Der gute Mensch von Sezuan

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Berthold Brecht: Der gute Mensch von Sezuan
ein Parabelstück (= lehrhafte Dichtung, die eine sittl. Wahrheit gleichnishaft darstellt)
von Bertolt Brecht, das am 4.2.1943 in Zürich am Schauspielhaus uraufgeführt
wurde. Der Dichter Bertolt Brecht lebte von 1898 bis 1956 und schrieb unter
anderem: die Dreigroschenoper, Mutter Courage und ihre Kinder, der kaukasische
Kreidekreis, Herr Puntila und sein Knecht Matti.
Nun zum Inhalt vom "Der gute Mensch von Sezuan":
Zu Beginn des Stücks erwartet man im Städtchen Sezuan das Eintreffen von drei
angekündigten Göttern, die auf der Suche nach wenigstens einem wahrhaft guten
Menschen auf der Erde sind, um die Existenz der göttlichen Gebote zu rechtfertigen.
Nach dem Eintreffen im Städtchen bemühen sich die Götter zunächst vergeblich ein
Nachtquartier zu finden. Lediglich die Prostituierte Shen Te nimmt sie auf, obwohl es
ihr das Geschäft verdirbt. Sie ist aber ein guter Mensch und kann einfach nicht "nein"
sagen. Beim Abschied übergeben die Reisenden an Shen Te einen Geldbetrag,
denn das Gutsein müßte doch mit finanziellem Background noch leichter zu schaffen.
Shen Tes Absicht ist es auch, noch mehr Gutes zu tun. darum hat sie das Geld der
Götter in einem Tabakladen angelegt, der ihr die nötigen Mittel herbeischaffen soll.
Noch ehe das Geschäft aufzublühen vermag, bringen es jedoch die guten Taten
seiner Besitzerin an den Rand des Ruins. Shen Te ist zu gut, um ökonomisch
überleben zu können. Und griffe Shen Te nicht schließlich zu einer List, sie wäre bald
von den Armen völlig ausgesaugt und von den Reichen nach allen Regeln der Kunst
übers Ohr gehauen. Sie maskiert sich und spielt in der Maske ihren eigenen Vetter
und Verwalter des Tabakladens Shui Ta, der ökonomisch zweckmäßig, d.h. ohne
Güte, handelt. So schafft sie sich die Obdachlosen, die bei ihr im Tabakladen
schlafen, vom Hals; den Schreiner, der von ihr 100 Silberdollar für die
Ladeneinrichtung will, kann sie mit nur 20 Silberdollar abfertigen, usw. Shui Ta
bewahrt somit den Tabakladen vor der Vernichtung durch die Armen mit Hilfe von
Härte und Verschlagenheit. Erst als die Hausbesitzerin, in dem sich der Tabakladen
befindet, die Halbjahresmiete im voraus will, sieht Shen Te ihre Rettung aus der
finanziellen Misere nur mehr durch eine reiche Heirat.
Dabei lernt sie den jedoch völlig mittel- und arbeitslosen Flieger Yang Sun kennen,
den die Hoffnungslosigkeit soweit gebracht hat, daß er sich das Leben nehmen will.
Er hätte eine Stelle in Aussicht, wenn er 500 Silberdollar an Schmiergeld aufbringen
könnte. Shen Te bewahrt ihn vor dem Tode und gibt ihm wieder Hoffnung.
Als Shen Te von einem Teppichhändler 200 Silberdollar für die Halbjahresmiete
geliehen bekommt, ist sie sofort bereit, diesen Betrag an den Flieger Yang Sun, den
sie inzwischen liebt, weiterzugeben. Doch damit Sun seinen Posten antreten kann,
muß sie noch 300 Dollar auftreiben. Also muß sie wieder als Vetter Shui Ta
auftreten. Es besteht aber nur noch die Möglichkeit, den Laden zu verkaufen. Da
erklärt der Flieger Sun dem vermeintlichen Vetter Shui Tan, daß er, wenn er das
Geld erhalten habe, ohne die unvernünftige Shen Te nach Peking reisen werde.
Trotz dieser Aussage, die Shen Te als nicht ernstzunehmende männliche Prahlerei
abtut, glaubt sie noch immer an Suns Liebe. Erst bei den Vorbereitungen zur
Hochzeit erkennt sie seinen schlechten Charakter und läßt die Hochzeit platzen. Die
200 Silberdollar erhält sie von Yang Sun auch nicht zurück.
Um das geliehene Geld an den Teppichhändler zurückzahlen zu können, bleibt
wieder einmal nur die Möglichkeit, den Laden zu verkaufen. Also muß wieder einmal
Shui Ta einspringen. Durch eine listige Aktion des verkleideten Vetters Shui Ta wird
auch diesmal der Verkauf verhindert und Shui Ta wird zum Leiter einer Tabak Fabrik.
In dieser Position gibt Shui Ta dem verhinderten Flieger Yang Sun die Möglichkeit,
die von ihm bzw. ihr erschlichenen 200 Silberdollar durch harte Fabriksarbeit
abzuarbeiten.
Somit können nun endlich die 200 Silberdollar an den Teppichhändler zurückgezahlt
werden, der aber durch die verspätete Rückzahlung seine Steuern nicht rechtzeitig
hatte zahlen können und dadurch seine Existenz verloren hat.
Was ursprünglich eigentlich nur den Ausweg aus einer verzweifelten Situation
bringen sollte, nämlich die Umwandlung von der mit Güte unökonomisch arbeitenden
Shen Te zum mit Härte arbeitenden Shui Ta, wird nun zur Dauereinrichtung: Shen Te
tritt immer mehr in den Hintergrund bis sie verschwunden ist.
Es kommt so weit, daß sich die Armen ihrer Wohltäterin beraubt fühlen und Shui Ta
des Mordes an Shen Te anklagen. Das Gericht ist mit den drei Göttern besetzt, die
gehört haben, ihr guter Mensch Shen Te sei verschwunden und sich daraufhin das
Richteramt verschafft haben. Die Anklage lautet auf Beiseiteschaffen Shen Tes mit
dem Ziel, sich deren Geschäft anzünden. Unter Ausschluß der Öffentlichkeit gibt sich
der Angeklagte zu erkennen. Shui Ta bzw. Shen Te klagt den Göttern ihr Leid. In
dem großen Monolog hält sie ihnen die Wahrheit vor.
Doch auf die vielen Fragen nach Lösungen für ihre Probleme Shen Tes, des mit
Mühe gefundenen "guten Menschen", wissen sie keine Antwort und sind froh, daß
sie wieder in den Himmel zurückkehren können. Den einzigen Ausweg, den sie ihr
anbieten, ist die Möglichkeit, einmal im Monat als Shui Ta aufzutreten.
Mit der Erkenntnis, daß dies kein rechtes Ende sei, wird das Publikum in einem
Schlußvers aufgefordert, einen guten Schluß zu finden.
1. Handlungsablauf und szenische Gliederung
Vorspiel: Ein Straße in der Hauptstadt von Sezuan
Der Wasserverkäufer Wang erzählt von der großen Armut in der Stadt. Nur mehr die Götter,
so hört man, könnten in der ausweglosen Situation helfen. Wang erwartet sie schon seit drei
Tagen. Nun treffen sie ein. Der Wasserverkäufer erkennt sie daran, dass sie wohlgenährt sind,
Staub an den Schuhen haben, sonst aber keinerlei Anzeichen regelmäßiger Beschäftigung
aufweisen. Er sucht für die Götter ein Nachtquartier, findet aber niemanden, der bereit wäre,
die drei Reisenden aufzunehmen. Nur die Prostituierte Shen Te, die selbst erhebliche
materielle Probleme hat, ist bereit, auf einen Freier zu verzichten, um den Göttern ein
Nachtlager bieten zu können. Die Götter sehen nun in Shen Te jenen „guten Menschen", nach
dem sie suchen, d.h. den Menschen, der unabhängig von materiellen und sozialen Umständen
selbstlos, freundlich und hilfsbereit ist. Als Dank für ihre Hilfsbereitschaft schenken die
Götter Shen Te eine große Geldsumme, damit sie es etwas leichter hat, gut zu sein. Dann
ziehen die Götter weiter.
1.Szene: Ein kleiner Tabakladen
Shen Te hat sich mit dem Geld der Götter einen Tabakladen gekauft und meint, sie könne
durch ihren kleinen Besitz anderen Menschen Gutes tun. Tatsächlich finden sich sofort
Hilfsbedürftige ein. Ihre ehemaligen Wirtsleute, die mittlerweile obdachlos sind, bitten um
eine Unterkunft. Bald folgt dem Ehepaar die Großfamilie nach, um sich bei ShenTe
einzunisten. Der Schreiner verlangt 100 Silberdollar für die Regale, die er für den Laden
gebaut hat. Shen Te ahnt bereits, dass die Kapazitäten ihres kleinen Geschäfts nicht reichen,
um allen zu helfen, die Hilfe brauchen. Bereits in der 1.Szene wird der fiktive Vetter Shui Ta
erfunden. Shen Te braucht nämlich für den Abschluss des Kaufvertrags einen Bürgen. Da sie
keinen hat, erfindet sie auf den Rat ihrer ehemaligen Wirtsleute hin einen Vetter, der diese
Rolle übernehmen kann.
Zwischenspiel: Unter einer Brücke
Die abreisenden Götter setzen Wang davon in Kenntnis, dass sie in Shen Te einen Menschen
gefunden hätten, der ihren Vorstellungen vom Gutsein entspricht. Sie machen sich nun auf die
Suche nach weiteren guten Menschen.
2.Szene: Der Tabakladen
Die Situation im Tabakladen ist für Shen Te aufgrund der vielen Leute, die ihre Hilfe fordern,
unerträglich geworden. Der Vetter Shui Ta muss erscheinen. Er wirft die Obdachlosen mit
Polizeihilfe aus dem Laden und handelt die Rechnung des Schreiners mit fragwürdigen
Mitteln von 100 auf 20 Silberdollar herunter. Nur der Forderung der Hausbesitzerin, die Miete
für ein halbes Jahr im Voraus zu bezahlen, steht auch Shui Ta machtlos gegenüber. Ein
Geldgeber muss gefunden werden. Für Shen Te wird per Inserat ein kapitalkräftiger Mann
gesucht: „Welcher ordentliche Mann mit kleinem Kapital, Witwer nicht ausgeschlossen,
wünscht Einheirat in aufblühendes Tabakgeschäft?"
3.Szene: Abend im Stadtpark
Shen Te will sich mit einem reichen Witwer treffen, der auf das Inserat geantwortet hat. Sie
begegnet im Stadtpark dem arbeitslosen Flieger Sun, der Selbstmord begehen will. Er findet
keine passende Anstellung, weil er nicht die nötigen Mittel hat, um das Schmiergeld zu
bezahlen.
Zwischenspiel: Wangs Nachtlager in einem Autowrack
Die Götter erscheinen Wang im Traum. Er berichtet ihnen, dass Shen te wegen ihrer
Wohltaten „Engel der Vorstädte" genannt wird. Von Shui Ta’s Verhalten sind sie allerdings
nicht begeistert. Wangs Einwand, der Vetter sei eben ein guter Geschäftsmann, begegnen sie
verständnislos. Um Geschäfte ginge es doch nicht, sondern um den guten Menschen.
4.Szene: Platz vor Shen te’s Tabakladen
Frau Yang, die Mutter des arbeitslosen Fliegers Sun, erzählt Shen te, dass ihr Sohn 500
Silberdollar für eine Schmiergeldzahlung braucht. So könnte er eine Stelle als Flieger
bekommen. Shen te gibt ihr sogleich 200 Silberdollar, die sie sich soeben geliehen hat, um die
eigene Miete bezahlen zu können. Die fehlenden 300 Silberdollar will sie von ihrem Vetter
Shui Ta besorgen lassen.
Zwischenspiel: Vor dem Vorhang
Shen Te zieht die Kleider des Shui Ta an.
5.Szene: Der Tabakladen
Sun verbirgt vor Shui Ta nicht, dass Shen Te für ihn vor allem als Finanzquelle interessant ist.
ShenTe/Shui Ta, die sich in Sun verliebt hat, ist bestürzt. Als nun der reiche Barbier Shu Fu
um Shen Te wirbt, versichert ihm Shui Ta, dass sich seine Cousine mit ihm treffen werde. Shu
Fu will die vielen Armen, um die sich Shen Te annimmt, in seinen Baracken hinter dem
Viehhof unterbringen. Aber als der Vetter wieder in das Mädchen Shen Te verwandelt ist,
erliegt sie erneut der Verführung des Fliegers Sun und folgt dem, den sie liebt, bedingungslos.
Zwischenspiel: Vor dem Vorhang
Shen Te ist auf dem Weg zur Hochzeit mit Yang Sun. Sie hofft, dass Sun ihr die 200 Dollar
zurückgeben wird, denn der alte Mann, von dem sie das Geld geliehen hat, ist aus Sorge um
seine möglicherweise verlorene Barschaft krank geworden.
6.Szene: Nebenzimmer eines billigen Restaurants in der Vorstadt
Die Hochzeitsgesellschaft hat sich versammelt. Nur Shui Ta fehlt noch. Shen Te kann Sun
nicht dazu bewegen, ihr die 200 Silberdollar zurückzuzahlen. Im Gegenteil, er besteht darauf,
auch noch die restlichen 300 zu bekommen, die ihm für die geforderte Schmiergeldsumme
fehlen. Er will aus diesem Grund mit Shui Ta reden, denn der wird, so meint Sun, einsehen,
dass es dumm wäre, auf die Stelle als Flieger zu verzichten. Aber Shui Ta kommt nicht, und
die Trauung findet nicht statt.
Zwischenspiel: Wangs Nachtlager
Die Götter erscheinen Wang zum zweiten Mal im Traum. Der Wasserverkäufer gibt den
Göttern zu bedenken, dass Shen Te möglicherweise zu gut ist für diese Welt. Aber die Götter
weisen Wangs Einwand entschieden zurück, obwohl sie selbst immer wieder auf ihrer Reise
erleben müssen, dass kein Mensch gut sein und gleichzeitig ein menschenwürdiges Leben
führen kann.
7.Szene: Hof hinter Shen Te’s Tabakladen
Der Barbier Shu Fu hat gehört, dass Shen Te von ihrem Bräutigam verlassen worden ist und
dass ihr Tabakladen ruiniert ist. Er ist berührt vom selbstlosen Handeln des „Engels der
Vorstädte" und überreicht Shen Te einen Blankoscheck, den diese aber nicht einlösen will.
Der Wasserverkäufer Wang bringt ein hungerndes Kind zu Shen Te. Es handelt sich um das
Kind jenes Schreiners, der von Shui Ta ruiniert worden ist. Die Familie ist mittlerweile
obdachlos geworden. Shen Te ist mittlerweile selbst schwanger. Angesichts des hungernden
Kindes ist sie fest entschlossen, ihr eigenes Kind niemals hungern zulassen. Um ihm ein
menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, wir sie lieber künftig allen anderen „Tiger und
wildes Tier" sein. Noch einmal verwandelt sie sich in Shui Ta und löst den Scheck des Herrn
Shu Fu über 10 000 Silberdollar ein. Shui Ta weist nun den bettelnden Armen und
Obdachlosen einen neue Rolle zu. Ohne Gegenleistung soll ihnen nicht mehr geholfen
werden. Sie sollen in den Baracken des Herrn Shu Fu, die mit dem nun verfügbaren
Investitionskapital zur Tabakfabrik gemacht werden, arbeiten. Dafür können sie dort wohnen.
8.Szene Shui Ta’s Tabakfabrik
Einige Monate sind vergangen. Von Frau Yang erfährt das Publikum, was mittlerweile
passiert ist. Shui Ta’s Tabakmanufaktur funktioniert. Man nennt ihn den Tabakkönig von
Sezuan. Die Menschen arbeiten in der Fabrik unter miserablen Bedingungen. Yang Sun ist
von Shui Ta wegen gebrochenen Eheversprechens und wegen Erschleichung von 200
Silberdollar angezeigt worden. Sun musste sich, um der Strafe zu entgehen, als Arbeiter in der
Fabrik Shui Ta’s anstellen lassen. Mittlerweile hat er es dort zum Aufseher gebracht. Aus dem
gleichnishaften „Lied vom achten Elefanten" erfährt man, dass er mit besonderer Brutalität zu
Werke geht und bei den anderen Arbeiterinnen und Arbeitern verhasst ist.
9.Szene: Shen Te’s Tabakladen
Shen te ist mittlerweile im siebten Monat schwanger; sie tritt nur mehr in der Rolle des Shui
Ta auf, und die Menschen werden misstrauisch. Unter der Führung Suns fordert eine
aufgebrachte Menschenmenge, man müsse das Verschwinden Shen Te’s polizeilich
untersuchen. Sun versichert, er habe im Raum hinter dem Tabakladen jemanden schluchzen
gehört. Als dort ein Bündel mit Shen Te’s Kleidung gefunden wird, steht Shui Ta unter dem
Verdacht, er habe seine Cousine verschwinden lassen. Er wird festgenommen
Zwischenspiel: Wangs Nachtlager
Die Götter erscheinen wieder dem schlafenden Wang. Sie sind mittlerweile ziemlich
mitgenommen von ihrer Reise und obendrein deprimiert, weil sie nirgendwo einen guten
Menschen gefunden haben. Umso wertvoller ist für sie Shen Te, aber sie müssen von Wang
erfahren, dass der „Engel der Vorstädte" verschwunden ist.
10.Szene: Gerichtslokal
Gegen Shui Ta ist Anklage erhoben worden. Er wird verdächtigt, Shen Te ermordet zu haben.
Die drei Götter sind zur Verhandlung zurückgekehrt, haben den eigentlichen Richter
handlungsunfähig gemacht und selbst den Vorsitz übernommen. Shui Ta ist bereit
auszusagen, wenn man ihn mit den drei Richtern/Göttern allein lässt. Nun erklärt Shen
Te/Shui Ta ihren Konflikt. Es war ihr nicht möglich gut zu sein und gleichzeitg
menschenwürdig zu überleben. Die Götter sind ratlos und beschönigen die Realität. Sie
entschwinden auf einer rosafarbenen Wolke. Der verzweifelten Shen Te gestatten sie, einmal
im Monat Shui Ta zu Hilfe zu holen.
Epilog
Ein Schauspieler wendet sich mit einer Entschuldigung an das Publikum. Das Stück sei nun
aus, der Vorhang zu, aber alle Fragen seien offen. Das Publikum selbst soll einen
Stückschluss, also eine Lösung des vorgetragenen Problems finden.
2. Aspekte der Interpretation
Shen Te/Shui Ta: Der gute Mensch in schlechter Gesellschaft
Die Prostituierte Shen Te ist der einzige gute Mensch, den die Götter in der Provinz Sezuan
finden. Dass sich Brecht ausgerechnet für eine Prostituierte als Hauptfigur entschieden hat, ist
wohl nur teilweise dadurch zu erklären, dass gesellschaftliche Randgruppen in der Literatur
der frühen Moderne des 20.Jhs., vor allem im Expressionismus, einen hohen Stellenwert
hatten. Nicht wenige Künstler und Schriftsteller begaben sich damals in bohemehafte
Opposition zur bürgerlichen Gesellschaft und vor allem zur spießbürgerlichen Moral. Der
Bohemien als Randfigur der Gesellschaft sah sich in einer gewissen Nähe zu anderen
Randfiguren, zu Kriminellen, Wahnsinnigen, Zuhältern, und eben zu Animierdamen und
Prostituierten, die nicht nur thematisiert, sondern oft genug auch dämonisiert wurden. In
seinen frühen Werken greift Brecht zwar ganz gern auf den Mythos des antibürgerlichen
Außenseiters zurück, aber zur Entstehungszeit des „Guten Menschen" war diese Tradition
schon verblasst. Die Prostituierte Shen Te ist nicht mehr ein erotischer Dämon, sondern eine
liebesfähige junge Frau, die gewiss auch gerne Liebe und Lust „verschenken" und selbst
genießen würde, die aber aufgrund der drückenden materiellen Situation dazu gezwungen ist,
Lust als Ware zu verkaufen. Das Grundproblem des Stücks ist damit bereits mit der
Profession der Protagonistin angesprochen.
Shen Te hat eine geradezu natürliche Vorliebe für Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Sie
gilt als Person, die nicht nein sagen kann, wenn sie um etwas gebeten wird. Nie scheint ihre
Hilfsbereitschaft die Folge eines moralischen Entschlusses zu sein, der ihr vielleicht sogar
Selbstüberwindung abverlangen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Ob sie nun Obdachlose in
ihrem Tabakladen schlafen lässt oder dem Flieger Sun Geld gibt, damit er endlich fliegen
kann, geben und helfen scheinen für Shen Te spontane, natürliche Reaktionen zu sein. Und
auch in ihrer Liebe zum Mann ist sie ohne jede Berechnung. Wohl wissend, dass Sun sie
funktionalisiert, folgt sie nur ihrer Emotion: „Ich will mit dem gehen, den ich liebe./ Ich will
nicht ausrechnen, was es kostet./ Ich will nicht nachdenken, ob es gut ist,/ Ich will nicht
wissen, ob er mich liebt./ Ich will mit ihm gehen, den ich liebe." Dass Shen Te’s Güte in
manchen Handlungszusammenhängen als „Dummheit" gewertet werden kann, richtet sich
nicht gegen die Protagonistin, sondern gegen eine Welt, die so eingerichtet ist, dass die
liebevolle Handlung „dumm" erscheinen muss, weil sich nur die Schlechtigkeit lohnt.
Gutsein, liebesfähig sein ist bei Shen Te geradezu ein Trieb, der aber immer wieder durch
„Böses" gezügelt werden muss, damit sie nicht an ihrer Güte zu Grunde geht. Gut und Böse
sind zu einer dialektischen Einheit verurteilt. Die (materielle) Voraussetzung des Guten ist das
Harte, Unerbittliche, und dafür ist Shui Ta zuständig. Er ist der Geschäftsmann, für den nur
das zählt, was sich rechnet. Die Armen verfluchen ihn, während sie Shen Te zum „Engel der
Vorstädte" erhöhen. Sie durchschauen nicht, dass Shui Ta’s Teufelei die Grundlage für Shen
Te’s Engelhaftigkeit bildet. Brecht macht dem Zuschauer spätestens im dritten Zwischenspiel
mit aller Deutlichkeit klar, dass Shen Te und Shui Ta ein und dieselbe Person ist. Natürliche
Identität und soziale Rolle der Protagonistin geraten in einen(zumindest innerhalb des Stücks)
unlösbaren Widerspruch. Shen Te wird durch die Sozialisation ihrem sozialen Menschsein
entfremdet. Diese Auffassung vom entfremdeten Menschsein unter kapitalistischen
Verhältnissen entspricht zentralen Thesen des frühen Karl Marx. Im Zusammenhang mit der
gesellschaftspolitischen Dimension des Stücks wird darauf zurückzukommen sein.
Fülle des Lebens - und zwar um jeden Preis: Die Figur des Yang Sun
Von Shen Te’s Grundproblem, allzu freundlich, selbstlos und hilfsbereit zu sein, wird Yang
Sun nicht gequält. Sun hat seine Leidenschaft, das Fliegen, zur Profession gemacht. Seiner
Selbstdarstellung zufolge (3.Bild) ist er ein geradezu begnadeter Flieger. Und ließe man ihn
das sein, was er sozusagen „naturgemäß" ist, wär er wahrscheinlich ein im Grunde
zufriedener und daher auch freundlicher Mensch. Sun war allerdings so naiv anzunehmen,
dass sein beruflicher Erfolg ausschließlich von seinem fliegerischen Können abhängig sei. Als
Sun erkennt, dass die Gesellschaft nicht „gerecht" ist, d.h. in seinem Fall, dass sie nicht den
kompetenten, sondern den zahlungsfäjhigen Mann an die geeignete Stelle setzt, stellt er sich
sofort auf die moralisch fragwürdigen Mechanismen der ungerechten, korrupten Gesellschaft
ein. Aufgrund seiner finanziellen Situation ist er allerdings vorerst nicht im Stande, den
Hangarverwalter zu bestechen, und so ist Sun arbeitslos. Seine Liebe zur Fliegerei ist
offensichtlich so stark, dass er trotz der schwierigen Umstände eine berufliche Alternative gar
nicht in Erwägung zieht. Fliegen oder sterben! Als ihn Shen Te kennen lernt, will sich Sun
gerade erhängen.
Um sein berufliches Ziel zu erreichen, ist Yang Sun letztlich jedes Mittel recht. Weder auf
Shen Te’s Gefühle noch auf ihre materielle Sicherheit nimmt er Rücksicht. Durch den raschen
Verkauf von Shen Te’s Tabakladen kann er in den Besitz jener 500 Silberdollar kommen, die
er braucht, um den Hangarverwalter zu bestechen. Dass dieser dafür einen anderen Flieger
entlassen muss, der eine große Familie hat, belastet Sun keinen Augenblick. Er hat auch nicht
die geringsten Skrupel, Shen Te’s Liebe für seine beruflichen Ziele auszunützen. Ohne in sie
verliebt zu sein, geht er mit ihr eine Beziehung ein, und er will sie sogar heiraten, weil es für
ihn zweckmäßig ist. Die Verehelichung stellt für ihn aber keine Verpflichtung für die Zukunft
dar. Sobald er im Besitz der Fliegerstelle ist, will er nach Peking gehen und Shen Te
„vorläufig" in Sezuan zurücklassen. Dass Suns Pläne scheitern und die von ihm schwangere
Shen Te nicht zum Opfer seiner Karriere wird, ist nur dem Eingreifen Shui Ta’s zu
verdanken. Letztlich landet Sun als Arbeiter in Shui Ta’s Tabakfabrik. Dort geht er genauso
rücksichtslos vor wie beim gescheiterten Versuch, die Fliegerstelle in Peking zu bekommen.
Er bringt es zum Aufseher und ist als Leuteschinder verhasst. Im „Lied vom achten
Elefanten" wird Suns Rolle in der Fabrik gleichnishaft ausgeführt. Dass Sun mit Erfolg dazu
beiträgt, dass ein menschenverachtendes Produktionssystem möglichst gut funktionieren
kann, wird von Frau Yang, seiner Mutter, so kommentiert: „Wir können Herrn Shui Ta
wirklich nicht genug danken. Beinahe ohne jedes Zutun, aber mit Strenge und Weisheit hat er
alles Gute herausgeholt, was in Sun steckte." Das „Gute" wird hier definiert als Bereitschaft
und Fähigkeit, im herrschenden System (unabhängig von dessen ethischer Qualtität) eine
zufriedenstellende Position zu erreichen.
Ist der Mensch gut oder schlecht?
Bemerkenswert ist, dass außer Shen Te keine Figur im Stück den Trieb verspürt „gut" zu sein.
Yang Sun, dessen Mutter, Frau Shin, die Hausbesitzerin Mi Tzü, die arme achtköpfige
Familie - alle wollen überleben oder das Erreichte sichern oder besser leben, je nach
finanzieller Ausgangsposition. Und sie haben keinerlei Hemmungen, anderen zu schaden,
wenn sie sich selbst dadurch nützen können. Ihre Handlungsweise erscheint manchmal
geradezu instinktiv auf das Überleben oder auf das bessere Leben ausgerichtet zu sein. Sogar
Wang, der freundliche Wasserverkäufer, betrügt seine Kundschaft mit einem Trinkbecher, der
einen doppelten Boden hat. Beachtenswert ist, dass die einzige zumindest punktuell selbstlos
handelnde Figur außer Shen Te der reiche Barbier Shu Fu ist, der Besitzer der großen
Lagerhallen, die er den Obdachlosen zur Verfügung stellt. Berührt von Shen Te’s
altruistischem Verhalten übergibt er, der Großbürger, ihr auch noch einen Blankoscheck ohne
Anspruch auf Gegenleistung.
Brechts Figurenzeichnung sollte nicht unbeachtet bleiben, wenn ein „Schluss" angeboten
werden, wie das ja vom Autor im Epilog gefordert wird. Angesichts des eher ernüchternden
Menschenbildes, das sich nach der Analyse aller Figuren des Sezuan-Stücks ergibt, kann ein
schnell gezogener Schluss ganz unerwartet zum Kurzschluss werden. An verschiedenen
Textstellen bietet Brecht selbst eine einfache, um nicht zu sagen vulgärmarxistische Lösung
des Problems an: Die moralische Schlechtigkeit der Menschen ist eine Folge ihrer materiellen
Armut. Verbessere also die soziale Lage der Menschen, dann bessert sich auch ihre Moral,
denn dann können sie befreit ihre naturgemäße (?) Güte leben. Shen te sagt einmal, zum
Publikum gewendet:
„Den Mitmenschen zu treten/ Ist es nicht anstrengend? Die
Stirnader/ Schwillt ihnen an, vor Mühe, gierig zu sein./
Natürlich ausgestreckt/ Gibt eine Hand und empfängt mit
gleicher Leichtigkeit. Nur/ Gierig zupackend muß sie sich
anstrengen. Ach/ Welche Verführung, zu schenken! Wie
angenehm/ Ist es doch, freundlich zu sein! Ein gutes Wort/
Entschlüpft wie ein wohliger Seufzer." (7.Bild)
In dieser Textstelle werden Freundlichkeit und Güte zu natürlichen Anlagen des Menschen
erklärt, zu seinem So-Sein, das aufgrund widernatürlicher Lebensumstände nicht gelebt
werden kann. Das Leiden an diesem Widerspruch zeigt Brecht aber nur an Shen Te. Bei den
anderen Figuren gewinnt man den Eindruck, dass sie durchaus zufrieden wären, wenn ihre
eigennützigen Bedürfnisse befriedigt wären. Daher kann eine Lösung des angesprochenen
Problems nicht von einem Menschenbild ausgehen, das den Shen Te-Typus zur Grundlage
hat, sondern von einem, das Shui Ta oder Yang Sun als realistischen Normalfall, Shen Te
hingegen als möglicherweise nur konstruierten Ausnahmefall betrachtet.
Otto F.Best hat überzeugend nachgewiesen, dass der junge Brecht etwa ab 1916/1917 ein
Menschenbild entwickelte, das den Menschen vor allem als Natur sah, als ein Wesen, das ähnlich wie Tiere und Pflanzen - überleben oder seine Lebensintensität steigern will.
Lebensdrang ist eine Naturgesetzlichkeit, der gegenüber moralische Wertungen grundsätzlich
unangemessen sind. Leben zu wollen ist weder gut noch schlecht; es ist einfach nur, was es
ist, würde Erich Fried sagen. Starke, aussagekräftige Bilder des lebenshungrigen Menschen
findet man immer wieder in den Stücken und Gedichten, die Brecht zwischen 1917 und 1927
geschrieben hat. Vor allem zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der Lyriker Baals aus
dem gleichnamigen Stück. Indem Baal nichts anderes tut als seinem Lebens- und Genusstrieb
hemmungslos zu folgen, wird er zum Asozialen, zum (unpolitischen) Anarchisten und
Kriminellen. Leidtragende seiner ausgelebten Sexualität werden Frauen, die sich emotional an
Baal binden. „Erstens, vergeßt nicht, kommt das Fressen / Zweitens kommt der Liebesakt(...)"
singt ein Männerchor in „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny". Es ist wichtig zu beachten,
dass Brecht mit diesen Darstellungen nicht abschreckende Menschenbilder zur Besserung und
Bekehrung des werten Publikums abgeben wollte. Dass Menschen - in Brechts Darstellungen
vor allem Männer! - so ungemein vital sind, ist nicht das Problem, sondern dass sie mit ihrer
Vitalität in einen Welt gestellt werden, die dem Lebens- und Lusthunger teilweise nicht
gerade förderlich ist. Auch diese Seite der Existenz wird von Brecht in den frühen Zwanziger
Jahren immer wieder thematisiert. Im Gedicht „Von der Freundlichkeit der Welt" heißt es:
Auf die Erde voller kaltem Wind
Kamt ihr alle als ein nacktes Kind
Frierend lagt ihr ohne alle Hab
Als ein Weib euch eine Windel gab(...)
Und die Welt, die ist euch gar nichts schuld;
Keiner hält euch, wenn ihr gehen wollt.(....)"
Im Kampf um die begrenzten Lebens- und Genussmöglichkeiten werden die Menschen
einander zu Konkurrenten, zu Feinden und Objekten der Ausbeutung. Eben diesen Zustand
zeigt Brecht am Beispiel der Provinz Sezuan, die nicht als geographischer Raum, sondern als
soziales Modell zu verstehen ist. Eine nur moralisierende Reaktion auf diesen Zustand, eine
sittliche Kritik, die Gutsein fordert, wo nur Kampf und Rücksichtslosigkeit zum Erfolg, also
zum Überleben, führen, geht an der Realität vorbei und muss daher wirkungslos bleiben. Das
zeigt Brecht in „Der gute Mensch von Sezuan", indem er folgende fiktive Situation
konstruiert: Angenommen, es gäbe den guten Menschen, den die Götter fordern, könnte er
menschenwürdig überleben in Sezuan? Shen Te ist keine reale Figur, sondern ein Konstrukt.
Shui Ta oder Yang Sun sind weitaus „realer" in dem Sinne, dass sie agieren und reagieren wie
sogenannte „vernünftige" Menschen. In diese reale Figurenwelt stellt nun Brecht Shen Te,
Modell eines guten Menschen, dessen Handlungsmöglichkeiten nun zu überprüfen sind. Das
Ergebnis ist, wenn man Brechts Darstellungsweise folgen will, ernüchternd. Gut sein lohnt
sich nicht, im Gegenteil! Wer gut, d.h. altruistisch und selbstlos ist, kommt unter den
gegebenen Verhältnissen an den Bettelstab. Die Forderung der Götter wird letztlich als
unbrauchbare Illusion zurückgewiesen.
Man sieht also, dass auch der marxistische Brecht sein Menschenbild gegenüber der ersten
Hälfte der zwanziger Jahre nicht grundlegend geändert hat Der Mensch will vor allem
überleben und seine Lebensintensität steigern. Was sich allerdings durch die Annäherung an
den Marxismus ändert, ist, dass Brecht den Widerspruch zwischen den Lebensbedürfnissen
des Einzelnen und dem Weltzustand nicht mehr als Naturzustand betrachtet, sondern als
sozialgeschichtlichen Zustand, d.h. als veränderbare Situation. Brecht meint mit Marx und
Engels, dass es möglich sein müsse, die Gesellschaft so zu organisieren, dass gut zu sein nicht
mehr in Widerspruch gerät zu den „egoistischen" Bedürfnissen des Einzelnen. Wenn Güte
eine Haltung ist, die sich lohnt, ein Verhalten, vor dessen Folgen sich der Mensch nicht mehr
fürchten muss, dann wird der Mensch freiwillig gut sein, weil dies weniger anstrengend ist als
böse zu sein. Nur wenn die Ansprüche des Einzelmenschen befriedigt werden, ist ein
friedliches Zusammenleben möglich. Und diese Möglichkeit eröffnet sich für Brecht in der
Utopie einer kommunistisch organisierten Gesellschaft. In dieser Hinsicht unterscheidet sich
daher Brechts Lösungsvorschlag ganz elementar von den Forderungen der Götter.
Ethik ohne Wirtschaft. Zur Rolle der Götter im „Guten Menschen"
Die drei Götter kommen zu einer Art Inspektionsreise, zeitgeistig gesagt: im Rahmen einer
„fact finding mission", auf die Erde. Sie wollen erfahren, ob es wirklich unmöglich ist, die
göttlichen Gebote zu erfüllen und gleichzeitig zu überleben. Wäre nämlich dies der Fall, so
könnte die Welt nicht bleiben, wie sie ist. Schon beim ersten Auftreten der Götter wird aber
deutlich, dass sie nicht vorurteilsfrei die Wirklichkeit wahrnehmen wollen, sondern dass ihnen
sehr daran gelegen ist, die Welt nicht verändern zu müssen. Sie begnügen sich mit der
Illusion, in Shen Te einen Menschen gefunden zu haben, der trotz widriger Umstände gut sein
kann. Shen te muss bei der Abreise der Götter sehr heftig darauf hinweisen, dass sie nicht gut
ist, sondern nur gern gut wäre. Die Miete ist aber zu hoch und um das Nötigste zu verdienen,
muss sie als Prostituierte arbeiten. Die Götter behaupten, dass es nicht ihre Aufgabe ist, sich
in wirtschaftliche Angelegenheiten einzumischen. Diese Sichtweise zeigt, dass die Götter
Fragen der Ethik von materiellen Aspekten völlig trennen. Aber das Verhalten der Götter am
Ende des Vorspiels demaskiert ihre Sichtweise als realitätsferne Ideologie. Sie übergeben
Shen Te einen Geldbeutel, weil sie (mit Recht!) davon überzeugt sind, dass es für Shen Te
leichter ist, gut zu sein, wenn sie über ein gewisses Vermögen verfügt. Obwohl die Götter
schon durch ihr eigenes Verhalten in ihrer Ideologie verunsichert sein müssten, ändern sie
ihre Ansichten bis zum Schluss des Stückes nicht. Shen Te’s eindringlichen Versicherungen,
dass es ihr nur gelungen sei gut zu sein, weil sie immer wieder die Rolle des „bösen", d.h. des
egoistisch berechnenden Menschen Shui Ta angenommen habe, werden von den Göttern
ignoriert. Sie brauchen die Aufrechterhaltung des (marxistisch gesagt) „falschen
Bewusstseins". Der Erste Gott sagt: „Sollen wir eingestehen, daß unsere Gebote tödlich sind?
Sollen wir verzichten auf unsere Gebote? Verbissen: Niemals! Soll die Welt geändert
werden? Wie? Von wem? Nein, es ist alles in Ordnung!" Die Götter besteigen eine rosa
Wolke und fahren langsam nach oben. Alle Erfahrungen ignorierend, bringen sie die
Botschaft in den Götterhimmel, dass der Mensch gefunden sei, der die Gebote der Götter, d.h.
die Gebote der Nächstenliebe, erfüllen kann, ohne selbst dabei ruiniert zu werden. Shen Te’s
Einwänden begegnen sie mit Beschwichrtigungen und moralischen Appellen. „Sei nur gut
und alles wird gut werden!" Weil Shen Te so hartnäckig die Beschwichtigung verweigert,
schließen die Götter letztlich mit ihr einen faulen Kompromiss. Einmal im Monat darf sie
Shui Ta zu Hilfe holen. Shen Te fürchtet, dass dieses Zugeständnis nicht ausreichen wird.
Aber während sie noch verzweifelt die Hände nach den Göttern ausstreckt, verschwinden
diese lächelnd.
Zur dramatischen Form
Formal entspricht „Der gute Mensch von Sezuan" Brechts Konzept des epischen
Parabelstücks. Obwohl Brecht reale Ortsnamen und verschiedene chinesische Quellen
verwendete, hat Sezuan wenig mit der realen chinesischen Provinz zu tun. Um
Missverständnisse zu vermeiden, schrieb Brecht selbst in einer Vorbemerkung aus dem Jahr
1953: „Die Provinz Sezuan, die für alle Orte stand, an denen Menschen von Menschen
ausgebeutet werden, gehört heute nicht mehr zu diesen Orten." Mit dem „Guten Menschen"
nahm Brecht die formalen und bühnentechnischen Verfahren der Lehrstücke wieder auf, die
er in anderen Stücken der dreißiger Jahre, zum Beispiel in „Leben des Galilei", „Die Gewehre
der Frau Carrar" oder „Herr Puntila und sein Knecht Matti" nur mehr teilweise eingesetzt
hatte. Brechts selbst meinte, dass er mit dem „Guten Menschen" wieder an jenen „Standard"
der Lehrstücke anschließen wolle, den er, vermutlich auch bedingt durch die politischen
Umstände der Dreißiger Jahre, mit dem „Galilei" und „Frau Carrar" verlassen habe
(Arbeitsjournal, März 1939).
Die Parabel eignet sich besonders gut für die Versinnlichung lehrhafter Inhalte. Im
Unterschied zu den frühen Lehrstücken („Die Maßnahme", „Das Badener Lehrstück vom
Einverständnis" etc.) ist allerdings „Der Gute Mensch von Sezuan" nicht als „Lehrmaterial"
für die Spieler selbst konzipiert, sondern als Schaustück für ein Publikum, das selbst nicht am
Bühnengeschehen beteiligt ist. Der modellhafte soziale Raum, die Verwendung
unterschiedlicher Sprachebenen, das Spiel im Spiel, die Unterbrechung der Handlung mit
Songs und kommentierenden Passagen sind Verfremdungseffekte, wie sie Brecht auch in
seinen theoretischen Schriften zum Theater, vor allem im „Messingkauf", begründet hat.
(siehe dazu auch Abschnitt II dieses Hefts). Die Musik zum „Guten Menschen" schrieb Paul
Dessau. Neben den Songs wird Musik auch bei kommentierenden Passagen eingesetzt. Diese
werden meist in einer Art Sprechgesang vorgetragen. Nebensächlich erscheint die in manchen
Interpretationen gestellte Frage, ob es sich beim „Guten Menschen" um eine Komödie oder
eine Tragödie handle, da sich Brecht selbst an dieser traditionellen Unterscheidung nicht mehr
orientierte.
Zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte
Einzelne Handlungselemente des Stücks „Der gute Mensch von Sezuan" sind bereits in
dramatischen Fragmenten zu finden, die Brecht in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre
geschrieben hat. Das Motiv der „Herbergssuche" (Drei Götter finden keinen Aufnahme)
findet man im Gedicht „Matinee in Dresden". Der Hintergrund ist eine zurückgenommene
Einladung zur Dichterlesung in Dresden, von der Brecht, Arnolt Bronnen und Alfred Döblin
betroffen waren. Eine Prostituierte, die sich in einen Mann verkleidet, um anderen zu helfen,
ist die Hauptfigur im Stückentwurf „Fanny Kress oder Der Huren einziger Freund". In
veränderter Form nahm Brecht diesen Plot wieder 1930 auf. Im Fragment „Die Ware Liebe"
erzählt Brecht die Fabel bereits aus marxistischer Perspektive: In der völlig auf ökonomischen
Nutzen angelegten bürgerlichen Gesellschaft erhält auch die Liebe Warencharakter. Gegen
Ende der dreißiger Jahre arbeitete Brecht im Exil an den frühen Entwürfen weiter. Brechts
Freundinnen Margarete Steffin und Ruth Berlau gewann er als Mitarbeiterinnen.
Eintragungen im Arbeitsjournal zeigen, dass Brecht beim Schreiben mit verschiedenen
Schwierigkeiten kämpfte. Er wollte zum Beispiel unbedingt vermeiden, dass der
Handlungsort Sezuan realistisch verstanden und daher nicht auf Europa bezogen wird. Vor
allem beklagte er auch, dass er seine Szenen vor der Fertigstellung nicht auf einem Theater
ausprobieren konnte, was er sonst mit Vorliebe machte. Im Juni 1940 war das Stück im
Wesentlichen fertig. Die endgültige Fassung legte Brecht dann im Jänner 1941 vor. Die
Uraufführung des „Guten Menschen von Sezuan" fand 1943 in Zürich statt. Zur ersten
Aufführung im nachfaschistischen Deutschland kam es erst 1952 (Frankfurt a.M.).
3. Das Gut-Böse-Motiv in Gedichten Bertolt Brechts
In den folgenden drei Gedichten thematisiert Brecht in unterschiedlicher Weise das Motiv der
Güte bzw. der Bosheit.
Aufgaben für die Texterschließung:
Was sagt Brecht über den Umgang mit den Werten Güte, Freiheit und
Vernunft im 1.Text? Stimmen Sie seinen Aussagen zu? Überlegen Sie, welche
konkreten Vorstellungen Brecht mit den abstrakten Begriffen Güte, Freiheit
und Vernunft verbinden könnte?
Formulieren Sie die Ihrer Ansicht nach zentrale Botschaft des Textes „Die
Maske des Bösen". Wie stehen Sie selbst zu dieser Ansicht Brechts?
Inwiefern problematisiert Brecht im Text „Die Nachtlager" die Güte?
Beschreiben Sie Brechts lyrische Sprache und Form
Notieren Sie alles, was Ihnen sonst noch zu den drei Texten einfällt
WAS NÜTZT DIE GÜTE
1
Was nützt die Güte
Wenn die Gütigen sogleich erschlagen werden, oder es werden erschlagen
Die, zu denen sie gütig sind?
Was nützt die Freiheit
Wenn die Freien unter den Unfreien leben müssen?
Was nützt die Vernunft
Wenn die Unvernunft allein das Essen verschafft, das jeder benötigt?
2
Anstatt nur gütig zu sein, bemüht euch
Einen Zustand zu schaffen, der die Güte ermöglicht, und besser:
Sie überflüssig macht!
Anstatt nur frei zu sein, bemüht euch
Einen Zustand zu schaffen, der alle befreit
Auch die Liebe zur Freiheit
Überflüssig macht!
Anstatt nur vernünftig zu sein, bemüht euch
Einen Zustand zu schaffen, der die Unvernunft der einzelnen
Zu einem schlechten Geschäft macht!
DIE MASKE DES BÖSEN
An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk
Maske eines bösen Dämons, bemalt mit Goldlack.
Mitfühlend sehe ich
Die geschwollenen Stirnadern, andeutend
Wie anstrengend es ist, böse zu sein.
DIE NACHTLAGER
Ich höre, daß in New York
An der Ecke der 26.Straße und des Broadway
Während der Wintermonate jeden Abend ein Mann steht
Und den Obdachlosen, die sich ansammeln
Durch Bitten an Vorübergehende ein Nachtlager verschafft.
Die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt
Aber einige Männer haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße.
Leg das Buch nicht nieder, der du das liesest, Mensch.
Einige Menschen haben ein Nachtlager
der Wind wird von ihnen einen Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße
Aber die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt.
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