1 Friedrich Schiller 200. Todesjahr (Vortrag Rotary) 001. Lebensdaten Johann Christoph Friedrich Schiller geboren am 11. November 1759 in Marbach /Neckar, gestorben am 9. Mai 1805 in Weimar. Schiller ist 45 Jahre alt geworden. Er hat sein Leben lang unter Krankheiten zu leiden gehabt. Goethe hat von 1749 bis 1832 gelebt. Er ist 83 Jahre alt geworden. 002. Biographismen Frauen und Schiller 01. Schiller läßt uns immer teilhaben an dem Leben seiner Gedanken, aber er hat kaum jemals Vorgänge seines tatsächlichen Lebens dichterisch gestaltet. 02. Schillers Gedichte sind persönlich und unpersönlich zugleich. 03. Die Gedichte sind zwar nicht biographisch bekennende Liebesgedichte im Stil der Erlebnislyrik Goethes, aber zum Beispiel die Begegnung mit Charlotte von Kalb hat eine persönliche Krise bei Schiller ausgelöst, die auch eine geistige Poblematik nach sich gezogen hat. Hinweise auf die Problematik des Biographismus. Charlotte von Kalb / Charlotte von Lengefeld 01)Sept/Okt 1789: Charlotte von Kalb berichtet Schiller, sie glaube, mit Herders Hilfe eine Lösung ihrer Ehe zu erreichen, und äußert die Hofnung, sich dann mit Schiller verbinden zu können. 02) Zur selben Zeit: Krisen im Verhältnis der beiden Schwestern Lengefeld (Charlotte und Caroline) durch die gleichstarke Neigung Schillers zu beiden. 03) 15. Noveber 1789: Brief Schillers an die Schwestern Lengefeld, der Charlotte ihre Zweifel über seine Neigug zu ihr (statt Caroline) nimmt. 04) 18.Dez.1789: Briefliche Werbung um Charlotte bei Frau von Lengefeld 05) 20.Dez 1789: Frau von Kalb stellt Charlotte bei einer Hofgesellschaft heftig zur Rede 06) 18. Januar 1790: Vorschlag Schillers an Caroline von Beulwitz (Lengefeld) vorerst in einer Wohnung mit ihnen zusammenzuleben. 07) 08. Februar 1790: Schiller bekennt Charlotte von Kalb brieflich seine Liebe zu Charlotte v. Lengefeld. Darstellung der Persönlichkeits Charlotte von Kalbs. Literatur zum Thema „Mann zwischen Frauen“: Wilhelm Genazino 2005 Die Liebesblödigkeit (Hanser) Der Mann kann mit zwei Frauen leben, mit einer aber nicht. Stella: Unentscheidenheit ist nur durch Selbstmord klärbar. 003. Goethes zyklisches / Schillers lineares Leben Lebenspläne sind Frauenthematik. Sie planen das Verhältnis von gesellschaftlicher Anerkennung, gesellschaftlichem Erfolg und familierem Glück mit Blick auf die biologische Uhr. 2 Goethe, der sein Leben an der Erfahrung, dem Erleben und an dem natürlichen Experiment orientierte, hatte einen zyklischen Lebensverlauf. Es gehört zu den Erklärungsmodellen des Lebens, Wellenbewegungen zu beobachten, periodische Wellengänge kosmische Geschehen, Mond- und Tag-Nachtwechsel, die Abläufe der natürlichen Jahreszeiten, das Auf und Ab des menschlichen Werdens und Vergehens, rhythmische und zirkuläre, zyklische Prozesse aller Art zu beobachten. Darstellung der zyklischen Lebensart Goethes und der linearen Lebensart Schiillers. 004. Chronologie Schillers Überlicherweise teilt man Schillers Leben chronologisch in zwei Stufen: 1759-1794. Die Zeit vor dem Umgang mit Goethe. (Stuttgart 1759-1782; Mannheim, Bauerbach, Dresden 1782-1787; Weimar, Jena 1787-1794) und 1794-1805. Die Zeit im Umgang mit Goethe. (Jena, Weimar, Berlin). Literatur: Helmut Koopmann 1966 Friedrich Schiller (Metzler) Helmut Koopmann 1998 SchillerHandbuch (Kröner) Axel Gellhaus & Norbert Oellers (Hgg) 1999 Schiller. Bilder und Texte zu seinem Leben (Böhlau) 005. Schiller als Damatiker Hier wird eine Lebenszeiteinteilung bevorzugt, die Schillers Leben dahin festlegt, wie sein dramatisches Talent auflebt, wie es sich Substanz verschafft und wie es schließlich eigentümliche Reife erzielt. Stellt man Schillers dramatisches Talent in den Mittelpunkt, dann sind (1) seine lyrischen Arbeiten (angestrengte) Versuche, aus dem psychologischen Denken zur Poesie hinzugelangen. (2) Seine geschichtlichen Forschungen sind Bemühungen, Stoffe und Figuren für seine Dramen zu erarbeiten, (3) seine ästhetischen Schriften bezwecken die Bewältigung der Grenzen zwischen Metapoetik, Poetik (literarischer Ästhetik) und Produktionsästhetik. Sie dienen der Klärung dessen, was wie dichterisch praktisch zu werden hat. Schiller steckt mit der Unterscheidung zwischen naiver und sentimentalischer Dichtung zugleich seine Fähigkeiten in Vergleichung mit Goethe ab. Sowohl seine historischen als auch seine ästhetischen Schriften sind eine Belastung für die dramatische Psyche Schillers, die seine kreative Kraft angestrengt hat, zumal, wie Kant feststellt: man entweder Historiker oder ein vernünftiger Mensch sein könne, nicht aber beides zugleich. Mit der Beziehung zum unphilosophischen (eher naturwissenschaftlichen) und lebenspoetischen Goethe und ausgerüstet mit den historischen und philosophischen Kenntnissen gelangt Schiller zu seinen dramatischen Spätwerken. Schiller treibt Goethe zur Vollendung seines Faust 1. Goethe ermutigt Schiller zur poetischdramatischen Art zurückzukehren und die philosophischen Überlegungen in den Grenzen ihres Briefwechsels zu halten. Überleitend helfen dazu die gemeinsamen ästhetischen Schriften: * Über epische und dramatische Dichtung * Über den Dilettantismus. Weiterer gemeinsamer Anknüpfungspunkt für beide sind die Balladen als „Gesamtkunstwerke“, da ihnen Lyrisches, Episches und Dramatisches gemeinsam ist. 3 Im Hintergrund steht immer die ungelöste Streitfrage, ob das Lebensverständnis auf der Erfahrung oder einer Idee beruht. Goethe und Schiller gehen einer sie vermutlich trennenden Erörterung aus dem Wege. 006 Humanitätsidee Ein weiterer Hintergrund ist die Entstehung der Ästhetischen Humanitätsidee (Kant), die sich von der Moralischen Humanitätsidee (→Katharsis-Vorstellung), die das dramatische Schaffen erlebensnaher macht, durch die Autonomiesetzung der Vernunft radikal befreit. Kants Vorstellung der Emanzipation der Ästhetik von der Moral bestimmt die Kunstauffassung der heutigen Moderne. Schiller wird den Weg zu einer Ästhetischen Humanitätsidee mit seiner „Gedanken/Ideen-Dramatik“ auch einschlagen (z.B.: Don Karlos), aber schließlich unter dem Einfluß von Goethes erlebens- und erfahrungsbetonter „Erzähldichtung“ doch nicht konsequent mitgehen. Die Beziehung von Moral und Ästhetik wird Schiller nicht im Sinne Kants zu trennen. Max Scheler 1916 Formalismus in der Ethik... (wider die Neigung S. 242) (Francke) Der Vorwurf der Ideen-Dramatik wird dennoch dramenpoetisch im Streit >Shakespeare oder Schiller< seine historischen Folge haben. Büchners Vorwürfe gegen Schiller. Goethe wird die Idee-Dichtung immer zuwider sein, wie seine Klage über die verwendete Idee in seinen Wahlverwandtschaften erkennen läßt. Schillers Lebensform ist damit charakterisiert. 007 Die drei Jahrzehnte Schillers Schiller hat folgende charakteristischen Lebensstufen. (1) Sein erstes dramatisches Jahrzehnt (1777-1787) hat psychosoziale Krisen. Er antwortet darauf mit seine Flucht- und Reisebewegungen (Stuttgart, Mannheim, Bauerbach, Dresden) und seinen Dramen: *Die Räuber *Die Verschwörung des Fiesko zu Genua *Luise Millerin (Kabale und Liebe) *Don Karlos Die Anlage Schillers zu einer sentimentalischen Lebenseinstellung zeigt sich ebenfalls. Begleitet werden die Dramen nämlich von kleineren philosophischen (i.w.S.) Schriften bereits vor der Begegnung mit Kant: *Gehört allzuviel Güte, Leutseeligkeit und große Freygebigkeit im engsten Verstande zur Tugend? * Philosophie der Physiologie * Die Tugend in ihren Folgen betrachtet * Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen * Über das gegenwärtige teutsche Theater * Wie kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? * Brief eines reisenden Dänen * Philosophische Briefe Von den Erzählungen, der (krampfhaften) Lyrik wird jetzt abgesehen, so wichtig sie auch für die nuancierte Entwicklung sein mögen. (2) Mit der von Goethe vermittelten Geschichtsprofessur in Jena (1786-1796) kommt die Orientierung an geschichtlichen und ästhetischen Themen. In dieser Zeit schreibt Schiller kein Drama. Die Hochzeitszeit Schillers. 4 *(1788)Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung, (1791-1793) Geschichte des dreyssigjährigen Kriegs - In: Historischer Calender für Damen. *Des Grafen Lamoral von Egmont Leben und Tod. *Merkwürdige Belagerung von Antwerpen in den Jahren 1584 und 1585. *Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede *Die Sendung Moses *Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde *Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon. Für die dramatische Orientierung bedeutsam sind die philosophischen Schriften nach der Begegnung mit Kant. In diese Zeit gehören die (A) kleineren und (B) größeren Abhandlungen zur Ästhetik. (A) * Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen * Über die tragische Kunst * Vom Erhabenen * Ueber das Pathetische * Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände * Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst. (B) * Ueber Anmut und Würde * Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen * Ueber naive und sentimentalische Dichtung (3) Das zweite dramatische Jahrzehnt, das eigentliche Klassische Jahrzehnt, führt zu den Dramen. In dieser Zeit bricht Schiller seine historischen und philosophischen Bemühungen ab. * Wallenstein * Maria Stuart * Die Braut von Messina * Wilhelm Tell * Demetrius. Hinzu kommen Bühnenbearbeitungen, Rezensionen, Entwürfe und unausgeführte Pläne. 5 Schillers Berlin-Besuch 1804 besucht Schiller Berlin. Hier hätten sich noch einmal die Weichen stellen lassen, aber der Tod Schillers macht Schillers Absage an Berlin endgültig. Michael Bienert 2004 Schiller in Berlin (Deutsche Schiller Gesellschaft) 008 Der Idealist Schiller aus: Brief an Wilhelm v. Humboldt Und am Ende sind wir ja beide Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen, daß die Dinge uns formten und wir nicht die Dinge. Der Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit bei Handlungsentscheidungen, der mit dem Verlassen der Naturabhängigkeit parallel geht, verbindet sich mit der Erziehung zur Freiheitskultur. Die Fähigkeit zum vernünftigen, ästhetischen Urteil setzt die Ungefährdetheit der Wahrnehmung und des Umgangs mit der Welt voraus. Wo Bedrohung ist, die unmittelbar betrifft, ist ästhetische Autarkie aufgehoben. Kultur 5 als freie Abwendung von der Naturnotwendigkeit und Pflege und Realisierung von Vorstellungen wohlbegründeter Menschengemäßheit braucht die Verzögerung der Kausalabläufe, Ruhe und Distanz. Ein Werk kann unter den verschiedensten Umständen entstehen. Ob es als Kunstwerk angesehen wird, wird nur aus der existentenzungefährdeten Distanz, innerhalb der vor der Wildheit schützenden Umzäunung, aus der das Individuelle, Ichhafte überschreitenden betrachtenden Ruhe heraus entschieden werden. Mag der Existenzzustand sein wie er will, das Dasein von Kunst ist von völliger Autarkie der beurteilenden Person abhängig. Die Kunst ist in der Kunstbeurteilung, nicht in ihrer Entstehung, so frei wie nichts anderes in der Welt. Der Grund dafür ist, daß sie ohne jeden Zweck ist und daß sie die Substanz, d.i. die Freiheit des Menschen ist. Jede Fertigung unter existentiellen Zwängen kann Kunst werden, wenn die Zwänge liquidiert werden. Die Liqididierung der Zwänge ist die unabdingbare Voraussetzung, die Freiheit der Beurteilung eines Werkes als schöne Kunst zu erfahren. 009 Natur vs. Kultur Mit binärem Zugriff gedacht: Man könnte, damit befände man sich in guter aufklärerischer Gesellschaft und wäre auch der selbstverständlichen Zustimmung der Naturwissenschaften gewiß, unter Natur die Summe jener Dinge und Prozesse verstehen, die sich dem menschlichen Zutun und Wegtun entziehen: alle die Dinge und Prozesse, die sind, was sie sind, und tun, was sie tun, ohne dazu von Menschenhand abzuhängen. Damit hätte man aber zugleich, komplementär, Kultur als dasjenige bestimmt, was in unseren Mächten steht, oder – um es vorsichtiger auszudrücken, als das, was von Menschenhand gemacht ist. (Hans-Jörg Rheinberger 2005 Iterationen (Merve) 30) Es liegt in der Schöpfermentalität des Menschen, die Natur 1, gemeint ist jene menschenunabhängige Natur, in eine Natur 2, d.i. eine menschenabhängige Natur zu verwandeln. Natur 1 reagiert darauf, wie wir zunehmend fürchten, mit der Verweigerung lebensnotwendiger Kreisläufe. Es ist unser Ehrgeiz, eine Natur 2 hervorzubringen, Eingriffe in Natur 1 vorzunehmen, ohne daß Kreislaufkollapse in Natur 1 entstehen. Eingriffe in Natur 1 versteht Schiller noch als Veredlung, Idealisierung. Die Überwindung der Natur sehen wir vorsichtig: Der Künstliche Garten, der Fremdgewächse aus Dekorgründen aufnimmt, bringt die ersten Probleme. Die Verschmutzung durch Kulturendprodukte in Luft-Wasser-Erde-Organik ist die zweite verschärfte Stufe. Die Prothese, ursprünglich hilfloser Ersatz, muß beim Verschönerungseinsatz (Silikon) bereits mit Verträglichkeitsgrenzen weiterreichender Art rechnen. Schließlich wird es aber so weit kommen, das der Mensch die Natur aufgibt und sich ganz der Menschheits-Kultivierung ausschließlich im Rahmen des Anorganischen widmet. (Cyborg). Der Mensch wird sich als organisches Wesenabschaffen und eine Form des anorganischen <Lebens> entwickeln, die den Umzug auf andere Planeten vorbereitet. Die maschinellen kommunikationsfähigen System mit einem menschenähnlichen Auftreten und (zu erwartendem) Bewußtsein werden den Anspruch auf Menschenwürde stellen. Es empfiehlt sich, Schillers Kunstbegriff mit entsprechenden Augen zu lesen. 6 Der Natur-Begriff der Aufklärung ist noch allumfassend. Natur 1 und Natur 2 gehen in einen gemeinsamen Natur-Begriff ein. Die Vernunft ist Teil der Natur und auch nicht Instrument, aus ihr auszubrechen. Der Freiheitsbegriff als regulative Vernunftidee dient der Veredlung der Natur auf menschwürdigere Verhältnisse hin. An eine naturzerstörerische oder -abwickelnde Funktion der Vernunft ist zur Schiller-Zeit noch nicht allgemeines Gedankengut. Es spielen säkulare Vorstellungen von Menschengemäßheit, konkurrierend mit der Idee christlicher Menschenwürde eine bedeutende Orientierungsrolle. Die Natur wird in solchen Zusammenhängen verachtet oder verehrt, ohne daß man an ihre Überwindung ernsthaft denkt. Der Gedanke an einen Verzicht auf die Natur ist neu. Die Feststellung, daß die Vorschläge der Natur nur noch langweilig seien, nimmt zu. Die uns zur Verfügung stehende, extensive Möglichkeitsberechnung in kürzester Zeit hat die Möglichkeitsversuche der Evolution in menschfremd-langer Zeit überlagert. 010. Schillers Sicht in seinen Formulierungen Übergang des Menschen zur Freiheit und Humanität Setzen wir also, die Vorsehung wäre auf dieser Stufe (=an dem Leitbande des Instinkts, woran sie noch jetzt das vernunftlose Tier leitet) mit ihm stillgestanden, so wäre aus dem Menschen das glücklichste und geistreichste aller Tiere geworden, aber aus der Vormundschaft des Naturtriebes wäre er niemals getreten, frei und also moralisch wären seine Handlungen niemals geworden, über die Grenze der Tierheit wär er niemals gestiegen. In einer wollüstigen Ruhe hätte er eine ewige Kindheit erlebt – und der Kreis, in welchem er sich bewegt hätte, wäre der kleinstmögliche gewesen, von der Begierde zum Genuß, om Genuß zu der Ruhe, und von der Ruhe wieder zur Begierde. Aber der Mensch war zu ganz etwas andern bestimmt, und die Kräfte, die in ihm lagen, riefen ihn zu einer ganz andern Glückseligkeit. Was die Natur in seiner Wiegenzeit für ihn übernommen hatte, sollte er jetzt selbst für sich übernehmen, sobald er mündig war. Er selbst sollte der Schöpfer seiner Glückseligkeit werden, und nur der Anteil, den er daran hätte sollte den Grad dieser Glückseligkeit bestimmen. Er sollte den Stand der Unschuld, den er jetzt verlor wieder aufsuchen lernen durch seine Vernunft, und als ein freier vernünftiger Geist dahin zurück kommen, wovon er als Pflanze und als eine Kreatur des Instinkts ausgegangen war; aus einem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft sollte er sich, wär es auch nach späten Jahrtausenden zu einem Paradies der Erkenntnis und der Freiheit hinaufarbeiten, einem solchen nämlich, wo er dem moralischen Gesetze in seiner Brust eben so unwandelbar gehorchen würde, als er anfangs dem Instinkte gedient hatte, als die Pflanzen und die Tiere diesem noch dienen...so ist sein vermeintlicher Ungehorsam gegen jenes göttliche Gebot nicht anders als – ein Abfall von seinem Instinkte – also, erste Äußerung seiner Selbsttätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseins. Dieser Abfall des Menschen vom Instinkte der das moralische Übel zwar in die Schöpfung brachte, aber nur um das moralische Gute darin möglich zu machen, ist ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte, von diesem Augenblick her schreibt sich seine Freiheit, hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grundstein geleget. Das klassische Weltbild Schillers ist ein teleologisches Weltbild. Der zentrale Gedanke ist die Veredelung des Menschen von seinem naturhaften Ausgang hin zur vernunftgeleiteten Lebensform. Diese Entwicklung ist ihm im Menschen vorbereitet, 7 aber sie vollzieht sich nicht notwendigerweise wie eine organische Entfaltung, sondern durch Freiheit des Abfalls von dem jeweiligen Vorstufenzustand. Als ein grundsätzlicher Paradigmawechsel zu verstehen ist die Lösung von der Naturabhängigkeit hin zum Entwurf einer höheren menschengemäßen Existenz auf der Basis der Vernunft Das klassische Weltbild Goethes ist auch ein teleologisches Weltbild. Aus einer Urpflanze entfaltet sich die konkrete Einzelpflanze: Entelechie. Das Organische hat sein Ziel in sich selbst. Das Mögliche des Keims vollendet sich zum Wirklichen als Reifung. Der Freiheitsgedanke ist hier nicht nötig, und von einem Paradigmawechsel ist auch nicht zu reden. Was bei Schiller aber Veredelung, vom Naturhaften ausgehend auf Vervollkommnung im Vernunftkulturhaften zu, zu verstehen ist, ist bei Goethe Entelechie, d.i. Entfaltung von etwas Angelegtem zur Blüte hin. Die Weltgeschichte weist für die Menschheitsgeschichte einen typischen Verlauf auf. Dieser Verlauf führt von der Despotie bei fehlender Freiheit über das Verbrechen bei gesetzloser Freiheit zur Vernunftgesetzgebung bei Freiheit aus Vernunft. Man könnte diesen Dreierschritt beim Geschichtsverlauf der ehemaligen UDSSR oder des IRAKs erneut feststellen wollen. Diese Geschichtsfinalität ist typisch für die abendländische Geschichtsauffassung geworden. Der teleologisch-finalistische Grundzug ist bei Goethe und Schiller im Ansatz vergleichbar, wenn auch die Durchführung bei Schiller eher dialektisch, bei Goethe aber naturnotwendig kausal gedacht wird. Hier sind im Denkanfang Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten, die beide verbinden. Diese Verbindung baut aber auf der Spannung, daß hier noch ein Wort zwischen beiden ungesagt bleibt. Das gilt auch für die folgenden Vorstellungen beider: Wenn Schiller Despotie und verbrecherische Freiheit sich im Mittelzustand der vernünftigen Freiheit ausgleichen sieht, so kommt er einer Denkungsart nahe, die für Goethe typisch ist. Goethe lehnte für sich die Konsequenz eines schlimmst- oder bestmöglichen Verlaufs ab und setzte auf Ausgleichung. Auch hier gibt es also gedankliche Annäherungen, die die sonst bestehenden Differenzen beim Weltzugang mildern. Die unterschiedliche Deutung dieser Oberflächengemeinsamkeiten als Erfahrung oder Idee werden Goethe und Schiller zu keinem Zeitpunkt überwinden können. 011. Aus: Über Völkerwanderung, Kreuzzüge und Mittelalter Erster Zustand: Despotie „Aus der unnatürlichen und entnervenden Ruhe, in welche das alte Rom alle Völker, denen es sich zur Herrschaft aufdrang, versenkte, aus der weichlichen Sklaverei, worin es die tätigsten Kräfte einer zahlreichen Menschenwelt erstickte, sehen wir das menschliche Geschlecht durch die grenzenlose stürmische Freiheit des Mittelalters wandern, um endlich in der glücklichen Mitte zwischen beiden Äußersten auszuruhen, und Freiheit mit Ordnung, Ruhe mit Tätigkeit, Mannichfaltigkeit mit Übereinstimmung wohltätig zu verbinden. Die Frage kann wohl schwerlich sein, ob der der Glückszustand, dessen wir uns erfreuen, dessen Annäherung wir wenigstens mit Sicherheit erkennen gegen den blühendsten Zustand, worin sich das Menschgeschlecht sonst jemals befunden, für einen Gewinn zu achten sei, und ob wir uns gegen die schönsten Zeiten Roms und 8 Griechenlands auch wirklich verbessert haben. Griechenland und Rom konnten höchstens vortreffliche Römer, vortreffliche Griechen erzeugen – die Nation auch in ihrer schönsten Epoche, erhob sich nie zu vortrefflichen Menschen. Eine barbarische Wüste war dem Athenienser die übrige Welt außer Griechenland, und man weiß, daß er dieses bei seiner Glückseligkeit sehr mit in Anschlag brachte. Die Römer waren durch ihren eigenen Arm bestraft, da sie auf dem ganzen großen Schauplatz ihrer Herrschaft nichts mehr übrig gelassen hatten, als römische Bürger und römische Sklaven. Keiner von unsern Staaten hat ein römisches Bürgerrecht auszuteilen, dafür aber besitzen wir ein Gut, das, wenn er Römer bleiben wollte, kein Römer nennen durfte – und wir besitzen es von einer Hand, die keinem raubte, was er Einem gab, und was sie Einmal gab, nie zurücknimmt, wir haben Menschenfreiheit (=im Carlos wird Schiller es Gedankenfreiheit nennen); ein Gut, das – wie sehr verschieden von dem Bürgerrecht des Römers! – an Wert zunimmt, je größer die Anzahl derer wird, die es mit uns teilen, das von keiner wandelbaren Form der Verfassung, von keiner Staatserschütterung abhängig, auf dem festen Grunde der Vernunft und Billigkeit ruhet. Der Gewinn ist also offenbar und die Frage ist bloß diese: War kein näherer Weg zu diesem Ziele? Konnte sich diese heilsame Veränderung nicht weniger gewaltsam aus dem römischen Staate entwickeln, und mußte das Menschengeschlecht notwendig diese traurige Zeitstrecke vom vierten bis zum sechzehnten Jahrhundert durchlaufen? Schiller verweist darauf, daß notwendiger Bedingungen bedarf, bis der feste Grund der Vernunft sich durchsetzen kann. Ein langwieriger, schwerer und merkwürdiger Kampf habe sich ergeben. Zweiter Zustand: verbrecherische Freiheit ...eine traurige Nacht, die alle Köpfe verfinstert, hängt (Ks. mit dem Mittelalter) über Europa herab, und nur wenige Lichtfunken fliegen auf, das nachgelaßne Dunkel desto schrecklicher zu zeigen. Die ewige Ordnung scheint von dem Steuer der Welt geflohen, oder, indem sie ein entlegenes Ziel verfolgte, das gegenwärtige Geschlecht aufgegeben zu haben. Aber, eine gleiche Mutter (Ks: die ewige Ordnung) allen ihren Kindern, rettet sie einstweilen die erliegende Ohnmacht an den Fuß der Altäre, und gegen eine Not, die sie ihm nicht erlassen kann, stärkt sie das Herz mit dem Glauben der Ergebung. Die Sitten vertraut sie dem Schutz eines verwilderten Christentums, und vegönnt dem mittlern Geschlechte sich an diese wankende Krücke zu lehnen, die sie dem stärkern Enkel zerbrechen wird. Es ist sicher richtig, hier Schillers Einstellung zum Christentum abzulesen. Aber in diesem langen Kriege erwarmen sich zugleich die Staaten und ihre Bürger, kräftig wehrt sich der deutsche Geist gegen den Herzumstrickenden Despotismus, der den zu früh ermattenden Römer erdrückte, Dritter Zustand: Freiheit aus Vernunft der Quell der Freiheit springt in lebendigem Strom, und unüberwunden und wohlbehalten langt das spätere Geschlecht bei dem schönen Jahrhundert an, wo sich endlich, herbeigeführt durch die vereinigte Arbeit des Glücks und des Menschen, das Licht des Gedankens mit der Kraft des Entschlusses, die Einsicht mit dem Heldenmute gatten soll. 9 Heldenmute: Hier tauchen Formulierengen auf, die den Abstieg in dem Verlust jeglicher Menschenwürde im 20. Jahrhundert den verhängnissvollen Weg bahnen. Rom fehlte es an Vernunftweisen. Die griechische Vernunfttugend reichte nicht und die Araber seien zu früh erkaltet. Ein beßrer Genius sei es gewesen, der über das neue Europa gewacht habe. Die lange Waffenübung des Mittelalters hatte dem sechzehnten Jahrhundert ein gesundes, starkes Geschlecht zugeführt, und der Vernunft, die jetzt ihr Panier entfaltet, kraftvoller Streiter erzogen...Weil in Europa allein, und hier nur am Ausgang des Mittelaters die Energie des Willens mit dem Licht des Verstandes zusammentraf, hier allein ein noch männliches Geschlecht in die Arme der Weisheit geliefert wurde. Schiller weiß, daß die Aufklärung eine langsame Pflanze ist, die zu ihrer Zeitigung einen glücklichen Himmel, viel Pflege und eine lange Reihe von Frühlingen braucht. Schiller kennt die Gefahren, die sich bei der Pflege der Kultur einstellen. Grundsätzlich gilt, daß keine Kultur unter existentieller Bedrohung eintreten kann. Existentielle Bedrohung erfordert unmittelbare Reaktion und läßt keine Zeit zur Abwägung der Entscheidungen hinsichtlich der Werte des Menschengemäßen. Überleben fordert situationsangemessene Abwehr der Bedrohung ohne Zeitverlust. Freiheit und Kultur (In: Über Völkerwanderung...) Freiheit und Kultur, so unzertrennlich beide in ihrer höchsten Fülle miteinander vereinigt sind, und nur durch diese Vereinigung zu ihrer höchsten Fülle gelangen, so schwer sind sie in ihrem Werden zu verbinden. Ruhe ist die Bedingung der Kultur, aber nichts ist der Freiheit gefährlicher als Ruhe. Alle verfeinerte Nationen des Altertums haben die Blüte ihrer Kultur mit ihrer Freiheit erkauft, weil sie ihre Ruhe von der Unterdrückung erhielten. Und eben darum gereichte ihre Kultur ihnen zum Verderben, weil sie aus dem Verderblichen entstanden war. Sollte dem neuen Menschengeschlecht dieses Opfer erspart werden, d.i. sollten Freiheit und Kultur bei ihm sich vereinigen, so mußte es seine Ruhe auf einem ganz anderen Weg als dem Despotismus empfangen. Kein andrer Weg war aber möglich als die Gesetze, und diese kann der noch freie Mensch nur sich selber geben. Dazu aber wird er sich nur aus Einsicht und Erfahrung entweder ihres Nutzens, oder der schlimmen Folgen ihres Gegenteils entschließen. Jenes setzte schon voraus, was erst geschehen und erhalten werden soll; er kann also nur durch die schlimmen Folgen der Gesetzlosigkeit dazu gezwungen werden. Gesetzlosigkeit aber ist nur von sehr kurzer Dauer, und führt mit raschem Übergange zur willkürlichen Gewalt. Ehe die Vernunft die Gesetze gefunden hätte, würde die Anarchie sich längst in Despotismus geendigt haben. Sollte die Vernunft also Zeit finden, die Gesetze sich zu geben, so müßte die Gesetzlosigkeit verlängert werden, welches in dem Mittelalter geschehen ist. Meine Überlegungen gehen dahin, in der Schillerschen Spekulation Vorstellungskeime zu entdecken, wenn nicht sogar Begriffe, die zukünftiges Denken vorwegnehmen oder einleiten.