Darja Stocker Geboren 1983 in Zürich. 1990-2002 Schulausbildung. Seit 1998 erste literarische Prosa- und Theatertexte. Praktische Theatererfahrungen sammelt sie seit 2000 als Mitwirkende bei mehreren Inszenierungen am Theater an der Sihl in Zürich. Teilnahme an SchreibWorkshops, erste szenische Lesungen von dramatischen Texten. 2002 nimmt sie am Festival junger Dramatiker „Interplay“ im ungarischen Pecs teil. Aufführung des szenischen Versuchs Koma am Theater an der Sihl. 2003 Arbeit als Regieassistentin, Teilnahme am DramatikerInnentreffen der Bundesakademie Wolfenbüttel und am Autorenförderungsprojekt „Dramenprozessor“ am Züricher Theater an der Winkelwiese. Derzeit studiert Darja Stocker „Szenisches Schreiben“ an der Universität der Künste in Berlin. Nachtblind 8 D, 2 H Leyla, eine junge Frau, sucht ihren eigenen Weg jenseits der Normalität. Zuhause bricht die Familie auseinander: Der Bruder rüstet innerlich auf, der Vater ist dabei, sich abzusetzen, die Mutter sieht schon lange weg. Leyla lernt Moe kennen, der ist ein zurückhaltender Automechaniker, angeblich hochbegabt. Nicht nur soziale Welten prallen aufeinander, Funken fliegen, Zuneigung wächst und lässt die Dinge nicht, wie sie sind. Und da ist noch ein anderer in Leylas Leben, der selten, aber vehement in Erscheinung tritt, Verwirrung stiftet und dann oft für lange Zeit verschwunden bleibt. Mit ihm verwandelt Leyla seit Jahren Industriegebäude in farbenfrohe Luftschlösser. Etwas schwer Sagbares zwischen Liebe und Wahnsinn verbindet sie. Moe findet heraus, dass der große Fremde zwischen Zärtlichkeit und Gewalt nicht unterscheiden kann. Leyla hält die Schläge und die Liebe kaum noch aus. Moes Nähe und familiäre Zuspitzungen drängen sie mehr und mehr zu einer Entscheidung. Sie muss den Schritt allein gehen. Darja Stockers außergewöhnliches Debütstück erzählt von einem widersprüchlichen Befreiungsschlag, vom Aushaltenkönnen und von schmerzhaften Lösungen. Und von der Notwendigkeit zu träumen. Uraufführung: 18.03.2006, Theater an der Winkelwiese, Zürich, Regie: Brigitta Soraperra Deutsche Erstaufführung: 22.04.2006, Hannover Österreichische Erstauff: 27.03.2008, TAO! Theater am Ostweinplatz, Graz Zornig geboren Mindestbesetzung 2 D, 2 H Octavia hat ein bewegtes Leben hinter sich: Sie war in der Resistance, hat KZ und Arbeitslager überlebt und sich auch nach dem Krieg immer durchgeschlagen. Ihre widerständige Art scheint sich auf ihr Umfeld zu übertragen. In ihrer neuen Wohnung kreuzen sich ungewöhnliche Lebenswege. Marie, Octavias Enkelin, engagiert sich für Hilfsprojekte in Afrika. Benjamin, Octavias Sohn, kann seine bewegte politische Vergangenheit nicht vergessen. Micha, Sohn eines (Ex?)Mannes von Octavia, sucht nach der Spur seines Vaters, die sich in Nordafrika verliert. Micha und Marie werden schließlich nach Südspanien aufbrechen, um in riesigen Plantagen verschwundene afrikanische Freunde zu suchen, die sich auf den gefährlichen Weg ins verheißungsvolle Europa begeben hatten. In das Generationen-Tableau schneidet Darja Stocker Szenen der Französischen Revolution: Die Kurtisane Olympe de Gouges wirbelt mit ihren Ansichten über die Emanzipation der Frau die Pariser Verhältnisse durcheinander. Als Schriftstellerin und Politikerin gewinnt sie an Einfluss bis sie den Revolutionsführern zu gefährlich wird. Die unangepassten Figuren in Darja Stockers neuem Stück suchen nach individuellen Ansatzpunkten gesellschaftlicher Veränderungen. Es sind die Frauen, die in Zornig geboren die Initiative ergreifen. Uraufführung in der Regie von Armin Petras bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen am 4. Juni 2009. Berliner Premiere am 24. September 2009 im Gorki Studio. Reicht es nicht zu sagen ich will leben Besetzung variabel „Meine Heimat ist da wo mir die Dinge nicht egal sind.“ Zusammen mit der Autorin Claudia Grehn (Verlag der Autoren) hat Darja Stocker Gespräche, die sie mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und Generationen geführt haben, zu einer Szenencollage verdichtet, die verschiedene Aggregatszustände des Aufbegehrens, angefangen von schlichter Empörung bis hin zu aktivem Widerstand, ausloten. Es ist ein scharfzüngiges Gesellschaftspanorama entstanden, in dem der Einsatz, dieser an den unterschiedlichsten Fronten kämpfenden Individuen, am bleiernen Konsens über die Unveränderbarkeit der bestehenden Verhältnisse abprallt. Je selbstbestimmter und radikaler diese Figuren vom Manager über die Studentin, Altenpflegerin oder Asylbewerberin gegen Hartz IV, Pflegenotstand, Residenzpflicht usw. agieren, desto weiter werden sie in ein privates wie öffentliches Abseits gedrängt, landen in der Gosse oder im Gefängnis. Der Text der beiden Autorinnen führt den Titel in jedweder Hinsicht ad absurdum. Er ist ein berührendes Zeitdokument, ein vielstimmiges Manifest wider das Einvernehmen der politischen Ohnmacht: „Jeder der es sehen kann kriegt einen Vogel Der im Kopf rumpickt und eine Ahnung in die offene Wunde singt.“ Uraufführung: 30.06.2011, Deutsches Nationaltheate Weimar, Regie: Nora Schlocker Uraufführung: 28.09.2011, Schauspiel Leipzig , Skala, Regie: Nora Schlocker Quelle: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag http://www.henschel-schauspiel.de/en/theater/autor/1116/darja-stocker Rezensionen Zornig geboren – Armin Petras’ Uraufführung von Darja Stockers neuem Stück Utopisch, skeptisch, energetisch Von Dorothea Marcus Die Personen sind inzwischen umbenannt worden. Recklinghausen, 4. Juni 2009. Länger hat es gebraucht, bis Darja Stocker ihr zweites Stück geschrieben hatte länger als üblich unter hochgelobten Nachwuchsautoren, besonders wenn sie erst 26 Jahre alt sind. Ein Jahr brauchte sie ihr erstes zu schreiben: Mit Nachtblind, einem Stück über Gewalt von Jugendlichen aus scheinbar intakten Familien, hat sie 2005 den Heidelberger Stückemarkt gewonnen und wurde gleich zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Leben können wird sie von diesem Schreibrhythmus vermutlich schwerlich andererseits kann es Theatertexten ja auch nur gut tun, nicht in einem halben Jahr aus dem Boden gestampft zu werden, um nach einer Uraufführung für immer zu verschwinden. Man merkt Darja Stockers Stücke an, dass sie Tiefe haben und suchen, sie erzählen konkrete Geschichten in einer poetisch verdichteten, durchgearbeiteten Sprache. Das fällt auch an ihrem zweiten Stück so angenehm auf, das Darja Stocker für das Berliner Maxim Gorki Theater als Auftragswerk geschrieben hat und das Armin Petras nun bei den koproduzierenden Recklinghauser Ruhrfestspielen zur Uraufführung brachte (die Berliner Premiere findet im September statt). Ist Widerstand möglich? Bei Zornig geboren handelt es sich um eine dichte Aneinanderreihung von kleinen, zunächst zusammenhanglosen Szenen aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen, in denen es darum geht, ob und wie politischer Widerstand möglich ist in der Französischen Revolution, in der Nazi-Zeit, heute. In der Gegenwart beginnt das Stück mit Sophie, gespielt von einer hinreißenden Britta Hammelstein: Sophie besucht ihre Großmutter in Biarritz, Olivia, die in der Resistance war die jugendliche Cristin König ist leider mit ihrer zottelig grauen Perücke und ihrem schwarz glitzernden Abendkleid als Großmutter etwas unglaubwürdig. Micha (Carlo Ljubek), aus einer ganz anderen Welt aber dennoch aus der Gegenwart, träumt dagegen davon, Maler zu werden und sucht seinen Vater, der ihn in einem One-Night-Stand gezeugt hat. Mara wiederum kommt aus einem osteuropäischen Land und lebt hier mit einem Mann, der sie aushält, gespielt wird sie von Anja Schneider sehr affektiert mit aufgeworfenen Lippen, hautengem roten Kleid und großem Ausschnitt. Und ausgerechnet sie, die aussieht wie eine Sexarbeiterin, verwandelt sich auf der Vergangenheitsebene in die historische Figur der Olympe de Gouges, die Frauenrechtlerin der Französischen Revolution, als eine der ersten Opfer von Robespierres Terror mit 45 Jahren hingerichtet. Sophie wird zur Schreiberin, die Olympe das Lesen und Schreiben erst beibringt. Mit gepuderten Gesichtern, Reifröcken und barock hochgetürmten Haaren erzählen sie sich ihre Lebensgeschichten und -pläne. ... es kommt darauf an sie zu verändern Es gibt zunächst keine Zusammenhänge zwischen den Handlungs- und Zeitebenen, außer dem inneren Furor und das Bedürfnis, etwas zu ändern an dieser Welt. Armin Petras hat alle konkreten Beschreibungen im Stück Klaviere, Chaiselonguen, Umzugskartons ignoriert und auf die Bühne lediglich drei Quader aus zusammengeschnürten Wasserkanistern gestellt, im Hintergrund die Videolandschaft eines Schlachtfelds mit Schiffen oder ist es eine Wüstenlandschaft? Projiziert werden gewaltige, zuckende Bilder zu suggestiver Musik von Radiohead oder dem wütenden Song „La rage“ der globalisierungskritischen Rapperin Keny Arkana Petras zeigt auch gleich Ausschnitte des extrem schnell geschnittenen Videos. Wie ist politischer Widerstand möglich? Darja Stocker und Armin Petras umkreisen diese Frage in assoziativ und elliptisch erzählten Geschichten über Einzelfiguren, die mit absolutem Einsatz ihres Selbst die Welt verändern wollen und letztlich scheitern. Ob unter der Guillotine oder so wie Micha und Sophie in der Gegenwart, in der sich sich finden, um ihren afrikanischen Freund Somu zu retten, der bei der Flucht nach Europa an einem Zaun gestrandet ist, von Polizisten gefoltert wird aber schließlich doch stirbt. Ein Video zeigt dazu Puppen, die in Zäunen hängen oder tot am Boden liegen. Rundumschlag über Elend der Welt Es ist schon beeindruckend, wie diese großen, unzähligen Geschichten von Petras wie hingetupft erzählt werden und dem Zuschauerkopf größtmögliche Fantasietätigkeit erlauben: die Folterszene wird vom Maler Micha vorweggenommen, in dem er Somu ein rotes Zeichen auf eine Leinwand malt, die er anschließend zerschneidet auf der Leinwand flimmern danach Menschenmassen, Ozeanwellen, verhungerte Kinder, Hühnerkadaver an der Stange. Dabei haben die Schauspieler und ihr Regisseur Stockers Stück als Steinbruch und Anregung benutzt große Passagen wurden durch Textimprovisationen erweitert und verändert. Auch der Schluss: „Ich will zurück in mein Land“, schreit Mara. „Da ist Krieg“, warnt Sophie, „Ja Krieg“, ruft Mara. Natürlich haben sich Stocker und Petras dabei viel zu viel vorgenommen in ihrem Rundumschlag über das Elend der Welt, Globalisierung, afrikanische Flüchtlinge, Europas grausame Grenzen, Welthunger, Frauenhandel. Und doch werden in Recklinghausen Bruchstücke von Geschichten erzählt, die sich zwar nur mit einiger Anstrengung zusammenfinden und sehr hoch greifen, aber durch die sehr glaubwürdige Identifikationsfigur Sophie doch zusammen gehalten werden. Sie spielt einfach eine kämpferische junge Frau, die, von ihrer Großmutter und historischen Vorbildern inspiriert, für ihre Ideale kämpft. Und damit schlicht ihre einfache, kleine, wenn auch so schaurig vergebliche Geschichte erzählt. So dass zuletzt aus diesem gut gemeinten, gnadenlos überfrachteten Abend, trotzdem eine beeindruckende, mutige, energetische und gänzlich ironiefreie Utopie wird. Zornig geboren (UA) von Darja Stocker Regie: Armin Petras, Bühne: Ulrike Siegrist, Kostüme: Valerie von Stillfried, Video: Niklas Ritter, Dramaturgie: Andrea Koschwitz. Mit: Britta Hammelstein, Jürgen Lingmann, Cristin König, Anja Schneider, Carlo Ljubek. Koproduktion des Maxim Gorki Theater Berlin mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen www.ruhrfestspiele.de Quelle: nachtkritik.de, http://www.nachtkritik.de/