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Religiosität mit protestantischem Profil
Petra-Angela Ahrens, Claudia Schulz, Gerhard Wegner
Religiosität und Kirchlichkeit in Mitteleuropa weisen, besonders in protestantischen Gegenden, im Vergleich zu anderen Regionen des Globus ein besonderes
Profil auf. Kennzeichnend ist die groûe Offenheit für andere Religionen bzw.
eine hohe Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Fremde weltanschauliche Positionen werden in einem überdurchschnittlichen Ausmaû als gleichwertig anerkannt oder sogar einzelne ihrer Bestandteile in die eigene Religiosität einbezogen.
Gleichzeitig lässt sich mithilfe der Befragungsdaten des Religionsmonitors
der Bertelsmann Stiftung erkennen, dass die Bereitschaft zum missionarischen
Engagement in Mitteleuropa eher gering ausgeprägt ist. Vorstellungen, dass
Religiosität das ganze Leben bestimmt, finden sich, erstaunlicherweise auch bei
hochreligiösen Menschen, kaum. Im internationalen Vergleich zeigen sich weiter eine wenig ausgeprägte religiöse Praxis und eine geringe Relevanz der Religiosität als Lebensbereich überhaupt.
Im Folgenden geht es darum, Zusammenhänge zwischen diesen Beobachtungen herzustellen und Folgerungen aus dieser anscheinend einmaligen Situation zu ziehen. Zu diesem Zweck wird das empirische Material des Religionsmonitors gesichtet und gefragt: Kann die religiös offene und tolerante Lage als
positiv für die Zukunft von Glauben und Kirche ± und der Gesellschaft allgemein ± gewertet werden, oder handelt es sich um einen Zerfallsprozess, in
dem die Prägekraft des Religiösen verdampft? Wir plädieren für Ersteres und
behaupten, dass diese Situation auf das erfolgreiche Wirken volkskirchlicher
religiöser Kommunikation ± und damit mitteleuropäisch-protestantischer Kirchenmodelle ± zurückzuführen ist.
Die Daten des Religionsmonitors beruhen für Deutschland auf der Befragung von 334 Evangelischen, 304 Katholiken und 315 Konfessionslosen. Die
Zahl der Befragten anderer Konfessionen ist zu gering, um aussagekräftige Vergleiche anstellen zu können (vgl. Huber 2007). In internationaler Hinsicht erlau533
Religiosität mit protestantischem Profil
ben es die oft geringen Fallzahlen von Evangelischen, neben Deutschland nur
die folgenden Länder zu berücksichtigen, in denen es groûe evangelische Populationen gibt: Guatemala (358 Evangelische), Schweiz (352), Südkorea (262),
USA (198) und Groûbritannien (188). Bei diesen Zahlen sind die Möglichkeiten
der Auswertung naturgemäû begrenzt. So lassen sich kaum weitere Differenzierungen (etwa nach hoch oder kaum Religiösen) durchführen, was die Untersuchungsbreite eines protestantischen Profils einschränkt.
Typisch protestantisch: Reflexion, Offenheit und Toleranz
Was kennzeichnet Protestanten im Unterschied zu Christen anderer Konfessionen? In Deutschland mag man diese Frage intuitiv etwa so beantworten: Für
Protestanten steht die Reflexion des eigenen Glaubens im Mittelpunkt, der kritische Umgang mit dem Glauben und die Toleranz gegenüber Menschen mit
anderen Überzeugungen, während es anderen Christen stärker aufs Tun oder
auf die Gemeinschaft der Glaubenden in der Gegenwart Gottes ankommt. Lässt
sich dieses vermutete Profil empirisch bestätigen?
Eine erste Antwort findet sich bei den »Reflexionswerten« des Religionsmonitors. Diese Werte sind ± in Deutschland wie international ± nicht sehr
hoch: Bei den Evangelischen in den untersuchten sechs Ländern geben nur zwischen 15 und 30 Prozent an, sich »sehr oft« oder »oft« »kritisch mit religiösen
Lehren auseinanderzusetzen, denen sie grundsätzlich zustimmen«. Das ist
jedoch kein protestantisches Phänomen, wie im konfessionellen Vergleich der
vier Länder sichtbar wird, deren Anteil von Katholiken sich im Rahmen des Auswertbaren befindet (Deutschland 31 %, Schweiz 41 %, USA 18 %, Guatemala
58 %).
Zum Teil geben sogar mehr Katholiken als Protestanten an, die eigenen Überzeugungen häufig zu überdenken. Diese Unterschiede sind aber zu schwach, um
ein konfessionelles Profil auszumachen. Festzuhalten ist vielmehr: Die Reflexivität ist bei den Christen in den untersuchten Ländern eher gering ausgeprägt, verglichen etwa mit der öffentlichen oder privaten religiösen Praxis. Das »Nachdenken über Religiosität« kommt zwar vor (nur eine kleine Minderheit in allen Ländern betreibt es »nie«), hat aber offenbar für das Profil christlicher Religiosität
keine zentrale Bedeutung.
Daraus ergibt sich die Frage nach der Offenheit und Toleranz der Evangelischen bzw. nach ihrem Anspruch auf Exklusivität ihrer religiösen Überzeugung:
Wie oft geben die Befragten an, »anderen Religionen gegenüber offen« zu sein
534
Petra-Angela Ahrens, Claudia Schulz, Gerhard Wegner
Abbildung 1: »Wie oft setzen Sie sich mit religiösen Lehren auseinander,
denen Sie grundsätzlich zustimmen?«
50
45
46
44
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40
35
35
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37
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29
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15
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18
17
16
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11
5
13
12
7
katholisch
15
11
3
evangelisch
Deutschland
selten
16
15
7
0
evangelisch
15
12
4
4
nie
22
21
20
katholisch
evangelisch
Schweiz
gelegentlich
oft
USA
sehr oft
4
katholisch
4
evangelisch
3
katholisch
Guatemala
Alle Angaben in Prozent
oder ± möglicherweise als Gegensatz dazu ± anzunehmen, dass vor allem die
»eigene Religion Recht hat«?
In dieser Gegenüberstellung fallen zuerst die Unterschiede zwischen den
europäischen und auûereuropäischen Ländern auf, vor allem bei der Frage zur
Exklusivität. Eine solche ausschlieûende Haltung erscheint in Europa klar als
Minderheitenmeinung. Was aber bedeutet die grundsätzliche Offenheit gegenüber anderen Religionen in der Praxis? Wie zeigt sie sich im Protestantismus,
und wie lässt sie sich als Teil eines religiösen Profils beschreiben? Wie steht sie
im Verhältnis zu anderen Dimensionen der Religiosität, zum missionarischen
Engagement, zum Commitment (definiert als Bereitschaft, für die eigene »Religion groûe Opfer zu bringen«) oder zu einer Religiosität, die »Lehren verschiedener religiöser Traditionen« einbezieht?
Die Daten zeigen: Wer angibt, häufig zu beten, Gottesdienste zu besuchen
oder das Eingreifen Gottes im eigenen Leben zu erfahren, ist auch eher als
andere bereit, für die eigene Religion »groûe Opfer zu bringen«, und stärker
engagiert, »möglichst viele Menschen« für die eigene »Religion zu gewinnen«.
So stimmen die Evangelischen in den USA, Guatemala und Südkorea den entsprechenden Aussagen viel stärker zu als die Evangelischen in Europa ± diesem
Muster entspricht eine durchschnittlich deutlich höhere Religiosität in den hier
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Religiosität mit protestantischem Profil
Abbildung 2: Exklusivität und Toleranz bei Evangelischen
100
90
80
85
84
85
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69
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55
52
40
30
33
20
10
14
9
8
0
Ich bin davon überzeugt, dass vor allem meine
Religion Recht hat und andere eher Unrecht haben.
Deutschland
Schweiz
Großbritannien
Ich finde, man sollte
allen Religionen gegenüber offen sein.
USA
Guatemala
Südkorea
Alle Angaben in Prozent
unterschiedenen auûereuropäischen Ländern im Vergleich zu den europäischen,
wie wir später noch zeigen werden.
Die Evangelischen in den USA sind in ihrem missionarischen Engagement
schon deutlich zurückhaltender als die Evangelischen in Guatemala und Südkorea. Von den Gläubigen in Europa stimmt hier aber nur eine kleine Minderheit
zu.
Überraschend einander angenähert sind jedoch die Werte der sogenannten
»Bricolage«, der Bereitschaft, die eigene Religiosität auch aus Stücken fremder
Religionen zusammenzusetzen. Dieser Umgang ist unter den Evangelischen in
Südkorea und auch in den USA Sache einer Minderheit, ebenso wie unter den
Evangelischen in Europa. Man darf hier jedoch recht unterschiedliche Ursachen
vermuten.
In Südkorea und den USA ist der Kontext dieser Aussage eine insgesamt
hohe Religiosität einschlieûlich der Bereitschaft, dafür groûe Opfer zu bringen
und auch in anderer Hinsicht dafür aktiv zu werden. Eine groûe Zahl der Christen dort (in Südkorea die Hälfte, in den USA ein Drittel) geht davon aus, dass
»andere Religionen eher Unrecht haben«. Dies spiegelt wohl vor allem die allgemeine Skepsis gegenüber fremden religiösen Überzeugungen. In Europa hingegen korrespondiert die geringe Bereitschaft, auf Lehren verschiedener religiö536
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Abbildung 3: »Bricolage«, »Commitment« und missionarisches Engagement bei Evangelischen
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10
23
12
7
21
25
22
28
26
25
8
0
Ich versuche, möglichst viele
Menschen für meine Religion
zu gewinnen.
Deutschland
Schweiz
Ich bin bereit, für meine Religion
auch große Opfer zu bringen.
Großbritannien
USA
Guatemala
Ich greife für mich selbst
auf Lehren verschiedener
religiöser Traditionen zurück.
Südkorea
Alle Angaben in Prozent
ser Traditionen zurückzugreifen, mit der grundsätzlichen Zurückhaltung, sich
überhaupt mit der eigenen Religiosität zu befassen ± die insgesamt auch weitaus
weniger bedeutsam ist.
Diese Interpretationen lassen sich aus einer weiteren Perspektive ergänzen:
Offenheit, Toleranz, Reflexion und die Bezugnahme auf andere religiöse Lehren
hängen für die Protestanten der verschiedenen Länder in unterschiedlicher
Weise damit zusammen, wie wichtig Religiosität als Lebensbereich grundsätzlich ist. Tabelle 1 zeigt anhand von Korrelationen, ob und in welcher Weise ± positiv oder negativ ± sich derartige Bezüge gestalten.
In Guatemala bestätigen Evangelische, die der Religiosität hohe Relevanz beimessen, durchaus auch solche Aussagen, die Offenheit in religiösen Dingen fordern und von einer Wahrheit jeder Religion ausgehen. Letzteres gilt sogar noch
erheblich stärker für deutsche Evangelische. In den übrigen Ländern aber zeigen
sich diese Bezüge eher umgekehrt: In der Schweiz, aber vor allem in den USA
und Südkorea verbindet sich eine hohe Wertschätzung von Religiosität häufiger
mit einer Ablehnung der Offenheit gegenüber allen Religionen sowie mit der
Ablehnung der Behauptung eines »wahren Kerns« in allen Religionen. Recht
ähnlich sind die Ergebnisse zur Bricolage: In den USA und Südkorea scheinen
537
Religiosität mit protestantischem Profil
Tabelle 1: Religiöse Haltungen und Wichtigkeit der Religiosität ± Korrelationen
Evangelische in . . .
Ich finde, man sollte
allen Religionen
gegenüber offen sein.
Deutschland
der
Schweiz
±0,079
±0,158*
Groûbritannien
den
USA
Guatemala
Südkorea
±0,090
±0,261**
0,146*
±0,230**
Ich finde, jede Religion
hat einen wahren Kern.
0,268**
±0,035
±0,127
±0,230**
0,172**
±0,242**
Ich greife für mich
selbst auf Lehren verschiedener religiöser
Traditionen zurück.
0,134*
0,083
±0,049
±0,377**
0,199**
±0,257**
Wie oft überdenken Sie
einzelne Punkte Ihrer
religiösen Einstellung?
0,410**
0,446**
0,258**
±0,055
±0,036
0,153*
* Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.
** Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.
sich eine Berücksichtigung von Elementen fremder Religionen sowie die Bewertung von Religiosität als relevantem Lebensbereich deutlich zu widersprechen,
während in Guatemala und Deutschland das eine eher das andere stützt.
Darüber hinaus geht vor allem in den europäischen Ländern eine hohe Bedeutung der Religiosität mit häufiger Reflexion der religiösen Einstellung einher. In
der Schweiz und in Deutschland ist dieser Zusammenhang besonders ausgeprägt. In den USA und in Guatemala zeigt sich dagegen keine Verbindung.
So belegt der Religionsmonitor für Deutschland ein offenes und tolerantes
religiöses Milieu, das besonders von Menschen geprägt wird, die Religiosität als
relevanten Lebensbereich ansehen. Man kann dies als Folge der historischen
Entwicklung beschreiben: Nach Ende der europäischen Religionskriege und in
der Tradition der Aufklärung hat die Existenz der groûen Staats- bzw. später
dann der Volkskirchen dafür gesorgt, dass Religion als Teil der öffentlichen
Kommunikation praktiziert wird und Kirchen hier ebenfalls öffentliche Verantwortung zukommt.
Auch dass Theologie in den wissenschaftlichen Diskurs eingebunden bleibt
und religiöse Bildung an den Schulen einen hohen Stellenwert hat, führt dazu,
dass Religiosität im gesellschaftlichen Leben und öffentlichen Austausch seinen
Platz behält. Religion wird auf diese Weise »zivilisiert«: Sie muss sich in der
Öffentlichkeit artikulieren, bleibt der Kritik und Korrektur ausgesetzt und kann
538
Petra-Angela Ahrens, Claudia Schulz, Gerhard Wegner
sich nicht in obskure Winkel zurückziehen. Ihr Selbstreflexionsgehalt steigert
sich beständig. In einem solchen Klima dürften es fundamentalistische Bestrebungen schwer haben, gröûere Teile der Bevölkerung zu begeistern, denn sie
leben gerade davon, dass sie sich der öffentlichen Auseinandersetzung entziehen können.
Volkskirchlicher Protestantismus: Religiosität jenseits der Beteiligung
Dies ist allerdings nur die eine Seite des Gesamtbildes. Denn mit dieser Situation ist auf der anderen Seite ein Phänomen verbunden, das zuweilen als »Entkirchlichung«, korrekter aber als »Indifferenz« beschrieben wird (vgl. etwa Pollack 2003: 136±141, der eine »Unbestimmtheit im Verhältnis zu Religion und
Kirche« beschreibt, durch das die religiöse Frage schlieûlich offenbleiben kann).
Religion ist für eine groûe Zahl von Menschen zu einem Bereich des Lebens
geworden, dem man nach Belieben Aufmerksamkeit schenken kann ± oder
eben nicht. Weil es keine Notwendigkeit (mehr) gibt, sich mit religiösen Fragen
zu befassen und sich in religiöser Hinsicht zu positionieren, verzichten viele
darauf ± nicht weil sie grundsätzlich Religiosität ablehnen, sondern weil für sie
diese Fragen verglichen mit anderen kaum von Belang sind.
In Statistiken und kirchensoziologischen Untersuchungen lässt sich dieser
Trend seit vielen Jahren verfolgen. Er zeigt sich beispielsweise in einer relativ
geringen Beteiligung vieler Kirchenmitglieder am kirchlichen Leben, ohne dass
diesen Mitgliedern aber tatsächlich eine Distanz gegenüber ihrer Religionsgemeinschaft nachgewiesen werden könnte. Ein Beispiel: Die jüngste repräsentative Umfrage der Evangelischen Kirche in Deutschland unter ihren aktuell
etwas über 25 Millionen Mitgliedern kommt zu dem Ergebnis, dass sich 38 Prozent ihrer Kirche stark oder sehr stark verbunden fühlen (Huber, Friedrich und
Steinacker 2006). Doch nur ein knappes Viertel der Befragten gibt an, mindestens einmal monatlich den Gottesdienst zu besuchen. Die Teilnahme an anderen Veranstaltungen wie Gesprächskreisen oder Kirchenwahlen fällt noch geringer aus.
In Deutschland weisen Kirchenmitglieder zwar eine eigene Überzeugung
und erkennbare Bindung an ihre Religionsgemeinschaft auf, leben aber weitgehend ohne religiöse Praxis. Für viele Menschen besteht eben diese religiöse
Praxis offenbar vor allem darin, Mitglied einer Religionsgemeinschaft zu sein
und sich dadurch die Zugehörigkeit zu einer Wertegemeinschaft im weitesten
Sinn sowie die Option auf Teilnahme, Nutzung der Angebote oder sogar Mit539
Religiosität mit protestantischem Profil
arbeit zu erschlieûen oder zu erhalten ± diese Möglichkeiten jedoch relativ selten
wahrzunehmen.
Befragt man die Mitglieder danach, wann Religion für sie wichtig gewesen ist
oder es werden könnte, benennen sie ± meist mit hoher innerer Beteiligung ±
Krisenzeiten, biographische Veränderungen oder besondere, zurzeit nicht relevante Umstände: »Als damals meine Mutter starb . . .« oder »Wenn ich einmal
Kinder habe . . .«. In der kirchensoziologischen Interpretation empirischer Daten
hat sich für diese weit verbreitete Haltung der Begriff »treue Kirchenferne«
durchgesetzt. Er versucht, die paradoxe ± aber für Volkskirchen typische ± Situation zu erfassen, dass eine Kirche in sich zwar ein sehr stabiles Gebilde mit
hohen Mitgliederzahlen sein kann, ihre tatsächlichen Beteiligungsquoten dem
aber nicht annähernd gerecht werden.
Dass am Zentralitätsindex des Religionsmonitors gemessen nur 14 Prozent
der Evangelischen hochreligiös sind (vgl. Abbildung 5), überrascht vor diesem
Hintergrund kaum: Als hochreligiös eingestuft wird nur, wer auf den 5-stufigen
Skalen der einbezogenen Fragen durchschnittlich mindestens den Wert »4«
erreicht. Hochreligiöse in diesem Sinn denken also mindestens »oft« über religiöse Themen nach, glauben mindestens »ziemlich stark« daran, »dass es Gott
oder etwas Göttliches gibt«, nehmen mindestens »oft« an Gottesdiensten teil,
beten mindestens »oft« und erleben mindestens »oft Situationen, in denen sie
das Gefühl haben, dass Gott oder etwas Göttliches in ihr Leben eingreift« bzw.
»Situationen, in denen sie das Gefühl haben, mit allem eins zu sein«. Oder sie
kompensieren einen niedrigeren Wert bei einigen Fragen durch noch höhere
Werte bei anderen, sodass sich im Durchschnitt eine Zustimmung von »4« auf
der 5er-Skala ergibt.
Betrachtet man weiter das typische Profil der Protestanten in Deutschland,
ist man deswegen auch nicht überrascht, dass eine »Mehrheit im Mittelfeld«
erscheint: Menschen, die im Durchschnitt zwar auf jede Frage nach dem Engagement positiv antworten, aber dies eben überwiegend verhalten tun. So beten
nach der EKD-Studie zwar insgesamt 70 Prozent der Evangelischen, von diesen
aber nur 36 Prozent regelmäûig (vgl. Huber, Friedrich und Steinacker 2006).
Laut Religionsmonitor beten sogar 82 Prozent der Evangelischen, davon aber
nur 35 Prozent mehr als einmal pro Woche. 60 Prozent der Evangelischen erleben »selten« oder überhaupt »nie« »Situationen, in denen sie das Gefühl haben,
dass Gott oder etwas Göttliches in ihr Leben eingreift«. Für das Gefühl, »christlich« zu sein, spielen solche Erfahrungen bei der Mehrheit eine untergeordnete
Rolle ± sogar dafür, ob man sich selbst als religiös einschätzt: Religiös sein kann
man auch ohne religiöse Erfahrungen.
540
Petra-Angela Ahrens, Claudia Schulz, Gerhard Wegner
Abbildung 4: Gottesdienstbesuch und Religiosität, Selbsteinschätzung*
100
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27
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24
18
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7
0
einmal
in der Woche
gar nicht religiös
2
9
ein- bis dreimal
im Monat
wenig religiös
8
4
mehrmals
pro Jahr
mittel religiös
3
6
5
seltener
ziemlich religiös
3
nie
sehr religiös
* Evangelische in Deutschland; alle Angaben in Prozent
Umgekehrt birgt diese Haltung ebenfalls Überraschungen. Zwar korreliert die
Religiosität (nach Selbsteinschätzung) grundsätzlich sehr stark mit einer öffentlichen religiösen Praxis ± Christen, die besonders häufig an kirchlichen Veranstaltungen teilnehmen, glauben auch stark an Gott ±, im Detail fällt aber auf:
Mehr als die Hälfte derjenigen, die angeben, zumindest ein- bis dreimal im
Monat einen Gottesdienst zu besuchen, bezeichnet sich nur als höchstens »mittel religiös«.
Viele bringen ihren Gottesdienstbesuch und ihre Religiosität zudem nicht in
einen so direkten Zusammenhang, wie man das eigentlich erwarten könnte. So
verwundert es, wenn nach der Statistik der EKD durchschnittlich an jedem
Sonntag vier Prozent der Evangelischen einen Gottesdienst besuchen (vgl. EKD
2007: 14), laut Religionsmonitor der gröûte Teil dieser Minderheit sich aber als
höchstens mittelmäûig religiös einstuft ± eine Einschätzung, die sich übrigens
bei den Befragten katholischer Konfession bestätigt.
¾hnliche Befunde zeigen sich bei anderen Items des Religionsmonitors,
etwa in den Kerndimensionen der Ideologie oder der privaten Praxis. Weniger
als ein Drittel der Evangelischen, die angeben, einmal täglich zu beten, bezeichnet sich als »ziemlich« oder »sehr religiös«. 45 Prozent der Evangelischen geben
541
Religiosität mit protestantischem Profil
an, »ziemlich« oder »sehr« daran zu glauben, »dass es Gott oder etwas Göttliches gibt«, aber nur ein Drittel dieser Menschen hält sich für »ziemlich« oder
»sehr religiös«. Demzufolge führt nicht einmal eine religiöse Einstellung notwendig dazu, sich selbst als besonders religiös einzuschätzen. Was also hat es
mit der Religion der Mitteleuropäer auf sich?
Diese durchaus paradoxen und sich scheinbar widersprechenden Beobachtungen bestätigen, was über die Haltung protestantischer Christen aus den
EKD-Untersuchungen bekannt ist. Wer sich als sehr religiös bezeichnet, in dessen Leben müsste (aus Sicht der Befragten) Religion einen bedeutenden Raum
einnehmen ± über Gottesdienstbesuche oder ein Gebet für die kranke Tochter
hinaus: Er oder sie müsste sich dann auch intensiv mit religiösen Fragen befassen und ihnen eine groûe Bedeutung für alle Lebensbereiche beimessen. Weil
man aber selbst »nur« Christ ist, den Gottesdienst besucht und betet, empfindet
man sich nicht als besonders religiös.
So kommt es, dass sich selbst evangelische Christen, die eine deutliche religiöse Überzeugung aufweisen, zum religiösen Mittelfeld rechnen. Sie entwickeln dann logischerweise auch nur wenig missionarisches Engagement und
kaum Ansprüche auf Exklusivität der eigenen religiösen Überzeugung. Und
hier erscheinen in der Folge die positiven Werte Offenheit und Toleranz als Kehrseite einer Religiosität, die allerdings nicht mehr den Anspruch hat, das ganze
Leben zu bestimmen.
Die Relevanz des Religiösen
Die Zusammenhänge sind also hoch komplex: Auch ein Protestant in Mitteleuropa mit einer klaren religiösen Überzeugung und regen religiösen Praxis ist
möglicherweise nichtreligiös in dem Sinne, dass er der Religion überall in seinem Leben eine hohe Bedeutung beimisst und sich seine Religiosität auf verschiedene Bereiche des Lebens auswirkt. Religiosität in Deutschland ist folglich
in ihrer Reichweite deutlich eingeschränkt: Weder die öffentliche Praxis noch
das private Glauben und Erleben weisen einen eindeutigen Zusammenhang mit
der Lebensführung auf. Will man diese Zusammenhänge erhellen, müssen weitere Details wie der Einfluss der Religiosität auf einzelne Lebensbereiche überhaupt, konkrete Überzeugungen oder das Interesse an religiösen Fragen berücksichtigt werden.
Dieses Phänomen einer für die meisten Menschen selbstverständlichen, aber
für viele ihrer Lebensbereiche verhältnismäûig wenig relevanten Religiosität
542
Petra-Angela Ahrens, Claudia Schulz, Gerhard Wegner
Abbildung 5: Zentralität der Religiosität bei Evangelischen
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17
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13
15
2
0
Deutschland
nichtreligiös
Schweiz
religiös
Großbritannien
hochreligiös
USA
Guatemala
Südkorea
Alle Angaben in Prozent
stellt sich im internationalen Vergleich als typisch für Europa ± und nicht nur
für Deutschland ± dar (Abbildung 5).
In den USA, Guatemala und Südkorea liegt der Anteil der als hochreligiös
eingestuften Befragten weitaus höher als in den europäischen Ländern. Während Evangelische aus Groûbritannien, der Schweiz und Deutschland (mit 31,
32 und 30 %) kaum zu einem Drittel die Religiosität für einen »ziemlich« oder
»sehr wichtigen Lebensbereich« halten, ist dies bei den Evangelischen aus den
USA, Guatemala und Südkorea (mit 75, 96 und 86 %) in der Mehrheit der Fall.
Interessant ist weiter die Differenzierung bei der Frage, wie sehr die Befragten
»in ihrer Religiosität auf der Suche« sind (Abbildung 6).
Die Abbildung 6 erfasst alle Evangelischen und zeigt die erwartbaren Verhältnisse zwischen Europa und den auûereuropäischen Ländern. Abbildung 7 erfasst
nur solche Evangelischen, die Religiosität als einen (sehr) wichtigen Lebensbereich einstufen.
Jetzt zeigt sich die Differenzierung in den Ländergruppen deutlich: Wo, wie
in Europa, Religion selbst für Menschen, die konfessionell gebunden sind und
eine öffentliche oder private religiöse Praxis aufweisen, allgemein keine allzu
hohe Relevanz hat, sind die Unterschiede groû zwischen denen, die Religiosität
dennoch grundsätzlich für (sehr) wichtig halten, und denen, die das nicht tun.
Man könnte erwarten, dass Menschen, die hochreligiös sind, sich wenig »auf
der Suche« befinden, doch zeigt sich hier, dass genau das Gegenteil der Fall ist:
543
Religiosität mit protestantischem Profil
Abbildung 6: »Wie sehr sind Sie in Ihrer Religiosität auf der Suche?«
100
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13
11
8
0
Deutschland
wenig/gar nicht
Schweiz
mittel
Großbritannien
ziemlich/sehr
USA
Guatemala
Südkorea
Alle Angaben in Prozent
Evangelische international
Wer Religiosität für sehr wichtig hält ± und damit üblicherweise auch selbst
(hoch) religiös ist ±, erlebt sich deutlich öfter »auf der Suche«. Selbst höchste
Religiosität bedeutet folglich in Europa nicht, »angekommen zu sein« bei einer
festen Überzeugung, sondern im Gegenteil eine Haltung, in der man sich immer
wieder mit religiösen Fragen befasst und eben diesen Suchprozess häufig als Teil
der Religiosität versteht.
Auch hierin spiegelt sich, was wir bereits als groûe Offenheit der Evangelischen in Mitteleuropa beobachtet haben: Die Suche und die Offenheit in der
weiteren Ausbildung des eigenen Religiositätsprofils sind stark mit dem allgemeinen Interesse an Religiosität verknüpft. Anders gesagt: Wer religiös ist, ist
damit zugleich offen für neue Fragen, Anregungen oder auch fremde religiöse
Elemente. Deswegen liegt es hier entsprechend wenig nahe, andere Menschen
aktiv für die eigene Überzeugung gewinnen zu wollen.
Dabei handelt es sich im Übrigen um ein Phänomen über konfessionelle
Grenzen hinaus: Das missionarische Engagement ist in Deutschland bei Protestanten und Katholiken nahezu gleich gering ausgeprägt. Bei den Katholiken
liegt die Bereitschaft, für die eigene Religion »groûe Opfer zu bringen«, nur wenig höher als bei den Evangelischen (27 statt 23 %). Es stehen sich folglich ein
nach auûen gerichtetes Verständnis von Religion (»Mission«) und ein nach innen
544
Petra-Angela Ahrens, Claudia Schulz, Gerhard Wegner
Abbildung 7: »Wie sehr sind Sie in Ihrer Religiosität auf der Suche?«
100
90
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49
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28
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24
22
26
29
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12
8
0
Deutschland
wenig/gar nicht
Schweiz
mittel
Großbritannien
USA
ziemlich/sehr
Guatemala
Südkorea
Alle Angaben in Prozent
Evangelische, die angeben, Religiosität sei für sie ein (sehr) wichtiger Lebensbereich
gerichtetes (»Suche«) gegenüber. Dieses Phänomen soll im folgenden Abschnitt
zur Sprache kommen.
Das Öffentliche und das Private
Im internationalen Vergleich zeigen sich erhebliche Differenzen zwischen den
nach auûen gerichteten, auf der Handlungsebene sichtbaren Dimensionen der
Religiosität und der nach innen gerichteten individuellen Praxis und Erfahrung.
Die Kerndimension der öffentlichen Praxis erhebt der Religionsmonitor mithilfe
von zwei Indikatoren: der Frage nach der Häufigkeit der Teilnahme an Gottesdiensten sowie der Frage, wie wichtig den Befragten die Teilnahme am Gottesdienst ist. Hier ergibt sich zunächst das gewohnte Bild: Die Evangelischen vor
allem in Guatemala, aber auch in Südkorea und den USA erreichen weit überwiegend sehr hohe Werte in der öffentlichen Praxis. Unter den Evangelischen in
Europa ist dagegen der Anteil der Befragten mit besonders niedrigen Werten
auffallend groû (Abbildung 8).
Interessant werden diese Daten über die öffentliche religiöse Praxis, wenn
man sie mit denen der individuellen Erfahrung vergleicht. Der Religionsmonitor
545
Religiosität mit protestantischem Profil
Abbildung 8: Öffentliche Praxis der Evangelischen
100
90
93
89
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60
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42
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33
25
20
20
15
10
13
10
1
0
Deutschland
niedrig
mittel
Schweiz
hoch
Großbritannien
USA
2
6
Guatemala
9
Südkorea
Alle Angaben in Prozent
erhebt die Kerndimension der religiösen Erfahrung unter anderem mit dem Index
der »Du-Erfahrung«, mit folgenden Fragen als Indikatoren: »Wie oft erleben Sie
Situationen, in denen Sie das Gefühl haben, dass Gott oder etwas Göttliches Ihnen
etwas sagen oder zeigen will« und »Wie oft erleben Sie Situationen, in denen Sie
das Gefühl haben, dass Gott oder etwas Göttliches in Ihr Leben eingreift?«
Im Ländervergleich zeigt sich, was der Perspektivwechsel vom Öffentlichen
ins Private bedeutet. Für die europäischen Länder verändern sich die Werte
kaum. Auûerhalb Europas ist jedoch eine enorme Differenz zwischen beiden
Dimensionen zu beobachten, vor allem in Guatemala und Südkorea. Die Zahl
der Befragten mit hohen Werten ist jetzt deutlich geringer, in Guatemala sinkt
sie von 93 auf 54 Prozent, in Südkorea von 89 auf 40 Prozent, in den USA von
65 auf 42 Prozent. Was dies bedeutet, muss im Kontext umfassender kultureller
Vergleiche beschrieben werden. Sicher ist aber: Die Zustimmungswerte zur
individuellen Du-Erfahrung fallen auûerhalb Europas deutlich schwächer aus
als zur Dimension der öffentlich-religiösen Praxis. Letztere spielt folglich für die
Religiosität in den untersuchten Ländern eine gröûere Rolle.
Allerdings wirkt sich der in Europa festzustellende Trend zur religiösen Toleranz offenbar nicht derart aus, dass sich Religiosität, wenn überhaupt, nur noch
im Privaten äuûert, weil sich die gesellschaftliche Basis für Religiosität im Bereich des Öffentlichen auflöste. Zwar hat der privat-religiöse Bereich in Europa
verglichen mit den auûereuropäischen Ländern einen erheblich höheren Stel546
Petra-Angela Ahrens, Claudia Schulz, Gerhard Wegner
Abbildung 9: »Du-Erfahrung« der Evangelischen
100
90
80
70
60
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48
42
39
45
42
42
42
38
35
30
40
20
10
18
16
13
8
0
Deutschland
niedrig
mittel
Schweiz
Großbritannien
hoch
12
9
USA
Guatemala
Südkorea
Alle Angaben in Prozent
lenwert; die Bedeutung der öffentlich-religiösen Praxis kann er jedoch nicht
übertreffen. So bleibt festzuhalten, dass im Protestantismus gerade die öffentlichen und gemeinschaftlichen Bestandteile der Religiosität ± Gottesdienste,
Kasualien, aber auch Gedenkveranstaltungen und religiöse Feiern zu lokalen
Festivitäten ± hoch im Kurs stehen. Wer die Bedeutung der Religiosität erhöhen
möchte, ist deswegen gut beraten, diesen Bereich zu stärken und für eine entsprechend hohe Qualität einschlägiger Veranstaltungen zu sorgen. Über sie lassen sich Menschen am ehesten an die Kirche binden.
Auswirkungen der Religiosität
Wo verorten nun die Befragten ihre Religiosität konkret, auf welche Lebensbereiche oder Lebensfragen wirkt sich Religiosität aus, und wie lässt sich ihre
Rolle beschreiben? Die folgenden beiden Abbildungen (10 und 11) zeigen die
Anteile der Evangelischen, die dem jeweiligen Lebensbereich hohe Bedeutung
beimessen, und im Vergleich dazu speziell die Anteile derjenigen, die gleichzeitig den Bereich der Religiosität als einen »ziemlich« oder »sehr wichtigen«
Lebensbereich erachten.
In der Frage nach der Wichtigkeit verschiedener Lebensbereiche zeigen sich
jenseits religiöser Fragen kaum grundlegende Unterschiede zwischen den Län547
Religiosität mit protestantischem Profil
Abbildung 10: Relevanz von Lebensbereichen ± Evangelische
100
80
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96
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86
99
96
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86
83
80
75
72
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58
58
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32
30
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10
14
0
Deutschland
eigene Familie mit Kindern
Schweiz
Freizeit
Großbritannien
Politik
USA
Bildung
Guatemala
Südkorea
Religiosität
Alle Angaben in Prozent
dern: Die Familie spielt eine groûe Rolle, ebenso die Partnerschaft (ohne Abbildung) und die Bildung. Lebensbereiche wie die Freizeit sind etwas weniger wichtig, noch geringer ist die Bedeutung von Politik. Berücksichtigt man nur solche
Befragte, die der religiösen Dimension eine (hohe) Bedeutung beimessen, ergeben sich jedoch interessante Veränderungen.
Wo Religiosität sehr wichtig ist, erhöht sich auch die Orientierung auf Familie und Bildung ± vor allem in Europa. Wechselwirkungen mit dem Bereich
Freizeit sind dagegen kaum wahrnehmbar. Anders jedoch bei der Politik: Dieser Wert erhöht sich mit der Relevanz von Religiosität signifikant vor allem in
Europa: 24 Prozent der Evangelischen in Groûbritannien halten Politik für
einen wichtigen Lebensbereich ± bei denen, für die zugleich Religiosität relevant
ist, sind das hingegen 38 Prozent (Schweiz: 39 zu 51 %; Deutschland: 44 zu
63 %). Auûerhalb Europas findet sich dieses Phänomen nur in den USA (58 zu
69 %).
Wo wirkt sich nun nach Meinung der Befragten ihre Religiosität auf einzelne
Lebensbereiche aus? Hier findet sich zunächst der übliche Unterschied zwischen der recht verhaltenen Zustimmung bei Evangelischen in Europa und der
meist deutlich stärkeren Zustimmung in den übrigen Ländern ± mit besonders
hohen Werten in Guatemala.
548
Petra-Angela Ahrens, Claudia Schulz, Gerhard Wegner
Abbildung 11: Relevanz von Lebensbereichen bei Evangelischen*
100
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98
93
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51
50
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20
10
14
0
Deutschland
eigene Familie mit Kindern
Schweiz
Freizeit
Großbritannien
Politik
* von denen, die angeben, Religiosität sei für sie (sehr) wichtig
USA
Guatemala
Südkorea
Bildung
Alle Angaben in Prozent
Eine interessante Ausnahme bildet die »politische Einstellung«: Nur wenige Befragte stimmen der Aussage zu, Religiosität wirke sich auf ihre politische Einstellung stark aus ± mit Ausnahme der USA, wo es fast 50 Prozent sind: dreimal
so viele wie in Europa.
Aufschlussreich ist der Vergleich zwischen Europa und den übrigen Ländern
in solchen Bereichen, die stärker mit Existenz- und Sinnfragen assoziiert sind.
Hier fallen die Unterschiede viel geringer aus als bei anderen Items: Im Umgang mit Lebensereignissen wie Geburt, Heirat oder Tod, im Umgang mit Lebenskrisen und Fragen nach dem Sinn des Lebens zeigen nun auch die Befragten in
Europa erhöhte Zustimmung zur Auswirkung der Religiosität. Hierin sind sich
die Evangelischen der verschiedenen Länder recht nah: In diesen Bereichen ist
Religiosität überall sehr wichtig. Für Mitteleuropa lässt es sich so ausdrücken:
Die Befragten kennzeichnen diese als typische Bereiche, in denen Religiosität
eine Bedeutung bekommt ± wo sie vielleicht sogar in erster Linie sichtbar oder
erfahrbar wird.
Dass in den europäischen Ländern die Religiosität so eng vor allem mit persönlich wichtigen Situationen verknüpft ist, vervollständigt auûerdem die Skizze
des protestantischen Profils: Religiosität scheint in Europa gerade (und möglicherweise nur) dort zum wichtigen Faktor zu werden, wo es um die Deutung und
549
Religiosität mit protestantischem Profil
Abbildung 12: Auswirkung der eigenen Religiosität auf Lebensbereiche
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97
90
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97
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74
64
61
50
79
77
15
19
15 16
14
0
Deutschland
Kindererziehung
Schweiz
Großbritannien
Arbeit und Beruf
Umgang mit Lebenskrisen
USA
politische Einstellung
Umgang mit wichtigen Lebensereignissen
Guatemala
Südkorea
Fragen nach dem Sinn des Lebens
Alle Angaben in Prozent
Bewältigung des eigenen Lebens geht, um biographische Umbruchsituationen,
Krisen und Sinnfragen. Hier kann Religiosität ihre Bedeutung besser als zu
anderen Gelegenheiten und anhand anderer Themen entfalten.
Vermutlich ist darum in den Augen der Protestanten (und vielleicht allgemein: der Menschen) in Europa die Religiosität in etwa deckungsgleich mit
solchen Lebensbereichen, die typischerweise nicht alltäglich bewältigt werden
können ± im positiven wie im negativen Sinn. Etwas mutiger lässt sich das so
interpretieren: Religiosität wird gewissermaûen um ihrer selbst willen geschätzt.
Sie wird von den Befragten nicht als ausdrücklicher eigener Lebensbereich verstanden, der sich wiederum auf andere auswirkt, sondern sie ist eine eigene
Gröûe, dreht sich um eigene Themen und hat kaum externe Bezüge.
Zusammenfassung und Ausblick
Die Lage ist differenziert und komplex, und Reduktionen sind eigentlich nicht
zulässig. Dies zugestanden, ergibt unsere Betrachtung der Daten des Religionsmonitors dennoch ein relativ klares Profil des Protestantismus. Es lässt sich
schlagwortartig so zusammenfassen: Entweder man hat eine tolerante und reli550
Petra-Angela Ahrens, Claudia Schulz, Gerhard Wegner
giös dialogoffene Situation, in der fundamentalistische Versuchungen eingehegt
und zivilisiert sind ± dies dann aber um den Preis starker Identifikationen und
prägender Wirkungen des Glaubens auf das ganze Leben ±, oder man hat genau
die umgekehrte Situation. Dazwischen bewegt sich die weltweite Dynamik des
Protestantismus, die zumindest in Mitteleuropa auch längst die katholischen
Volkskirchen erfasst hat.
Eine groûe Offenheit und Zugänglichkeit der Kirchen für viele Menschen
und ihre unterschiedlichen religiösen oder sonstigen Erfahrungen geht offensichtlich mit einem Verlust des Glaubens, an inhaltlicher Konkretion und damit
an Ab- und Ausgrenzungen einher. Zugleich aber gewinnt Religion auch eine
neue autonome Qualität in Feldern, die sich quasi besonders nahe am Menschsein des Menschen befinden: in Fragen des Selbst-Seins, der Identität, der biographischen Übergänge, der Stiftung von Sinn. Hier kann sie sich entfalten,
ohne in Konflikt mit systemischen Logiken zu geraten (z. B. denen der Ökonomie oder der Macht), gegen die sie in der modernen Gesellschaft nicht gewinnen kann. Darin liegen ungeheure Chancen. Durch eine Steigerung der Qualität
religiöser Kommunikation in diesen Bereichen ist am ehesten eine Stabilisierung der Kirchenmitgliedschaft zu erwarten.
In diesem Sinne lässt sich die mitteleuropäisch-protestantische Situation als
Paradigma einer mit der modernen Gesellschaft versöhnten Religion verstehen.
In ihr bleiben die Volkskirchen als religiöse Akteure trotz allem von groûer
Bedeutung: Sie entlasten die Menschen von allzu strikten Entscheidungen in
Sachen des Glaubens. Die Daten geben keinen Anlass zu der Befürchtung, dass
sich dies wirklich ändern könnte. Und es gibt ebenso wenig Anlass für den mitteleuropäischen Protestantismus, neidisch auf andere Gegenden dieser Welt zu
blicken, etwa in die USA. Die gröûere religiöse Vitalität dort geht einher mit
einer deutlich geringeren Offenheit und Toleranz in einigen Bereichen, was zur
Ausbildung von gefährlichen Fundamentalismen führen kann. Die Erfahrung
der Kirchen und Religionen in Europa hat hier zu anderen Wegen geführt ± und
das ist gut so.
551
Religiosität mit protestantischem Profil
Literatur
EKD, Kirchenamt (Hrsg.). Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben. Hannover
2007 (auch online unter www.ekd.de/download/broschuere_2007_internet.
pdf).
Huber, Stefan. »Aufbau und strukturierende Prinzipien des Religionsmonitors«.
Religionsmonitor 2008. Hrsg. Bertelsmann Stiftung. Gütersloh 2007. 19±29.
Huber, Wolfgang, Johannes Friedrich und Peter Steinacker (Hrsg.). Kirche in der
Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft.
Gütersloh 2006.
Pollack, Detlef. Säkularisierung ± ein moderner Mythos? Studien zum religiösen
Wandel in Deutschland. Tübingen 2003.
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