Zusammenfassung des Skripts „Einführung in die Soziologie & Einführung in die Gesellschaftsanalyse“ von Prof. Christoph Lau, Gabriele Holland, Reiner Keller (3. Auflg. 2002, Lehrstuhl für Soziologie an der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg) Zusammenfassung von >somakoma< 1. Das Thema der Veranstaltung Erste Annäherung an den Begriff der „Soziologie“ - - Soziologie ist, wie alle anderen Wissenschaften auch, eine unübersichtliche Wissenschaft. Sie umfasst heute ein breites und heterogenes Spektrum an Forschungsfragen mit unterschiedlichen methodischen Vorgehensweisen in einer großen Anzahl Soziologischer Teildisziplinen. Sie ist nicht nur eine rein universitäre Disziplin, sondern spielt auch eine Rolle bei fast jeder öffentlichen Diskussion Entstand im 19. Jhrd. Aus dem Interesse an den aktuellen tiefgreifenden Veränderungen der damaligen Zeit, also das Verhältnis von sozialem Wandel einerseits und gesellschaftlicher Stabilität (soz. Ordnung, Integration etc.) andererseits. Dies war ein Grundthema aller klassischen Soziologen und wird auch heute wieder aktuell. Wichtige Wandlungsprozesse der Gegenwart - ökonomische (Arbeitsmarkt-)Entwicklungen, z.B. - Weltwirtschaftliche Verflechtungen - Ende der Vollbeschäftigung - Veränderung der Bedeutung von Arbeit - wissenschaftlich-technische Entwicklungen, z.B. - globale Vernetzung (Kommunikations- u. Transporttechnologien) - Gen- u. Reproduktionstheorien - Migrations- u. Mobilitätsbewegungen, z.B. - globale Flüchtlings- u. Arbeitskräftebewegungen - Massentourismus - weltweit agierende Kulturindustrien und Mediennetze - zunehmende soziale Ungleichheiten, z.B. - Nord/Süd-Gefälle - Schere zw. arm/reich - gesellschaftliche Naturverhältnisse - Umwelt- u. Risikodiskussion - Internat. Umweltpolitik - soziokulturelle Veränderungen - Neue Individualisierungsschübe - Auflösung der Kleinfamilie - Enttraditionalisierung - Soziale Bewegungen All diese Entwicklungen zeigen, dass wir es auch heute mit einer Phase des (beschleunigten) gesellschaftlichen Wandels zu tun haben. Es gibt dabei verschiedene Vorschläge, diese Veränderungen auf den Begriff zu bringen: - postindustrielle Gesellschaft -> gekennz. Durch Dienstleistung u. Wissensproduktion - Postmoderne -> Auflösung der Einheitlichkeit der Gesellschaft - Reflexive Moderne -> neue, grundsätzlich veränderte Stufe moderner Gesellschaften, in der Dynamiken der Modernisierung ihre eigenen Grundlagen aufheben - Risikogesellschaft -> Bewusstsein der Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Erlebnisgesellschaft -> unterschiedlichste ästhetische Maßstäbe bestimmen d. Alltag Multioptionsgesellschaft -> Vielzahl von Auswahlmöglichkeiten Informationsgesellschaft -> Information wird wichtiger als Arbeit 2. Soziologische Grundannahmen: 2.1. Gesellschaftsbegriff und soziologische Fragestellungen Was ist Soziologie? Dazu Peter Berger (in „Einladung zur Soziologie): - Soziologie ist das Interesse am Durchschauen des Spiels, das die Anderen (Anm.: sich selbst nicht zu vergessen!) spielen beinhaltet das Aufzeigen verborgener gesellschaftl. Prozesse, die das Handeln der Menschen prägen Soziologie kultiviert die Neugier, hinter die Fassaden zu schauen Disziplin, welche Gesellschaft mittels wissenschaftl. Methoden begreifen will Forschungsgegenstand d. Soziologie ist (für Berger) der Mensch Einige Kriterien für Wissenschaftlichkeit (nach Berger) - muß sich innerhalb der Grenzen einer spezifischen Systematik bewegen d. Wissenschaftler muß pers. Neigungen objektivieren u. Kontrollieren Wahrnehmen statt urteilen Zentrale Soziologische Fragen (Berger) - Was treiben die Menschen (hier) miteinander? Beziehungen der Menschen untereinander Institutionelle Festlegung dieser Beziehungen Beherrschende Kollektivvorstelllungen Gesellschaftsbegriff Es gibt in der Soziologie keine allgemeingültige Definition dessen, was Gesellschaft ist. - Georg Simmel: Spricht lieber von „Formen der Vergesellschaftung“ als von Gesellschaft. Diese sind für ihn „all die Tausend, von Person zu Person spielenden, momentanen oder dauernden, vorüberfliegenden oder dauerhaften Beziehungen“. Er vergleicht dies mit einem kontinuierlichen Spinnen von Fäden (Verknüpfungen) zwischen den Individuen. - Gesellschaft wird praktisch oft gleichgesetzt mit einem Nationalstaat, etwa „die Deutsche Gesellschaft“ - Lau: ~ Gesellschaft ist ein von Menschen selbst geschaffenes Netz, ein Komplex, ein Beziehungsgewebe ~ Dieses Beziehungsgewebe entsteht nicht absichtlich, sondern als Ergebnis von Handlungsverkettungen und deren beabsichtigter oder unbeabsichtigter Folgen ~ Soziologie beschäftigt sich damit, wie diese Beziehungen aussehen, gemacht werden, einen Zwang ausüben oder sich verändern. ~ Soziologie fragt danach, welche gesellschaftl. Ursachen beobachtbaren Sachverhalten zugrunde liegen. Sie spürt die nicht gewussten oder vergessenen gesellschaftl. Ursachen u. Mechanismen von Phänomenen auf. ~ Gesellschaft besteht aus Strukturen, aus immer wieder kehrenden Verhaltensmustern (-> Regeln und Konventionen) Strukturen Sich wiederholende Ordnungsmuster innerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen. Wichtig bei der Frage nach Aufrechterhaltung u. Wandel von gesellschaftlicher Ordnung. Es ändern sich (bei Revolutionen oder Reformationen) niemals alle Strukturen gleichzeitig, es handelt sich vielmehr Immer um einen Mix aus Altem und Neuem) Ursachen gesellschaftlicher und sozialer Wandlungsprozesse Die Frage nach den Ursachen gesellschaftlichen Wandels können nur theorieabhängig beantwortet werden -> Die Prämissen legen die Antworten fest. Ursachen des Wandels können - sowohl von innen: Soziale Ungleichheiten, Entwicklung neuer Technologien, Umweltzerstörung... - als auch von außen kommen: Kriege, Naturkatastrophen etc. Verschiedene Erklärungsansätze: Karl Marx: Entwicklung der Produktivkräfte (d.h. Art u. Weise d. Güterproduktion) u. insbesondere technische Veränderungen sind Haupttriebkraft sozialen Wandels Spencer, Durkheim, Simmel, u.a.: Motor des gesellschaftlichen Wandels ist die verbesserte Anpassung an Umweltbedingungen. So führen Arbeitsteilung, Spezialisierung etc. zu Leistungssteigerungen in der Produktivität u. damit zu gesellschaftlichem Wandel. Dahrendorf u.a.: betonen mehr den Aspekt, daß Gesellschaften immer konfliktreiche Gebilde sind, da sie aus konkurrierenden Interessenlagen u. widersprüchlichen Strukturen bestehen. Soziale Akteure stehen unter Spannung (Bsp: Erwartungen an moderne Frau). Ziele der Soziologie Emile Durkheim (in „Regeln der soziologischen Methode“ 1885): - Betrachten d. soziologischen Tatbestände wie Dinge - Geht davon aus, dass es gesellschaftliche Grundlagen (ähnlich den Naturgesetzen) gibt -> er geht von best. Regelmässigkeiten in der Gesellschaft aus. - Gesellschaft ist eine Wirklichkeit „sui generis“, d.h. nicht auf psychologische oder sonstige Faktoren zurückzuführen. - Die interne Logik der gesellschaftlichen Prozesse lenkt das Handeln d. Menschen Max Weber (1864-1920): - Forschungsgegenstand d. Soziologie sind die Sinnzusammenhänge d. Handelns - „Soziologie ist eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“ - das Forschungsobjekt, der Mensch, ist besonderer Forschungsgegenstand, da er sich schon immer selbst deutet und zu einem großen Teil aus Bedeutungen besteht. - Soziologie untersucht das Netz aus Bedeutung, Erwartung, Verhalten, die Strukturen und Institutionen, die sich aus der wechselseitigen Beziehung der Menschen aufeinander ergeben. Weber und Durkheim widersprechen sich hier nicht. Gesellschaftliche haben sowohl eine objektive Faktizität, werden andererseits aber auch konstruiert durch die Tätigkeit handelnder Individuen. Hierzu Luckmann/Berger: „Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.“ Soziologisch ≠ sozial Soziales Problem: Zielvorstellungen und tatsächliches Verhalten (bzw. Situation) stimmen nicht miteinander überein. z.B. Kriminalität, Armut, Korruption, Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung Soziologisches Problem: kann soziologisch (d.h. mit den Mitteln der Soziologie) untersucht werden. Der Soziologe kann das Problem aber nur erkennen und benennen, nicht aber lösen (vgl. Henecka) 2.2 Theorien, Empirie, Methoden Empirie: bezieht sich auf die objektive soziale Realität, die sich in methodisch kontrollierten Tatsachenbeobachtungen darstellt Methoden: Regeln, Prinzipien und Verfahren, nach denen 1. die theoretische Erklärung bzw. das Verstehen sozialer Sachverhalte erfolgt 2. die Bedingungen für die Überprüfung und Widerlegung allgemeiner Theorien angegeben werden. Theorien: - Systeme von allgemeinen, logisch widerspruchsfreien Aussagen über die Wirklichkeit. - enthalten Grundannahmen, aus denen weitere Annahmen abgeleitet werden können, benennen kausale und funktionale Zusammenhänge und enthalten eine Definition ihres Gegenstandes. - Sie sind die Brille, durch die die Welt betrachtet wird. - dienen d. Sammlung u. Organisation d. Wissenschaftlichen Wissens, ermöglichen die Beobachtung von realen Phänomenen und erklären einzelne Tatsachen. - strukturieren damit nicht zuletzt die innerwissenschaftliche Diskussion 2.3 Unterscheidung theoretischer Ansätze 2.3.1 Mikro- u. Makroperspektiven Soziologie beschäftigt sich sowohl mit Individuen als auch mit Gesellschaft -> Mikro- u. Makroerspektive (vgl. Photoapparat – große u. kleine Brennweite) Mikroperspektive: - beschäftigt sich mit konkreten Beziehungen zw. wenigen Personen - Aussagen- u. Begriffsgerüst erlaubt die Untersuchung eher kleiner Phänomene - Aussagen über die im Kollektiv Handelnden oder deren Handlungen machen Aussagen über die Gesellschaft möglich - Bsp: Rational-Choice-Theorie Symbolischer Interaktionismus Makroperspektive: - Betätigungsfeld: das “große Ganze”, z.b. Wandel i.d. Gesellschaft, verborgene strukturelle Mechanismen u. Prozesse - Bsp.: Strukturfunktionalismus, Systemtheorie, materialistische Gesellschaftsth. Es gibt dabei nicht nur diese beiden extremen Perspektiven, sondern eine Reihe dazwischenliegender Ansätze auf „Meso-Ebene“, die sich mit den dazwischenliegenden Einheiten befassen und auch solche, die bemüht sind, Mikro- u. Makroebene zusammenzubringen. 2.3.2 Soziologische Theorien <-> Theorien d. Gesellschaft Soziologische Theorien: Allgemeines, systematisch, kohärent und konsistent zusammenhängendes Aussagen- u. BegriffsGerüst mit universellem Geltungsanspruch -> somit geeignet für die Analyse jedes gesellschaftlichen Problems in jeder beliebigen Gesellschaft zu beliebiger Zeit. Sie sind abstrakte Modelle für die Regelmässigkeiten und Zusammenhänge sozialer Phänomene. Beispiele: - Systemtheorien von Talcott Parsons o. Niklas Luhman - Theorie d. Strukurierung (Giddens) - Theorie d. Praxis (Pierre Bourdieu) - Theorie d. Komm. Handelns (J. Habermas) - Kritische Theorie d. Frankfurter Schule - Unterschiedl. Handlungstheorien d. Rational-Choice - Symbolischer Interaktionismus - Verstehende Soziologie (Weber) Theorien d. Gesellschaft (oder auch Gesellschaftstheorien): Zeitdiagnostische Analyse von historisch-räumlich konkret situierten Gesellschaften Beispiele: Theorien d. - Industriegesellschaft - spätkapitalistischen Gesellschaft - Erlebnisg. - Risikog. - Postmodernen G. Die Unterscheidung bedeutet hier nicht, daß es zwischen beiden keine Berührungspunkte gäbe. Auch Theorien auf Makroebene haben oft einen zeitdiagnostischen Bezug. Umgekehrt lassen sich aus (zeitdiagnostischen) Theorien d. Gesellschaft allg. Soziologische Theorien ableiten. Die klassischen Soziologen (Durkheim, Weber, Simmer,...) begannen alle mit zeitdiagnostischen Theorien d. Gesellschaft. Erst im Zuge mit ihren Bemühungen, Soziologie als ernsthafte Wissenschaft u. Universitätsfach zu etablieren, begannen sie mit der Ausarbeitung (von Elementen) soziologischer Theorien. 3. Typen des Handelns „Soziales Handeln“ - Zurückgehend auf Max Weber - Als kleinste Einheit d. Soziologie - 2 Kriterien: Intentionalität und in Bezug auf andere Zur Erklärung dessen, was innerhalb einer Gesellschaft geschieht, reicht es nicht, ihre Mitglieder zu beobachten und zu beschreiben. Man muss vielmehr den subjektiven Sinn, den der Handelnde seinem Handeln gibt, verstehen. Dies ist aber praktisch nicht möglich, da man nicht jeden einzelnen Akteur nach seinen Absichten befragen kann Einführung von typischen Handlungsorientierungen Handlungsorientierungen - sind nicht mehr als ein gedankliches Konstrukt Bsp. Schach: Der Sinn jedes Zuges lässt sich erahnen, da man Sinn, Ziel u. Regeln Kennt - wichtig dabei 1. Normativer Rahmen (Kenntnis d. Regeln) 2. gemeinsame Deutung d. Situation 3. materielle u. immaterielle Verteilung von Handlungsmitteln Die Soziologie hat verschiedene Typologien entwickelt, mit denen sich zentrale Handlungsorientierungen unterscheiden lassen. Typologien sind weder wahr noch falsch, allenfalls zweck- oder unzweckmässig. Handlungsorientierungen sind begriffliche Werkzeuge, um die soziale Wirklichkeit (Absicht u. Folge d. jeweiligen Handlung) zu untersuchen und zu verstehen. Ist für die Soziologie nicht allein ausreichend, da - soziales Handeln meist nicht durch formelle Regeln geprägt ist. Ausserdem gibt es eine Reihe informeller Regeln -> Intransparenz - Hermeneutischer Zirkel d. Soziologie: Das Ganze kann nur durch seine Teile verstanden werden und umgekehrt - Soziale Strukturen können auch unmittelbar durch Handeln verändert werden Habermas z.B. unterscheidet dabei 4 Typologien: 1. Teleologisches Handeln (rationales/zielgerichtetes Handeln) Bezieht sich auf gegenwärtige oder zukünftige Sachverhalte in der Welt. Ist orientiert an egozentrischen Erfolgs- und Nutzenkriterien. Bsp.: Schachspiel, Autokauf (wenn nach rationalen Kriterien) Lässt sich weiter unterscheiden: - Zweckrationales Handeln: Niemand hindert einen an der Erlangung seiner Ziele. Es geht für den Akteur nur darum, zwischen versch. Handlungsalternativen die Beste (= die kostengünstigste u. erfolgsversprechendste auszuwählen Vorraussetung: (Minimum an) Information über die Wirkungen der Handlungsalternativen. Ist eine Idealisierung, da selten bloßes zweckrationales H. vorliegt - Strategisches Handeln: Andere können einen an der Verfolgung der Ziele hindern, gehen also in die Überlegung mit ein, wie das Ziel erreicht wird. Der Handelnde muss versuchen zu erahnen, wie der Andere auf die Jeweilige, von ihm gewählte Handlungsalternative reagieren wird. Problem d. Doppelten Kontingenz Der Erfolg strategischen Handelns ist nicht prophezeibar, höchstens durch Modelle zu erfassen. 2. Normenreguliertes Handeln Ist teleologisches Handeln gepaart mit dem Bezug auf Normen, nach denen sich das Verhalten ausrichtet. Bsp.: Autokauf als Statussymbol Normen dienen dazu, das Problem doppelter Kontingenz zu vermeiden, da sie das Verhalten anderer vorhersehbar machen. sind häufig bezogen auf soziale Situationen können sowohl Verbote als auch Gebote sein und enthalten gewisse Spielräume stellen (wie die Regeln beim Schach) die Rahmenbedingungen für rationales Entscheidungsverhalten dar 3. Dramaturisches Handeln bezogen auf die subjektive Welt, das Bewusstsein und die Gefühle des Akteurs. Bsp.: Autokauf als Ausdruck d. Persönlichkeit Der Akteur handelt, um sich selbst zu inszenieren und damit seine Subjektivität (oder Individualität auszudrücken. Kann sich mit anderen Handlungsorientierungen vermischen. 4. Kommunikatives Handeln Die Absicht, eine Verständigung zwischen Personen herzustellen. Sprache= Sprachhandlung/-akt, dient der Koordination von Handlungen Verbindet die ersten 3 Handlungstypen Das Vorwissen legt eine bestimmte Deutung d. Situation nahe, und damit auch die Art des Handelns. 3.1 Rationales Handeln +