1 Wiard Raveling EDINBURG EDINBÖRG ODER EDINBRA? ÜBER DIE KORREKTE AUSSPRACHE AUSLÄNDISCHER NAMEN Im Radio und im Fernsehen habe ich die folgenden Namen auf eine Art ausgesprochen gehört, die mir aus verschiedenen Gründen aufgefallen ist: Alfred [ɔ:lfrɛd] Hitchcock - Colorado [kolore:do] - Jean [ʤi:n] Cocteau [ʤɔ:ʤ] Pompidou - Edinburgh [ɛdinbƏ:rg] – London [lɔnd’n] - Michigan [mi tʃigæn] - Zuider Zee [zɔidƏ ze:] - William Buter Yeats [ji:ts] - Franklin D. Roosevelt [ru:svɛlt] – Brassens [brasãs] - Fifth Avenue [faifƟ ævƏnju:] Léon Blum [bly:m]. Das war ja wohl nicht alles korrekt. Ja, man kann mit einigem Recht sagen, dass alle diese Namen falsch ausgesprochen wurden. Aber was heißt hier eigentlich „falsch“? Ist das so leicht festzustellen? Warum ist [tʃike:go] für Chicago [ʃika:gou] wohl eindeutig falsch, aber [lisabɔn] für Lisboa [liboa] nicht? Wie muss ich im Deutschen sagen: [ærizounƏ] oder [aritso:na], [’tɔlstoɔi] oder [tal’stɔi]? Was ist richtiger [stRas’bu:R] oder [ʃtra:sburk]? Und wie verhält es sich bei [vrɔtswaf] und [brɛslau]? Ich glaube, bevor man vorschnell kritisiert und schlechte Aussprachenoten verteilt, sollte man sich erst einmal ein paar Gedanken darüber machen, wie die oben genannten Aussprachen zustanden kommen und warum man sie vielleicht mit einiger Berechtigung als falsch bezeichnen kann – oder auch nicht. Es sind durchaus verschiedene Überlegungen und Gründe, die hier in Frage kommen. Fangen wir mit der deutschen Beflissenheit an. Viele Menschen in unserem Land möchten in Musterschülermanier ausländische Namen korrekt aussprechen, d.h. möglichst genau so, wie sie in ihrem Herkunftsland 2 ausgesprochen werden. Sie, können es aber nicht immer. So sagen sie dann: Berlioz [bɛrlio:], Colorado [kolore:do], Gilbert [ʤilbƏt] und Worcester [vɔrtsɛstƏ]. Vermutlich sind die meisten dieser Menschen sofort bereit, sich zu verbessern, wenn man ihnen die nötige Information zukommen lässt. Ich nehme an, dass die falsche Aussprache von „Fifth Avenue“ [faifƟ ævƏnju:], die ich aus Gottfried Benns Mund gehört habe, darauf zurückzuführen ist, dass der große Dichter zu der heute ausgestorbenen Spezies gehört, die besser Griechisch und Latein – möglicherweise auch Französisch – als Englisch konnte. Aber dem Wunsch nach Perfektion stellt sich oft das Unvermögen in den Weg. Viele Menschen möchten einen Namen „richtig“ aussprechen, wissen auch ungefähr, wie die korrekte Aussprache ist, haben aber Schwierigkeiten, bestimmte fremde Laute zu artikulieren: etwa das englische „th“ (Tie-eetsch) oder „w“ (Dabbel-juu), einen bestimmten französischen Nasal oder die holländischen Diphthonge [æ:i] und [œ:i] - ganz zu schweigen vom Schnalzlaut der Hottentotten oder den Tonhöhen der Chinesen. So sagen sie dann: Mrs. Thatcher [sɛtʃƏ] und Zuider Zee [zɔidƏ ze:]. Manchen ist ihr Unvermögen bewusst, manche sagen aber auch frohgemut [smis] und bilden sich ein, sie sagten [smiƟ]. Oder sie nennen die südfranzösische Stadt [zã etjɛ̃] und meinen, dass das ja praktisch genau so klingt wie [sɛ̃tetjɛn]. Wohl kaum einem von zehn Deutschen wird es trotz redlichen Bemühens gelingen, den dänischen Ausdruck für „Rote Grütze mit Vanillesoße“(Rød grød med fløde) überzeugend zu artikulieren. Die „ds“ werden hier nicht wie unser „d“ ausgesprochen, sondern eher wie ein Laut zwischen „l“ und dem englischem „th“, aber natürlich wie keins von beiden. Auch das „r“ und das „ø“ (=ö) klingen anders als die entsprechenden Laute im Deutschen. Dem normalen erwachsenen Menschen fällt es schwer, Laute zu artikulieren, die im Lautrepertoire der eigenen Sprache nicht vorhanden sind. Bei der Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen, dass die Zeichen der gängigen internationalen Lautschrift (Association Phonétique Internationale), die auch ich in dieser Arbeit 3 verwende, Annäherungs- oder Kompromisszeichen sind. Sie können keinesfalls die Fülle der tatsächlich artikulierten Laute und Lautvarianten der Sprachen unserer Welt angemessen wiedergeben. Die meisten Städte, die seit Jahrhunderten eine Rolle in der Geschichte gespielt haben, werden fast immer in den verschiedenen Sprachen verschieden ausgesprochen, haben oft sogar deutlich unterschiedene Schreibweisen. Die Franzosen sagen Varsovie, die Engländer Warsaw, wir sagen Warschau, und die Polen und Russen sagen Warszawa. Ähnliches gilt für Lissabon (Lisbonne, Lisbon, Lisboa). Bei diesen hier genannten Namen merkt jeder trotz der verschiedenen Aussprachen, dass es sich jeweils um die selbe Stadt handelt. Manchmal sind Städtenamen in zwei Sprachen aber so verschieden, dass ein Laie gar nicht erkennen kann, dass es sich um dieselbe Stadt handelt. Die französischen Namen „Ratisbonne“ und „Trèves“ kann aber wohl nur ein Sprachkundiger als „Regensburg“ und „Trier“ erkennen. Und wer weiß bei uns schon, dass „München“ auf Italienisch „Monaco“ heißt? Auch berühmte Namen aus Geschichte und Kultur haben in verschiedenen Sprachen oft deutlich unterschiedliche Namen: Aristoteles (englisch Aristotle, französisch Aristote), Cäsar (englisch Caesar, französisch César), Titian (englisch Titian [tiʃƏn], französisch Titien [tisɛ̃j. Aber Heinrich Böll, André Malraux und Aldous Huxley haben überall den gleichen Namen. Namen, die in der Geschichte keine Rolle gespielt haben oder noch sehr jung sind, haben in den verschiedenen Sprachen keine verschiedenen Namen. Wenn die Aussprache im Mund eines Anderssprachigen dennoch verschieden klingt, dann liegt das daran, dass der normale Mensch ausländische Laute eben nicht immer leicht nachahmen kann oder will. Gelsenkirchen heißt in allen Sprachen Gelsenkirchen; aber die Franzosen, die in die Verlegenheit kommen, diesen Namen aussprechen zu müssen, sagen wohl eher [gælsƏnki:rʃœn]. Dass wir Deutschen also Rom sagen und nicht Roma, Prag und nicht Praha, Lissabon und Lisboa, Moskau und nicht Moskwa, Kopenhagen und nicht Köbenhavn [købnhaun] ist das Normalste von der Welt. Ob wir aber Wrozwaw, 4 Gdansk, Szczecin und Kaliningrad sagen wollen, ist mehr eine Frage der politischen Gesinnung als des Sprachvermögens. Wenn der Revanchismusverdacht sich geschichtlich erledigt hat, lässt das Bedürfnis, seine politisch vortreffliche Gesinnung auch auf diesem Gebiet zu demonstrieren, von ganz alleine nach. So sagen heute viele wieder Breslau, die noch vor 20 Jahren [vrɔtswaf] sagten. Wenn heute jemand [stRas’bu:R] statt [ʃtra:sburk] sagt, dann wird das wohl von den meisten Menschen mit gutem Grund als ziemlich albern empfunden. Welche Aussprache ist aber für die andere große Stadt im Elsass angebracht: [my’lu:z] oder Mülhausen? Man kann beide Aussprachen hören, und man muss sich wohl an keiner stören. Wenn heute aber noch jemand Litzmannstadt statt Lodz sagt, dann horcht man mit Recht auf. Muss man aber bei uns den Namen der polnischen Stadt Lodz wie die Polen aussprechen [wuʤ] ? Ich meine nicht, denn wir sagen seit eh und je Lodz [lɔtʃ]. Ich sehe auch keinen guten Grund dafür, warum wir – wie etwa der BBC - auf einmal Mumbai und Beijing sagen sollten statt Bombay und Peking. Um das Zustandekommen einer ganz bestimmten Art von Aussprachefehlern oder -auffälligkeiten verstehen zu können, ist es ganz nützlich, sich mit einem Phänomen zu befassen, das die Sprachwissenschaftler als „Hyperkorrektheit“ bezeichnen. Hyperkorrekt heißt ja eigentlich „überkorrekt“, gemeint ist damit aber immer, dass etwas sprachlich keineswegs korrekt ist. Was es damit auf sich hat, kann man am besten mit Hilfe einiger Beispiele zeigen. Wir haben in der Schule im Englischunterricht gelernt, dass ein „ch“ am Wortanfang vor einem Vokal im Englischen regelmäßig wie [tʃ] ausgesprochen wird (Chat, chicken, China). Nun wird aber der Name der drittgrößten amerikanischen Stadt Chicago von Amerikanern [ʃika:gou] ausgesprochen, also ohne t-Vorschlag. Das hat damit zu tun, dass die Schreibung dieses indianischen Namens ursprünglich aus dem Französischen stammt. Wenn ich das nicht weiß, aber die eben genannte allgemeine Regel kenne und mich bemühe, den Namen richtig auszusprechen, dann werde ich fast automatisch [tʃika:go] sagen, vielleicht sogar [tʃike:go]. So erklären sich sehr viele gut gewollte, aber dann 5 doch falsche Aussprachen: [mitʃigæn] - [kolore:do] – [kɔnektikʌt] – [a:kænsƏs] – [bly:m]. Das Phänomen der Hyperkorrektheit erklärt auch manche vom Standard abweichende Aussprachen von durchaus gebildeten und sprachbewussten Deutschen in ihrer eigenen Sprache. So sagen viele, selbst sehr gebildete und sprachbewusste Menschen, etwa Günter Grass, immer [fɛrtik], [tvantsik] und [laiptsik], obwohl sie aus Norddeutschland stammen. Eine solche Aussprache ist für einen Bayern – zum Beispiel für Hans Magnus Enzensberger - eine regionale Normalität. Dort sagt fast jeder [fɛrtik], [tsvantsik] und [laiptsik]. Warum tun das aber auch manche Norddeutsche? In den meisten Fällen ist diese Aussprache wahrscheinlich so entstanden: Als Norddeutscher ist man in seiner (vielleicht ländlichen oder nicht sehr sprachbewussten) Umgebung mit bestimmten regionalen Aussprachebesonderheiten sozialisiert worden und hat als Kind immer gesagt: [ɔldƏnbuƏç] - Ich fahre mit dem [tsuç] - Ich geh’ jetzt [vɛç]. Natürlich sagte man auch – in diesem Fall standardsprachlich ganz korrekt - [fɛrtiç], [tsvantsiç] und [laiptsiç]. Und dann erfährt oder lernt man irgendwann in der Schule oder auf der Universität - oder man hört es im Rundfunk oder Fernsehen - dass es in der Standardaussprache nicht [ɔldənbuƏç], sondern [ɔldənburk], nicht [tsuç], sondern [tsu:k], nicht [vɛç], sondern [vɛk] heißt. Und nun kommt die typische Hyperkorrektheit ins Spiel: Man übersieht, dass die Ausspracheregel [–k] statt [–ç] am Ende eines Wortes nicht gilt für Wörter, die auf „–ig“ enden. Hier heißt es standardsprachlich korrekt also [fɛrtiç], [tsvantsiç] und [laiptsiç]. Dasselbe Phänomen beobachtet man in Bayern, wenn man die Aussprache [nju: jɔ:k ziti], [zɛnterkɔ:t] oder Pop [zɔŋ] hört. In der üblichen regionalen Aussprache kennt der Bayer beim Anlaut kein stimmhaftes S. Darum sind dort folgende Aussprachen üblich oder doch (noch immer) weit verbreitet: Wir [sint], I [sogs] wie’s is. [sans so] nett. Wenn nun ein Bayer – aus welchem Grund 6 auch immer – sich bemühen möchte oder muss, richtiges Standarddeutsch zu sprechen, dann wird er die Aussprachen „Wir [zint], Ich [zag] es wie es ist“ und „[zain zi: zo: nƐt]“ lernen. Aber er wird wahrscheinlich auch dann sich bemühen – oder es ganz automatisch tun -, ein stimmhaftes S- im Anlaut zu sprechen, wo es nicht hingehört, nämlich zum Beispiel bei englischen Wörtern - weil wir für Anglizismen in der Standardsprache meistens die englische Aussprache anstreben. Daher kommt die in Bayern so oft zu hörende Aussprache New York City [ziti], Center [zentƏ] Court und Pop [zɔŋ]. Hyperkorrektheit erklärt also so manche unserer Aussprachefehler bei ausländischen Namen: Albert [ɔ:lbƏt] und [ɔ:lfrƐd] statt [ælbƏt] und [ælfrid], Berlioz [bƐrlio:] statt [bƐRljo:z], Missouri [misu:ri] statt [mizuri] und Ian [aiƏn] statt [iƏn]. Auch die bei uns so weit verbreitete Aussprache [disain] – mit stimmlosem s, statt richtig [dizain] – mit stimmhaftem [z], ist sicher auf Hyperkorrektheit zurückzuführen. Man weiß, dass das englische Wort für Zeichen „sign“ mit stimmlosem S-Anlaut gesprochen wird. Darum meint man, dass auch das Wort Design ein stimmloses S haben muss und man sagt [disain]. Und weil man weiß, dass das englische Wort für Engel [einʤƏl] ausgesprochen wird, nennen viele Deutsche die Stadt in Südkalifornien [lɔs einʤƏlƏs]. Auch das ist hyperkorrekt, also falsch. Die englische Aussprache ist [lɔs ænʤili:s]. Manche Menschen wissen auch, dass viele Endbuchstaben in französischen Wörtern nicht ausgesprochen werden. Darum hört man häufig [sƐrvi:] statt [sƐrvi:s] und [bƐrlio:] statt richtig [bƐRljo:z]. STANDARDSPRACHE Es ist schon mehrere Male der Begriff „Standardsprache“ gefallen. Dazu sind ein paar Anmerkungen angebracht. Kann jemand verpflichtet werden, Standardsprache zu sprechen, oder hat er nicht das Recht, seine regionale Variante des Deutschen zu verwenden? Muss ein Bayer wie die Preußen sprechen? Und was ist überhaupt Standartsprache? Wer legt sie fest? Wer 7 kann wen verpflichten, Standardsprache zu verwenden? Natürlich kann niemand einen Oldenburger daran hindern, [ɔldƏnbuƏç] und einen Bayern, [tvantsik] zu sagen. Wer aber Standarddeutsch beherrschen und verwenden muss, das sind zum Beispiel Schauspieler, Nachrichtensprecher und Deutschlehrer, wobei ich eher an ausländische als an deutsche Deutschlehrer denke. Es leuchtet ein, dass Menschen, die im Ausland mit Hilfe von Büchern und Tonträgern Deutsch lehren oder lernen, sich auf eine überregionale Variante des Deutschen konzentrieren müssen, eben auf Standarddeutsch. Diese Variante findet man immer auch bei Ausspracheangaben in Lexika. Man kann also sagen, dass Standarddeutsch das offiziell richtige überregionale Deutsch ist und – mit wenigen Ausnahmen - von Flensburg über Garmisch Partenkirchen bis Wien und Zürich gilt. Wegen des großen Einflusses der Medien (Radio, Fernsehen, Hörbücher) schwinden die regionalen Varianten des Deutschen immer mehr. Noch vor 30 Jahren sprachen viele meiner Schüler mit einem deutlichen regionalen Akzent – und natürlich mit Zungen-R. Heute ist ihre Aussprache kaum noch von der bayerischer und rheinischer Schüler zu unterscheiden. (Vielleicht sind Schwaben, Schweizer, Sachsen und Ostberliner in dieser Hinsicht vorläufig noch resistenter.) Die Aussprache junger Menschen gleicht sich bundesweit von Generation zu Generation immer mehr der Aussprache der Synchronisationsstimmen der Hollywoodfilme und der amerikanischen Soap Operas an. Viele ältere Dichter und Denker hatten vor gar nicht so langer Zeit noch eine deutliche regionale Aussprache. Ich denke an den Dichter Karl Krolow und an den Philosophen Karl Jaspers, die beide über den [spitsƏn stain stɔlpƏrtƏn]. Der bayerische Schriftsteller Carl Amery hatte einen ausgesprochen „dicken“ Akzent, und Heinrich Böll sagte immer [Ɛrfolç] statt [Ɛrfolk]. Bei den meisten jungen Autoren können heute nur noch Menschen mit sehr feinem Ohr von ihrer Aussprache auf ihre Heimat schließen. Ich gestehe, dass ich zu einer Zeit, wo ich selbst versuchte, Spuren meiner regionalen Aussprache loszuwerden, mich immer wieder bei gebildeten Menschen an einer „falschen“ Aussprache gestoßen habe, die auf Regionalismen zurückzuführen 8 war. Heute freue ich mich beinahe darüber, wenn nicht alle Menschen dasselbe stromlinienförmige Standarddeutsch sprechen. DAS PRESTIGEGEFÄLLE DER SPRACHEN Wir müssen noch kurz auf ein Phänomen zu sprechen kommen, das bei der Aussprache fremdländischer Namen eine wichtige Rolle spielt. Ich nenne es „das Prestigegefälle der fremden Sprachen“. Wenn ich als gebildeter Mensch nicht weiß, wie die Namen „Somerset Maugham“ [mɔ:m] oder „Ralph Vaughn [vɔ:n] Williams“ ausgesprochen werden - oder Michelangelo [mik...] oder Georges Pompidou, dann gilt das oft als ein Faux Pas, und ich muss mich unter Umständen sogar schämen. Wenn ich aber nicht weiß, wie „Mao Tse Tung“ - in etwa [dzƏ dɔŋ]- oder „Peking“ in etwa [beiʤin] - auf Chinesisch klingt, dann macht das gar nichts. Russisch und Niederländisch liegen hier etwa in der Mitte der Prestigeskala. Ich muss nicht [tal’stɔi] sagen oder [garba’tschɔf] – ich muss es nicht, aber ich darf es wissen und auch so sagen. Ich muss nicht Kim [klæijstƏrs] oder [hœiziŋga] sagen, aber ich darf es. Dann muss ich aber unter Umständen damit rechnen, dass ich unangenehm als Pedant oder Angeber auffalle, während ich garantiert den Eindruck eines Kretins mache, wenn ich [de gaulƏ], [maugham] oder [miçelangƏlo] sage. Diese Unterschiede in der Reaktion auf die Aussprache fremder Namen erklären sich also vor allem aus dem unterschiedlichen Prestige der Sprachen. Es gibt hier ganz auffällige - aber mit der Zeit sich verändernde - Hierarchien oder Prestigegefälle. Früher stand Französisch ganz oben auf der Liste, heute ist es Englisch – mit Französisch an zweiter und Italienisch vielleicht an dritter Stelle. Spanisch scheint mächtig aufzuholen. Cadiz oder Barcelona mit [Ɵ] (Tie-eetsch) macht sich, glaube ich, schon ganz gut und wird kaum noch als Angeberei aufgefasst. Aber portugiesische Namen muss man nicht richtig aussprechen können, von arabischen und polnischen ganz zu schweigen. Deswegen sage ich mit dem besten Gewissen Saladin und Walensa mit „spelling pronunciation“. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass es sehr häufig 9 passiert, dass ein Deutscher sich erkundigt, wie ein bestimmtes türkisches Wort oder ein türkischer Laut richtig ausgesprochen wird. Ein weiterer Grund für die Ungleichbehandlung der korrekten Aussprache in den verschiedenen Sprachen hat mit der Verbreitung des Wissens über diese Sprachen zu tun. Wer weiß schon, wie irgendein Name in Turkmenistan oder in Sumatra richtig ausgesprochen wird! Ich kann fest damit rechnen, dass niemand meine falsche Aussprache monieren – ja, überhaupt bemerken - wird, wenn er die richtige selbst nicht kennt. Also macht es nichts, wenn ich „Walensa“ oder „Saracoglu“ so ausspreche, wie es für einen Deutschen naheliegt. Aber wenn ich Michelangelo, Michelin oder Worcester Sauce falsch ausspreche, muss ich schnell in Deckung gehen... Das mit Michelin nehme ich zurück. Ich glaube gehört zu haben, dass die Experten bei der Übertragung von Formel1- Rennen meistens auch Michelin-Reifen [miçƏli:n] sagen. Armes Französisch! Viele Ausspracheeigenheiten deutscher Sprecher erklären sich heute aus der Dominanz, dem Prestige und der Beliebtheit des Englischen. Zahlreiche Menschen, auch Profis in den Medien, haben die Tendenz, einen Namen englisch auszusprechen, wenn sie davon ausgehen, dass er ausländisch ist, aber nicht wissen, aus welchem Land mit welcher Sprache er kommt. Da wird dann das Wort oft prophylaktisch erst einmal englisch ausgesprochen. Ich habe im Radio oder im Fernsehen folgende Namen gehört: [maikl] Foucault, [ʤɔʤ] Pompidou, [saimƏn] Bolivar, [airiŋ] Fetscher, Uwe [ʤɔnsƏn] und [ʤak t∫irak]. Sie trug Kleider im Empire [ƐmpaiƏ]-Stil. Die Tendenz, Wörter vorsichtshalber englisch auszusprechen, gilt natürlich nicht nur für Namen. Wenn die ZDF-Nachrichten-Moderatorin Marietta Slomka das aus dem Italienischen stammende Wort Grafitti [’græfiti] ausspricht, dann liegt sie voll im anglophilen Trend des Zeitgeistes. Heute sagt man – mit jeweils der entsprechenden Aussprache - fast immer (englisch) Appartment und nicht mehr (französisch) Appartement, Banker statt Bankier, Dinner statt Diner, Journalist [ʤurnalist] statt Journalist [ʒurnalist] 1 0 und [ʤu:ri] statt [ʒy:ri]. Es gibt also eine ganz allgemeine Tendenz, fremde Namen und Wörter im Zweifelsfall englisch auszusprechen: [pɔ:l] Gauguin, [t∫a:lz] de Gaulle. Und fremde Städte benennt man oft mit ihrem englischen Namen: Mexico City statt Mexiko Stadt oder Ciudad de Mexico. Würde die Übersetzung des Romans „Gulliver’s Travels“ heute herauskommen, dann würden wir den Namen des Helden selbstverständlich [gʌlivƏ] aussprechen. In den 50er Jahren wurden Männer, die in englischsprachigen Filmen Peter [pi:tƏ] oder Paul [pɔ:l] hießen, meist noch als Peter [pe:tƏ] und [paul] deutsch synchronisiert. Heute wäre das undenkbar. Sie heißen jetzt selbstverständlich [pi:tƏ] und [pɔ:l]. Abgesehen davon, dass ein Vater dann meist Daddy heißt und die Kinder Kids sind, um die sich eine Nanny kümmert. Ja, sollte in einem amerikanischen Film ein Deutscher vorkommen (z.B. als Schurke in einem Agenten- oder Nazifilm), dann muss man damit rechnen, dass er dann in der deutsch synchronisierten Fassung [maikl] heißt statt Michael und [hæns-ʤƏ:rgƏn] statt Hans-Jürgen. Wie soll man sich denn nun verhalten, wenn man ausländische Namen aussprechen muss? Sind wir, wenn wir linguistische Laien sind, nicht alle restlos überfordert? Ja, wenn wir Perfektion anstreben, sind wir es ganz bestimmt. Wenn man unser Bemühen mit dem nahezu vollständigen Fehlen dieses Bemühens bei den Franzosen vergleicht, dann kann man schon beinahe trotzig reagieren. Ich habe mehr als einmal folgendes Argument gehört: Warum müssen wir Deutschen immer so beflissen sein und uns ausländischen Praktiken unterwerfen, wenn andere Völker das nicht tun? Warum müssen wir De Gaulle und Bordeaux so aussprechen wie die Franzosen, wenn diese ungeniert [adno’æ:R], [mɔ’za:R], Jean [sebastiɛ̃ bak], [karl fRi:dRi∫ go:s] und [sigmynd fRø:d] sagen? Warum sagen wir nicht auch [de gaulƏ], [albert kamus] und [bordeauks]? Ich glaube, dass kein vernünftiger Mensch in Deutschland diesen Rat befolgen möchte. Wenn wir uns einmal exemplarisch 1 1 die verschiedenen Aussprachegepflogenheiten der Franzosen und der Deutschen ansehen, dann ist es tatsächlich so, dass sie ganz verschieden sind. Dazu möchte ich eine kleine Anekdote erzählen, die in Frankreich wirklich passiert ist und meiner Meinung nach in Deutschland undenkbar wäre. Im französischen Rundfunk gibt es eine Sendung mit dem Titel „Le masque et la plume“. Dort diskutieren jede Woche fünf Kritiker eine Stunde lang über neue Filme, neue Theateraufführungen und neue Romane. Manchmal lädt man aber auch einen Gast ein, mit dem man dann eine Stunde lang spricht. Einmal hatte man den polnischen Filmregisseur Andrzej Wajda eingeladen. Sein Nachname schreibt sich W-a-j-d-a. Er wurde vom Diskussionsleiter, einem sehr gebildeten Mann, vorgestellt als André [vaʒda]. Und auch alle anderen Diskussionsteilnehmer nannten ihn immer nur Monsieur [vaʒda]. Nach einigen Minuten wies der Gast vorsichtig darauf hin, dass sein Name [vaida] ausgesprochen werde. Das ist eine Aussprache, die auch jedem noch so sprachunbegabten Franzosen ohne große Anstrengung möglich ist. Daraufhin versuchten einige der Kritiker, auch [vaida] zu sagen. Aber nach spätestens fünf Minuten sagten wieder alle [vaʒda] – und so blieb es bis zum Ende der Sendung. Der höfliche Pole ließ es sich gefallen. Offensichtlich hatte keiner der französischen Gesprächsteilnehmer das Gefühl, dass man mit der falschen Aussprache dem Gast zu nahe trat. Man ist versucht zu sagen: im Gegenteil, er sollte sich durch die französische Aussprache womöglich besonders geadelt und geehrt fühlen. Noch wahrscheinlicher aber ist, dass für alle Beteiligten die richtige Aussprache des Namens völlig belanglos war. Ich habe mich längst daran gewöhnt, dass Franzosen Steward Granger meinen, wenn sie [gRãʒe] sagen und [ãRi kisɛ̃ʒe:], wenn sie von Henry Kissinger sprechen. Ein französischer Literaturkritiker hat keinerlei Hemmungen, Ian McEwan [jan makewan] auszusprechen. Wer ist wohl mit [tɔm ãks] imd mit [ladmirabl krit∫tɔn] gemeint? Natürlich Tom Hanks und The Admirable Crichton. Nach dem Gesagten kann man vielleicht erraten, wie die Franzosen „Monty Python“ aussprechen. 1 2 Sind die Franzosen also chauvinistischer, arroganter, rücksichtsloser oder unbegabter, wenn es gilt, ausländische Namen auszusprechen? Warum sagen sie ungeniert [kisɛ̃ʒe:], wo wir in Deutschland uns dagegen um die Aussprache [hƐnri kisindʒƏ] – natürlich mit einem englischen R - bemühen? Viele Deutsche bemühen sich ja sogar, deutsche Namen ausländisch auszusprechen, wenn sie sich mit Ausländern unterhalten. Es gibt ernst zu nehmende Wissenschaftler, die behaupten, dass es dem durchschnittlichen Franzosen von einem bestimmten Alter an schwerer fällt, fremde Laute nachzubilden als etwa Deutschen oder Holländern. Die biologischen und linguistischen Argumente, die dabei vorgebracht werden, können hier nicht diskutiert werden. Es soll unter anderem etwas damit zu tun haben, dass das Phonemrepertoire der französischen Sprache kleiner ist als etwa das der deutschen Sprache. Was aber wohl viel entscheidender ist und mir immer wieder auffällt, ist, dass kaum ein Franzose sich jemals Mühe gibt, einen fremdsprachigen Namen korrekt auszusprechen und dass viele Deutsche hier manchmal zu viel Bemühung an den Tag legen. Es gehört in Frankreich einfach nicht zur Bilddung, dass man ausländische Namen einigermaßen korrekt aussprechen kann – oder sich wenigstens darum bemüht. Bei englischen Namen zum Beispiel ist dann das typische Ergebnis – auch unter gebildeten Franzosen – ein seltsames und anscheinend ziemlich willkürliches Gemisch aus englischer, halb englischer und französischer Aussprache. So hört man [stua:R gRãʒe:] für Stuart Granger, und [ʒɔRʒ bu:∫] für George Bush. Wenn man wenigstens konsequent wäre, würde man ja auch [styaR] und [by∫] erwarten.Aber auf diesem Gebiet kann man bei Franzosen nicht mit Konsequenz rechnen. Ein englisches R bringt so gut wie kein Franzose über die Zunge. Der Name der deutschen Firma Villeroy & Boch wird von Franzosen natürlich immer [vilRwa e: bɔ∫] ausgesprochen. Amerikanische Namen französischen Ursprungs sprechen Franzosen grundsätzlich französisch aus. Sie sagen also [de’tRwa] und nicht [’ditrɔit], [batɔ̃ Ru:ʒ] und nicht [bætn ru:ʒ], 1 3 [dypɔ̃] und nicht [dju:pɔnt]. Deutsche dagegen bedienen sich oft beflissen auch bei deutschen Namen der amerikanischen Aussprache: [kisiʤƏ] und den Namen der Hauptstadt von Kentucky [fræŋkfƏt] kann man hier nennen. Wer käme bei uns auf den Gedanken, die ursprünglich deutschen Namen Steven Spielberg oder Leonhard Bernstein oder Lehman Brothers deutsch auszusprechen? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemals ein deutscher Rundfunkredakteur den Namen des in Deutschland geborenen, aber nach England emigrierten Lyrikers Michael Hamburger deutsch ausgesprochen hätte. Er heißt zuverlässig und immer [maikl hæmbƏ:gƏ]. Ich bin überzeugt, dass für das so verschiedene Verhalten der deutschen und der französischen Sprecher historische und psychologische Gründe entscheidender sind als ein mangelndes Aussprachetalent. Jahrhunderte lang war Französisch fast so etwas wie die Weltsprache der Kultur, der Wissenschaften und der Diplomatie. Vornehme und gebildete Menschen von San Francisco bis Wladiwostok mussten diese Sprache beherrschen. Dieser sprachliche Hegemonialzustand dauerte etwa bis zum Ersten Weltkrieg. Das Deutsche und das Russische waren, wie viele andere Sprachen, bis ins 19. Jahrhundert recht unbedeutende Sprachen. Alle gebildeten und vornehmen Deutschen und Russen lernten Französisch, kaum ein gebildeter oder vornehmer Franzose kam auf die Idee, Deutsch oder Russisch zu lernen. Auf diesem Hintergrund ist es leicht zu verstehen, warum es für jeden Deutschen, der sich nicht blamieren und als kulturlos outen wollte, wichtig war, französische Wörter und Namen einigermaßen korrekt auszusprechen, dass aber kein Franzose sich etwas vergab, wenn er einen deutschen Namen französisch aussprach. Im Gegenteil: Die Aussprache eines deutschen Wortes oder Namens mit französischem Akzent verlieh dem Gesagten einen besonderen zusätzlichen Reiz und Glanz. Dieser mehrere Jahrhunderte andauernde Zustand erklärt, so meine ich, weitgehend die heute noch anzutreffende unterschiedliche Handhabung der Aussprache von fremdsprachlichen Namen und Wörtern. Um es auf eine klare Formel zu bringen: Man kann es einem Menschen, der ohne eigenes Verdienst oder Verschulden in die französische Sprachgemeinschaft hinein geboren wurde, nicht verübeln, wenn er 1 4 ausländische Namen französisch ausspricht, ebenso wenig, wie man es einem in die deutsche Sprachgemeinschaft Hineingeborenen verübeln - oder hoch anrechnen - kann, dass er sich um eine korrekte fremdsprachliche Aussprache ausländischer Namen bemüht. Übrigens hat unser Verhalten, was die Aussprache englischer Namen und Wörter betrifft, einen nicht gering zu schätzenden Vorteil. Unsere Lehrer haben zu Beginn des Englischunterrichts sehr viel weniger Probleme mit der Aussprache bestimmter Laute als ihre französischen Kollegen. Ich erinnere mich, dass meine Enkel im Alter von drei bis vier Jahren schon recht gut die englischen Laute „TH“, „R“ und „W“ aussprechen konnten. Über das sehr interessante Verhältnis der Franzosen zum Englischen, welches ihre Sprache seit langem in der internationalen Bedeutung und im Prestige abgelöst hat – und gegen die nicht wenige Franzosen inzwischen eine heftige Allergie an den Tag legen - kann ich hier nicht näher eingehen. Auch nicht auf die sprachlichen Bemühungen der Engländer. Nur so viel sei gesagt: Die Masse der Engländer leidet an einer hartnäckigen und wohl bis auf weiteres unheilbaren und sich immer mehr ausbreitenden Monoglossie. Der durchschnittliche Engländer kann keine fremden Laute aussprechen und bemüht sich auch gar nicht erst darum. Aber die professionellen Sprecher der BBC, vor allem die im BBC-World Service, bemühen sich, ausländische Namen richtig – d.h. so wie in ihrem Herkunftsland – auszusprechen. Aber nicht immer mit durchschlagendem Erfolg. Wenn es allerdings um Namen aus Ländern ihrer ehemaligen Kolonien geht, etwa Indien oder Kenia, dann sprechen BBCSprecher Namen meistens korrekter aus als deutsche Sprecher. Ich glaube, kein Mensch kann – mit noch so guten Gründen – eine fest eingewurzelte Sprachgewohnheit seiner Sprachgemeinschaft völlig ignorieren oder gar kurzfristig verändern. Also wird es bis auf weiteres dabei bleiben, dass wir – im Gegensatz zum Beispiel zu den Franzosen – uns bemühen werden, einen ausländischen Namen so auszusprechen, wie er in seinem Herkunftsland ausgesprochen wird. Das wird aber unter Garantie niemandem immer gelingen. Und jeder, der auf solche Dinge achtet, wird immer wieder falsche Aussprachen hören – selbst bei professionellen Rundfunk- und Fernsehsprechern. 1 5 Wie soll man als sprachempfindlicher und sprachinteressierter Mensch aber reagieren, wenn man solche falschen Aussprachen hört? Und wie soll man sich selbst verhalten? Mehrere Möglichkeiten bieten sich an: Ich ärgere mich über falsche Aussprachen bei anderen, korrigiere sie ständig und bemühe mich selbst, alle Namen „korrekt“ aussprechen – wie in der fremden Sprache. Ich sage also zuverlässig [a:kƏnsɔ:] und [ƐdinbƏrƏ]. Ob ich mich mit diesem Verhalten bei meinen Mitmenschen sehr beliebt mache, sei dahingestellt. Will ich diese Strategie konsequent einhalten, muss ich einiges wissen. Was heißt einiges? Ich muss mehr wissen, als ich wissen kann. Annähernd erfolgreich kann eine solche Haltung nur sein, wenn es sich um Sprachen handelt, die mir sehr vertraut sind - oder um einigermaßen bekannte Namen, die ich von kundigen Sprechern häufig richtig ausgesprochen gehört habe. Bei arabischen, koreanischen und kalmückischen Namen wird mir das selten gelingen. Zweite Möglichkeit: Ich überhöre falsche Aussprachen großzügig und gebe mir selbst auch keine besondere Mühe, die betreffenden Namen immer richtig auszusprechen. Ich verhalte mich dabei völlig unsystematisch, wie’s gerade kommt. Heraus kommt dabei dann ein Mischmasch, ein phonetischer Wildwuchs, wie man ihn in Frankreich ständig beobachten kann. Dann heißt der bekannte irische Dichter eben heute William Butler [ji:ts], morgen aber vielleicht William [bœtlƏ jeits]. Am besten gelingt diese Strategie Menschen, die kein Ohr für feine phonetische Unterschiede haben und in der Regel gar nicht merken, was sie alles falsch machen. Worum ich mich bemühe und was ich auch anderen empfehlen möchte, ist ein Kompromiss. Wo es bei uns üblich ist und mir möglich, spreche ich ausländische Namen möglichst korrekt aus; wenn es aber mich überzeugende Gründe gibt, spreche ich sie deutsch aus. Ich muss zum Beispiel bei einem Namen wie Colorado kein englisches „R“ sprechen. Ich kann ruhig [koloRa:do] sagen. Ansonsten beobachte ich die Aussprache anderer mit Interesse und mit immer mehr Toleranz. Wenn jemand den amerikanischen Staat [misu:ri] 1 6 ausspricht und nicht [mizu:ri], dann finde ich das nicht schlimm. Wenn ich dann erfahre, dass die Einwohner dieses Staates selber [mizu:ra] sagen, werde ich in meiner Toleranz noch bestärkt. Und wenn jemand [ɔksfƏd] sagt statt wie bei uns seit eh und je üblich [ɔksfɔ:t], dann finde ich das schon beinahe albern und affektiert. Ich bemühe mich, bei einer „falschen“ Aussprache eher belustigt als verärgert zu reagieren. Wer gerne lacht, der kommt in der Tat bei der Aussprache von Namen auf seine Kosten. Und Lachen ist allemal gesünder als sich ärgern. Ich habe tatsächlich gehört, wie jemand im Radio sagte: Heinrich der Vierte aus dem Hause [bƏ:bƏn]. Und jemand teilte mir einmal mit, dass er sich ein Paar Schuhe von [Ɛsprai] gekauft habe. In einer Rede zum Abitur zitierte ein Schulleiter einen gewissen [maikl] Foucault. Ein Dichter wurde im Radio von einer Kulturredakteurin als [fræntsis ʤe:ms] vorgestellt. Gemeint war der Franzose Francis Jammes [frãsis ʒam]. Ziemlich lustig fand ich auch die Namen [laiƏn] Feuchtwanger und [saimƏn] Bolivar. Und mein eigener – in Deutschland nicht sehr verbreiteter Name - ist schon wiederholt im Radio als [waiƏt re:vƏliŋ] ausgesprochen worden. Eine ganz eindeutige und konsequente Haltung anzustreben kann man, was die korrekte Aussprache ausländischer Nehmen betrifft, niemandem empfehlen, weil sie uns alle überfordern würde. Ich möchte meine Überlegungen mit der Besprechung einiger Einzelfälle beenden. Daraus ergeben sich dann hoffentlich ein paar hilfreiche allgemeine Grundsätze, die den gesunden Menschenverstand überzeugen und möglichst jede Pedanterie vermeiden. LONDON: Man kann bei uns die folgenden Aussprachen hören: [lɔndɔn], [lɔndn] und gelegentlich sogar [lʌndƏn]. Hier empfehle ich dringend die Aussprache [lɔndɔn]. Das ist seit langer Zeit die übliche Aussprache dieser altehrwürdigen Stadt, und man sollte es dabei bewenden lassen. Die Aussprache [lɔndn] stört mich zugegebenermaßen sehr. Sie ist weder deutsch 1 7 noch richtiges Englisch, denn die Engländer sagen [lʌndƏn]. Diese eigentlich „richtige“ Aussprache, die man, wie gesagt, bei uns nur gelegentlich hört, wäre für meinen Geschmack reichlich affektiert. NEW YORK: Hier findet man ganz selten noch die Aussprache: [nɔi jɔrk]. Ich meine, die angemessene Aussprache ist heute [nju: jɔ:k] oder [nu: jɔrk]. Das erste ist die britische, das zweite die amerikanische Aussprache. [nɔi jɔrk], das man auch wirklich nur noch selten hört, erscheint mir dann doch recht deutschtümelnd, obwohl diese Aussprache noch zur Zeit unserer Großeltern die übliche war. Ich habe sie in meiner Kindheit noch oft gehört. Ich habe einen Bekannten, der in Amerika geboren ist, aber seit langem in Deutschland lebt und auch die deutsche Staatsbürgerschaft hat. Er spricht den amerikanischen Staat, in dem er geboren wurde, immer [pƐnzil’va:njen] aus. Das halte ich für übertrieben, zumindest für recht auffällig. Aber ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Dass wir ausnahmslos bei amerikanischen Namen die englische Aussprache wählen, stimmt ja keineswegs. Früher sagten wir [kanzas], heute sagen wir meistens [kænzƏs]. Früher sagten wir [alaska] und heute sagen wir meistens ... immer noch [alaska], warum weiß der Kuckuck. Wir sagen auch [alaba:ma] und nicht [ælƏbæma], wir sagen [kalifɔrnjƏn] und nicht [kælifɔ:njƏ]. Wir sagen gewöhnlich [zan frantsisko] und nicht [sæn frƏntsiskou]. Letzteres hört man aber auch schon. Warum sagen wir dann aber nicht auch [kƐntuki]?. Da würden wohl die meisten sagen: weil das komisch klingen würde. Recht haben sie. Komisch klingt es aber nur, weil es unüblich ist. Die meisten sagen bei uns Nord- und Süd Dakota, aber North und South Carolina [kærolainƏ]. Beim Staat Neu Mexiko hört man beide Versionen, die deutsche und die englische. Über diese unterschiedlichen Aussprachegepflogenheiten machen sich die allermeisten Deutschen keinerlei Gedanken, weil sie so sprechen, wie es üblich ist und wie sie es gewohnt sind. Und das ist ja auch der normale Lauf der Dinge. Wollte man sich bei jeder Aussprache Gedanken über ihre Herkunft oder ihre Richtigkeit machen, käme man gar nicht mehr zum Sprechen. 1 8 MONTREAL: Man kann bei uns die Aussprachen [mɔntriɔ:l], [mɔntreal] und [mɔ̃Real] hören. In diesem Fall ist es wirklich nicht so leicht, sich für eine der Aussprachen zu entscheiden. Die englische, [mɔntriɔ:l], ist sehr verbreitet, beinahe etabliert. Die deutsche Aussprache, [mɔntreal], wird auch von vielen akzeptiert und praktiziert. Ich selbst ziehe sie vor, habe aber auch nichts gegen die französische [mɔ̃Real], weil 85% der Einwohner dieser Stadt französisch sprechen. Aber diese Aussprache, die ich im Radio und Fernsehen schon häufiger gehört habe, ist heute noch auffällig und kommt manchmal beinahe einer politischen Demonstration gleich. („Vive le Québec libre!“) MEXICO STADT: Hier geht es in erster Linie nicht um die Aussprache, sondern um das Wort. Was sollten wir sagen: [siudad de mƐçiko], [mƐksikou siti] oder [mƐksiko ∫tat]? Ich würde neben der deutschen die spanische Aussprache favorisieren, wenn sie auch nur die geringste Chance hätte sich durchzusetzen. Ich sehe aber nicht ein, warum man die Hauptstadt eines spanischsprechenden Landes mit einem englischen Namen versehen sollte. Übrigens sagen die meisten (kastilisch sprechenden) Spanier [øiudad] – mit einem thLaut -, die Mexikaner aber [siudad] - wobei das auslautende d nur angedeutet wird. Wenn wir die Stadt spanisch aussprechen wollten, müssten wir uns dann für die kastilische oder für die lateinamerikanische Aussprache entscheiden? Ich plädiere dann doch für [mƐksiko ∫tat]. EDINBURG: Man kann in Deutschland vier verschiedene Aussprachen hören: [edinburk – edinburç – ƐdinbƏ:rk – Ɛdinb(Ə)rƏ]. Die korrekte englische Aussprache ist [ƐdinbƏrƏ] oder [ƐdinbrƏ]. Ich empfehle aber die Aussprache [edinburk]. Das scheint mir für diese Stadt, die seit Jahrhunderten eine Rolle in der europäischen Geschichte gespielt hat, angemessen. Auf keinen Fall sollte man [ƐdinbƏ:rg] sagen. Das ist weder englisch noch deutsch, sondern hyperkorrekt, also falsch. (Allerdings: wenn einmal alle es so sagen, ist es 1 9 dann doch richtig – gemäß der alten Linguistenweisheit: Was alle falsch sagen, ist richtig.) KÖNIGSBERG. Wir können jetzt glaube ich alle mit gutem Gewissen wieder – bzw. immer noch - Breslau, Danzig und Posen sagen. Auch Königsberg? Hier schwanke ich. Kaliningrad ist ja nicht die russische Version von Königsberg, sondern ein ganz neuer Name. (Ob uns der Charakter des Namensgebers, Michail Iwanowitsch Kalinin, hierbei interessierten sollte, will ich hier nicht erörtern. Das müssen die Russen unter sich ausmachen. Sollten sie sich für eine Namensänderung aussprechen, dann würde ich den Namen „Kantograd“ oder „Kantoburg“ vorschlagen.) Ist diese Stadt noch dieselbe Stadt, in der Kant gelebt und nachgedacht hat? Auch bei folgenden Namen zögere ich, weil die deutsche Form nicht eine Aussprachevariante ist, sondern ein ganz anderer Name: Königgrätz (Hradec Králové), Marienbad (Mariánské-Láznë) Pressburg (Bratislava). Ich hätte in diesen und ähnlichen Fällen gegen beide Formen nichts einzuwenden. Was ich aber albern finde ist, wenn jemand sagt: „Kant hat zeit seines Lebens die Stadt Kaliningrad nicht verlassen“. Aber „Die meisten älteren Einwohner Kaliningrads sind aus anderen Teilen der Sowjetunion zugezogen“ finde ich in Ordnung. ROOSEVELT: Die meisten Amerikaner sprechen den Namen [rouzƏvelt] aus; man hört aber auch [ru:svelt]. Die erste Aussprache ist die, welche die Familie Roosevelt selbst benutzte. In England – und noch häufiger in Deutschland – hört man auch die Aussprache [ru:svelt], vermutlich wiederum aus Hyperkorrektheit. Ich selbst halte [rouzvelt] für die angemessene Aussprache. COVENTRY: Die übliche Aussprache der mittelenglischen Stadt ist [kɔvƏntri], man hört aber gelegentlich selbst in England die in Deutschland so oft zu hörende Aussprache [kʌvƏntri]. Dieses [ɔ] findet sich übrigens auch in der ersten Silbe von Wörtern wie „Commonwealth“ und „common sense“. 2 0 WATERLOO: Dieser historisch so wichtige Name wird bei uns oft englisch, also [wɔ:tƏlu:] ausgesprochen. Warum eigentlich? Der Ort liegt im flämischen Teil Belgiens, und dort sagt man [vatƏrlo:]. Gestützt wird die englische Aussprache vermutlich noch durch den Namen des Londoner Bahnhofs ‚Waterloo Station’. Ich selbst sage jetzt meistens [vatƏlo:], aber es rutscht mir hin und wieder auch ein [wɔ:tƏlu:] heraus, was wohl mit meinem Beruf als Englischlehrer zu tun hat. GLASGOW: Die Standardaussprache ist [gla:sgou] oder [gla:zgou]. Die Aussprache [glæsgou] ist aber in Nordengland und auch in Schottland weit verbreitet. NIMWEGEN: Der Name dieser holländische Stadt am Niederrhein klingt in der Landessprache ungefähr so: [næjme:xƏn]. Viele Deutsche versuchen, den Namen niederländisch auszusprechen; nur wenigen gelingt es. Meistens kommt dann dabei etwas heraus, das wie [naime:gƏn] klingt. Es gibt aber überhaupt keinen Grund, hier die niederländische Form und Aussprache anzustreben, da die Stadt bei uns seit eh und je einen deutschen Namen hat: Nimwegen. In all diesen und ähnlichen Fällen sollten wir in Deutschland nicht kleinlich sein und nicht päpstlicher als der Papst. Und vor allem sollten wir auf diesem Feld nicht unserem Bildungsdünkel oder unserem Angeberinstinkt Futter geben. Man macht sich in der Regel wenig Freunde, wenn man den Besserwisser heraushängen lässt. Ich habe mehr als einmal erlebt, dass jemand mitleidig oder spöttisch oder gar höhnisch auf jemanden herab geschaut hat, weil er [miçelangelo] gesagt hat. Wenn jemand die französischen Namen [stã̃dal] und [brasãs] ausspricht und nicht wie die Franzosen [stɛ̃dal] und [brasɛ̃s], dann zeigt er damit doch immerhin, dass er eine wichtige französische Ausspracheregel beherrscht; nur kennt er eben diese beiden Ausnahmen nicht. Das finde ich bei Otto Normalverbraucher überhaupt nicht schlimm. Ich muss allerdings gestehen, dass es mich gelegentlich doch stört, wenn ein Rundfunkredakteur, der sich als Experte in Sachen Literatur geriert oder der 2 1 Anglistik und Romanistik studiert hat, die Namen berühmter Literaten falsch ausspricht. Und das erlebt man immer wieder, selbst in den Kulturprogrammen der deutschen Rundfunkanstalten. William Butler [ji:ts], [ʤilbƏt] und Sullivan, [aiƏn] MacEwan und [stãdal] habe ich nicht nur einmal gehört. Zum Schluss möchte ich für diejenigen, die auf die korrekte Aussprache ausländischer Namen Wert legen und sich bemühen möchten, sie ganz richtig – also etwa so wie in ihrem Herkunftsland - auszusprechen, noch ein paar wohlgemeinte Hinweise und Tipps geben. Aber überanstrengen Sie sich bitte nicht! Das lohnt sich nicht, denn die meisten Ihrer Mitmenschen merken den Unterschied sowieso nicht. Aufgepasst: Es heißt richtig Módena, und nicht Modéna; es heißt nicht [glɔtsestƐr], sondern [glɔstƏ] ; es heißt nicht [kʌmenwƐlø], sondern [kɔmƏnwƐlø], es heißt nicht [kʌmƏn sƐns], sondern [kɔmƏn sƐns], nicht [ʤƏ:tru:d] Stein, sondern [gƏ:tru:d] Stein. Und, meine Damen: man sagt auf Französisch nicht [asƐswaR], sondern [aksƐswaR]. Und das ist auch die korrekte deutsche Aussprache. Eins muss nun doch noch mit Nachdruck gesagt werden: Für die bekannte französische Automarke gibt es nur eine richtige Aussprache: Citroen [sitro’Ɛn]! Nicht [sitroɛ̃] und schon gar nicht [sitrø:n]! Es heißt, darauf können Sie sich verlassen [sitro’Ɛn]. Bitte keinen hyperkorrekten Nasal, auch wenn’s noch so verlockend ist und so schön französisch klingt. Liebe Rundfunkansager! Wenn Sie einmal dieses Orchester ansagen müssen, dann sagen Sie doch bitte richtig The English [bƏrouk] Orchestra und nicht The English [barɔk] Orchestra. 2 2