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Christoph Maisack
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Kommentar zum
Tierschutzgesetz
Autoren
Prof. Dr. jur. Thomas Cirsovius, Dozent
Christoph Maisack, Richter a. AG
Dr. med. vet. Johanna Moritz, Veterinäroberrätin
Dr. jur. Helga Müller, Rechtsanwältin
Der Kommentar erscheint voraussichtlich im Herbst 2002, im Verlag Beck/Vahlen, München
Hier im Vorabdruck die vorläufige Kommentierung zu § 11 b Tierschutzgesetz
§ 11 b [Qualzüchtung und ähnliche Maßnahmen]
(1) Es ist verboten, Wirbeltiere zu züchten oder durch bio- oder gentechnische
Maßnahmen zu verändern, wenn damit gerechnet werden muß, dass bei der
Nachzucht, den bio- oder gentechnisch veränderten Tieren selbst oder deren
Nachkommen erblich bedingt Körperteile oder Organe für den artgemäßen
Gebrauch fehlen oder untauglich umgestaltet sind und hierdurch Schmerzen,
Leiden oder Schäden auftreten.
(2) Es ist verboten, Wirbeltiere zu züchten oder durch bio- oder gentechnische
Maßnahmen zu verändern, wenn damit gerechnet werden muß, dass bei den
Nachkommen
(a) mit Leiden verbundene erblich bedingte Verhaltensstörungen oder mit
Leiden verbundene erbliche bedingte Aggressionssteigerungen auftreten
oder
(b) jeder artgemäße Kontakt mit Artgenossen bei ihnen selbst oder einem
Artgenossen zu Schmerzen oder vermeidbaren Leiden oder Schäden führt
oder
(c) deren Haltung nur unter Bedingungen möglich ist, die bei ihnen zu
Schmerzen oder vermeidbaren Leiden oder Schäden führen.
(1) Die zuständige Behörde kann das Unfruchtbarmachen von Wirbeltieren anordnen,
wenn damit gerechnet werden muß, dass deren Nachkommen Störungen oder
Veränderungen im Sinne des Absatzes 1 oder 2 zeigen.
(2) Die Absätze 1, 2, und 3 gelten nicht für durch Züchtung oder bio- oder
gentechnische Maßnahmen veränderte Wirbeltiere, die für wissenschaftliche
Zwecke notwendig sind.
(3) Das Bundesministerium wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit
Zustimmung des Bundesrates, soweit es zum Schutz der Tiere erforderlich ist, die
erblich bedingten Veränderungen, Verhaltensstörungen und
Aggressionssteigerungen nach den Absätzen 1 und 2 näher zu bestimmen und dabei
insbesondere bestimmte Zuchtformen und Rassemerkmale zu verbieten oder zu
beschränken.
I. Qualzüchtungen, Abs. 1
Rn 1 Entstehung. Die Vorschrift wurde durch das ÄndG 1986 erstmals eingefügt. Durch das
ÄndG 1998 erfolgte u.a. eine Erweiterung um den Schutz vor biotechnischen Maßnahmen.
Das Gesetz zur Bekämpfung gefährlicher Hunde vom 12. 4. 2001 (BGBl I S 530) brachte eine
Erweiterung von Abs 2 lit. a sowie von Abs 5. - Zum Themenkomplex der Heimtierzucht
bildet das am 2. 6. 1999 von einer Gutachtergruppe im Auftrag des BML vorgelegte sog.
Qualzuchtgutachten eine wichtige Entscheidungshilfe und Leitlinie für die Auslegung (vgl.
BML, Gutachten zur Auslegung von § 11b TierSchG, 2000, Vorwort).
Rn 2 Die einzelnen Tatbestandsmerkmale. Geschützt sind alle Wirbeltiere (s. § 4 Rn 2),
gleichgültig ob Heimtiere, landw. Nutztiere, wildlebende Tiere o.ä. - Unter Züchten iSv §
11b versteht man die geplante Verpaarung von Tieren (Qualzuchtgutachten S 5). In Art. 1 § 1
des Gesetzes zur Bekämpfung gefährlicher Hunde wird definiert: „Im Sinne dieses Gesetzes
ist Zucht jede Vermehrung von Hunden.“ Das Gesetz knüpft direkt an § 11b an (vgl. insbes.
Art. 2 Nr. 2). Daher ist es nicht mehr möglich, den Züchtungsbegriff durch zusätzliche
Merkmale weiter einzuschränken. - Nachzucht: Kommt es infolge der Tathandlung zur
Schädigung eines Fetus, der noch vor der Geburt (bei Vögeln: vor dem Schlupf) abstirbt, so
stellt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt in solchem Fall von „Nachzucht“ oder
„Nachkommen“ gesprochen werden kann. Die Entwicklung eines Organismus lässt sich in
drei Phasen einteilen: 1. Primitiventwicklung (primäre Organogenese); 2. feinere
Ausarbeitung von Form und Struktur; 3. funktionelle Reifung und Integration der Organe. Da
die Nachkommen jedenfalls mit Beginn der dritten Phase, die bei Säugetieren spätestens nach
dem ersten Drittel der Gravidität und bei Vögeln etwa ab dem 6. bis 9. Bebrütungstag beginnt,
Empfindungsfähigkeit entwickeln, sind sie ab diesem Zeitpunkt durch § 11 b geschützt.
Während also embryonaler Frühtod nicht erfaßt wird, rechnen zur Nachzucht neben
geschädigten Lebendgeburten auch Totgeburten und Feten, wenn sie erst nach dem o.e.
Zeitpunkt absterben (Qualzuchtgutachten S 4; vgl. auch Herzog in: DVG-Tagungsband
‘Tierschutz und Tierzucht’ 1997, S 239, 242: Danach beginnt die dritte Phase bei Säugetieren
etwa 6 - 7 Wochen nach der Konzeption, spätestens jedoch nach dem ersten Drittel der
Gravidität). - Körperteile und Organe sind aus Zellen und Geweben zusammengesetzte Teile
des Körpers, die genetisch festgelegte, für die Lebens- und Fortpflanzungsfähigkeit
notwendige Funktionen zu erfüllen haben. Für den artgemässen Gebrauch untauglich oder
umgestaltet sind sie immer dann, wenn eine dieser Funktionen infolge der züchterischen
Einflussnahme nicht mehr ausreichend erfüllt oder ausgeführt werden kann
(Qualzuchtgutachten S 7). Auch negative, vom Züchter ungewollte Veränderungen an
Organen oder Körperteilen, die mit Zuchtmerkmalen im Zusammenhang stehen, nicht aber
mit den durch Zuchtziele beeinflussten Organen oder Körperteilen identisch sind, fallen,
soweit sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden einhergehen, unter § 11 b (vgl.
Qualzuchtgutachten aaO; Herzog aaO S 245). - Infolge der Untauglichkeit, Umgestaltung
usw. muss es zu Schmerzen, Leiden oder Schäden kommen ( s. § 1 Rn 10 - 22). Erheblichkeit
braucht nicht gegeben zu sein. „Einfache“ Schmerzen, Leiden usw. reichen aus (vgl.
Qualzuchtgutachten S 6). Die Verwendung der Begriffe im Plural bedeutet nicht, dass nicht
auch ein einzelner Schmerz, ein einzelnes Leid oder ein einzelner Schaden ausreichend wäre.
- Schmerz setzt keine unmittelbare Einwirkung auf das Tier voraus und muß auch nicht zu
erkennbaren Abwehrreaktionen führen. - Unter Leiden fallen auch dauerhafte Entbehrungen
bei der Befriedigung ererbter arttypischer Verhaltensbedürfnisse. - Ein Schaden liegt bereits
vor, wenn der Zustand eines Tieres dauerhaft auch nur geringfügig zum Negativen verändert
wird. Er kann auf körperlicher oder psychischer Grundlage erfolgen. Gleichzeitiges Leiden
oder Schmerzempfinden muss nicht gegeben sein. Ausreichend sind z.B. zuchtbedingte
geringfügige Gleichgewichtsstörungen, zuchtbedingte Stoffwechselstörungen, regelmäßige
Schwergeburten oder Folgeschäden, die aufgrund von Zuchtmerkmalen auftreten. Der
maximale Schaden, den ein Lebewesen nehmen kann, ist sein Tod (Qualzuchtgutachten S 6,
7; vgl. auch BVerwG NVwZ 1998, 853, 854). - Zuchtformen, bei denen nur durch besondere
Massnahmen und Eingriffe das Auftreten von Schmerzen, Leiden oder Schäden zuverlässig
und nachhaltig verhindert werden kann, fallen ebenfalls unter § 11 b. Auch eine vorbeugende
Tötung eines Tieres, bevor dieses relevante Merkmale ausprägt, kann seine Einstufung als
Qualzüchtung nicht verhindern (Qualzuchtgutachten aaO). - Gerechnet werden muss mit den
negativen Folgen, wenn sie unter Berücksichtigung der im Zeitpunkt der Tathandlung
vorliegenden objektiven Verhältnisse als eine nicht fernliegende, sondern realistische
Möglichkeit erscheinen. Maßgebend dafür sind die objektiven Verhältnisse, die notfalls
mittels Sachverständigengutachtens zu klären sind. Das Verbot gilt unabhängig von der
subjektiven Tatseite, also unabhängig davon, ob der Züchter die Möglichkeit schädigender
Folgen erkannt hat oder hätte erkennen müssen (L/M § 11b Rn 4).
Rn 3 Eine Rechtfertigung durch vernünftigen Grund ist nicht möglich. Soweit einer der
Tatbestände des § 11 b Abs. 1 oder 2 erfüllt ist, kann auch ein hohes menschliches oder
wirtschaftliches Interesse die Maßnahme nicht rechtfertigen (vgl. L/M aaO Rn 5; zu den
unterschiedlichen Normgruppen im TierSchG s. § 1 Rn 26). Einzige Ausnahmen sind Abs 4
sowie die Fälle des rechtfertigenden Notstands (§§ 34 StGB, 228, 904 BGB). Es ist nicht
möglich, an die Züchtung von Tieren, die der landwirtschaftlichen Produktion dienen, einen
weniger strengen Maßstab anzulegen als in der Heimtierzucht (Herzog aaO S 245).
II. Bio- oder gentechnische Maßnahmen, Abs. 1
Rn 4 Biotechnologie kann definiert werden als Einsatz und Nutzung lebender Organismen
(oder ihrer Bestandteile) zur Herstellung, Modifikation oder zum Abbau von Substanzen. In
der Tierzucht wird unter Biotechnik die Analyse sowie Beeinflussung von Körperstrukturen
und -funktionen mit Hilfe zell- und molekularbiologischer Verfahren verstanden. Diese
Verfahren lassen sich in drei Hauptgruppen einteilen: Zell- und fortpflanzungsbiologische
Verfahren (insbes. künstl. Besamung, Beeinflussung der Geschlechtsreife, Embryotransfer, Invitro-Produktion von Embryonen, Klonierung, Erzeugung von Chimären, Kombination von
Chromosomensätzen oder Genomteilen), molekulare Gendiagnostik sowie In-vitroMutagenese und Gentransfer einschl. Gene-farming (Geldermann in: DVG-Tagungsband aaO
S 25 ff). - Für gentechnische Veränderungen ist kennzeichnend, dass nicht (wie bei der
Züchtung) das gesamte Erbgut zweier Individuen gekreuzt wird, sondern einzelne, fremde
Gene aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang entfernt und einem anderen zugefügt werden
(Idel TU 1998, 83). - Im Unterschied zur Züchtung wird hier auch das veränderte Tier selbst
vor einer Untauglichkeit bzw. Umgestaltung seiner Körperteile und Organe und hierdurch
verursachten (einfachen) Schmerzen, Leiden oder Schäden geschützt.
III. Spezielle Verbote, Abs. 2
Rn 5 Auch ohne die Untauglichkeit bzw. Umgestaltung von Körperteilen oder Organen
ist § 11 b verletzt, wenn es als Folge der Züchtung (bzw. der bio- oder gentechnischen
Veränderung) zu erblich bedingten, mit Leiden verbundenen Verhaltensstörungen oder zu
erblich bedingten Aggressionsteigerungen kommt (lit. a); ebenso, wenn die Haltung des
Tieres nur noch unter Bedingungen möglich ist, die bei ihm zu Schmerzen, vermeidbaren
Leiden oder Schäden führen (lit. c). - Verhaltensstörungen sind regelmässig mit Leiden
verbunden. Nach der Rechtsprechung sind sie sogar Indikatoren für erhebliche Leiden (s. § 17
Rn 9-14; vgl. auch Qualzuchtgutachten S 32: Bereits in der Verhinderung von artgemässem
Sozialverhalten als Folge hypertropher Aggressivität manifestiert sich eine Form des Leidens).
- Bei Erlass des ÄndG 1998 wurde besonders an das Herauszüchten übermässiger
Aggressivität bei Hunden gedacht (BT-Drs 13/7015 S. 22). Sie zeigt sich augenfällig daran,
dass jeder Sozialkontakt mit Aggression und Beschädigungsbeissen beantwortet wird und sich
die Beisshemmung gegenüber Sozialpartnern, insbesondere gegen Artgenossen nicht
entwickeln kann (vgl. Qualzuchtgutachten S 32). Zu den Symptomen einer übersteigerten
Agressivität s. auch § 3 Rn 50. - Haltungsbedingungen, die bei Hunden zu Leiden iSv lit. c
führen, sind die kontinuierliche Zwinger- oder Anbindehaltung (Hackbarth/Lückert S. 65),
wohl aber auch schon der andauernde Leinen- und insbesondere der Maulkorbzwang (s. § 3
Rn 51) .
IV. Zuchtverbote und Empfehlungen aus dem speziellen Teil des Qualzuchtgutachtens.
Rn 6 In dem BML-Gutachten heisst es: „Zuchtverbote werden empfohlen für Tiere, die
Träger von Genen bzw. eindeutig erblich bedingten Merkmalen sind, welche für den Züchter
direkt erkennbar oder diagnostisch zugänglich sind und bei der Nachzucht zu mit Schmerzen,
Leiden oder Schäden verbundenen Merkmalen führen können. Dabei ist unerheblich, ob mit
solchen Genen oder Merkmalen direkt oder indirekt gezüchtet wird“ (S 14). Daneben werden
weitere Empfehlungen ausgesprochen, insbesondere zur Festlegung von Grenzen der
Merkmalsausprägung sowie zu Überwachung und Kennzeichnung.
Rn 7 Mit Bezug auf Hunde werden folgende Verbote ausgesprochen: Zuchtverbot für Tiere
verschiedener Rassen mit blaugrauer Farbaufhellung (Begrd.: u.a. Disposition zu Haarausfall
und Hautentzündungen). Zuchtverbot für Tiere, die neben Schwanzveränderungen (Knickund Korkenzieherschwanz, Schwanzverkürzung, Schwanzlosigkeit) auch Wirbeldefekte an
weiteren Abschnitten der Wirbelsäule aufweisen. Zuchtverbot für Tiere, die mit
Dermoidzysten behaftet sind. Zuchtverbot für verschiedene Collie-Zuchtlinien bei silbergrauer
Farbaufhellung bzw. wenn der Hund bekannter Träger des Defektgens ist (Begrd.: u.a.
Disposition zu mangelhafter Blutgerinnung und zu Infektionen). Zuchtverbot für Nackthunde
und Träger des Defektgens (Begrd.: u.a. regelmässig auftretende schwere Gebissanomalien);
Zuchtverbot für Merle-Weisstiger (MM) und den Paarungstyp Tiger x Tiger (Mm x Mm), u.
a. wegen hierdurch bedingter Einschränkungen der Seh- und Hörfähigkeit. Zuchtverbot für
Tiere mit extremer Rundköpfigkeit, insbes. disproportionierter Verkürzung der
Gesichtsknochen (Begrd.: u.a. Atem- und Schluckbeschwerden und Störungen der
Thermoregulation); Zuchtverbot für Tiere mit auswärtsgerolltem unterem Augenlidrand
(Begrd.: unvollständiger Lidschluss, dadurch u.a. Tränenfluss). Zuchtverbot für Tiere mit
einwärtsgerolltem Augenlidrand (Begrd.: u.a. hierdurch verursachte Horn- und
Bindehautirritationen). Zuchtverbot für Tiere mit Hüftgelenkdysplasie. Zuchtverbot für Tiere,
die einen der folgenden monogen vererbten Defekte zeigen, sowie für bekannte heterozygote
Defektgenträger: Albinismus, Albinismus oculi, Augenlidkolobom, Verkürzung des
Unterkiefers, Gesichtsspalten, Hämophilie A/ Hämophilie B, Hörschäden, Keratis nigricans,
Linsenluxation, Lipodystrophie, idiopathische Myoklonie, Pankreas-Atrophie, progressive
Retina-Atrophie, Retinadysplasie, Zahnfehler. Zuchtverbot für Tiere, bei denen einer der
folgenden oligo- oder polygen vererbten Defekte nachgewiesen ist: Collie-Augenanomalie,
Kiefergelenkdysplasie, Perthes-Krankheit.
Ein auf bestimmte Hunderassen oder
Zuchtlinien gerichtetes Zuchtverbot wegen Aggressionssteigerungen wird dagegen nicht
ausgesprochen. Gefordert wird stattdessen ein Wesenstest für alle potentiellen Zuchttiere
sowie ein Zuchtverbot für solche Tiere, die den Wesenstest nicht bestehen (zum Problem
„gefährlicher Hund“ s. TierschutzhundeVO, Einfhrg.). - Weitere Empfehlungen u. a.:
Verzicht auf Korkenzieherrute im Rassestandard; Zucht gegen die Mermalsausprägung
„langer und gerader Rücken und ausgeprägte Kurzbeinigkeit“; genereller Verzicht auf Zucht
mit dem Merle-Gen; Festlegung von Grenzwerten für Rundköpfigkeit und Verkürzung von
Gesichtsknochen; Zuchtverbot gegen eine Übertypisierung zu schlaffer und faltiger Haut;
Selektion gegen Schnellwüchsigkeit; grundsätzlicher Verzicht auf die Verpaarung von
Verwandten, zumindest aber von engen Verwandten (vgl. Qualzuchtgutachten S 15-35).
Rn 8 Verbote mit Bezug auf Katzen: Zuchtverbot für kurzschwänzige oder schwanzlose
Manx- und Cymric-Katzen (Begrd.: u.a. ist der Schwanz zum Ausbalancieren und als
Kommunikationsmittel nötig). Zuchtverbot für weisse Tiere, deren Fellfarbe durch das Gen W
determiniert ist (Begrd.: Gefahr von Schwerhörigkeit bzw. Taubheit). Zuchtverbot für weiße
Tiere mit Hör- oder Sehschäden. Zuchtverbot für Tiere mit Fd-Gen determinierten Kippohren
(Begrd.: Ohren dienen als Signalgeber bei sozialen Kontakten). Zuchtverbot für Tiere, bei
denen die Tasthaare fehlen (denn diese sind ein wesentliches Sinnesorgan der Katze).
Zuchtverbot für Rex- und Sphinxkatzen, bei denen die Tasthaare stark verkürzt oder
gekräuselt sind. Zuchtverbot bei Polydaktylie (d. h. überzählige Zehen an den Pfoten).
Zuchtverbot für extrem kurznasige Tiere. Zuchtverbot für brachyzephale, d. h. kurzköpfige
Tiere mit Geburtsstörungen oder Anomalien im Bereich des Gesichtsschädels, insbes.
verkürztem Oberkiefer, verengten Tränennasenkanälen oder verengten oberen Atemwegen.
Zuchtverbot für Tiere mit einwärtsgedrehtem Augenlidrand (Begrd.: Irritationen der Hornund Bindehaut); Zuchtverbote für Träger eines der folgenden monogen vererbten
Einzeldefekte und bekannte Träger des Defektgens: Beidseitige Linsentrübung mit
Sehstörungen, Chediak-Higashi-Syndrom, progressive neurale Funktionsstörungen,
Hämophilie, Hernia cerebri, Zwerchfellhernie, Knickschwanz, Känguruhbeine, lysosomale
Speicherkrankheit, Muskeldystrophie, polyzystische Nierenerkrankung, progressive RetinaAtrophie, Zahnfehler. Zuchtverbot für Tiere mit einem der folgenden oligogen oder polygen
vererbten Einzeldefekte: Gesichtsspalten, Hüftgelenkdysplasie, Key-Gaskell-Syndrom,
Knochenbrüchigkeit sowie Bänderschwäche, Patellaluxation.
- Weitere Empfehlungen
u.a.: Kurzschwänzige Japanese Bobtail-Katzen sind vor der Zulassung zur Zucht auf eine
gesteigerte Schmerzempfindlichkeit im Schwanzbereich sowie auf mögliche
Wirbelverwachsungen zu untersuchen. Genanalyse bei weissen Katzen, sofern nicht
ausgeschlossen werden kann, dass die Fellfarbe durch das Gen W determiniert ist (zu
Gehörschäden bei weissen Katzen vgl. auch AG Kassel NStE Nr. 1 zu § 11 b TierSchG);
audiometrische und ophtalmologische Untersuchung weisser bzw. vorwiegend weisser Katzen
vor der Zulassung zur Zucht; Änderung des Rassestandards bei Rex- und Sphinx-Katzen zur
Vermeidung von Tieren, bei denen die Tasthaare stark verkürzt oder gekräuselt sind; Verzicht
auf Zucht mit Trägern des Merkmals „Kurzläufigkeit“ (vgl. Qualzuchtgutachten S 36 - 53).
Rn 9 Verbote mit Bezug auf Kaninchen: Verbot der Verpaarung Schecke x Schecke
(Begrd.: erhöhte Jungtiersterblichkeit und Konstitutionsschwäche). Zuchtverbot für Zwerg x
Zwerg unter 1,0 kg Lebendgewicht für ausgewachsene Tiere (Begrd.: homozygote
Zwergkaninchen
sind
nicht
lebensfähig,
heterozygote
Tiere
weisen
viele
Krankheitsdispositionen auf). Verbot der Erzeugung von Typenschecken als Zwerge.
Zuchtverbot für Kaninchen mit Zahnanomalien bzw. Störungen des Tränenabflusses.
Zuchtverbot für Träger einer der folgenden Anomalien und bekannte Träger des Defektgens:
Schüttellähmung, Spastische Spinalparalyse, Spaltbildung im Rückenmark. Zuchtverbot für
Widderkaninchen, deren Ohrspitzen in Kauerstellung den Boden berühren (Begrd.:
Bewegungseinschränkung und hohe Verletzungsgefahr). Zuchtverbot für Tiere mit extremer
Rundköpfigkeit oder Verkürzung eines Kiefers (Begrd.: u.a. findet infolge der
Kieferverkürzung kein ausreichender Abrieb der Schneidezähne statt).
- Weitere
Empfehlungen u.a.: Vermeidung der Verpaarung von Verwandten, zumindest aber von engen
Verwandten; Festlegung einer maximalen Ohrlänge, die so zu wählen ist, dass
Bewegungseinschränkung
und
Verletzungsgefahr
nicht
gegeben
sind
(vgl.
Qualzuchtgutachten S 54 - 60).
Rn 10 Verbote mit Bezug auf Vögel: Zuchtverbot für seidenfiedrige Tauben (Begrd.:
eingeschränktes Flugvermögen bzw. Flugunfähigkeit). Verbot der Verpaarung von Tauben,
die beide Träger des „Almond“-Gens oder des „Dominant-Opal“-Gens sind (Begrd.: prä- und
postnatale Jungtierverluste; häufiges starkes Kopfzittern). Zuchtverbot für Tauben mit sichtund/oder atmungsbehindernden Schnabelwarzen und Augenringen. Zuchtverbot für Tauben
mit erweiterten Kropfsäcken oder Hängekröpfen (Begrd.: Kropfwandentzündungen infolge
Fehlgärung und Fäulnisbildung von Kropfinhalt). Zuchtverbot für Tauben mit Anzeichen
degenerativer
Gelenkerkrankungen.
Zuchtverbot
für
Tauben
mit
extremer
Schnabelverkürzung oder Schnabelmissbildung. Zuchtverbot für Bodenpurzler (Begrd.:
eingeschränktes Flugvermögen bzw. Flugunfähigkeit). Zuchtverbot für durch Federhauben
oder Federwirbel sichtbehinderte Haustauben. - Zuchtverbot für Enten mit Anzeichen
degenerativer Gelenkerkrankungen und/oder Gleichgewichtsstörungen. - Zuchtverbot für
Hühner mit Ohrbommeln (Begrd.: hohe Embryonalsterblichkeit und signifikant gesteigerte
Jungtiermortalität). Verbot der Verpaarung von Hühnern, die in beiden Geschlechtern den
Krüper-Faktor, der eine Verkürzung der Läufe bewirkt, besitzen (Begrd.: hohe
Embryonalsterblichkeit). Zuchtverbot für durch Federhauben sichtbehinderte Haushühner. Verbot der Verpaarung von Zebrafinken, die beide das Gen für die Ausbildung einer
Federhaube oder das „Dominant-Pastell“-Gen oder das „Wangen“-Gen besitzen (Begrd.: die
beiden erstgenannten Gene stellen bei Homozygotie einen Letalfaktor dar und das „Wangen“Gen führt zu gehäuften Anomalien des optischen Apparats). - Verbot der Verpaarung von
Japanischen Mövchen, die beide das Gen für die Ausbildung einer Federhaube oder einer
Federrossette besitzen (Begrd.: beide Gene stellen bei Homozygotie einen Letalfaktor dar).
Zuchtverbot für Japanische Mövchen mit der Kombination Federhaube und Federrossette
(Begrd.: eingeschränktes Flugvermögen). - Verbot der Verpaarung von Kanarienvögeln, die
beide das Gen für die Ausbildung einer Federhaube, das Gen für „intensive Gefiederfärbung“
oder das Gen für „dominant weisse Gefiederfärbung“ tragen (Begrd.: diese Gene führen bei
Homozygotie zu häufigem Embryonaltod). Zuchtverbot für rezessiv-weisse Kanarienvögel
(Begrd.: genetisch determinierte Störung des Vitamin-A-Stoffwechsels). Zuchtverbot für
durch Federhauben bzw. übermäßige periokuläre Befiederung sichtbehinderte Kanarienvögel.
Verbot der Verpaarung mangelhaft befiederter Kanarienvögel untereinander. - Weitere
Empfehlungen u.a.: Begrenzung der Fussbefiederung bei Tauben auf ein Ausmass, welches
Verhaltens- und Lokomotionsbeeinträchtigungen vermeidet. Bezüglich der bei diversen
Taubenrassen züchterisch geförderten unphysiologischen Stellung der Hintergliedmassen mit
gestreckten Intertarsalgelenken wird „dringend empfohlen“, nicht auf Merkmale zu züchten,
die zu einer erhöhten Belastungsanfälligkeit führen. Bei Flugrollertauben Selektion auf
vermindertes Flugrollverhalten, da Rollertauben grundsätzlich auch zu normalem Schlagflug
befähigt sein müssen. Begrenzung von Federhauben und Federwirbelbildungen bei Tauben
auf ein Ausmass, welches keine Verhaltensbeeinträchtigungen in sich bergen darf. SchauWellensittiche dürfen nicht apathisch und nicht sichtbehindert sein. Sind bei einem
Wellensittich-Zuchtpaar in der Nachzucht „feather duster“ (= abnormales Federwachstum)
aufgetreten, müssen die Elterntiere und auch die nicht geschädigten Nachkommen aus der
Zucht genommen werden. Die Wammenausbildung bei Toulouser Gänsen darf nur einen
Ausprägungsgrad erreichen, durch den Fortbewegung, Fortpflanzung und andere
Funktionskreise des Normalverhaltens nicht beeinträchtigt werden. Eine bei Enten als
Zuchtziel angestrebte extrem aufrechte Körperhaltung darf keine Disposition zu Schmerzen,
Leiden oder Schäden in sich bergen, und es ist vorrangig auf den Erhalt der vollen
Funktionalität von Körperteilen und Organen sowie harmonischen Körperbau zu achten. Bei
Hühnern, insbes. Krüpern und Chabos, müssen Übertypisierungen hinsichtlich einer
extremen Laufverkürzung mit daraus resultierenden Beeinträchtigungen arttypischer
Verhaltensabläufe vermieden werden. Federhaubengrössen müssen auf ein Ausmass
beschränkt werden, welches das Verhalten nicht beeinträchtigt. Federbildungen unterhalb des
Schnabelansatzes und an der Kehle müssen so beschaffen sein, dass eine Einschränkung des
Sehfeldes ausgeschlossen werden kann. Die Fussbefiederung ist auf ein Ausmass zu
begrenzen, das Verhalten und Lokomotion nicht beeinträchtigt. Das Erzielen von Überlängen
des Schwanzgefieders durch tierschutzwidrige Haltungsbedingungen (z. B. bei der Haltung
von Onagadori-Hähnen in „Schrankkäfigen“ auf Sitzstangen, weil bei Auslaufhaltung das
Federwachstum stagnieren und die Federn in normalem Zyklus gemausert würden) ist
unzulässig. Bei Zebrafinken sind übertypisierte Haubenbildungen, die zu
Sichtbehinderungen führen, zu vermeiden, ebenso bei Japanischen Mövchen. Auch bei der
Zucht von Kanarienvögeln mit Federhaube oder mit Langfiedrigkeit ist zu beachten, dass
eine Einschränkung des Gesichtsfeldes ausgeschlossen sein muss. Bezüglich „gebogener“
Positurkanarienvögel (u. a. Gibber Italicus und Bossu Belge) wird „dringend empfohlen“,
nicht auf Merkmale zu züchten, die Symptome einer erhöhten Belastungsanfälligkeit
darstellen (z.B. ständiges Stehen mit durchgedrückten Intertarsalgelenken und senkrechter
Körperhaltung mit nach vorn gebogenem Hals). Wachstumsanomalien der Zehenkrallen
(Korkenzieherkrallen) durch tierschutzwidrige Haltungsbedingungen, insbes. durch
Sitzgelegenheiten mit zu geringem Durchmesser zu begünstigen, ist unzulässig
(Qualzuchtgutachten S 61-108).
V. Weitere Fälle, in denen eine Verletzung von § 11 b naheliegt.
Rn 11
Zahlreiche Fälle von Qualzuchten beschreiben Bartels/Wegner in:
„Fehlentwicklungen in der Haustierzucht“. Folgende Beispielsfälle, die sich z.T. mit den
Verboten und Empfehlungen in Rn 7-10 überschneiden, seien erwähnt: Zwergkaninchen, auch
bei Heterozygoten-Verpaarung (S 3); extrem verzwergte Hunde mit Tendenzen zu
Wasserköpfen und persistierenden Fontanellen (S 5, 80); vollfleischige Schweine mit rasanten
täglichen Zunahmen und hierdurch bedingter Krankheitsanfälligkeit und Beinschwäche (S 9,
10; s. auch u. Rn 12); Puten mit überbetonter Brustmuskulatur und dadurch hervorgerufener
Unfähigkeit zu normaler Fortpflanzung (S 9, 12; s. auch u. Rn 14); grosswüchsige,
schwergewichtige und dadurch flugunfähige Gänse-, Enten- und Hühnerrassen (S 9); grosse,
breit- oder rundköpfige Schauwellensittiche mit Lethargie und Erkrankungsdispositionen (S
10); auf „Doppellendigkeit“ selektierte Fleischrinder mit regelmässigen Schwergeburten und
Kaiserschnittentbindungen (S 11; s. auch Wegner in Sambraus/Steiger S 557); Hunde und
Katzen
mit
übertriebener
Brachyzephalie
(Kurzköpfigkeit)
und/oder
starker
Gesichtsfaltenbildung (S 13, 15); Haubenhühner und -tauben mit blasig aufgetriebenen
Stirnbeinen (S 15, 16); Goldfische mit Schädelveränderungen, abnorm verkleinerter
Mundöffnung, gestauchter Wirbelsäule und/oder Blasenaugen, Teleskopaugen oder senkrecht
nach oben stehenden Augen (S 18, 24; s. auch Kölle/Hoffmann, DVG-Tagungsband
„Tierschutz und Tierzucht“ 1997, S 178); schwanzlose Kaulhühner mit erhöhter
Kükenmortalität (S 23); Broiler mit „irrsinnigen“ täglichen Zunahmen und dadurch bewirkten
Beinverdrehungen und Dyschondroplasie (S 26; s. auch u. Rn 15); Goldfische (insbes.
Schleierschwänze und Triangel-Guppys) und Zuchtkarpfen mit überproprtional vergrösserten
Flossen (S 28, 29; s. auch Kölle/Hoffmann aaO); Goldfische mit Epidermiswucherungen auf
dem Kopf, sog. Kappenfische, Löwenköpfe oder Bullenköpfe (S 36; s. auch Kölle/Hoffmann
aaO); Angorakaninchen, Goldhamster und Meerschweinchen mit exzessiver Haarfülle (S 37);
Wellensittiche mit abnormem Federwachstum (S 38); Hausenten mit Federhauben und
hierdurch verursachten Abweichungen in der Schädel- und Hirnanatomie (S 40; s. auch
Bartels et al., DVG-Tagungsband „Tierschutz und Tierzucht“ 1997, S 154 ff.); struppfiedrige,
weitgehend flugunfähige Hühner (S 48); Lockengänse mit eingeschränkter Vitalität und
Fruchtbarkeit (S 48); Nackthunde und Nacktkatzen (S 49); Albino-Mutationen bei Reptilien,
Amphibien und Fischen (S 57); farbverblasste Pelztiermutanten (S 58); weisse, dadurch taube
Hedlund-Nerze (S 66); Appaloosa-Pferde mit Disposition zur Nachtblindheit (S 66);
Laufenten, die infolge unphysiologischer Stellung der Intertarsalgelenke „Weinflaschen auf
Beinen“ genannt werden (S 71); gestreckte und gebogene Positurkanarienvögel mit hoher
Erregbarkeit und schlechter Fruchtbarkeit (S 71); zitterhalsige Haustauben (S 72);
hyperaggressive Hunde (S 75 ff).
Rn 12 Schwein. Die einseitige Züchtung auf beschleunigtes Wachstum, hohe Fleischfülle
und hohen Magerfleischanteil bewirkt beim Mastschwein das gehäufte Auftreten von
Belastungsmyopathien und Osteochondrosen. - Belastungsmyopathien äussern sich in Form
von Todesfällen infolge von Herzinsuffizienz und kardiogenem Schock sowie in
Muskeldegenerationen und -nekrosen und Fleischqualitätsmängeln. 15-30% der deutschen
Schlachtschweine liefern minderwertiges PSE-Fleisch. Allein auf dem Transport sterben in
Deutschland 0,5% der Tiere (zum Vergleich: Dänemark züchtet seit etwa 10 Jahren auf
Stressresistenz unter Inkaufnahme kleinerer Koteletts mit der Folge, dass die
Schlachttiertransportsterblichkeit dort mit 0,03% weniger als ein Zehntel beträgt; auch in
England, Italien, den Niederlanden und Portugal ist sie deutlich niedriger, vgl. dazu Bickhardt
in: DVG-Tagungsband aaO S 97, 106). - Osteochondrosen entstehen, weil der beschleunigte
Fleischansatz im 4. und 5. Lebensmonat mit täglichen Zunahmen von bis zu einem
Kilogramm das jugendliche Skelett, das erst mit drei bis vier Jahren ausgereift wäre,
überfordert. Folgen sind Schmerzvermeidungshaltungen, Bewegungsstörungen, Lahmheit
(„leg weakness“) und später irreparable Arthrosen. - Eine wesentliche Ursache für diese
Situation ist die Praxis vieler deutscher Handelsketten, Mastschweine nur dann in
Markenfleischprogramme aufzunehmen, wenn sie im Alter von 175 Tagen 100 kg
Lebendmasse mit einem Magerfleischanteil von über 52 % und einem Kotelett-Durchmesser
von über 57 mm aufweisen. - Die genannten negativen Folgen sind Schäden und verursachen
großenteils auch Schmerzen. Erforderlich sind deshalb zumindest folgende Massnahmen: 1.
Vollständiger Verzicht auf Zuchttiere, die homozygote oder heterozygote Träger des an der
Belastungsmyopathie beteiligten MHS-Gens sind; 2. Einführung einer Leistungsprüfung und
Zuchtwertschätzung hinsichtlich der Gliedmaßengesundheit; 3. Vernünftige Begrenzung der
Fleischfülle und des Magerfleischanteils (vgl. zum Ganzen: Wendt AtD 2001, 131 ff.;
Bickhardt TU 1998, 129 ff.; Wenzlawowicz TU 1998, 122 ff.; Idel TU 1998, 84; L/M aaO Rn
22; Wegner in: Sambraus/Steiger S 558).
Rn 13 Milchkuh. Die einseitige Leistungszucht auf hohe jährliche Milchmengenleistungen
hat bei Milchkühen zu einem starken Anstieg der vorzeitigen Abgänge infolge von
Stoffwechsel- und Fruchtbarkeitsstörungen, Labmagenverlagerungen sowie Klauen-,
Gliedmassen- und Eutererkrankungen geführt. Mitursächlich sind Fütterungsfehler (hohe
Kraftfutter- und niedrige Rauhfutteranteile) und Haltungsmängel (nicht oder nicht ausreichend
eingestreute Liegebereiche trotz hoher Verletzungsanfälligkeit der Euter; Immunsuppression
durch hohe Besatzdichten, fehlende Bewegung und mangelnde Klima- und Temperaturreize).
- Zwischen 1960 und 1995 ist die jährliche Milchmengenleistung pro Kuh um 55 % erhöht
worden. In der gleichen Zeit haben sich die vorzeitigen Abgänge infolge von
Fruchtbarkeitsstörungen um 51 %, von Klauen- und Gliedmassenschäden um 367 % und von
Eutererkrankungen um 600 % erhöht (Sommer, DVG-Tagungsband „Tierschutz und
Tierzucht“ 1997, S. 83). In Hochleistungsherden leidet mittlerweile jede dritte bis vierte Kuh
an akuten oder chronischen Euterentzündungen, denn die enorme Milchleistung wird aus
gewaltig vergrösserten Drüsen erstellt, die anfällig für Traumatisierungen, Verschmutzungen
und Erregereintritt sind. Diese Entzündungen sind zweifellos schmerzhaft (Wegner in:
Sambraus/Steiger S 556, 557). Labmagenverlagerungen betreffen in manchen Beständen
bereits 25 % der Tiere. - Diese Entwicklung ist zugleich extrem unwirtschaftlich: Die
durchschnittliche Nutzungsdauer von Kühen in Hochleistungsherden beträgt etwa 3,6 Jahre,
weil viele Tiere wegen Krankheit oder Sterilität vorzeitig geschlachtet werden. Demgegenüber
liegt die mittlere Nutzungsdauer einer Kuh bei altersbedingtem Abgang bei etwa 8,6 Jahren.
Bei vorzeitigem Abgang entgehen also dem Landwirt fünf Jahre Nutzungsdauer, d.h. über
40.000 kg Milch; hinzu kommen die Kosten für tierärztliche Behandlungen und
Bestandsergänzung. - § 11b erfordert ein Abgehen von den bisherigen Zuchtzielen zugunsten
einer Selektion auf Langlebigkeit, hohe Lebensleistung, Krankheitsresistenz und flache
Laktationskurven (vgl. Lotthammer TU 1999, 544 ff.; Winckler/Breves TU 1998, 119 ff.;
Wegner, aaO).
Rn 14 Pute. Puten werden auf schnelles Wachstum, hohes Endgewicht und Überbetonung
der Brustmuskulatur gezüchtet. Während ein wilder Truthahn mit ca. 26 Wochen ein
Endgewicht von 7 kg erreicht, wiegt ein B.U.T Big 6-Truthahn bei Mastende nach 22 Wochen
ca. 21 kg und hat einen Brustmuskelanteil (ohne Haut und Knochen) von 23-28% seines
Lebendgewichts. - Folgen: Analog zum Schwein entstehen Myopathien. Zudem führt der
hohe Brustmuskelanteil zu einer Verlagerung des Körperschwerpunkts nach vorn-unten. Dies
bewirkt u. a. die Unfähigkeit zu normaler Fortpflanzung. Gleichzeitig werden die
Oberschenkel durch das hohe Gewicht nach aussen gedrückt und die Kniegelenke
unphysiologisch belastet, so daß lahmheitsbedingte Gelenk-, Knochen- und Knorpelschäden
epidemische Ausmaße annehmen und die Mehrzahl der Tiere chronisch leidet (vgl. Wegner
in: Sambraus/Steiger S 560). - Nach Untersuchungen, die in der Schweiz durchgeführt
worden sind, haben 85-97 % der B.U.T. 9-Hähne und der B.U.T. big 6-Hähne bei Mastende
keine normale Beinstellung und Fortbewegung mehr und leiden an tibialer Dyschondroplasie
(= unvollständige Verknöcherung der Unterschenkelknochen). Zusätzlich zu der behinderten
Lokomotion treten weitere Verhaltensstörungen auf: Erhöhte Sitzstangen können nicht mehr
auf natürliche Weise erreicht werden; wegen der Brustbreite lassen sich nicht mehr alle
Körperteile mit dem Schnabel erreichen und arttypisch putzen; das häufige gewichtsbedingte
Liegen auf der feuchten Einstreu bedingt die Bildung von Brustblasen (bei 20-35% der Tiere,
vgl Burdick et al S 88). - Die zuchtbedingte Umgestaltung von Organen führt somit zu
vielfältigen Schäden, die zum Teil mit Schmerzen verbunden sind. Auch
Vermehrungsbetriebe, die sich auf den Import von Eiern bestimmter Zuchtlinien beschränken
und diese ausbrüten lassen, betreiben Zucht iSd § 11b (s.o. Rn 2). Erforderlich ist eine
Beschränkung auf langsam wüchsige Robustrassen und Zuchtlinien mit weniger hohem
Endgewicht und geringerem Brustmuskelanteil (vgl. dazu die Beispiele bei Hirt TU 1998, 137
<„Bétina“> und 139). Die tatsächliche Entwicklung verläuft indes gegenteilig: Bei der B.U.T.
Big 6 plus-Hybride hat der Brustfleischanteil um weitere 5% zugenommen (vgl. Hirt aaO; vgl.
weiter: Oester/Fröhlich in: Sambraus/Steiger, S 209, 210; Burdick et al S 88; Wegner aaO).
Rn 15 Masthuhn. - Auch bei Masthühnern („Broilern“) wird vorrangig auf hohes
Jugendkörpergewicht, extrem schnelles Muskelwachstum und die Ausbildung grosser
Muskelpartien an Brust und Schenkel gezüchtet. Unter intensiver Kurzmast erreichen
männliche Broiler in 35 Tagen durchschnittliche Lebendgewichte von 1,4 bis 1,6 kg, das
entspricht täglichen Zunahmen von 40 bis 47g. - Folgen: Skelettanomalien (die schnell
wachsenden Tiere zeigen häufig eine Abknickung in Höhe des 6. Brustwirbels, wobei dieser
Wirbel verlagert und verdreht ist; dies bedingt eine schmerzhafte Einengung des
Wirbelkanals); Beinschäden durch Knorpelstörungen und Knochenverformungen, weil das
Knochenwachstum mit dem rasanten Muskelwachstum nicht Schritt halten kann; HerzKreislauf-Erkrankungen und zahlreiche Fälle von plötzlichem Herztod; zunehmende
Verfettung (die Durchschnittswerte für Broiler nach 6 Wochen liegen bei 1,5 - 3,5 %
Abdominalfett, bei männlichen Legehybriden dagegen bei 0,2 %). - „Innerhalb von fünf
Wochen erreichen die Tiere das 40fache ihres Ausgangsgewichts. Herz und Knochen können
bei dieser rasanten Fleischzunahme nicht mithalten, verkrüppelte Beine und
Kreislaufstörungen sind die Folge“ (Aus: „Für ein Ethos der Mitgeschöpflichkeit“, Wort der
Kirchenleitung der Nordelbischen Evang.-Luth. Kirche zum 4. 10. 1998). - Durch die
Umgestaltung von Organen kommt es neben den beschriebenen Schäden und Schmerzen zu
Störungen im Verhalten: Im Alter von 5 Wochen verbringen Broiler mehr als 80 % ihrer Zeit
mit Sitzen und Liegen (Legehybriden dagegen nur 20 %); Körperpflegeverhalten fällt mehr
und mehr aus; der hohe Anteil an Sitzen und Liegen bewirkt Brustblasen und
Brustbeindeformationen. - § 11b erfordert die Verwendung von weniger schnellwüchsigen
Rassen. Z.B. haben Tiere aus den Herkünften ISA JA 57 und Sasso 551 geringere
Tageszunahmen und dementsprechend weniger Schmerzen und Schäden. Weitere Abhilfe
brächte die Erhöhung der Bewegungsaktivität durch Anreize zum Erkunden, Sitzstangen und
geringere Besatzdichten (vgl. Löhnert et al. DTW 1996, 92 ff.; Burdick S 60/61; Gerken
DVG-Tagungsband „Tierschutz und Tierzucht“ 1997, S 116 ff.; Reiter et al DVG aaO S 162
ff.; Wegner aaO S 560).
Rn 16 Legehenne. Vorrangige Zuchtziele sind hohe Eizahl und hohes Eigewicht
(Legeleistung des asiat. Bankivahuhns: 6 - 12 Eier/Jahr; Legeleistung einer Hofhenne 1935:
108 Eier/Jahr; Legeleistung einer heutigen Hybridhenne 270 - 300 Eier/Jahr). - Folgen (die
durch einseitige Ernährung, reizarme Umgebung und mangelnde Bewegung begünstigt
werden) sind u.a.: Fettlebersyndrom (Tiere aus Käfighaltung zeigen einen hohen Anteil an
Leberrupturen); Knochenschwäche und Knochenverformungen; Bindegewebs- und
Muskelschwäche; erhöhte Aggressivität bei Selektion auf Frühreife; zahlreiche
Verhaltensstörungen. Möglicherweise gibt es eine positive Korrelation zwischen hoher
Legeleistung einerseits und Neigung zum Federpicken andererseits, insbesondere bei
gleichzeitiger Selektion auf leichtes Körpergewicht. - Abhilfe: Haltungsbedingungen iSd § 2
Nr. 1 können viele der Folgen abmildern (zu den Verhaltensbedürfnissen s. TierschutzNutztierVO Rn ... ). Einen grossen Einfluss auf das Verhindern von Federpicken während der
Aufzucht haben ein zum Staubbaden und Futtersuchen geeignetes Substrat,
Beleuchtungsprogramme, die der Zuchtlinie angepasst sind sowie das Vorhandensein von
erhöhten Sitzstangen (Oester/Fröhlich in: Sambraus/Steiger S. 205).
VI. Die Absätze 4, 5 und 6.
Rn 17 Nach Abs 3 kann die zuständige Behörde (s. § 15) das Unfruchtbarmachen
anordnen. Gem. § 1 S. 2 muss dafür das im konkreten Fall schonendste Mitel gewählt
werden, was sowohl die Entscheidung „Kastration oder Sterilisation“ als auch die Auswahl
der Methode steuert (vgl. zu den Nachteilen von Kastrationen bei Hunden Etscheidt, Tierärztl.
Praxis 2001; 29 K, 152, 161).
Rn 18 Die Ausnahme nach Abs 4 setzt voraus, dass mit dem gezüchteten bzw. veränderten
Tier ein wissenschaftlicher Zweck verfolgt wird und dass die Qualzüchtung bzw. die
Veränderung dafür erforderlich ist (L/M § 11 b Rn 10). Daran fehlt es, wenn zur Erreichung
des Zweckes (z. B. Beantwortung einer wissenschaftlichen Fragestellung) ein anderes, Tiere
weniger stark belastendes Mittel zur Verfügung steht, mag dessen Einsatz auch mit höherem
Zeit- und Arbeitsaufwand und höheren Kosten verbunden sein ( s. § 9 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 Rn ...
und § 1 Rn 37; vgl. auch L/M § 1 Rn 77 und § 9 Rn 24 ).
Rn 19 Die RechtsVO nach Abs. 5 soll Qualzuchten sowie bio- oder gentechnische
Veränderungen näher bestimmen, verbieten oder beschränken, „soweit es zum Schutz der
Tiere erforderlich ist“. Der Verordnungsgeber soll diejenigen Regelungen treffen, deren es
bedarf, um Verstösse gegen Abs. 1 und Abs. 2, mit denen nach der Lebenserfahrung im Sinne
einer realistischen Möglichkeit gerechnet werden muss, künftig zu verhindern. - Dabei ist zu
beachten, dass die Verbote von Abs. 1 und 2, die den Ermächtigungsrahmen iSd Art. 80 GG
bilden, nicht unter Abwägungsvorbehalt stehen, auch nicht für den Bereich der Züchtung
landwirtschaftlicher Nutztiere (s.o. Rn 3). - Die RechtsVO wird damit die Zuchtverbote und
Empfehlungen des Qualzuchtgutachtens umzusetzen haben. Sie muss darüber hinaus, weil
auch dies „zum Schutz der Tiere erforderlich ist“, die in Rn 11 beschriebenen Qualzuchten
verbieten oder beschränken. Für den Bereich der Nutztierzüchtung hat sie diejenigen
Beschränkungen vorzusehen, die notwendig sind, damit Abs 1 künftig nicht mehr verletzt
wird. Dies bedeutet: Züchtung auf lange Nutzungsdauer, hohe Lebensleistung,
Krankheitsresistenz und Robustheit statt auf kurzfristige Höchstleistung.
Rn 20 Sind Verstösse begangen worden oder stehen sie bevor, findet § 16 a S. 1 Anwendung
(s. dort Rn 1-8). - Ist jemand Inhaber einer Erlaubnis nach § 11, so kann ein von ihm
vorsätzlich oder fahrlässig zu verantwortender Verstoss gegen § 11 b Anlass sein, die
Erlaubnis nach § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG zu widerrufen. - Steht ein Verstoss im
Zusammenhang mit einem erlaubnisfrei ausgeübten Gewerbe, so kommt eine
Gewerbsuntersagung nach § 35 GewO durch die hierfür zuständige Behörde in Betracht.
Rn 21 Ordnungswidrigkeit. Der vorsätzliche Verstoss wird mit Geldbusse bis zu 50.000.DM, der fahrlässige bis zu 25.000.- DM geahndet (§ 18 Abs. 1 Nr. 22, Abs. 3). Für
vorsätzliches Handeln ist ausreichend, dass der Täter mit der Möglichkeit des Eintritts der
verbotenen Folge (z. B. mit der ernsthaften Möglichkeit, dass es zu einer Organumgestaltung
und einem hierdurch verursachten Schaden kommen könnte) gerechnet hat, mag er gleichwohl
auf ihr Ausbleiben gehofft und vertraut haben.
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