Rezensionen 113 Rainer Paris: Der Wille des Einen ist das Tun des

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Rainer Paris: Der Wille des Einen ist das
Tun des Anderen. Aufsätze zur Machttheorie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft
2015, 375 S., 39.90 €
Mit dem vorliegenden Buch, das sich zugleich anschickt, eine Art Summe zu ziehen, setzt der Magdeburger Soziologe
Rainer Paris die Reihe seiner Aufsatzsammlungen zu so verschiedenen Themen
wie Konflikte in Paarbeziehungen, 'normale' Macht, doch auch ephemeren Phänomenen wie Neid und Misstrauen fort.
Erkenntnisleitendes Interesse ist hier jedoch
durchweg, den mal subtileren, mal robusteren Mechanismen der Machtgenese und
-Stabilisierung im Rahmen einer stets als
fragil erachteten sozialen Ordnung des
Alltags nachzuspüren.
Obwohl auch für Paris Macht „universal“ (S. 169) ist, da es schwerfallen dürfte,
sich eine zur Gänze machtfreie Sozialbeziehung vorzustellen, hält der Autor wohltuende Distanz zu den totalisierenden und
damit letztlich inoperablen Großbegriffen
der Macht etwa Foucaults und Bourdieus –
Ersterer, heißt es schlicht, liefere „eher
ungeeignete Werkzeuge“ (S. 15). Anders
liegt der Fall bei Luhmanns Verortung der
Macht als symbolisch generalisiertes
Kommunikationsmedium, das täglich anfallenden 'noise' vorseligiert und den großen
Funktionssystemen zuweist, so auch deren
immer prekäres Miteinander erleichtert.
Zwar von ihm nicht explizit zurückgewiesen, scheint Paris an dieser quasi 'machtneutralen' Bestimmung, von der er nur den
Begriff der „Vermeidungsalternativen“
übernimmt, doch die Unverbindlichkeit
bloßer Medialität innerhalb der Luhmann'schen Möglichkeitssoziologie zu stören, denn Macht bindet, sonst wäre sie nicht
das, was sie ist. Um an die „empirischen
Erfahrungen der Individuen anzuschließen“
(S. 14) und ein Stück „qualitativer Sozialforschung“ (S. 9) zu geben, verbietet sich
für Paris insgesamt, in diesem Rahmen
sicher konsensfähig, der Rekurs auf dergleichen Generalisierungen.
Daher optiert der Autor für Max Webers
Definition, die bekanntlich neben dem
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amorphen Charakter der Macht den Willen
des Einen und seine Chance, ihn auch
gegen das Widerstreben des Anderen
durchsetzen zu können, akzentuiert. Man
weiß, bei Weber kommt es auf jedes Wort
an, ein unverbindliches Räsonnement über
die Macht der Verhältnisse, Strukturen etc.
ist damit aber verunmöglicht. Weiterhin
gerät Macht so nicht zwingend handlungstheoretisch ausgerichtet, Stichwort Ohnmacht, bleibt aber personenzentriert. Paris
verfügt zudem über die Gabe griffiger
Formulierung; Macht, so heißt es bündig,
sei „negative Freiheit“, „Freiheit zur Negation von Freiheit“ (S. 104, 169), setze also
diese immer schon voraus und sei eben der
Mechanismus eines freiwilligen Verzichts
der Beherrschten zugunsten einer sozialen
Ordnungsleistung (S. 169f.) – unschwer zu
erkennen, dass bei Machtfragen letztinstanzlich immer das Hobbes'sche Problem berührt ist.
Weitere häufiger genannte Gewährsmänner soziologischer Theoriebildung sind
Autoren wie Heinrich Popitz und Friedhelm
Neidhardt, die in ihren einschlägigen Texten interaktionistische Überlegungen etwa
zu Normdurchsetzung, Gewalt und Gruppenhandeln vorlegten, doch Paris geht so
weit, seine Analysen von Macht als „spezielle Version formaler Soziologie“ zu annoncieren (S. 13, 196), die außerdem das
Konzept sozialer Figuration zugrunde
legen (S. 15, 196, 292, 347 u.ö.), das über
Georg Simmels 'Dritten' und Norbert Elias
tradiert, aber auch durch die eigenen, zusammen mit Wolfgang Sofsky publizierten
Überlegungen (1994) umrissen ist: Mit der
Beschränkung auf die Dyade, bloßer Faceto-Face-Interaktion, entgingen der Reflexion gerade „mehrstellige dynamische Relationen und Netzwerke“ (S. 173), fraglos
entscheidende Dimensionen dieses situatitiv gebundenen, doch zum Kaskadieren und
institutionellen Verfestigen neigenden
sozialen Grundphänomens.
So ist Paris' Kerndefinition zwar weberianisch, der Durchgang aber auffällig simmelianisch-beschreibungsstark. War sich
Simmel bewusst, dass seine sozialen Wechselwirkungen fast niemals rein zu beobach-
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sozialersinn 16 (2015): 103–116
ten sind, betont auch Paris die notorische
Legierung von Machtphänomenen mit
etlichen anderen und formuliert „vier methodische Schwierigkeiten“ der Analyse (S.
16ff.), nämlich fließende Übergänge (wann
ist Macht?), Gradualität (wieviel Macht?),
Vermischung (Macht und...) sowie Überlagerung (unter A, B und C liegt auch noch
Macht).
Dieses im Grunde recht schlanke methodische Korsett von mittlerer Reichweite,
Figurationsdynamik und jeweils möglichst
gegenstandsnaher Aspekthaftigkeit reicht
für Paris' Erkundungen zwischen Interaktions- und Institutionenanalyse aus, die
Untersuchungen einzelner Machtphänomene ordnen sich nach öffentlichem Bereich
der Politik, intermediären Dimensionen –
typisch für Paris, weil auch die räumlicharchitektonische Dimension reflektierend,
ist etwa „Warten auf Amtsfluren“ (S. 135168) – und interpersonellen Nahbeziehungen wie dem Beraten und Helfen.
Es spricht für den Autor, dass er seinen
Gegenstand gleichermaßen von den Mächtigen als auch „Mindermächtigen“ (S. 247)
her perspektiviert und typische Verlaufsformen sowie Reaktionsmuster auffächert;
beständig wird der Leser im Durchgang
angehalten, die Seite zu wechseln, so dass
die behauptete Situativität der Machtbeziehungen tatsächlich plastisch wird, für ein
simples 'Ihr da oben, wir hier unten' bleibt
nirgendwo Raum.
Die Proben politischer Soziologie sprechen für sich und finden, sobald sie ihren
Gegenstand „als 'geregeltes Getümmel'“
fassen (S. 187), vielleicht zum Inbegriff der
Figurationsdynamik überhaupt. Tatsächlich
vollziehen sie formale Soziologie diesseits
ideologiekritischer Ansätze oder einer
Differenzierung nach der parlamentarischen
„Hosenbodengeographie“ (Klaus v. Beyme) von rechts und links. Deutlich wird
v.a., wie sehr neben den klassischen Problembereichen von Willensbildung, Vermittlungsstrategien, Parteikarrieren, der Stabilität des Charisma etc. politische Macht
heute weitgehend eine Frage der Besetzung
semantischer Felder geworden ist, was die
Kehrseite des Umstands sein mag, dass
„kaum [noch] klar konturierte Aufgabenund Erfolgskriterien“ für politisches Personal zu identifizieren sind (S. 188): Paris
macht an Hand der Proliferation des
'Gleichheits'- und Diskriminierungsdiskurses einen „Automatismus der Wertverschleifung“ aus (S. 276), der normative
Differenzen ignoriert, rationale Argumentation erschwert und, so wäre zu ergänzen,
Politik, ganz im Gegensatz zu ihrer Selbstauffassung, zum bloßen Reaktiv auf Prozesse kurzatmiger Meinungsbildung mit
Obertönen der Empörung herabstuft. Beispiele allgemeiner Soziologie schließen
hier nahtlos an, Drohende etwa finden sich
situiert zwischen „Selbstverpflichtung,
Glaubwürdigkeit und Folgedilemma“ (S.
24), also damit konfrontiert, im Ernstfall
die Sanktion kostenintensiv auch realisieren
zu müssen oder schlagartig der Autorität
verlustig zu gehen; Frechheit, im Erfolgsfall eine punktuelle Übertölpelung der
Mächtigen, kann aus dem Stand heraus in
sozialen Konflikten Vorteile erwirtschaften,
doch hat sie „keine normkonstituierende
Kraft“ (S. 243). Dies hingegen intendieren
soziale Bewegungen, die mit geplanten
Provokationen arbeiten. Wertstiftend, integrieren sie zwar die Mitstreiter im hohen
Maße, doch sollte die Durchsetzung dieser
Werte gelingen, entziehen sich solche
Bewegungen „die Bedingungen ihrer Wiederholung selbst“ (S. 62) – schwierig, hier
nicht an die Geschichte der Grünen, deren
Themen und Vertreter unspektakulär längst
staatstragend geworden sind, und in Kontrast dazu an das Versinken der PiratenPartei in der Bedeutungslosigkeit zu denken, die es nicht nur verabsäumte, die
Bewegung zu verstetigen, sondern auch
nicht daran dachte, volksparteikompatible
Inhalte zu formulieren.
Seit Talcott Parsons' Studie über die
amerikanische Universität ist diese (Groß-)
Institution immer wieder von Soziologen
thematisiert worden, Hinweise auf Luhmanns Sicht des Funktionssystems Wissenschaft und Richard Münchs Entzauberung
der Sonderforschungsbereiche, Graduiertenkollegs, Exzellenzcluster mögen genügen. Tatsächlich bietet der Mikrokosmos
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Universität ja wie kaum ein anderer selten
breite Varianz an sozialen Phänomenen.
Gewiss: „Die Hochschule arbeitet unter der
handlungsleitenden Fiktion, keine andere
Macht als die der Vernunft anzuerkennen“
(S. 111), doch wie Paris dann, gerade bei
hier per definitionem abwesender Gewalt
als Extremform der Macht und höchst
seltenen offenen Drohungen oder gar tatsächlich vollzogenen Strafen das hochkomplexe Geflecht von Gratifikationen, Einflussnahmen und „mikropolitischen Grabenkämpfe[n]“ (S. 115) aufhellt, das ist
allein schon ob des Wiedererkennungswerts
zuweilen erheiternd, macht freilich auch
bitter. Verblüffend ist dann zu lesen, dass
ein doch wohl aus linken Zusammenhängen
aufgebrochener Soziologe hier, ganz so wie
im Essay über die „Autoritätsbalance des
Lehrers“, für reflektierte Autorität und
verantwortungsvolle, wertorientierte Lehre
eintritt (S. 119, 125, 268). Offenbar wurde
in den letzten Jahrzehnten zuviel bildungspolitisches Geschirr zerschlagen, als dass es
nicht Zeit wäre, minimale – aber eben unweigerlich machtbasierte – Standards wieder einzufordern.
Die Höhepunkte der versammelten Arbeiten jedoch finden sich, sobald Paris
ansetzt, gemeinhin für durchweg positiv
genommene soziale Praktiken in Nahbeziehungen wie Lob oder Ratschlag auf die
implizierten Machtkaskaden zu befragen.
Das Lob, gleichsam als Gegenstück der
Drohung, qualifiziert, hebt heraus, und
implementiert doch Asymmetrien von
Reputation und Autorität, setzt immer recht
persistente Machtgefälle, fein gestufte
Abhängigkeiten, diffizile Erwartungs- und
Enttäuschungshorizonte – zu Recht spricht
Paris daher von der „Politik des Lobs“: Wer
die Beschreibung von „Glaubwürdigkeitsproblem[en]“, Spielräumen der Zurückweisung, Folgedilemmata und ganzen „Lobketten“ (S. 82f.) gelesen hat, wird sich künftig
genauer überlegen, was dieser Sprechakt
bewirken kann.
Die Reflexionen zum Beraten und Helfen sind zu veritablen Abhandlungen angewachsen. Wie diese karitativen Bemühungen, meist (nicht immer!) in bester Absicht
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vollzogen, im Grundmechanismus der
Ermächtigung ganz unvermeidlich wahrhafte Schweife von sozialen Verbindlichkeiten, Asymmetrien in kognitiver Kompetenz, Definitionsmacht der Situation, Überund Unterordnung sowie sozialer Reputation nach sich ziehen, ist faszinierend zu
studieren. Der unverbindlichere Rat, Sender
und Empfänger größere reaktive Freiheiten
erlaubend, wird mit der sehr viel engeren
Relation des Helfens kontrastiert. Ungemein sozialisierend sind beide, doch gerade
negativ bindend können die Verstrickungen
über Ignoranz oder dem Affront, der sich
Rat und Hilfe von Unberufenen barsch
verbietet, bis zur Aufkündigung von
Freundschaften wegen unterlassener oder
gar explizit verweigerter Hilfeleistung in
akuter Not reichen, denn Machtphänomene
sorgen prinzipiell auch für die „Ordnung
der Gefühle“ (S. 302), und das ist ein großes Wort. Anlass zur Differenzierung dann
gibt ein „Exkurs über die Spende“, Selbstbestätigung bei Kontaktvermeidung (S.
345f.).
Ein Stück Organisationssoziologie findet sich in der kritischen Reflexion professioneller und damit bürokratisierter Hilfe,
die arbeitsteilig notwendig dazu tendiert,
den Menschen in therapiefähige Segmente
zu stückeln (S. 338ff.). Beispiele aus je
eigener Erfahrung, etwa kafkaeske Behördengänge und das 'Durchreichen' des Patienten von Facharzt zu Facharzt bei komplizierteren Krankheitsbildern, ergänzt der
Leser von selbst.
Als Desiderat mag man empfinden, dass
Paris den Machtbeziehungen im Rechtswesen bisher noch keinen Text gewidmet hat,
insofern erstaunlich, als sie hier bereits in
den räumlich-symbolischen Ordnungen
(Rituale im Gerichtssaal etc.) kondensieren
– ganz zu schweigen vom Reiz, „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann) als
Selbstbeschreibung des juridischen Systems
zu unterlaufen und den hochkomplexen
Figurationen in der Praxis der Rechtssprechung nachzuspüren. Ein Anschluss an die
Methoden und Erträge der Vertreter des
Luckmann'schen Konzepts kommunikativer
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Gattungen (Wolff, Müller 1995) drängte
sich dann geradezu auf.
Ein Wort noch zur Darstellungsweise. Paris
schreibt soziologische Essays, trotz Heinz
Budes (1989: 528) Vermutung, diese Gattung sei nach der heroischen Zeit der Großtheorien wohl nicht zufällig populär, eine
nach wie vor rare Kunst. Obwohl der Autor
mit sehr wenig Terminologie auskommt,
folglich auch vom gebildeten Laien mit
Gewinn gelesen werden kann (nicht zufällig reüssiert Paris seit geraumer Weile mit
vielen seiner Stücke im Merkur), bleibt er
doch, gut soziologisch, niemals eine Definition schuldig, Herrschen ist nicht Führen,
ein guter Rat noch lange keine Hilfe. Dem
Freund taxonomischer Diktion mag sein
Stil dennoch zu narrativ, die Machtbeziehungen in gar zu feiner Verästelung nachgezeichnet sein. Eingewandt sei, dass gerade für die Wirklichkeitswissenschaften das
Bemühen, „ein neues Stück des Sagbaren“
(Bollnow 1989: 63) zu liefern, keineswegs
müßig ist, zumal es der Aufsatzsammlung
auch an amüsanten Passagen nicht mangelt.
Paris' Studien vervollständigen sich
langsam zum Mosaik einer empirisch gesättigten Soziologie des Alltags. Das ist nicht
selbstverständlich, denkt man an die oftmals dürren Erträge strikt phänomenologisch verstandener Erforschung der Lebenswelt. Doch auch jedem an Sozial- oder
gar Gesellschaftstheorie Interessierten
bieten sie eine Fülle von Hinweisen darauf,
wie soziale Ordnung tatsächlich möglich
wird – gerade weil die Arbeiten zu den
einschlägigen Entwürfen und deren erheblicher Abstraktionslage quer stehen, indem
sie konsequent erdnah argumentieren.
Hobbes dagegen wird erst auf der letzten
Seite des Fließtextes erwähnt – neben dem
Anarchisten Kropotkin (S. 355). Ob das
eine sehr absichtsvolle Markierung der
Extrempositionen ist, zwischen denen sich
Sozialität tagtäglich ereignet, sei dahingestellt.
Literatur
Bollnow, O. F. (1989): Versuch über das Beschreiben, in: Zsuzsa Széll u.a. (Hg.): Hommage à Richard Thieberger. Etudes allemandes et autrichiennes, Nizza, 57-75
Bude, H. (1989): Der Essay als Form der Darstellung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse, in: KZfSS, 41, 526-539
Sofsky, W., Paris, R. (1994): Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition, Frankfurt a. M.
Wolff, S., Müller, H. (1995): Ironie als Instrument der 'Wahrheitsfindung', in: ZfS, 24,
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Ingo Meyer
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