Kindesvernachlässigung die vernachlässigte Gefährdungsform

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Kindesvernachlässigung die
vernachlässigte
Gefährdungsform
Interdisziplinäre
Kinderschutzfachtagung des
Thüringer MBJS
Heinz Kindler
Oktober 2016
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Definition Vernachlässigung
Andauerndes oder wiederholtes
Unterlassen fürsorglichen Handelns
durch Eltern oder andere
Sorgeberechtigte, das für einen
einsichtigen Dritten vorhersehbar zu
erheblichen Beeinträchtigungen der
physischen und / oder psychischen
Entwicklung des Kindes führt oder
vorhersehbar ein hohes Risiko solcher
Folgen birgt (Handbuch
Kindeswohlgefährdung 2006)
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Vernachlässigung ist die
häufigste Form von Gefährdung
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
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Von den 2.826 Fällen, in denen 2015 in
Sachsen von Jugendämtern eine akute
oder latente Kindeswohlgefährdung
festgestellt wurde, betrafen 73%
Vernachlässigung
Es gibt tödlich verlaufende Fälle
Meist handelt es sich aber um
chronisch verlaufende Fälle ohne
lebensbedrohliche Einzelereignisse
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Kumulative Schädigungen bei früh
einsetzender chronischer
Vernachlässigung
Minnesota Mutter-Kind Hochrisikolängsschnitt
N=263, Längsschnitt, Ergebnisse
jugendpsychiatrische Untersuchung 17 Jahre
Mehr als 1 Störung
Kontrollgruppe
30%
Frühe körperliche Misshandlung
60%
Frühe körperliche Vernachlässigung
54%
Frühe emotionale Vernachlässigung
73%
Egeland, 1997, in: Cicchetti et al., Effects of Trauma, 403-434.
Bislang reagieren wir auf chronische
Vernachlässigung meist mit eher
unspezifischen ambulanten Hilfen
zur Erziehung nach SGB VIII, die
Unterstützung mit Kontrolle
mischen
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3-Jahreskatamnese
Gefährdungsform und Verlauf
(n=150)
Vernachlässig. Misshandl.

Weitere Gefährdung
39%
28%

Ungünstige psy. Entwicklung
60%
44%
(Aus: Kindler & Jagusch, in Vorb.)
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Internationale Längsschnitte

Ebenfalls hohe Raten an wiederholter
Gefährdung
– Z.B. 60% auf 4,5 Jahre bei Jonson-Reid
et al. (2003)

Zudem nicht selten Eskalationen in
andere Gefährdungsformen
– V → Misshandlung:
– V → Missbrauch:
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15%
6%
Was macht es schwer mit
der Vernachlässigung?


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Vielfalt der Formen:
z.B. körperliche
Vernachlässigung, emotionale V., erzieherische V.,
mangelnde Beaufsichtigung usw.
Unterlassen mobilisiert uns weniger
als aktives Schädigen (Stokes &
Taylor 2014)
Durchschnittlich vier chronische
Probleme gleichzeitig in der Familie
(Jones & Logan-Greene, 2016)
Mairhofer & Pooch, 2016: Literaturrecherche
Sowiport, Psychinfo, Pubmed, 2010-2016
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Was ist zu tun?
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Diagnostik: Bessere Abgrenzung zu
bloß unterdurchschnittlicher
Versorgung und klarere Einschätzung
Ausmaß Vernachlässigung
Intervention: Spezifischere
Hilfekonzepte
Die Genauigkeit der
Beschreibung erhöhen
(Beauchaine, Taxometrics and developmental psychopathology,
Development and Psychopathology, 2003, 501-527)
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Prüfung auf typische
Vernachlässigungsfolgen
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Körperliche Vernachlässigung: z.B.
Zahnschäden, Windeldermatitis
Emotionale Vernachlässigung:
Bindungsdesorg. Bis hin zu
Bindungsstörungen, Agency
Erzieherische Vernachlässigung:
Störung des Sozialverhaltens
In der Regel ist dies nur eine
Plausibilitätsargumentation
Synthetische und keine
analytische Beurteilung

Daumenregeln Schweregrad:
– Je mehr V als Muster hervortritt
– Je mehr Kind auf Versorgung /
Beziehung angewiesen ist
– Je deutlicher negative Folgen für Kind
bereits hervortreten
– Je klarer eine gemeinsame
Problemkonstruktion und ambulante
Veränderung möglich ist
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Spezifischere Hilfekonzepte


International gibt es bereits empirisch
geprüfte Hilfekonzepte gegen
Vernachlässigung: z.B. SafeCare
Ansonsten Merkmale von Konzepten mit
derzeit am besten belegter Wirksamkeit:
– ausgedehnte Hilfedauer von mehr als 6
Monaten
– Aufsuchende Arbeitsweise
– Alltagsnahe, detaillierte und strukturierte
Anleitung und Unterstützung der Eltern bei der
Versorgung und Erziehung der Kinder
– Möglichkeit zur bedarfsgerechten Ergänzung
der Hilfe v.a. bei Depression, Suchterkrankung
und Partnerschaftsgewalt
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Fallskizze
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alleinerziehende Mutter, 39 Jahre, 4 Kinder:
Alexander (14), Nicole (4), Renee (2), Natalie
(1), zwei Meldungen wg. Aufsichtspflicht und
Haushalt, SPFH wird eingerichtet,
Frühforderung, Natalie erleidet im Abstand
von 6 Wochen zweimal Schädelbruch und
wird in Pflegefamilie untergebracht, Umgang
wird eingerichtet, Mutter leichte
Intelligenzminderung: Betreuung, komplexe
Tic-Störung, soziale Ausgrenzung
Fragstellung: Erziehungsfähigkeit,
Rückführung Natalie, Verbleib Nicole und
Renee
Pflege und Versorgung:
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Versorgungszustand und Entwicklungsgeschichte:

sichtbarer Versorgungszustand in Ordnung

vor SPFH z.T. Kleidung verschmutzt (Kinderärztin)

häufige Arztvorstellung mit Bagatellinfekten, U-Untersuchungen erledigt

Wachstumstabellen ok
Beobachtbare und berichtete Versorgung:

Alexander und Nicole schildern Tagesstruktur

SPFH: Mutter um Versorgung sehr bemüht

beobachtbare einfache Tages- und Wochenplanung

beobachtbare Unfallgefahr einmal nicht erkannt

Wohnungsbegehung: Mutter erkennt Unfallquellen nicht

Lebensplan Mutter derzeit auf Kinder konzentriert

Schädelbrüche wurden von Mutter nicht erkannt, Mutter erschrocken, aber keine
Erklärung
Unmittelbares Lebensumfeld:

sehr einfache Wohnverhältnisse

derzeit grundlegende Sauberkeit

berichtet: mehrfacher Ausfall wichtiger Wohnungsinfrastruktur

nach SPFH: schnellere Reparatur, keine Krisen mehr

vor SPFH: teilweise Überforderungssymptomatik
Veränderung nach Intervention:

pos: Versorgungszustand verbessert

pos: Verstetigung
Bindung
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Beziehungsgeschichte Kind mit Mutter

bei Natalie: drei Trennungen während Bindungsaufbau

keine Hinweise auf Tendenz Mutter Kinder abgeben zu wollen
Verhalten Kind in Bindungssituationen

Natalie begrüsst Mutter, sucht z.T. Nähe

Natalie leicht desorganisiert

Nicole und Renee: organisiert, Renee deutlich vermeidend

Renee bevorzugt SPFH

älterer Bruder schwankt zwischen Außenorientierung und Fürsorglichkeit
beobachtbares Fürsorgeverhalten:

mit drei Kleinkindern allein: Feinfühligkeit sehr gering

in Anwesenheit SPFH: Feinfühligkeit im mittleren Bereich
Haltung gegenüber Fürsorgerolle:

spricht mit Zuneigung über Kinder

Versorgung im Mittelpunkt
Bindungsgeschichte Mutter:

Hauptbindungsperson: ältere Schwester

mit Schwester im Heim

wenig Erinnerungen an Eltern

Krise als Schwester Heim verlässt
Bild Kinder von der Mutter als Bindungsperson:

älterer Sohn: betont Eigenständigkeit, spürt Zuneigung, sieht Grenzen der
Mutter, kämpft mit Rollenumkehr

Natalie: Mama oft keine Zeit, Mama weint manchmal
Regeln und Werte
Persönliche Stabilität Mutter
 ohne Hilfe von Außen: wenig Lebensplanung (3 ungeplante
Schwangerschaften)
 mit Hilfe: Stabilisierung
Interesse / Ziele und Vorgehensweisen bei Erziehung
 kaum Erziehungsvorstellungen
 Mutter versucht mit Hilfe einfache Regeln durchzusetzen
 beobachtbare Zwangszirkel (Renee)
 Mutter dann hilflos
Bild von den Kindern
 individualisiertes Bild
 Verhaltensproblem Renee wird nicht wahrgenommen
 einfache Erklärungen für Probleme
Erfolge Hilfe
 leichte Verbesserung
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In der Summe
1) Fremdunterbringung
Natalie, ambulante Hilfe
Nicole und Renee
2) Fokus ambulante Hilfe:
Sicherheitstraining,
Zwangszirkel
Krisen-Backup
E
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit
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