontext von § 1666 BGB / § 8a SGB VIII. Praxis der Rechtspsychologie, 18, 240-257. Kindler H., Ziesel B., König C., Schöllhorn A., Ziegenhain U. & Fegert J. (2008). Unterstützungsbogen für die Jugendhilfe: Bogen zur Unterstützung der Hilfeplanung im frühen Kindesalter. Das Jugendamt, 81, 467-470. Kontaktadresse als Wissenschaftler: [email protected] Als Sachverständiger: PGB, z.Hd. SV Kindler, Rothmundstr. 5, 80337 München. E