Emotionale Vernachlässigung bei Kindern und Jugendlichen Formen, Ursachen und Interventionen Vortrag 31.01.2007 Dipl.-Psych. Dr. S. Mertel Universitätsklinik u. Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters Leipzig Seite 1 Gliederung I. Begriffsklärungen, Häufigkeiten, Formen II. Folgen von Misshandlung und Vernachlässigung III. Interventionsmöglichkeiten IV. Fallbeispiele Literatur Seite 2 1 I. Definition, Häufigkeiten, Formen Kindesmisshandlung „nicht zufällige, gewaltsame psychische und/oder physische Beeinträchtigung oder Vernachlässigung des Kindes durch Eltern/Erziehungsberechtigte oder Dritte, die das Kind schädigt, verletzt, in seiner Entwicklung hemmt oder zu Tode bringt.“ Blum-Maurice et.al. 2000 Häufigkeiten von Kindesmisshandlung sind 10x so hoch, wie alle Arten von Krebserkrankungen zusammen (Sadler,1999), „Kosten“ sind unermesslich, aber nicht genau abzuschätzen! Seite 3 Häufigkeiten • Keine hinreichend empirisch erhobenen Angaben zu Häufigkeiten in Dtl. • Schätzungen (2002): 50.000 – 250.000 / 500.000 Fälle erheblicher Vernachlässigung • USA (Deegener,2001): 40-50%-60% 25% 10% 3% 15% • Gleichzeitiges, überlagerndes Auftreten verschiedener Formen von KM ist wesentlich häufiger das Erleiden einer einzigen Misshandlungsform • Schwierig: Trennung zwischen psychischer MH und noch tolerierbaren Erziehungsverhalten („Mobbing im Kinderzimmer“ – je nach Häufigkeit und zeitlichem Andauern) Vernachlässigungsfälle körperliche MH sex. MB seelische Gewalt andere Formen Seite 4 2 Ich halt das nicht mehr aus mit dir! Du siehst wieder wie ein Schwein aus! Gleich knallt`s! Lass‘ mich doch mal in Ruhe! Du machst mich krank! Das kapierst du nie! Wer nicht hören will, muss fühlen! Wie blöd bist du denn! Geh in dein Zimmer! Seite 5 Formen 1. Vernachlässigung a. körperlich b. emotional 2. Misshandlung a. körperlich b. emotional c. Münchhausen-by-proxy-Syndrom 3. Sexueller Missbrauch Seite 6 3 1. Vernachlässigung: „andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns sorgeberechtigter Personen, die zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes notwendig wäre“ und die zur Schädigung führt • schleichender Prozess • heterogenes Phänomen • aktive (bewusste) – passive (unbewusste) Vernachlässigung • transgenerationaler Prozess Seite 7 a. Körperliche Vernachlässigung (Mangel an physischer bzw. gesundheitlicher Fürsorge und Schutz vor Gefahren) - zu wenig: Dystrophie, Gedeihstörungen • keine adäquate qualitative u. quantitative Ernährung - zu viel: Adipositas - psychosozialer Minderwuchs • keine medizinische bzw. gesundheitliche Vorsorge (-untersuchungen) • prä- u. perinatale Vernachlässigung: Drogen, Alkohol, Nikotin in Schwangerschaft, fehlende Betreuung, Leugnung der Schwangerschaft • Verweigern, Verzögern medizinischer Behandlung bei Erkrankungen • keine adäquate Unterkunft • keine angemessene Bekleidung, Hygiene u. Körperpflege, Zahnpflege • keine Sicherheit vor alltäglichen Gefahren, mangelnde Aufsicht (häufige Unfälle, Vergiftungen, Wohnungsbrände..) Seite 8 4 b. Emotionale Vernachlässigung/ Misshandlung (inadäquate o. fehlende emotionale Fürsorge u. Zuwendung, nicht hinreichendes o. ständig wechselndes und dadurch insuffizientes emotionales Beziehungsangebot) • keine Zuwendung, Liebe, Respekt, Geborgenheit • mangelnde Anregung / Förderung der motorischen, kognitiven, emotionalen, sozialen Fähigkeiten • mangelnde Wahrnehmung und Unterstützung des Schulunterrichts • permissive Eltern bei Schulschwänzen • keine Förderung der Ausbildung und Erwerb sozialer Kompetenz • keine Hilfen zur „Lebenstüchtigkeit“, Selbständigkeit, zur Bewältigung der Alltagsanforderungen • keine angemessenen Grenzen setzen, keine Belehrung über Gefahren • Zeugen chronischer Partnergewalt zwischen den Eltern • permissive Eltern bei Drogenabusus und Delinquenz der Kinder • Verweigerung / Verzögerung psychologischer / psychiatrischer Hilfen Seite 9 2. Misshandlung: a. körperlich: direkte Gewalteinwirkung durch: - Ohrfeigen - Schlagen mit Händen, Stöcken, Peitschen - Stoßen von der Treppe - Schleudern gegen die Wand - Schütteln eines Kleinstkindes - Verbrennen mit heißem Wasser oder Zigaretten - auf den Ofen setzen - Einklemmen in Türen oder Autofensterscheiben - ins kalte Wasser setzen u. untertauchen - Pieksen u. Nadeln - eigenen Kot essen u. Urin trinken lassen - Würgen - Vergiftungen Seite 10 5 b. emotional: (unzureichend definiert, Überschneidungen mit emotionaler Vernachlässigung) Beeinträchtigung / Schädigung der Entwicklung der Kinder durch - Ablehnung - Terrorisierung - Isolierung - Verängstigung Beginn: Beschimpfen, Verspotten, Erniedrigen, Ignorieren, Liebesentzug bis: Quälen, Einsperren, Isolieren von Gleichaltrigen, Sündenbockrolle, massive Bedrohungen, Todesdrohungen aber auch: zu starkes Behüten und Erdrücken eines Kindes, Überforderung durch unangemessene Pflichten massiv gestörte Beziehung bzw. Interaktionsstörung Seite 11 Ursachen / Risikofaktoren der Vernachlässigung Elternebene • gesundheitliche Faktoren: - Überforderungen/Krisen/Krankheiten der Eltern - Depression, Borderline-Persönlichkeiten - minderjährige Mütter - Aggression / dissoziale Persönlichkeit bei Vätern - eigene Deprivation oder Gewalterfahrung • mangelndes Wissen, unzureichende Erziehungskompetenz • absichtliches Ignorieren in Verbindung mit Ablehnung des Kindes • übermäßige Berufstätigkeit Kindebene • chronisch kranke, behinderte, frühgeborene Kinder • Schreikinder Gesellschaftliche Ebene • soziale Isolation, fehlende Ressourcen • Arbeitslosigkeit • beengte Wohnverhältnisse, Armut Seite 12 6 II. Folgen von Vernachlässigung / Misshandlung • • • kein typisches „Misshandlungssyndrom“ Art u. Schwere der Folgen sind abhängig von: - Form u. Schwere der MH - vom Kontext - Bewältigungsprozessen - Entwicklungsstadium des Kindes/Adoleszenten Folgen verifizierbar durch - Symptome/Syndrome - anamnestische Informationen - Verhaltensbeobachtungen • Kurzzeitfolgen (unmittelbar bis mittelfristig – ca. innerhalb 2 Jahren) • Langzeitfolgen (anhaltend, Auftreten nach Latenzzeit in Adoleszenz o. Erwachsenenalter) Seite 13 Kurzzeitfolgen Kognitiv-emotionale Störungen - Aufmerksamkeits-, Konzentrationsstörungen, Schulschwierigkeiten, Depressionen, Angst, niedriger Selbstwert, selbstverletzendes Verhalten,Störungen der Gefühlsregulation Somatische und Psychosomatische Störungen - körperliche Verletzungen,psychosomatische Beschwerden (Atembeschwerden, chronische Bauch-, Kopfschmerzen), Essstörungen, Enuresis, Enkopresis Störungen des Sozialverhaltens - Weglaufen, Distanzlosigkeit, Schwänzen, Rückzugsverhalten, Delinquenz, Aggressivität, Impulsivität, mutwilliges Zerstören Seite 14 7 Entwicklungsabhängige Verhaltensauffälligkeiten als Folgen von Kindesmisshandlung (AGKM,1992) internalisierende - externalisierende Reaktionsmuster Vorschulalter • Gefrorener Blick (weit offene Augen in unbeweglichem Gesicht; Kind hat gelernt, nicht zu schreien, um nicht erneut bestraft zu werden) • Emotionslose Reaktion bei Trennung von den Eltern • Mangelndes Vertrauen in wichtige Bezugspersonen • übermäßiges Vertrauen in fremde Personen • Entwicklungsrückstand (motorisch, kognitiv, emotional, sozial) • Essstörungen • Ängstliches Verhalten • Depressive Symptome • Davonlaufen • Aggressives/hyperaktives Verhalten • Unfallneigung • Nicht altersgemäßes sexuelles Verhalten Seite 15 Schulalter • • • • • • • • • • • • • • • Entwicklungsrückstand (motorisch, kognitiv, emotional, sozial) Schlafstörungen Ängstlichkeit Depressive Symptome Davonlaufen Aggressives/hyperaktives Verhalten Unfallneigung Nicht altersgemäßes sexuelles Verhalten/ detailliertes Wissen über sex. Aktivitäten Fehlendes Selbstvertrauen Suizidalität Soziale Isolation Schulschwierigkeiten Vergehen gegen das Gesetz Bettnässen/Einkoten Psychosomatische Beschwerden (z.B. chronische Kopf-, Bauchschmerzen) Seite 16 8 Adoleszenz • • • • • • • • • • • • • • Anorexie / Bulimie / Adipositas Schlafstörungen Ängstlichkeit/ Angststörungen Depression Davonlaufen Aggressives Verhalten Prostitution Selbstentwertung Suizidalität Schulschwierigkeiten/ Probleme an Lehrstelle Vergehen gegen das Gesetz Psychosomatische Beschwerden Substanzgebundenes Suchtverhalten Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen Seite 17 Langzeitfolgen Störung Typische Langzeitfolgen Posttraumatische Belastungsstörung Beharrliches Wiedererleben von Erlebnissender KM, bewusste Vermeidung von Situationen, die mit KM in Verbindung stehen, anhaltende Symptome erhöhten Erregungsniveaus (Reizbarkeit) Angststörungen/Depression Ängstlichkeit, Angst-u. Zwangsstörungen, Unsicherheit, Depression, Schuld – und Schamgefühl, Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle, Einsamkeitsgefühle, u./o. Ärgerneigung Persönlichkeitsstile u. Persönlichkeitsstörungen Impulsivität, emot. Instabilität, insbesondere BorderlinePersönlichkeitsstörung aber auch andere Formen Substanzgebundenes Suchtverhalten Missbrauch o. Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten u./o. illegalen Drogen Selbstschädigendes Verhalten Selbstverletzung, Suchtmittelmissbrauch, erhöhte Bereitschaft zu Risikoverhalten Somatische u. psychosomat. Symptome Körperl. Symptome ohne org. Befund (chron. Bauchschmerzen, Durchfall, Übelkeit, Brust-u. Gliederschmerzen, Schmerzen im Genitalbereich, erhöhte Inanspruchnahme mediz. Leistungen) Dissoziative Störungen Gedächtnislücken, dissoziative Identitätsstörung (früher: multiple Persönlichkeit) Suizidalität Suizidgedanken, suizidale Handlungen Seite 18 9 Störung Typische Langzeitfolgen Schlafstörungen Chron. Einschlaf- u. Durchschlafstörungen, schlechte Schlafqualität Essstörungen Magersucht, Bulimie Sexuelle Störungen (bei sex. Kindesmisshandlung) Sex. Funktionsstörungen, unbefriedigte Sexualität, Promiskuität, sex. Orientierungsstörungen, sex. Verhalten mit erhöhtem Risiko zur HIV-Ansteckung Störungen im sozialen Bereich Furcht oder Feindseeligkeit gegenüber Eltern oder von weiblichen Opfern gegenüber Männern, chron. Unzufriedenheit in intimen Beziehungen, Misstrauen, bei weiblichen Opfern wieder Tendenz Opfer zu werden und bei männlichen Opfern Tendenz Täter zu werden (z.B. gewaltförmiges Verhalten gegenüber LP), Transgenerationale Weitergabe von Gewalt (z.B. Übernahme eines gewaltförmigen Erziehungsstils), Probleme der sozialen Anpassung (z.B. dissoziales Verhalten) Seite 19 III. Interventionsmöglichkeiten - Mehrdimensionale Behandlungsprogramme! • sozial-pädagogische • psychotherapeutische • soziale/ gesellschaftliche • Kindebene • Elternebene • Familienebene - Therapie - Beratung/ Unterstützung - Formen der Herauslösung Seite 20 10 Soziale / sozial-pädagogische Maßnahmen - Kooperation verschiedener Dienste (Medizin, psychol. Beratungsstellen, Gerichte, ASD, Schule, Polizei...) - Einleitung von Hilfen zur Erziehung für Eltern und Kind - Familienarbeit: - Ressourcenfindung - Familienaktivierung - aufsuchende Familienhilfe - Familien-Mediation - Erziehungsberatung - Einleitung stationärer Erziehungshilfen: - Inobhutnahme - Heim / WG - Pflegefamilie - Prävention: - Aufklärung in verschiedenen Berufsgruppen - Frühwarnsysteme für Risikogruppen - Interventionen in direkten Lebensräumen des Kindes - länger dauernde, intensive Begleitung von Problemfamilien Seite 21 psychologische / psychotherapeutische Maßnahmen - Förderprogramme - Spieltherapie - kognitiv-behaviorale Therapie - Traumatherapie - Einzel-und Gruppentherapien - Familientherapie - Elternarbeit Seite 22 11 Elternarbeit: • • • • • • • • • Krisenintervention zur Entlastung von Familienkonflikten Aufbau von Vertrauen in Therapeuten u. andere Bezugspersonen Verbesserung des chronisch entwerteten Selbstwertgefühls Abbau der sozialen Isolation Bereitstellung eines positiven Modells für die Kindererziehung Bearbeitung der elterlichen Fehlwahrnehmung des Kindes Aufbau von Erziehungstechniken Information über Kindererziehung u. –entwicklung Vermittlung von Einsicht in den Generationszyklus von eigenen Kindheitserfahrungen u. Verhalten gegenüber dem Kind • Erfahrung von Freude aus dem unmittelbaren Umgang mit dem Kind Seite 23 IV: Fallbeispiele 1. Fallbeispiel Männlich - 9 Jahre Symptomatik: - Interventionen: Störungen des Sozialverhaltens, ADS Kind: Selbstwertstärkung, Verbesserung interpersoneller Kommunikation, Konfliktbewältigungstraining KM: Klärung der Unterbringungswünsche,Erziehungsberatung, ASD: Erziehungshilfe, Tagesgruppe, Kontrolle, Wächterfunktion Seite 24 12 Seite 25 Seite 26 13 2. Fallbeispiel männlich - 12 Jahre Symptomatik: - Interventionen: Enkopresis, Störung des Sozialverhaltens, reaktive Bindungsstörung Kind: symptomspezifisch (Toilettentraining, biofeedback, Kalender..) Gesprächstherapie, VT, Gruppentherapie........ Medikation KM / Familie: Einzeltherapie, M-K-Sitzungen, Einbeziehung von Stv u. Oma, Beratung Seite 27 Seite 28 14 3. Fallbeispiel Männlich - 8 Jahre KM sucht Hilfe, da JA mit Herausnahme des Kindes drohe wegen langjähriger Vernachlässigung - Symptomatik:: oppositionelles Verhalten, Wutausbrüche, Selbst- u. Fremdverletzungen, Delinquenz, LRS, Geschwisterrivalität 3 Wünsche: 1. Socken 2. Mutti soll Versprechen einhalten 3. Fußballverein Ziel des Kindes: mit 10 o. 11 Jahren Mutti bestrafen: Fernseher zertrümmern - - Interventionen: Kind Spiel-, Gesprächs-Gruppentherapie, VT, Ergotherapie, Bewegungstherapie, Tiergestützte Therapie Mutter Erziehungsberatung, M-K- Sitzungen (Spielen, Snoezelen, Planen...) Umfeld ASD Schule Großeltern Seite 29 Seite 30 15 Seite 31 Seite 32 16 Literatur: • • • • • • Deegener,G.; Körner,W. (Hrsg.) Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Hogrefe, 2005 Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie Kindler,H. u.a. (Hrsg.) Handbuch Kindeswohlgefährdung nach §1666 BGB und ASD, 2006 Herrmann, B. Vernachlässigung und emotionale Misshandlung von Kindern und Jugendlichen. Kinder- u. Jugendarzt, 2005, Nr. 6 Kindesmisshandlung. Erkennen und Helfen. Hg. Kinderschutz-Zentrum Berlin, 2000 Martinius,J.; Frank,R. Vernachlässigung, Bewusstmachen, Helfen. Huber-Verlag, 1990 Seite 33 17