13. Zürcher Forum Prävention und Gesundheitsförderung Kindsmisshandlung: Formen und Verbreitung aus medizinischer Sicht Montag, 14. November 2011 Dr. med. Ulrich Lips, Klinischer Dozent, Leiter Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle des Kinderspitals Zürich 1. Formen aus medizinischer Sicht 2. Verbreitung Definition von Kindsmisshandlung Kindsmisshandlung ist die - nicht zufällige, bewusste oder unbewusste - körperliche und/oder seelische Schädigung - durch Personen (Eltern, andere Erziehungsberechtigte, Dritte), Institutionen und gesellschaftliche Strukturen, - die zu Verletzungen, Entwicklungshemmungen oder zum Tode führt, - eingeschlossen die Vernachlässigung kindlicher Bedürfnisse. Formen von Kindsmisshandlung (medizinisch gebräuchlich) • Körperliche Misshandlung • Vernachlässigung • Psychische Misshandlung • Sexuelle Ausbeutung • Münchhausen Stellvertreter-Syndrom Zusätzlich (v.a. Sozialwissenschaften) • Misshandlung durch Erwachsenenkonflikt um das Kind • Misshandlung durch Autonomiekonflikt • Strukturelle Misshandlung/Gewalt Überschneidungen von Misshandlung Münchhausen Stellvertreter-Syndrom Psychische Misshandlung Vernachlässigung Körperliche Misshandlung Sexuelle Ausbeutung Körperliche Misshandlung • Breites Spektrum von Verletzungen/Symptomen • Typisch: - Verschieden alte Verletzungen - Ungewöhnliche Lokalisationen - Blutergüsse bevor Fortbewegung möglich - Knochenbrüche vor dem Stehen / Gehen - Socken- und handschuhförmige Verbrühungen → Verletzungen und Krankheitssymptome, die durch den angegebenen Unfallmechanismus oder bekannte, nachweisbare Krankheiten nicht erklärbar sind Schütteltrauma Sexuelle Ausbeutung - Definition Der Begriff der sexuellen Ausbeutung bezeichnet den Einbezug von Kindern oder abhängigen Jugendlichen in sexuelle Handlungen • zu einem Zeitpunkt ihrer Entwicklung, in welchem sie den Inhalt und die Bedeutung dieser Handlungen nicht begreifen können • oder in sexuelle Handlungen, die soziale Tabus der Rollendefinitionen in der Familie verletzen. Kempe 1978/Finkelhor 1986 Sexuelle Ausbeutung Formen Sexuelle Ausbeutung umfasst: - Exhibitionismus, Voyeurismus - Berührungen im Intimbereich - das Verlangen, masturbiert oder gestreichelt zu werden - anale, orale und vaginale Penetration - Konfrontation mit Pornographie - Einführung in die Prostitution Sexuelle Ausbeutung TäterInnen Fremde 10 % Sozialer Nahraum: 90 % Bekannte, Verwandte Sexuelle Ausbeutung Verhaltensauffälligkeiten unspezifische spezifische ● Aggressive/depressive Zustandsbilder ● Schulschwierigkeiten ● Sexualisiertes Verhalten ● Sexuelle Übergriffe auf Jüngere ● Exzessive Masturbation ● Distanzlosigkeit/ Berührungsangst ● Weglaufen ● Delinquenz ? ● Selbstverletzungen ? Sexuelle Ausbeutung Somatische Beweise • Schwangerschaft • Nachweis von Spermien/DNA • Vorliegen einer ausschliesslich sexuell übertragbaren Infektionskrankheit • Verletzungen im Genitalbereich (ohne entsprechende glaubwürdige Unfallgeschichte) Sexuelle Ausbeutung Iuristische Beweisführung • Somatische Beweise sind selten: 5-10 % • Ohne Aussagen (Opfer, Zeugen) ist eine iuristische Beweisführung schwierig. Münchhausen Stellvertreter-Syndrom Eltern (meist Mütter), die sehr kooperativ und bemüht wirken, • erfinden Symptome, die ihr Kind haben soll (Fieber, Krämpfe, Blutungen etc.) • erzeugen Krankheiten (durch Verabreichung von Medikamenten, Verfälschung von Blut- und Urinresultaten, Strangulation etc.) unnötige Untersuchungen, Behandlungen, Operationen des Kindes Psychische Misshandlung • Entwertungen durch Einstellung, Sprache und Handlung • Vermitteln von Schuldgefühlen • Verhindern adäquater Entwicklungsmöglichkeiten (z.B. Kontaktverbote) • Instrumentalisierung in elterlichen Konflikten • Ausnutzung des Kindes für narzisstische Interessen • Missachtung der emotionalen Bedürfnisse des Kindes (Bsp. Alkoholerkrankung der Eltern) • Benutzen des Kindes zur Stabilisierung der Bezugsperson bei eigener psychischer Störung Vernachlässigung • Nichterfüllen kindlicher Grundbedürfnisse: Essen, Kleidung, Hygiene • Mangelnde oder ungenügende Anregung • Mangelnde Aufsicht und Betreuung des Kindes • Missachtung der Gesundheit des Kindes 1. Formen aus medizinischer Sicht 2. Verbreitung Zunahme von Fallzahlen = mehr Kindsmisshandlungen? Fälle von (Verdacht auf) Kindsmisshandlung im Kinderspital Zürich 1963 bis 2010 Anzahl Fälle 600 Bildung von re giona le n Kinde rschutzgruppe n 458 419 396 352 400 Be ra tungsste lle Opfe rhilfe ge se tz a b 1.5.1994 300 200 402 388 335 365 364 487 455 432 411 412 500 143 Kinde rschutzgruppe ne u konstituie rt 100 34 31 265 187 1. Kinde rschutzgruppe 34 26 12 10 15 ? ? 78 40 104 55 17 19 63 19 68 69 19 73 74 19 78 79 -8 3 19 84 19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04 20 05 20 06 20 07 20 08 20 09 20 10 0 Nicht kategorisiert Sicher Verdacht Nicht bestätigt Häufigkeit der Misshandlungsformen Kinderspital Zürich 2003-2006 Kinderspital Zürich 2007 - 2010 6.5% 8.5% körperliche Misshandlung 0.4% 14.5% 30.9% sexueller Missbrauch 0.5% 18.7% 29.8% Vernachlässigung 7.4% 10.5% psychische Misshandlung 38.3% 34% Münchhausen-StellvertreterSyndrom n=1484 Risiko Schweizer Kinderkliniken (n=15) n=1568 Vormundschaftsbehörden (Voll et al, 2008) 0.6% 6% 13.3% 3% 15% 29.4% 5% 31.5% 71% 25.2% Autonomiekonflikt n=923 n=164 Erwachsenenkonflikt um das Kind Ziele des Kinderschutzes • Schutz des Kindes • Wiederherstellen eines sozialen Umfeldes, das dem Kindeswohl wieder förderlich ist ( resp. es nicht mehr gefährdet) Kinderschutz - Grundprinzipien • Nie alleine handeln • „Langsam führt schneller zum Ziel“ das heisst: – Schutz des Kindes sofort – weitere Schritte sorgfältig bedenken und absprechen