Ethik - Stephan Sturm

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Ethik – Moral
Die Begriffe Ethik und Moral
werden
häufig
nicht
trennscharf
benutzt.
Historisch
betrachtet
bezeichnet
der
Begriff
„Moral“ zunächst übliches
Verhalten oder gelebte Sitte
(>
lat.
Mos
Gebrauch).
=
In
Sitte,
dieser
Bedeutung wird der Begriff
i.d.R.
auch
im
angelsächsischen
Sprachraum benutzt (z.B.
moral economy oft he poor
bei Thompson = übliche
ökonomische Haltung von
Armen).
Im
bezieht
sich
Deutschen
der
Begriff
moralisch dagegen meistens
auf
das
spezifische
Verständnis der Moralität bei Kant (= Handlungen, die aus Pflicht getan werden).
Man kann davon ausgehen, dass zur Verhaltensregelung ursprünglich Moral ausreichte. Ein
bestimmter Kanon von Handlungs- und Verhaltensweisen ist kulturell unreflektiert
vorgegeben und wird einfach als Rahmen für das eigene Entscheiden akzeptiert (vgl.
Heideggers
„Man“).
Vor
allem
in
archaischen
Gesellschaften
mit
1
segmentärer
Differenzierung wird der Entscheidungsrahmen durch die Ehrfurcht vor den Göttern/dem
Numinosen hergestellt, Handlungsreglementierung erfolgt durch Tabus (vgl. lat nefas).
Vor allem im Übergang zur hochkulturellen Standesgesellschaften mit stratifikatorischer
Differenzierung entwickeln sich Standesethiken, die das Verhalten der Personen darüber
steuern, dass bestimmte Verhaltensweise für die Aufrechterhaltung des Ansehens, des
Standes und der Abgrenzung gegenüber (vor allem niedriger) Stände erwartet oder als
notwendig empfunden werden. Von einem freien Adligen kann erwartet werden, dass er
sich großzügig und nicht kleinlich zeigt, dass er sich um Bildung kümmert, sich besonnen
zeigt usw. (vgl. die Megalopychia als Wert im klass. Griechenland), da ein anderes Verhalten
eine pöbelhafte Gesinnung (vgl. Pöbel, peuble, populus und die heutige Verwendung des
Begriffs „gemein“) verriete. Grundlage ist die persönliche Ehre und die Ehre des Standes
(noblesse oblige) und gerade keine ethische Universalisierung mit Bezug auf alle Menschen.
Es geht nicht um Pflichten, die für alle Menschen aus moralischen Gründen gelten, sondern
um solche, mit denen man sich gerade von der Mehrheit abgrenzen kann.1
In entsprechender Abwandlung nach dem Durchgang durch Prinzipien der Moralität kann
man hierin allerdings eine Vorform der Kantischen Pflichten gegenüber der Menschheit in
der eigenen Person sehen.
In dem Augenblick, wo moralische Standards und Standesethiken keine ausreichende
Verhaltenssteuerung
mehr
leisten
oder
hinsichtlich
ihrer
Begründbarkeit
oder
Anwendbarkeit Zweifel aufwerfen, kommt es zur Ausbildung von Ethik als Reflexionstheorie
von Moral.2 In der Ethik werden Fragen aufgeworfen, warum es überhaupt sinnvoll ist, sich
nach Normen zu richten und welche Maßstäbe hierfür gelten sollen.
In klassischen griechischen Antike wird dieser Impuls durch Beobachtungen und die
Ansprüche der Sophisten ausgelöst. Zum einen kommt man in Bekanntschaft mit
offenkundig andersartigen Normen anderer Völker, wodurch die selbstverständliche Geltung
1
In der Ilias ist Agamemnon offenbar durchaus berechtigt, dem Achill die Sklavin Briseis zu stehlen (die dieser
seinerseits gestohlen hatte), weil Achill nicht in der Lage ist, sie gegen den Angriff zu verteidigen. Hier herrscht
noch einfach das Naturrecht des Stärkeren. Das Verhalten von Agamemnon ist allerdings problematisch, weil
Briseis Tochter eines Priesters ist und für sie schon Lösegeld bezahlt wurde.
2
Vgl. Niklas Luhmann, Paradigm lost, Frankfurt/M. 1990, S. 14ff.; Luhmann ist allerdings der Meinung, dass
hierfür insbesondere die Umstellung von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung in der modernen
Gesellschaft verantwortlich ist, vgl. ebd. S. 20.
2
der eigenen Normen in Frage gestellt werden, zum anderen behaupten die Sophisten nicht
nur, sie könnten andere tugendhaft machen, sondern stellen auch Normen auf, die zur Kritik
aufrufen (so z.B. die These des Trasymachus, Gerechtigkeit sei nichts anderes als das Recht
des Stärkeren).
Diese Tendenz trifft zusammen mit philosophischen Spekulationen darüber, wie man ein
angenehmes oder glückliches Leben führen kann. Beim Urvater der teleologischen Ethik (<
telos=Ziel) Aristoteles wird als oberstes Ziel noch ohne ethische Qualifizierung aus
deskriptiven Sätzen (also empirischen Beobachtungen) die Glückseligkeit gesetzt. Da der
Mensch allerdings ein kulturell anspruchsvolles, also gutes Leben nur in Gemeinschaft
erreichen kann (anthropos physei zoon politikon= der Mensch ist von Natur ein
gesellschaftsbezogenes, staatenbildendes Wesen) ergibt sich aus diesem Umweg die
Notwendigkeit, z.B. gerecht zu sein.3
Teleologische Ethiken zeichnen sich dadurch aus, dass die Bestimmung der Handlung aus
den nächstliegenden und letztlich höchsten Zwecken abgeleitet werden, eine Handlung ist
gut, wenn sie geeignet ist, dieses Ziel zu befördern. In der Ethik von Aristoteles steht ebenso
wie in den Lebensphilosophien des klass. Griechentums die Glückseligkeit (Eudämonia) als
oberstes Ziel unreflektiert fest.
Dabei hat die Ethik etwa von Epikur noch ganz den Charakter von Empfehlungen zu
Verhaltensweisen,
die
geeignet
sind,
die
eigene
Glückseligkeit
zu
befördern
(individualistischer Hedonismus). Im Wesentlichen wird dazu geraten, sich besonnen zu
verhalten, da übermäßige Ansprüche ebenso wie z.B. Völlerei auf die Dauer mehr Unglück
als Glück erzeugen. Hier zeigen sich bereits die Grundprinzipien des Utilitarismus: Glück
vermehren, Unglück vermindern, allerdings auf einer ethisch noch unreflektierten Ebene.
Zu ethischen Reflexionen zwingt allerdings in der römischen Moralphilosophie die
Konkurrenz solcher Empfehlungen für ein gutes Leben mit weiterhin wirksamen Regeln
konventioneller Moral und insbesondere des in der römischen Oberschicht ausgeprägten
Standesethiken. In Ciceros „De officiis“ (von den Pflichten -> Kant) entwickelt sich das klare
3
Strukturell analog folgen bei Kant die Ansprüche anderer Menschen mir gegenüber aus den Pflichten, die ich
der Menschheit in meiner eigenen Person gegenüber habe. Da ich verpflichtet bin, auf meiner eigenen Ehre zu
bestehen, dies aber faktisch zu sicherstellen kann, wenn ich anderen Menschen dasselbe zugestehe, haben
diese sekundär mir gegenüber Ansprüche. In der politischen Philosophie Kants folgt daraus mit Notwendigkeit
die bürgerliche Gesellschaft und ich bin aus ethischen Gründen berechtigt, wenn nicht gar verpflichtet, andere
dazu zu zwingen, mit mir in eine bürgerliche Gesellschaft einzutreten.
3
Gegensatzpaar von utile (nützlich) und honestum (ehrenhaft) und wird breit diskutiert. Hier
schlägt sich die Erfahrung nieder, dass unehrenhaftes Verhalten für den einzelnen nützlich
sein kann (während für Sokrates noch feststand, dass es besser ist, Unrecht zu leiden als
unrecht zu tun), während umgekehrt ehrenhaftes Verhalten (in der ausgehenden Republik)
nicht mehr ohne weiteres Ansehen und Ruhm (und die entsprechenden Ämter) mit sich
führt. Bereits hier wird eine Abgrenzung spezifisch ethisch begründeter Regeln
von solchen, die aus Erfolgsabsichten resultieren, nötig: Es ist besser, sich
ehrenhaft zu verhalten, weil man sich dann besser fühlt? In den Invektiven
gegen Epikur, er begründe eine Ethik für Schweine (der dann später bei den
Utilitaristen wiederholt wird) zeigt diesen Widerstreit von Ehrenbegriffen und
Nützlichkeitserwägungen (vgl. a. die Abgrenzung der Ethik gegenüber
hypothetischen Imperativen bei Kant).
Für die Ausbildung einer eigenständigen Ethik als Reflexionstheorie moraltheoretischen
Probleme entscheidend ist die Abgrenzung ethischer Imperative gegenüber Präferenzen
und Empfehlungen. Eine individuelle Präferenz („Ich möchte ...) zu äußern ist unabhängig
davon, ob alle anderen dieselbe Präferenz haben, selbst dann, wenn sie sich auf das Handeln
eines anderen bezieht („Ich
möchte, dass du ...) etwas
anderes als einen ethischen
Imperativ zu formulieren. Ein
solcher
Imperativ
zwangsläufig
führt
einen
Universalisierungsanspruch
mit sich („Jeder sollte ...“),
unabhängig davon, wie dieser
Anspruch
begründet
wird
(teleologisch „jeder sollte dies
tun,
weil
sonst
ein
notwendiges Ziel, das alle
teilen sollten, nicht erreicht
4
werden kann“, situationsethisch „jeder sollte in dieser Situation so handeln, weil so die
Situation am besten bewältigt werden kann“, deontologisch „jeder sollte so handeln, weil
nur so allgemeinen Pflichtbegriffen genüge getan werden kann“). Schwieriger ist die
Abgrenzung gegenüber Empfehlungen, weil viele moralische (möglicherweise aber ethisch
nicht qualifizierte) Regeln genau solche hypothetischen Imperative formulieren4, die sich auf
die Förderlichkeit auf eigene Glückseligkeit beziehen. Diese Abgrenzung wird letztlich erst
von Kant geleistet. Der Utilitarismus dagegen führt den antiken Vorläufern gegenüber
zunächst nur das Universalisierbarkeitsprinzip ein. An die Stelle von Imperativen wie „Du
solltest dies tun, um deine eigene Glückseligkeit zu befördern“ treten Imperative der Art
„Jeder sollte dies tun, um die allgemeine Glückseligkeit, das Glück der Mehrheit usw. zu
befördern“;
der
individualistische
Hedonismus
weicht
einem
universalistischen
Hedonismus.
Utilitarismus
Der Utilitarismus steht in der Tradition der teleologischen Ethiken, weitet diese jedoch stark
auf Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit aus. Menschliches Handeln wird im wesentlichen
auf Probleme der Verteilung von Gütern und property rights reduziert. Er steht zudem in
derselben liberalen Tradition, die in der Staatstheorie die Vertragstheorie zur Grundlage
politischer Systeme macht, hier allerdings in der gegen den
Pessimismus und Egoismus bei Hobbes und für das
optimistische, ausgleichende Modell eines Locke. Hinzu
kommen als Traditionsgrundlagen die Überlegungen der
klassischen Nationalökonomie, die sich im 18. und 19.
Jahrhundert verbreitet. Gegen die Theorie A. Smiths spielen
S. 267 Z. 58ff 1
Gefühle (Mitleid) keine Rolle und der Markt hat nicht in jedem Falle eine ausgleichende
Wirkung (invisible hand), auch die Theorien von Malthus werden moralisch abgelehnt.
4
So z.B. die goldene Regel „was du nicht willst, das man dir tu, das füge auch keinem anderen zu“ oder „wer
anderen eine Grube gräbt...“ „mit dem Hut in der Hand...“, „Lügen haben kurze Beine“, auch die 10 Gebote:
„du wirst nicht stehlen, dann wirst du lange im Land deiner Väter leben...“.
5
Allerdings ist Bezugspunkt immer die Mehrheit der Gruppe, der gegenüber die Interessen
der Minderheit geopfert werden dürfen. Die Vorstellung von der Gruppe als organischer
Körper (vgl. Rousseau) wird wie in der liberalen Staatstheorie vermischt von der Vorstellung,
der Körper bestehe aus Individuen und der Wert für das Gesamtsystem sei am Wert für die
einzelnen Beteiligten zu messen.
Der Utilitarismus steht überdies in der Tradition des Empirismus (Locke).
Jeremy Bentham
Bentham geht dementsprechend nicht von einer präskriptiv gewonnenen Norm, sondern
von einer deskriptiven Beschreibung aus, um daraus Kriterien für gut und schlecht
abzuleiten. Hieran zeigt sich bereits eine Schwierigkeit des Utilitarismus: Versteht man unter
„gut“ lediglich nützlich in einem hypothetischen Sinne, ist die
Ableitung logisch korrekt, verfällt dann aber möglicherweise
dem Verdikt, im ethischen Sinne nicht prinzipienfähig zu sein.
Versteht man unter „gut“ dagegen eine ethisch qualifizierte
Aussage, also einen moralischen Wert, dann unterliegt der
Utilitarismus einem naturalistischen Fehlschluß5. Zudem
berücksichtigt er in der simplen Form bei Bentham keine
kulturellen Güter. Die Begriffe von Freud und Leid sind so nicht
qualifiziert.
Bentham geht davon aus, dass alle Menschen faktisch von Leid
und Freude regiert werden und deshalb nach Vermehrung von
Freude und Verminderung von Leid streben. Daraufhin wird
für jede Handlung umstandslos gefordert, dass sie geeignet ist,
Bentham S. 266 Z. 0-21 1
das Glück derjenigen, die davon betroffen sind, zu vermehren
bzw. das Leid zu vermindern.
5
Ein naturalistischer Fehlschluss zieht logisch falsch präskriptive Folgerungen aus deskriptiven Aussagen,
erhebt also das faktische Sein zum Sollen, obwohl es sich um sprachlogisch völlig unterschiedliche Klassen von
Aussagen handelt.
6
Bentham entwickelt daraufhin einen geradezu ökonomischen Kalkül, wie die Qualität einer
Handlung berechnet werden kann. Hierzu muss berücksichtigt werden, wie stark das
Glücksempfinden ist, das durch die Handlung bei den Betroffenen ausgelöst wird, wie lange
dieses Glücksgefühl anhält und wie sicher das Eintreten dieser Folge ist.
Daraufhin wird berechnet, welche Glücks- und Leidwerte kurzfristig und welche langfristig zu
erwarten sind. Fällt die Rechnung positiv aus, ist die
Handlung
gut.
Hier
zeigt
sich
bereits
eine
Grundproblematik jeder Ethik, die den moralischen Wert
einer
Handlung
aus
ihren
Folgen
ableitet,
also
konsequentionalistisch verfährt: Ähnlich wie in der
klassischen und neoklassischen Nationalökonomie werden
den handelnden Subjekten vollständige Rationalität und
Bentham S. 266 Z. 25-34 1
vollständige Kenntnis unterstellt. Versucht man aber bei allen Handlungen die Folgen für
sämtliche direkt oder indirekt Betroffenen zu kalkulieren, wird eine solche Rechnung
unmöglich6, außerdem können die z.B. ökologischen Folgen von Handlungen auf
unbegrenzte Zeit berechnet, infinit werden, so dass gar nicht mehr gehandelt werden kann.
Bentham sagt zwar, es sei nicht zu erwarten, dass eine solche Rechnung immer akkurat
durchgeführt wird, hält sich aber trotzdem für eine anzustrebendes Ideal.
Robert Spaemann kritisiert dagegen:
„Der Utilitarismus scheitert erstens an der Komplexität und
Undurchschaubarkeit
der
langfristigen
Folgen
unserer
Handlungen. Wenn wir die Gesamtheit der Handlungsfolgen in
Betracht ziehen müssten, kämen wir vor lauter Kalkulieren nicht
mehr zum Handeln. Die Senkung der Kindersterblichkeit in armen
Ländern hat oft langfristig katastrophale Folgen, diese aber führen
dann wieder zu einem Druck, die Lebensverhältnisse insgesamt zu
Norbert Hörster, S. 269 Z. 1-10 1
verbessern; ob das gelingt, ist offen. Was insgesamt am Ende
6
Darauf, dass die Berechnung solcher Folgen selbst mit Zeitaufwand und damit mit Transaktionskosten
verbunden ist, reagiert der sogenannte Regelutilitarismus (im Unterschied zum Handlungsutilitarismus): Er
formuliert Regeln, die der Erfahrung nach meistens zur Glücksvermehrung führen und fordert, dieser Regel
auch dann zu folgen, wenn sie im Einzelfall nicht zum Erfolg führt, weil dieser Verlust immer noch geringer ist,
als die Kosten durch eine Dauerreflexion über mögliche Folgen einer einzelnen Handlung.
7
überwiegt, wer will das beurteilen? Niemand könnte mir handeln, wenn er zunächst zu
einem solchen Urteil kommen müsste. […]“ (s. S. 276).
Entscheidend ist letztlich, wie viele mittelbar Betroffene ins das Kalkül einbezogen werden.
Die Effizienz des Verfahrens neigt dabei natürlich dazu, bestimmte Interessen für nicht
relevant zu erklären.
Ein weiteres Problem zeigt sich darin, dass jede konsequentionalistische Ethik letztlich dazu
neigt, die Mittel um des Zweckes willen zu heiligen, also keine eigene Qualifikation der
Mittel anbietet: „Jedes Verbrechen wäre gerechtfertigt, wenn der, wer es begeht, dabei
einen Zweck verfolgt, der dieses Mittel „heiligt“.“ (Spaemann, S. 276).
„Das zweite Argument ist das folgende: der Utilitarismus liefert das sittliche Urteil des
normalen Menschen der technischen Intelligenz von Experten aus. Denn man kann nach ihm
die sittliche Qualität von Handlungen nicht an diesen selbst ablesen, sondern man bedarf
dazu einer universalen Nutzenfunktion; und diese zu erstellen, ist Sache von Experten, seien
diese auch selbst ernannt. […]
Unsere sittliche Verantwortung ist nur dann konkret, bestimmte und nicht beliebig
manipulierbar, wenn sie zugleich begrenzt ist, das heißt, wenn wir nicht davon ausgehen, wir
müssen jeweils die Gesamtheit der Folgen jeder Handlung und jeder Unterlassung
verantworten. […]“ (ebd.)
Zudem gibt es in der utilitaristischen Ethik keine absoluten Werte (z.B. Menschenrechte),
vielmehr ist alles kalkulierbar und gegeneinander aufrechenbar:
„Es gibt […] bestimmte Handlungsweisen, die ohne Ansehung der Umstände immer und
überall schlecht sind, weil durch sie unmittelbar […] die Würde der Person negiert wird. Bei
solchen Handlungen gehört jeder Kalkül der Folgen auf. Das aber heißt: für die Folgen der
Unterlassung einer in Sie schlechte Behandlung trifft uns keine Verantwortung. Der Mann,
der sich weigerte, ein jüdisches Mädchen zu erschießen, das ihn um sein Leben an flehte,
hatten nicht die Verantwortung dafür, dass sein Vorgesetzter daraufhin 10 andere
Menschen erschießt, mit deren Erschießung er ihm zuvor gedroht hat. Sterben müssen wir
schließlich alle einmal; aber morden müssen wir nicht. Für die Unterlassung dessen, was wir
8
nicht dürfen, trifft uns so wenig die Verantwortung wie für die Unterlassung dessen, was wir
physisch gar nicht können.“ (Spaemann, ebd.)
„Im Übrigen fördert der Konsequentialismus Erpressungen. Ein Konsequenzialist muss immer
bereit sein, einen Mord zu begehen, wenn man ihm droht, ansonsten zehn Menschen
umzubringen. Aber nur einem Konsequenzialisten kann man damit drohen. [...]
Wer den konsequenzialistischen informierten Begriff von Verantwortung teilt, muss dieser
Erpressung nachgeben. In Wirklichkeit aber kann kein Mensch auf die Länge mit diesem
Begriff von Verantwortung leben, ohne sich einerseits moralisch zu korrumpieren und ohne
sich andererseits permanent zu überfordern.“ (Robert Spaemann, Die schlechte Lehre vom
guten Zweck, FAZ, 23. Oktober 1999, Nummer 247)
McIntyre zu Bentham S. 269 1
9
John Stuart Mill
Als eines des zentralen Probleme des Utilitarismus bei Bentham
zeigt sich, dass dessen Kriterien für das Glück rein quantitativ
gedacht sind. Mill versucht, den utilitaristischen Ansatz in dieser
Hinsicht weiterzuentwickeln, indem er qualitative Kriterien für Glück
auszumachen versucht. Damit versucht Mill zugleich, der Kritik am
Utilitarismus zu begegnen, dieser sei eine rein egoistische Ethik, die
nur an einem verwerflichen Lustprinzip orientiert sei.
Wie Bentham geht Mill zunächst davon aus, dass eine Handlung
dann moralisch gut ist, wenn sie die Tendenz hat, Glück zu
befördern, und moralisch schlecht ist, wenn sie die Tendenz hat,
Leid zu vermehren.
Mill S. 270 2
Er bezieht aber in seine Überlegungen mit ein, dass der Wert des
Glücks nicht ausschließlich in seiner Quantität, sondern in seiner
Qualität zu suchen ist.
Eine erste Schwierigkeit zeigt sich hierbei jedoch darin, dass es keine
objektiven Maßstäbe dafür gibt, welche Freude einen höheren Mill S. 270 1
qualitativen Wert hat. Mill gibt daher als Grundlage der
Qualitätsprüfung letztlich rein empirische, statistische Messungen an,
bei denen fraglich ist, inwiefern sie einen spezifisch moralischen Wert
(kontrafaktisch) begründen können.
Dabei geht Mill ohne weiteres davon aus, dass kein vernünftiger
Mensch wählen würde, z.B. ein Tier zu sein, selbst dann, wenn man
garantierte, dass es dann ungestört der tierischen Lust nachgehen
könnte.
Als weiteres Problem zeigt sich, dass die subjektive Einschätzung des
Glücks durch den bloßen Zuwachs an Freude bestimmt sein könnte,
so dass dasselbe Glück von verschiedenen Menschen unterschiedlich
eingeschätzt werden könnte, z.B. ist das Glück, Nahrung zu
bekommen für denjenigen höher, der hungert, als für den, der stets
genug zu essen hat.
Mill S. 270 3
Letztlich zeigt sich dasselbe Ergebnis wie bei Epikur, dass nämlich eine
Steuerung der Bedürfnisse die Glückserwartung erhöht.
Zwar betont Mill, dass es jenseits subjektiver Maßstäbe quasi objektiv
feststehe, dass manche Werte besser sind als andere, damit sprengt er
aber letztlich den eigenen Ansatz, der bei den empirisch feststellbaren Mill S. 271 4
10
Vorstellungen der Menschen ansetzt. Seiner Meinung nach liegt der
feststellbare Gegensatz zwischen objektiven und subjektiven
Interessen in der mangelnden Kenntnis (von Ungebildeten) über
den wahren Wert des Glücks begründet. Deshalb fordert er auch,
dass die Erziehung dahin wirken solle, dass die Menschen sich Ziele
und Wünsche setzen, die mit dem Gemeinwohl vereinbar sind.
Mill S. 271 5
Mill verteidigt zudem den Ansatz des Utilitarismus gegen den
Vorwurf, egoistisch zu sein, indem er betont, dass der Utilitarist den
Wert seiner Handlung nicht allein daran bemisst, wie viel Nutzen er
selbst davon hat, sondern den Nutzen aller Betroffenen zum Maßstab
macht.
Mill S. 272 1
Dadurch, dass der Utilitarismus in dem Augenblick, wo er den Glücksbegriff qualitativ bestimmen
will, entweder Erziehung, also letztlich Manipulation, benutzen muss, um gemeinwohlfördernde
Wünsche bei den Einzelnen zu erzeugen, begibt er sich in einen Widerspruch zu den ursprünglichen
empirischen Prinzipien. Der Inhalt der eigentlichen Wertbegriffe bleibt auf diese Weise unbestimmt.
Letztlich ist in dieser Hinsicht der Präferenzutilitarismus bei Singer konsequenter, indem er dem
Nutzenkalkül eine subjektive Wertlehre unterlegt, so dass tatsächlich die zufälligen Präferenzen des
Einzelnen als qualitativer Maßstab für die Bemessung des Glücks herangezogen wird. Hier entsteht
dann freilich das Problem, welche Präferenzen (z.B. beim Kind) man ernst nehmen kann und welche
nicht, zudem zeigt sich wie in allen letztlich ökonomischen Ansätzen das Problem von nichtstabilen
Präferenzen bzw. das Problem, dass den einzelnen Subjekten keine vollständige Rationalität und
Kenntnis unterstellt werden kann (homo ökonomicus).
Einen Ausweg bietet hier die Umstellung auf die Verteilung von Lebenslagen bzw. die Allokation von
property rights. In diesem Falle löst sich dann allerdings das ursprünglich als ethisch gedachte Projekt
des Utilitarismus in ein Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit auf, also in einen ökonomischen Ansatz.
Kant
Kant geht in seinen Überlegungen in der Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten unmittelbar vom Universalisierungsprinzip
aus. Dieses hatte sich ja als für eine Ethik konstitutiv gezeigt.
Zunächst ist ein Imperativ der praktischen Vernunft anders als ein
Gesetz der theoretischen Vernunft ein Grundsatz, der, weil der
Mensch kein reines Vernunftwesen ist, stets einen präskriptiven
11
und keinen deskriptiven Satz enthält. Ein praktisches Gesetz ist also ein solches, das bei einem reinen
Vernunftwesen deskriptiv dessen Handlungsweisen beschreibt, bei einem nicht reinen
Vernunftwesen dagegen präskriptiv beschreibt, was dieses tun soll. Dadurch wird von vornherein ein
naturalistischer Fehlschluss vermieden.
Anschließend unterscheidet Kant zwischen Maximen und
Gesetzen. Maximen sind Bestimmungsgründe, die für den
Willen nur subjektiv sind, also nur für das Subjekt gelten,
Gesetze sind dagegen Bestimmungsgründe, die objektiv, also
für alle Menschen gelten. Es ist ohne weiteres klar, dass nur die
Gesetze dem ethischen Anspruch auf Universalisierbarkeit
genügen können. Daraus leitet sich im Grunde schon die spätere
Formulierung des kategorischen Imperativs ab, nämlich dass die
Maximen, also die subjektiven Beweggründe zu einer Handlung, von objektiven, also
universalisierbaren Gesetzen bestimmt sein müssen. Der kategorische Imperativ ist also nichts
anderes als das Universalisierungsprinzip.
Die praktischen Grundsätze können nun bezogen sein auf die Kausalität des Menschen in Ansehung
auf eine Wirkung, oder lediglich den Willen zur Hervorbringung von Wirkungen betreffen. Sie
können also teleologisch oder deontologisch sein.
Grundsätze, die sich auf die Hervorbringung von
Wirkungen beziehen, sind zunächst immer
hypothetisch, d.h. sie gelten nur insoweit als geboten,
als die Wirkung selbst geboten ist. D.h. sie sind
Grundsätze der Geschicklichkeit (wenn man diesen
Zweck erreichen will, muss man jenes tun). Solange
solche Grundsätze aber ein Bedingungsgefüge (wenndann) enthalten sind sie solange bloß hypothetisch, wie
der anvisierte Zweck nicht als solcher durch ein
kategorisches Gesetz bestimmt werden kann (dieser
Zweck ist später die Menschheit).
Hypothetische Grundsätze können daher niemals
kategorisch sein, weil der darin vorausgesetzte Zweck
zunächst ein bloß subjektiver ist (er ist durch kein
kategorisches Gesetz bestimmt) und überdies von empirischen Grundlagen abhängt und als
Geschicklichkeitsregel durch empirische Grundsätze bestimmt ist. Ohnehin wäre ein solcher
Imperativ nicht unversalisierbar, weil dann auch die Fähigkeit, die Zwecke zu bewirken, moralisch
vorgeschrieben sein müsste, was für einen empirisch gegebenen Menschen nicht möglich ist.
Daraus folgt, dass hypothetische Imperative kein moralisches Gesetz abgeben können, so dass weiter
folgt, dass die Qualifikation für ein universalisierbares praktisches Gesetz nur Imperative haben
können, die sich ausschließlich auf den Willen beziehen (unabhängig davon, was dieser Wille
bewirkt). Gut ist also allein ein guter Wille. Folglich gelten kategorische Imperative zwangsläufig
unabhängig von jeder Wirkung.
12
Aus diesen Darlegungen folgt bereits, dass der Ansatz einer
Ethik beim Prinzip der Glückseligkeit von vornherein
versperrt ist. Kant geht zwar deskriptiv wie die Utilitaristen
davon aus, dass Glückseligkeit notwendig der
Bestimmungsgrund für das Begehrungsvermögen jedes
Menschen darstellt, jeder also notwendig glückselig werden
möchte. Dass dies notwendig der Bestimmungsgrund ist,
liegt darin, dass Menschen bedürftig sind. Daraus folgt
jedoch zugleich, dass alle Menschen in unterschiedlichen
Dingen bedürftig sind, folglich auch Unterschiedliches
erstreben. Auf diese Weise ist es nicht möglich, aus den
subjektiven Bestimmungsgründen ein objektives praktisches Gesetz zu machen, zumal die jeweilige
Bedürftigkeit nur aus Erfahrung, also a posteriori bestimmt werden kann. Selbst wenn alle Menschen
an denselben Dingen bedürftig wären, wäre diese Übereinstimmung nur zufällig, würde also auch
dann nicht für ein praktisches Gesetz taugen.
Da nach Kant alle materialen, also inhaltlichen, Bestimmungen des Begehrungsvermögens,
notwendig durch das Strebe nach Glückseligkeit erfüllt sind, können materiale Bestimmungsgründe
insgesamt kein praktisches Gesetz abgeben, so dass für ein solches nur noch formale
Bestimmungsgründe übrig bleiben.
Danach kann dann aber auch der Inhalt einer gebotenen Handlung nicht mehr selbst ein praktisches
Gesetz sein. Kant unterscheidet deshalb bei einer Handlung zwischen der Legalität und der Moralität
derselben. Legalität bedeutet, dass eine Handlung material dem entspricht, was geboten ist, also
eine pflichtgemäße Handlung ist, Moralität dagegen bedeutet, dass eine Handlung nicht nur
pflichtgemäß ist, sondern auch nur deshalb erfolgt, weil sie pflichtgemäß ist, also aus Pflicht.
13
Dass der moralisch Handelnde nicht nur das tut, was solchen Prinzipien entsprechen kann,
sondern es auch nur deshalb tut, weil er das Prinzip als vernünftig erkannt hat, scheint
zunächst überflüssig. Warum mir jemand hilft, wenn ich in Not bin, kann mir zunächst egal
sein, Hauptsache er tut es. Ohnehin kann ich die Motive des Handelnden von außen gar
nicht einsehen oder gar beurteilen. Anders sieht es jedoch aus, wenn ich die subjektive
Berechenbarkeit der Handlung in Betracht ziehe. Hilft mir jemand nur deshalb weil er mich
mag, kann ich mit seiner Hilfe nur solange rechnen, wie ich sein Wohlwollen genieße. Wenn
ich dagegen in Ungnade falle, muss ich damit rechnen, dass die Hilfe ausbleibt. Ohnehin
könnte ich von völlig Fremden keine Hilfe erwarten. Ähnliches ergibt sich, wenn ich auf
Mitleid, Nächstenliebe oder Eigeninteresse setze. Denn alle diese Faktoren können im
besonderen Falle ausbleiben und so bliebe auch die Handlung aus. Alle Systeme, die auf
Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person angewiesen sind, setzen ohnehin voraus, dass
bestimmte Leistungen aus Pflichtbewusstsein der Handelnden beruhen, so z.B. die
gerechten Urteile eines Richters, die unparteiische Beurteilung des Finanzamtes oder auch
die gerechte Benotung eines Lehrers.
Auch für den Handelnden selbst ergibt sich aus der Grundlegung des kategorischen
Imperativs ein nicht zu verachtender Vorteil hinsichtlich der Sicherheit des moralischen
Urteils. Der kategorische Imperativ sichert nämlich vor moralischer Überforderung
insbesondere in Situationen und Umständen, in denen der Handelnde nur einen geringen
Einfluss auf das Gesamtergebnis hat, bzw. voraussetzen muss, dass auch bei Aufbietung aller
zur Verfügung stehenden Mittel ein bestenfalls akzeptables, ethisch aber jedenfalls nicht
wünschbares Ergebnis herauskommt. In einem ungerechten System (Schule) oder gar einer
Diktatur müsste der Handelnde stets daran verzweifeln, dass das Ergebnis seiner
Handlungen unterhalb des geforderten Maßstabes bleibt. Die berühmte Einschränkung „so
viel an mir ist“ bewirkt, dass der Handelnde sicher sein kann, richtig gehandelt zu haben,
wenn vorausgesetzt werden kann, dass alle vernünftigen Wesen die zugrundeliegenden
Prinzipien teilen könnten, auch wenn dies faktisch nicht der Fall ist. Auch in einer Welt voller
Teufel kann so noch moralisch richtig gehandelt werden.
Umgekehrt schützt der kategorische Imperativ aber auch vor moralischer Unterforderung.
Die Tatsache, dass durch den moralisch gebotenen Einsatz faktisch nichts bewirkt wird,
hindert nicht, dass die Handlung dennoch geboten ist. Auch die möglicherweise gegebene
Tatsache, dass auch alle anderen unmoralisch handeln, kann an diesem Urteil nichts ändern.
Schließlich hat insbesondere auch die sogenannten Menschheitszweckformel wichtige
ethische Valenzen: Dass man Menschen nie nur als Mittel, sondern jederzeit zugleich als
Zweck behandeln soll, schließt einerseits aus, dass andere Menschen nur Spielfiguren in
einem Spiel, gleichviel welchen Wertes, gesehen werden können. Kein Ziel kann so erhaben
sein, dass auf die mögliche Zustimmung der beteiligten Personen (vorausgesetzt sie können
als vernünftig angesehen werden) verzichtet werden könnte. Interessanter noch ist der
Schutz vor den sogenannten objektiven Interessen. Die Menschheitszweckformel verbietet
es nämlich auch, als wohlmeinender Diktator zugunsten einer fremden Glückseligkeit zu
14
handeln, die der Betroffene so gar nicht sieht (wir wollen doch nur Dein Bestes…). Auch hier
muss der Betroffene (als vernünftiges Subjekt vorgestellte) prinzipiell selbst zustimmen
können, man kann also letztlich nicht besser wissen, was gut für andere ist, es sei denn, man
kann es beweisen. Schließlich verhindert die Formulierung der Menschheit in der eigenen
Person dann auch, dass jemand sich selbst zu einer bloßen Figur in der Verwirklichung
fremder Glückseligkeit macht und damit als Subjekt selbst herabwürdigt. Kein noch so
hehres Ziel erlaubt es nach Kant, sich selbst aufzugeben und zum bloßen Faktor eines
vermeintlich höherwertigen Zweckes zu machen und damit als Person aufzugeben.
In anwendungstheoretischer Hinsicht ergeben sich freilich erhebliche Bedenken hinsichtlich
der Ethik Kants. Kant scheint überall vorauszusetzen, dass schon klar ist, welche Handlungen
pflichtgemäß und welche pflichtwidrig sind. Denn eine solche Bestimmung folgt aus dem
kategorischen Imperativ nicht. Der kategorische Imperativ ist vielmehr ein rein formales
Prinzip, das als Filter angewandt werden kann, wenn aus irgendwelchen anderen Gründen
heraus eine Handlung schon beabsichtigt ist und erst nachträglich gefragt werden kann, ob
die Prinzipien, aus denen die Handlung als gut bewertet wird, verallgemeinerbar sind. Kants
Ethik setzt überdies einen Menschen voraus, der in seinem Willen durchweg nicht von
Gefühlen und Neigungen bestimmt ist. Dass dies faktisch nie der Fall ist, tut der Ethik keinen
Abbruch, weil man ja trotzdem moralisch fordern kann, dass dies so sein soll. Fraglich ist
allerdings in der Anwendung, ob dies überall wünschenswert sein kann. In den Fällen (s.o.),
wo ein unbeeinflusstes Handeln ohne Ansehung der Person wünschenswert ist, ist dies klar,
ob aber reines Pflichtbewusstsein für das Handeln im sozialen Nahbereich ausreicht und ob
der moralische Wert einer Handlung unter Umständen nicht gerade darin besteht, dass darin
eine Zuneigung, Philanthropie oder ähnliches ausgedrückt wird, bleibt bei Kant außen vor.
Jonas
Der Verantwortungslosigkeit der Kantischen Ethik versucht Jonas zu entkommen, indem er
objektive Zwecke formuliert, die sich seiner Meinung nach aus dem Wandel der Technik
ergeben haben. Diese Technik ist zum bestimmenden Moment des Daseins des Menschen
geworden, weil sie inzwischen Dimensionen erreicht hat, die alle bisherige Technik weit
übersteigt. Die Technik strebt eine universelle Herrschaft über die Natur und den Menschen
an, die zwangsläufig neue Dimensionen der Verantwortung erzeugen muss. Bislang nämlich
war die Anwesenheit des Menschen in der Welt „ein erstes und fraglos Gegebenes“, jetzt
dagegen ist „sie selber ein Gegenstand der Verpflichtung geworden“. Denn Technik ist
inzwischen in der Lage, jegliches menschliches Leben auf der Erde unmöglich zu machen,
und Technik ist inzwischen in der Lage, den Menschen selbst zu verändern. Letzteres kommt
im Wesentlichen in zwei Hinsichten zum Tragen: Durch medizinischen Fortschritt wird es
immer stärker möglich, die Lebenszeit der Menschen zu verlängern. Daraus resultiert das
Problem, das entschieden werden muss, welche Menschen in den Genuss des medizinischen
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Fortschritts kommen, bzw. welche Menschen leben sollen und welche Menschen kein Recht
auf Leben haben. Es muss auch gefragt werden, in welchem Verhältnis alte und junge
Menschen leben sollen, ob z.B. eine Gesellschaft unendlich altern soll oder darf. Die
Möglichkeiten der Gentechnik erlauben es darüber hinaus, den Menschen selbst zu
verändern und zu gestalten. Auch hierfür muss es ethische Kriterien geben (wer darf sich
wann klonen lassen, welche Eigenschaften von Kindern dürfen von den Eltern gestaltet
werden, welche Klone darf man aus möglicherweise egoistischen Gründen in die Welt setzen
(s. Die Klavierspielerin), darf man Menschen als Ersatzteillager verwenden usw.?)
Die moderne Ethik kann also nicht einen existierenden Menschen einfach voraussetzen, wie
es die Ethik Kants tut. Vielmehr muss sie zunächst dafür sorgen, dass es überhaupt
Menschen auf der Erde gibt, und dass diese menschenwürdig leben können. Das ist nämlich
die physische Voraussetzung dafür, dass es moralisch handelnde Menschen geben kann.
Jonas behauptet deshalb, dass es über die Imperative Kants hinausgehende Imperative
geben muss, die dies sicherstellen. Kant dagegen setzt diese Existenz der Menschheit immer
schon voraus.
Die neuen Imperative bei Jonas sind:
a) Positiv ausgedrückt: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind
mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden!“
b) Negativ ausgedrückt: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht
zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens.
Für Jonas gilt aufgrund der oft noch unabsehbaren Folgen von Technik dabei das Prinzip der
Heuristik der Furcht. Man muss bei der Planung einer Handlung (oder eines
Regierungsprogramms) immer von den schlechtest möglichen Folgen ausgehen (also vom
worst case). Jede Handlung, die unter diesem Gesichtspunkt das Überleben der Menschheit
gefährden könnte, ist dann zu unterlassen.
Das Problem dabei ist freilich, dass sich die Folgen technischen Handelns für die Zukunft in
der Regel nicht hinreichend bestimmen lassen. Wie jede teleologische Ethik setzt Jonas
vollständige Rationalität und vollständiges Wissen voraus. Die Heuristik der Furch umgeht
zwar dieses Problem, weil die bloße Möglichkeit katastrophaler Folgen schon ausreicht, um
eine Handlung als unmoralisch zu qualifizieren, wenn man diesem Prinzip konsequent folgt,
kann aber jede Handlung unabsehbare Folgen haben. Folglich könnte man eigentlich nie
handeln, was unter Umständen aber auch katastrophale Folgen haben kann. Jonas ist
überdies beeinflusst von einer Technikphobie, wie man sie in der Entstehungszeit seines
Buches „Prinzip Verantwortung“ (erschienen 1979) hatte. Es ist fraglich, ob man diesen
Zeitgeist ohne weiteres jeder Ethik unterstellen kann.
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