José Mª Moreno Calvo

Werbung
1
DER KONTRABASS VON PATRICK SÜSKIND: DIE MUSIK ALS KONSTRUKTIVES
DRAMATISCHES ELEMENT AUF DER AKTUELLEN BÜHNE
JOSÉ Mª MORENO CALVO
Universitat de Barcelona
Forschungslinie: Untersuchung von musikalischen Erscheinungen im literarischen Schaffen.
ABSTRACT. Das zeitgenössische deutsche Theater weist ein eigentümliches Charakteristikum
auf: Die Musik wird dabei eine selbständige Sprache, die auf der Bühne zur Unterstützung der
dramatischen Handlung dient. Dramatiker wie Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Patrick Süskind
finden in der Tonkunst eine Sprache, die so autonom und wirksam wie jene des Wortes ist, und die
überdies imstande ist, Gestalten und Strukturen im Theaterstück zu bestimmen. Der vorliegende
Beitrag beschränkt sich hauptsächlich auf den schlechthin musikalischen Monolog von Patrick
Süskind, und zwar betreffs der Frage, inwieweit die Musik auf der aktuellen deutschen Bühne als
kreatives Element des Theaterstücks fungiert.
PARAULES CLAU. ??????????????????????????
1. RÜCKKEHR DES THEATERS IN DIE MUSIK
Im Jahre 1805 definierte GOETHE die Tonkunst in seinen Tag- und Jahresheften als das
“wahre Element, woher alle Dichtungen entspringen und wohin sie zurückkehren” (s. WalweiWiegelmann [Hg.] 1985:65). Im Theaterbereich hat sich die Behauptung GOETHEs im 20.
Jahrhundert verwirklicht. Die großen deutschsprachigen Dramatiker haben sich oft echter
Instrumentalmusik für ihre Theaterstücke bedient, und daraus ergibt sich eine künstlerische
Doppelheit: Zwei Ebenen, Wort- und Tonebene, bilden eine Doppelkunst, wobei beide
Kunsterscheinungen zusammenarbeiten, um das Theaterstück zu bilden. Und so haben wir vor zu
beweisen, daß auch dieses Theater —wie alle Dichtungen laut GOETHE— in die Musik
zurückkehrt.
2. MUSIK ZUR GESTALTUNG DER ZEITGENÖSSISCHEN TRAGISCHEN HELDEN
2
Die Musik ist in der deutschsprachigen Bühnenwelt sehr bedeutend: Theater und Musik
sind in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur untrennbar. GOETHE selbst besteht immer
darauf, daß ein Komponist seine Schauspiele musiziere. Und im 20. Jahrhundert ist die
Bedeutung der Musik im deutschsprachigen Theater noch unleugbarer. Das dramatische Schaffen
solcher großen Titanen des deutschen Theaters wie Max FRISCH, Friedrich DÜRRENMATT und
besonders Bertolt BRECHT sind früheres Vorleben der Technik, die Patrick SÜSKIND im Monolog
Der Kontrabaß zur Gestaltung seines Kontrabaßspielers benutzt.
Der Protagonist vom Kontrabaß ist nämlich eine jener musikalischen Gestalten,
musikliebenden Personen, die sehr oft Abbilder seiner Schöpfer sind —musikliebender
Dramatiker— und die ein fatales Verhältnis zur Musik darstellen, als ob ihre Neigung zur
Tonkunst sie sozusagen hilflos zu einem tragischen Ende führen sollte. So tragisch ist der
unglückliche Andri im Parabelstück Andorra (1957/61) von Max FRISCH, der vermeintliche
Jude, der durch seine Musikliebe einer bestimmten Melodie gegenüber geschildert wird. Er
identifiziert sich am Ende des Parabelstücks mit der Melodie aus dem Plattenwähler so sehr, daß
es nach seinem Tod auf der Bühne nichts mehr als diese Melodie übrigbleibt, die jetzt zum
Leitmotiv im strengsten Wagnerischen Sinne geworden ist.
Auch zur Bildung des Stücks Herr Biedermann und die Brandstifter (1952) bedient sich
Max FRISCH von Musik. Der Dramatiker wählt Musikfragmente und -anspielungen aus, die eine
Vielfalt von Zeitepochen umfassen, so daß die dramatische Handlung zu einer Art
„komprimierte” Musikgeschichte wird. Klänge und Geräusche beziehen sich auf ein
kriegerisches Zeitalter, jene Zeit des „tobenden” Krieges, so wie Thomas MANN sie in seinem
Doktor Faustus definierte. Mit anderen Worten ist die Musik, die ein Verhältnis zum
Biedermann-Stück hat, ein Symptom von Mord, Krieg und Gewalt. Also schildert FRISCH genau
jene schwere Zeit von Revolutionen, Machtergreifung und politischer Unbeständigkeit im 20.
Jahrhundert anhand der Musik, die der Dramatiker selbst für dieses Parabelstück sammelte.
Auch Friedrich DÜRRENMATT bedient sich der Musik zum Bau seiner Theaterstücke. Das
bekannteste Beispiel dafür ist die “Tragische Komödie” Der Besuch der alten Dame (Neufassung
1980) und deren zweiter Akt, der besonders musikalisch ist. Wie gesagt benutzte Max FRISCH in
Andorra einen Plattenwähler auf der Bühne. Diesmal läßt DÜRRENMATT Musik aus einem Radio
spielen. Es geht um Die lustige Witwe von Franz LEHAR; somit hebt der Dramatiker auf
3
Tonebene die dramatische Handlung hervor —wir werden die gleiche Technik später bei Patrick
SÜSKIND finden—: Musik und Theaterhandlung stimmen überein, denn Claire Zachanassian, die
alte Dame, benimmt sich als eine lustige Witwe, indem sie stets weitere Männer heiratet und sie
verläßt.
Die Tonkunst ist also imstande, beim Szenenwechsel eine gewisse Ordnung zu schaffen,
das heißt, wenn die Musik auf der Bühne anwesend ist, soll sie dann eine bestimmte Art Ordnung
schaffen: Jene Ordnung der Struktur des Theaterstücks.
In der Folge wollen wir den Monolog Der Kontrabaß von Patrick SÜSKIND besprechen als
sehr bedeutendes Beispiel für den Gebrauch der Musik im deutschsprachigen Theater der
Gegenwart.
3. MUSIK ALS KONSTRUKTIVES DRAMATISCHES ELEMENT
Die tragische Darstellung der Musik auf der Bühne, zur traditionellen dramatischen Kraft
des Wortes beitragend, beschränkt sich nicht nur auf die abgelegenen Epochen der deutschen
Literatur oder auf eine fragwürdige Gegenwärtigkeit. Die Musik ist noch heutzutage auf der
aktuellsten deutschen Bühne anwesend als konstruktives Element des Theaterstücks, indem die
Tonkunst sogar imstande ist, dem Spiel eine gewisse Struktur und eine bestimmte Form zu
verleihen. Das ist der Fall des Theatermonologs Der Kontrabaß, den der Münchner Schriftsteller
Patrick SÜSKIND im Jahre 1980 schrieb und dessen Premiere im September 1981 im
Cuvilliétheater in München war.
Dieses Theaterstück könnte man als ein “Theaterstück für Solisten” definieren, denn die
Existenz des Protagonisten ist hauptsächlich von der Musik bedingt. Die Tonkunst ist in diesem
Monolog so bedeutend und wirkt so subtil, daß man dieses Theaterstück wirklich als ein
Musikstück für Solisten betrachten darf, so wie Dieter SCHNABEL es ausdrückt: „Was noch kein
Komponist komponiert hat, das schrieb jetzt ein Schriftsteller, nämlich ein abendfüllendes Werk
für einen Kontrabaßspieler. Ein Gesamtkunstwerk, das in dieser Art zum Besten gehört, was man
in letzter Zeit auf unseren Bühnen vorgesetzt bekam.“1
4
Mit Recht benutz SCHNABEL den Wagnerischen Begriff “Gesamtkunstwerk”. Beim
Kontrabaß geht es jedoch um die Lösung zum musikalischen Problem des Gesamtkunstwerkes,
d.h. die Schwierigkeit des Zusammenlebens auf der Bühne von Musik und Worten. Schon
GOETHE war sich der Dualität der Tonkunst bewußt, indem er in der Musik “ganz Form und
Gehalt” erkannte (s. Walwei-Wiegelmann [Hg.] 1985:55). Und Bertolt BRECHT kannte die
“musikalischen Probleme” bei der Übertragung des Wortsinnes mit Begleitung von Musik2. Also
halten GOETHE und BRECHT die Musik für ein transzendentales Mittel, das die Tonkunst und das
Denken zusammenfassen muß.
Im Monolog von SÜSKIND besteht das traditionelle Mißverhältnis zwischen Wort und
Musik nicht mehr. Traditionellerweise ist das Wort der Sinnesträger, der die Botschaft bringt,
während
die
Musik
im
Szenenhintergrund
eben
eine
oberflächliche,
begleitende
Nebenerscheinung bleibt. Die Musik im Kontrabaß fügt sich aber in die dramatische Handlung
ein und diese verschmilzt problemlos mit der Musik. Somit gefährdet die Musik die Worte nicht
mehr, denn sie dient zur Hervorhebung des Textes und somit wird der Sinn des Stücks
sichergestellt.
Der Kontrabaß ist freilich imstande, einen ganzen Abend mit Musik zu füllen, denn der
Monolog enthält samt den Worten fünf klassische Musikstücke, wo der Kontrabaß spielt: Die
Zweite Symphonie von BRAHMS, das Vorspiel zu Die Walküre von WAGNER, der erste Satz des
Konzertes für Kontrabaß in E-dur von DITTERSDORF, die Ouvertüre zu Le nozze di Figaro von
MOZART und das Forellenquintett von SCHUBERT. Diese fünf Musikfragmente fungieren als
Zäsur bei der monologischen Darstellung.
Wenn diese fünf Musikstücke zur Identifizierung mit dem Kontrabaßspieler dienen, stellt
ein sechstes Fragment, die Arie der Dorabella aus dem Così fan tutte von MOZART, die
abwesende Protagonistin des Stücks dar. Das ist nämlich eine Arie für Sopranstimme, und Sarah,
die Geliebte des Kontrabassisten, ist genau ein Sopran. In der Dorabella-Arie ist der Kontrabaß
nicht einmal anwesend, nur daß der Kontrabassist mit der Sopranfrau spielen möchte, in die er
sich verliebt hat. Diese Arie ist das einzige Musikstück, welches das Publikum während des
Monologs hört, wo überhaupt kein Kontrabaß spielt. Welche Bedeutung hat also dieses sechste
musikalische Fragment im Monolog? Die Arie der Dorabella unterstützt eben die dramatische
Handlung.
5
Das Publikum ist im Theater daran gewöhnt, von der dramatischen Handlung
ausschließlich durch Worte zu erfahren, und wenn Musik dabei besteht, dann spricht man von
keinem Theater mehr, sondern von Oper. Das ist im Kontrabaß nicht so: Trotz der ständigen
Musik bleibt das Theaterstück ein Theaterstück und wegen eines meisterlichen Gebrauchs der
Musik darf man hier von einem Theaterstück und von keiner Oper sprechen. Was sagen uns die
Worte des Monologs? Daß ein Mann da ist, der sich ausschließlich für einen bestimmten
Musiker —einen Kontrabaßspieler— hält, und der eine Frau begehrt. Das Problem liegt darin,
daß manche unüberwindlichen musikalischen und sozialen Unterschiede bestehen, so daß diese
menschliche Beziehung sich nie verwirklichen wird. Und damit die Achtung auf den Wortsinn
des Monologs bewahrt wird, wirkt die Tonkunst als Wiederholung der Worte auf musikalischer
Tonebene: Man hört den Kontrabaß in fünf Musikstücken, wo dieser spielt. Dennoch ist der
Kontrabaß ist nie allein, er befindet sich immer von anderen Instrumenten umgeben, aber nie
vom Sopran. Die Einsamkeit des Kontrabasses auf musikalischer Ebene in der Gesellschaft des
Orchesters entspricht genau der Einsamkeit des Protagonisten in der konventionellen
Außengesellschaft. In keinem der beiden Gesellschaftsmodelle treffen sich Kontrabaß und
Sopran, Mann und Frau.
Darauffolgend beweisen wir, inwieweit es Patrick SÜSKIND gelingt, die dramatische
Handlung durch die Begleitung von Musik zu unterstützen.
4. MUSIKSTRUKTUR UND TRAGIK IM “KONTRABAß”
Nach einer aufmerksamen Forschung der Gliederung von Musikfragmenten und der
Struktur in diesem Theaterstück kommen wir zum folgenden Abschluß: Patrick SÜSKIND bildet
die Struktur dieses Monologs, als ginge es um ein echtes Musikstück; die Kontrabaßtöne, die der
Protagonist ausstößt, und die musikalische Zwischenspiele —die Schallplatten, die er spielen
läßt— fungieren als konstruktive Elemente, welche die Struktur des Monologs bestimmen. Wenn
man aufmerksam auf die Einordnung von Tönen, Klängen und Musikstücken aufpaßt, kann man
zweifellos das folgende Baumodell erkennen:
6
Musik erklingt <M> 
Musikwissenschaftlicher Teil <MW>
Persönlicher Teil <P>
Musik erklingt <M> 
Es geht also darum, daß der Dramatiker sich solcher Struktureinheiten immer wieder
bedient: Die Musikerscheinungen (a. und d.) bilden eine Art Klammer, worin zwei andere
Grundaspekte des Protagonisten besprochen werden: Jene Aspekte seines beruflichen Lebens, die
sich auf der Bühne in musikwissenschaftliche Vorträge oder Kommentare widerspiegeln (b.),
und solche Aspekte seines persönlichen Lebens wie seine Frustration, seine Traumas und seine
Sehnsucht nach einer Partnerin (c.).
Diese viergliedrige Struktureinheit wiederholt sich immer wieder im Laufe des Monologs
und manchmal übt der Dramatiker eine Variation derselben, als ob es auf der Bühne mit den
Worten um eine echte Musikkomposition ginge.
Die folgende Tabelle enthält eine ziemlich ausführliche Darstellung der Struktureinheiten
im Kontrabaß aus dem musikalischen Standpunkt. Das Resultat sind 14 Einheiten, von denen
eine —die Nummer 8— eine Variation vom Baumodell ist: Sie bildet nämlich eine Art Brücke,
indem sie keine Musik enthält, sondern dabei gibt SÜSKIND den Worten den Vorrang vor der
Musik.
7
Einheit 1
Einheit 7
Zweite Symphonie von BRAHMS erklingt <M>
Vorspiel zu Die Walküre von WAGNER <M>
Rolle von Kontrabässen und vom Dirigenten in Partituren von WAGNER <MW>
einem Orchester <MW>
Feuchtigkeitsverlust
beim
Spielen
des
Vorstellung von Sarah: Sopran und Kontrabaß Kontrabasses; der Kontrabaß als Hindernis für
als Gegenpole <P>
das intime Leben <P>
Kontra-E erklingt <M>
Unterbrechung des Vorspiels zu Die Walküre
bzw.
der
Tonmusik

Übergang
Einheit 2
Identifizierung Musik—Leben <M>
Kontra-E erklingt <M>
Einheit 8 (musiklos)
zur
Stimmlage des Kontrabasses <MW>
Persönliches Instrument und Bogen <P>
Identifizierung Musik—Leben <M>
Flageolett erklingt <M>
Familienkonflikte <P>:
Kontrabaß als Rache an den Eltern: Vater =
Einheit 3
Beamter, Mutter = Flöte
Kontrabaßspielen
als
inzestuöser
Flageolett erklingt <M>
Geschlechtsverkehr mit der Mutter
Erklärung zu den Obertönen <MW>
Misogynie des Protagonisten
Parallelismus Obertöne—Menschen <P>
Einsamkeit des Protagonisten
Pizzicato erklingt <M>
aufgedeckter Alkoholismus
Einheit 4
Das sentimentale Leben WAGNERs; Kontrabaß
als Zwitter von Geige und Gambe <MW>
Pizzicato erklingt <M>
Menschliche
Beziehungen
=
musikalische
Vortrag zur Entwicklung des Kontrabasses in Beziehungen <M + P>: Kontrabaß—Sopran vs.
der Geschichte <MW>
Cello—Sopran
Erfahrung der Streiks in Paris, Vorstellung des Übergang
zu
Tonmusik:
Drei
Halbtöne
8
schalldichten Akustikzimmers <P>
erklingen <M>
„Lärmmusik” aus der Straße erklingt <M>
Einheit 9
Einheit 5
Drei Halbtöne erklingen <M>
„Lärmmusik” aus der Straße erklingt <M>
Technik und Fingersatz des Kontrabasses
Vortrag über WAGNER und dessen Erfahrung <MW>
der Großstadt Paris <MW>
beschädigte Hände <P>
Antipathie gegen WAGNER <P>
Erster Satz des Konzerts für Kontrabaß und
tiefes F erklingt <M>
Kadenz (E-Dur-Konzertes) von Karl Ditters
von DITTERSDORF <M>
Einheit 6
Einheit 10
tiefes F erklingt <M>
Beweisführung
der
Musikdynamik
vom Erster Satz des Konzerts für Kontrabaß und
Kadenz (E-Dur-Konzertes) von Karl Ditters
pianissimo bis zum fortissimo <MW>
Belästigung
der
Nachbarn
durch
die von DITTERSDORF <M>
Durchschlagkraft des Kontrabasses <P>
2. a. Literatur für Kontrabaß: SPERGER,
Vorspiel zu Die Walküre von WAGNER <M>
DRAGONETTI, BOTTESINI, USW. <MW>
2.b. Erneuerung der Sitzordnung im Orchester
durch WEBER. <MW>
Einheit 11
2.c.
Musik
und
Nazitum:
R.
STRAUSS,
FURTWÄNGLER
1. GOETHE-Zitat: Übergang zu Literatur und Verzweifelte
Musik <M>
Lage
Kontrabaßspieler
vom
mittelmäßigen
(„Tuttisten”)
in
der
2.a. Spekulation über das Wesen der Musik <M Orchestergesellschaft <P>
+ L>
GOETHE-Zitat: Übergang zu Literatur und
2.b. GOETHE als Sprachmelodiker; Mystik, Musik <M + L>
Pantheismus und Taoismus <M + L>
2.c. MOZART und die Freimaurerbewegung
9
<MW>
3.a. Skepsis an den Kanon: GOETHE und
MOZART <P>
3.b.
Behinderung
vom
gesellschaftlichen,
sexuellen und musikalischen Leben durch den
Kontrabaß <P>
Ouvertüre zu Le nozze di Figaro von MOZART
<M>
Einheit 12
1. Ouvertüre zu Le nozze die Figaro von
MOZART <M>
2. Verbindung von Musikinstrumenten je nach
der
Klangfarbe:
Kontrabaß—Sopran
vs.
Cello—Sopran <MW>
3. Verbindung von Menschen je nach dem
Charakter:
Kontrabassist—Sopranfrau,
Dirigent—Sopranfrau <P>
Arie der Dorabella (2. Akt Così fan tutte) <M>
Einheit 13
Arie der Dorabella (2. Akt Così fan tutte) <M>
Opernkonventionen <MW>
„Casablanca-Komplex”; Tricks, um den Sopran
auf
ihn
aufmerksam
zu
machen; <L>: Literarisches
Entmythologisierung des Musikerstands <P>
<M>: Musikalisches (Hörbares: Musikstücke,
Straßenlärm <M>
Einzeltöne, usw.)
<MW>:
Einheit 14
Musikwissenschaftliches
(Theoretisches bzw. technische Kommentare)
10
<P>: Persönliches
Straßenlärm <M>
Beweis
von
Spieleinstellung
zum
Kontrabaßspielen <MW>
3.a. Lage des beamteten Musikers <P>
3.b. Boykottplan für die Premiere <P>
3.c. Befreiung vom Orchester und Hoffnung auf
die Kammermusik <P>
4.
Das
Forellenquintett
in
A-Dur
von
SCHUBERT <M> „Das Traumstück für einen
Kontrabassisten, Schubert.” Hoffnung auf ein
neues
Gesellschaftsmodell?
(Kammerorchester).
???????????.- Musik als konstruktives dramatisches Element im Monolog Der Kontrabaß von Patrick Süskind.
Also ist immer dieselbe Struktureinheit vorhanden: Zwei musikalische Erscheinungen und
dazwischen Musikwissenschaftliches und Persönliches oder umgekehrt. Die musikalischen
Erscheinungen
sind
verschieden
je
nach
der
Einheit:
Musikstücke
(durch
Schallplattenaufnahmen), Töne aus dem Kontrabaß: Einzeltöne, Halbtönereihe, Flageolett,
Pizzicato, usw. Manchmal ersetzt bloßes Geräusch die Töne; es handelt sich nämlich um den
Straßenlärm, der zweimal durch das Fenster hineinflutet und ein Sinnbild für jene andere
“Musik” ist —das Tonband des Theaterstücks sozusagen—, die dem Kontrabassisten die
konventionelle Gesellschaft außerhalb des Akustikzimmers anbieten kann.
Im Kontrabaß ist die Musik wie gesehen ein Aufwand, womit sich der Dramatiker mit dem
menschlichen Leben auseinandersetzen kann. In diesem Sinne vernimmt man im Laufe des
Monologs die dreistimmige Polyphonie des Theaterstücks: Nachdem der Protagonist den tiefen
Kontra-E-Ton aus dem Kontrabaß hervorgebracht hat, beginnt er, das Problem seiner Isolierung
zu besprechen. Das Publikum weiß beispielsweise, daß der Protagonist, von der
Durchschlagskraft seines Instruments bedingt, in einem schalldichten Akustikzimmer wohnen
11
muß, wobei er von der Außenwelt isoliert lebt; mit anderen Worten ist die Musik in seinem
Leben daran schuld, daß er sich zur Einsamkeit gezwungen sieht. Trotzdem bietet die Tonkunst
dem Protagonisten eine Tonwelt —jene seiner Schallplatten oder seines Kontrabasses—, die mit
jener anderen “Musik” unverträglich ist, die aus der Außenwelt kommt. In diesem Sinne ist die
“Lärmmusik”, die der Protagonist durch das Fenster vernimmt, nichts mehr als “barbarischer
Lärm von Autos, Baustellen, Müllabfuhr, Preßlufthämmern etc.”, so wie sie eine
Bühnenanweisung beschreibt. Auf diese Weise bestätigt der Kontrabassist die Unversöhnlichkeit
seines Lebens mit der Gesellschaft, in der er leben muß. Noch dazu bedient sich der Kontrabassit
eines musikwissenschaftlichen Vortrages, wobei WAGNER als Paradigma jenes Musikers
erscheint, dem das Leben in der Großstadt —Paris— äußerst peinlich ist. Also führt der Kontra-E
eine musikwissenschaftliche Darstellung ein, deren Gipfel, ihr Fortissimo sozusagen, die
Überlegung über die Unverträglichkeit von Musiker und Stadt am Ende des Abschnitts ist. Auf
diese Weise verflechten sich die drei Stimmen —die Stimme der Tonkunst und die
Doppelstimme des Protagonisten, sowohl seine fachmännische als auch seine intime Stimme—
zur Bildung einer literarischen Polyphonie auf der Bühne.
Sonderfälle von Variation der Struktur sind die Einheit 8 und der Übergang von 10 zu 11.
Die Einheit 8 bildet sozusagen das Zwischenspiel des Monologs. Da der Dramatiker ein
konsequentes Gleichgewicht zwischen Wort und Musik anstrebt, ist dieses Zwischenspiel kein
musikalisches oder instrumentales, sondern es ist ein musikloses Wortzwischenspiel. Unsere
Einheit 7 endet mit der Unterbrechung des Vorspiels zu Die Walküre von WAGNER, welches das
Publikum seither hörte. Auf diese Weise unterbricht der Protagonist die Musik und vollzieht sich
der Übergang zur Einheit 8, deren Thema die pathologische Identifizierung zwischen Musik und
Leben ist.
In dieser Einheit treten alle großen seelischen Konflikte des Protagonisten auf, wobei er
sich —etwa ironischerweise— der Psychoanalyse bedient, um seine traumatische Neigung zum
Kontrabaß zu erklären. Die Pathologie unseres Musikers umfaßt sein Verhältnis zum weiblichen
Geschlecht. In diesem Sinne hält er seine musikalische Tätigkeit, das Spielen seines
Kontrabasses, für das Sinnbild einer inzestuösen Beziehung mit der Mutter. Und da taucht die
Misogynie des Protagonisten auf: Er verbindet den Tod mit der Frau, denn seiner Meinung nach
soll der Tod die verhüllte Grausamkeit der Frau widerspiegeln. Das sind alle Symptome davon,
12
daß die strenge musikalische Lebenseinstellung des Protagonisten seine Perspektive der
Wirklichkeit beschränkt.
Die Einheit 8 enthält überdies einen fünften Bestandteil: Bevor diese 8. Einheit mit der
musikalischen Erscheinung von drei Halbtönen endet, verwirklicht sich die totale Identifizierung
zwischen menschlichen und musikalischen Beziehungen. Das ersieht man aus den folgenden
Behauptungen des Protagonisten: „Und für Cello und Sopran gibt’s nicht viel. Sehr wenig. Fast
so wenig wie für Sopran und Kontrabaß… (…) Und dann denke ich mir: ein grauenvolles
Instrument! Bitte, schauen Sie sich ihn an! Schauen Sie ihn sich einmal an. Er sieht aus wie ein
fettes altes Weib.“3
Wenn sein Verhältnis zu Sarah ausschließlich auf musikalischen Beziehungen beruhen
muß, dann hat es der Kontrabassist schwer, denn die bestehenden Musikkompositionen für
Sopranstimme und Kontrabaß, so der Protagonist, beschränken sich auf zwei Arien von Johann
SPERGER aus dem späten 18. Jahrhundert. Also wenige intime Momente für das Paar, wenn man
eine sentimentale Beziehung als echte musikalische Sache versteht. Eine musikalische Beziehung
zwischen einem Musikinstrument und einer Stimme gleicht also der Beziehung zwischen zwei
Menschen. Erst dann erklingen die drei Halbtöne, mit denen diese Einheit endet.
Auch der Übergang von Einheit 10 zu Einheit 11 ist interessant. Die Einheit 10, reich an
musikwissenschaftlichen Kommentaren, endet mit keiner Musik mehr, sondern mit einem Zitat
GOETHEs betreffs der Musik: “Die Musik steht so hoch, daß kein Verstand ihr beikommen kann,
und es geht von ihr eine Wirkung aus, die alles beherrscht und von der niemand imstande ist,
sich Rechenschaft zu geben”, sagte er zu ECKERMANN am 8. März 1831 (s. Walwei-Wiegelmann
[Hg.] 1985:56). In diesem Ausspruch kann man die Bewunderung spüren, die GOETHE für das
rätselhafte Wesen der Musik gefühlt hat. Und dieses Zitat kommt übrigens im entscheidendsten
Zeitpunkt des Monologs: Das Publikum hört keine echte Musik mehr, keinen Komponisten,
sondern die Worte eines musikliebenden Literaten. SÜSKIND hebt das Faktum hervor, daß eine
Brücke besteht zwischen Wortkunst und Tonkunst. Aus diesem Grunde enthält die 11. Einheit
nicht viel Musikwissenschaftliches —außer einem Kommentar zu MOZART und seinem
Verhältnis zur Freimaurerbewegung—, sondern diese Szene beschäftigt sich eher mit dem
Verhältnis von einem deutschen Literaten zur Musik. Aus diesem Grunde erscheint GOETHE in
diesem Monolog als “Rhythmiker” und “Sprachmelodiker”4, also eine Art Zwischenkünstler und
13
eine Mischung von Dichter und (Sonntags-)Musiker. Dessenungeachtet legt der Kontrabassist am
Ende von Einheit 11 die Ouvertüre zu Le nozze di Figaro auf und die Baueinheiten gehen weiter
bis zum Ende des Monologs mit der bekannten viergliedrigen Struktur zwischen
Musikklammern.
Besonders entscheidend für den Süskindschen Monolog ist der Gebrauch der Mozartschen
Arie der Dorabella, die das Ende des Monologs beschleunigt. Diese Arie markiert nämlich den
Anfang des vorletzten Abschnitts. Da erfährt das Publikum genau, was dem Kontrabassisten
fehlt. Es stellt sich heraus, daß seine musikalischen und sentimentalen Phantasien tatsächlich auf
einer Geistesstörung beruhen. In diesem Sinne erkennt der Protagonist: “Wissen Sie, was ich
brauche? Ich brauche immer eine Frau, die ich nicht kriege. Aber so wenig wie ich sie kriege,
brauche ich auch wieder keine”5.
Letzten Endes verzichtet der Protagonist immer darauf, den belästigenden Kontrabaß zu
beseitigen. In diesem Sinne benimmt er sich wie ein echter Held der klassischen Tragödie, indem
er sein tragisches Schicksal neben seinem Musikinstrument erkennt und annimmt. Also beharrt
dieser Held der Gegenwart auf dem Kontrabaß, der Grenze, die ihn von den Frauen trennt. Und
da finden wir den seelischen Konflikt des Protagonisten: Einerseits begehrt er eine Frau,
andererseits bleibt er dem Hindernis treu —dem Kontrabaß—, das ihn von dieser Frau trennt.
Diese Haltung hat eine populäre Bezeichnung in Psychologie: Es geht um den sogenannten
“Casablanca-Komplex”: Der Mann verschafft sich Vergnügen, solange er sich eine ideale Frau
vorstellt, mit der er in seiner Phantasie eine Liebesbeziehung erlebt, denn wenn diese Beziehung
sich verwirklichte, dann wäre das Vergnügen zu Ende. Die Bezeichnung beruht
selbstverständlich auf dem berühmten Kinoausdruck “Uns wird immer Paris übrigbleiben”.
Und so kommen wir zum ungewissen Ende des Monologs: Die letzte Absicht des
Kontrabassisten ist, die Festspielpremiere des Wagnerischen Rheingold zu boykottieren, indem
er aus der Bühne einen Schrei ausstößt. Im Moment bleibt am Ende des Monologs auf der Bühne
für das Theaterpublikum nur —Musik. Und das ist zwar kein Zufall, sondern SÜSKIND läßt
absichtlich Musik erklingen. Es ist eine bestimmte Art Musik, welche die Hoffnung des
Protagonisten darstellen soll. Es ist nämlich Kammermusik, genau der erste Satz des
Forellenquintetts von SCHUBERT, womit der Monolog zum Schluß kommt. Diese Kammermusik
hat auch eine bestimmte Bedeutung, die sich in die dramatische Handlung integriert: Die
14
Hoffnung der Kammermusik am Ende des Stücks symbolisiert die Hoffnung auf ein Weiterleben
des Kontrabaßspielers innerhalb einer reduzierten Gesellschaft, jene des Kammerorchesters; das
ist eben ein Sinnbild einer vollkommeneren Gesellschaft von Elitepersönlichkeiten, ausgesuchten
Individuen in einem kleineren Kollektiv, das den armen Kontrabassisten nicht mehr verschlingt
wie im großen Staatsorchester. Also flieht der Protagonist am Ende des Monologs vor seiner
Isolierung —als ob er die springende Forelle wäre, die das Schubertsche Quintett in Erinnerung
bringt— und macht sich auf den Weg nach der entscheidendsten Musikaufführung seines
Lebens.
BIBLIOGRAPHIE
Brecht, Bertolt. 1967. Über Musik. Gesammelte Werke, Bd. 15. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Verlag.
Dürrenmatt, Friedrich. 1985. Der Besuch der alten Dame. Zürich: Diogenes Verlag.
Frisch, Max. 1976. Andorra. Max Frisch Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Bd. IV·2.
Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Frisch, Max. 1976. Herr Biedermann und die Brandstifter / Biedermann und die Brandstifter. Mit
einem Nachspiel. Max Frisch Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Bd. IV·2. Frankfurt
am Main: Suhrkamp Verlag.
Süskind, Patrick. 1984. Der Kontrabaß. Zürich: Diogenes Verlag.
Walwei-Wiegelmann, Hedwig, Hg. 1985. Goethes Gedanken über Musik. Frankfurt am Main:
Insel Verlag.
1
Süskind, Patrick. 1984. Der Kontrabaß. Zürich: Diogenes Verlag. S. 99.
BRECHT lobte die Songmusik seines Kollegen Hanns EISLER für das Stück Die Rundköpfe und die Spitzköpfe wie
folgt: Diese Musik vermeidet narkotische Wirkungen, hauptsächlich indem sie die Lösung der musikalischen
Probleme verknüpft mit dem klaren und deutlichen Herausarbeiten des politischen und philosophischen Sinnes der
Gedichte.
3
Süskind, Patrick. 1984. Der Kontrabaß. Zürich: Diogenes Verlag. S. 47-49.
4
Ebenda. S. 64.
5
Ebenda. S. 77.
2
Herunterladen