freiheit und versöhnung - 29. Deutscher Evangelischer Kirchentag

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Pressezentrum
Dokument:
Sperrfrist:
Samstag, 16. Juni 2001; 11:00 Uhr
Programmbereich:
Themenbereich 3: In Freiheit bestehen
Veranstaltung:
Vortragsreihe
Referent/in:
Prof. Dr. Neville Alexander, Kapstadt/Südafrika
Ort:
Messe, Halle 1.2, Ludwig-Erhard-Anlage 1 (Innenstadt)
3/003 PF
FREIHEIT UND VERSÖHNUNG
Hoffnung und Wunder
Ist Südafrika ein Land der guten Hoffnung? Als der portuguiesische König, Joao III damals
am Ende des 15. Jahrhunderts die Dialektik der Weltgeschichte von seinem eurozentrischen
Standort aus offenbarte, indem er das „Kap der Stürme“ von Bartholomeu Dias in das „Kap
der guten Hoffnung“ umtaufte, wollte er in erster Linie darauf hinweisen, dass der Seeweg
nach Indien endlich entdeckt worden war. Er war der erste Europäer, der die Aussage des
englischen Historikers, Lord Acton, dass ganz Afrika für die Europäer der Aufklärungszeit
nichts mehr als ein Hindernis auf dem Weg zum Orient darstellte, offenkundig machte.
Bis zum Ende des 19. Jahrjunderts war diese Wahrnehmung die hervorherrschende unter
Europäern. Sklaven und andere primäre Waren wurden aus dem Kontinent weggetragen, um
neben anderen Faktoren die Grundlage für das sich entwickelnde kapitalistische System zu
schaffen. Südafrika selber wurde erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nach der
Entdeckung der großen Diamantfelder und Goldgruben im Herzen des Landes für Europäer
wirklich attraktiv. Diese Ressourcen wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts mittels eines
brutalen Ausbeutungssystems, des sogenannten rassistischen Kapitalismus, aus dem Boden
hergeholt. Die ganze Infrastruktur dieses Systems, die unter anderem und vor allem auf den
Mechanismen der Wanderarbeit und des Passzwanges beruhte, wurde im Laufe des 20.
Jahrhunderts gegründet bis die Nationale Partei schliesslich in der Form der Apartheid aus
Südafrika einen Pariahstaat machte. Seitdem und bis zum Jahre 1990 galt das Land als das
Paradebeispiel eines rassistischen Staates.
Die demokratische Öffnung, die 1990 eingeleitet wurde, hat zu einer ganz anderen
Wahrnehmung geführt. Plötzlich wird Südafrika als ein Land der guten Hoffnung und der
Wunder gesehen und hochgejubelt. Nelson Mandela und Bischof Tutu auf der einen Seite, F.
W. De Klerk und General Viljoen auf der anderen Seite, werden als die großen Vorbilder der
Toleranz und der Weisheit gefeiert. Man spricht allerseits von einem politischen Wunder,
einer Behauptung, die offensichtlich darauf zielt, die südafrikanischen Verhandlungen der
modernen Menschheit als nachzuahmendes Vorbild vorzuhalten. Es wird auch behauptet,
dass auf dieses politische Wunder jetzt das Wirtschaftswunder und auf dem Wege des
Nation-building-Prozesses ein Kulturwunder folgen sollen und wahrscheinlich auch werden.
Drei Wunder also! Was einen an das römisch-katholische Verfahren der Heiligsprechung
durch die Congregatio pro Causis Sanctorum erinnert. Dabei geht es u.a. bekanntlich um die
Prüfung der Lebensführung sowie um die Untersuchung mehrerer der heiligzusprechenden
Person zugeschriebenen Wunder. Im folgenden möchte ich diese Herangehensweise
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benutzen, um festzustellen ob bzw in welchem Maße wir im Falle Südafrikas von einem
Wunder oder gar von mehreren Wundern reden kann. Wegen der Zeit- und Raumnot,
konzentriere ich mich auf die Diskussion über Freiheit, d.h. das politische Wunder, und
Versöhnung, d.h. das Wunder der Integration eines zerrissenen Volkes.
Über die Freiheit
Das Erlangen des allgemeinen Wahlrechts und das Erstellen eines
Menschenrechtsmanifests im Grundgesetz der neuen Republik Südafrika sind wahrlich
historische Errungenschaften des Menschengeistes. Wir haben, wie so oft von
südafrikanischen Politikerinnen und Politikern betont wird, eine der progressivsten
Verfassungen auf der ganzen Welt. Wir sind also frei, weil wir heute in einem
demokratischen Rechtsstaat leben. Für diejenigen, die es sich leisten können, steht alles
offen und ist fast alles möglich. Ebenso wie in den meisten anderen modernen Demokratien
besteht diese Skala der Freiheit aber nur für eine dünne Bevölkerungsschicht, weil die
meisten Bürgerinnen und Bürger den Genuss dieser Freiheit sich eben nicht leisten können.
In diesem Sinne ist die südafrikanische Gesellschaft einfach normalisiert worden. Die
gleichen Ungleichheiten wie wir sie in allen anderen kapitalistischen Ländern vorfinden, sind
heute auch bei uns anzutreffen. Sie sind aber wegen der kolonialistisch-rassistischen
Vergangenheit der „Superausbeutung“ in einem erhöhten Maße vorhanden. Südafrika hat
noch immer einen der höchsten Gini-Koëffizienten auf der Welt. Nach Brasilien und
Kolumbien ist Südafrika jenes Land, wo die Kluft zwischen Armen und Reichen am
breitesten und tiefsten ist.
Wir kommen also bald auf die ökonomischen Verhältnisse zu sprechen, wenn wir die Frage
der errungenen Freiheit analysieren. Anders formuliert, wir können das politische Wunder
ohne Inbetrachtnahme des Wirtschaftswunders nicht diskutieren. Das Ausbleiben des
Wirtschaftswunders stellt eben das sogenannte politische Wunder in Frage. Der Rektor
meiner Universität in Kapstadt, Professor Njabulo Ndebele, hat diese Frage auf brillante
Weise als eine Reihe von Antinomien des neuen Südafrika dargestellt. In einem Referat über
die Wahrheits und Versöhnungskommission, die berühmte TRC, stellte er folgende Fragen:
„... Wie können wir Südafrikaner die Forderung der Schwarzen nach einer
Mehrheitsregierung mit den Ängsten der Weißen, die von dieser Forderung herrühren, in
Einklang bringen? Wie kann die Umverteilung von Ressourcen und Chancen stattfinden,
ohne dass die Wirtschaft zerstört wird? Wie kann Südafrika die Rechte der weißen
Bürgerinnen und Bürger schützen, ohne dadurch die ererbten Privilegien zu verfestigen? Wie
lässt sich die kulturelle Autonomie von Gruppen mit dem nation building Projekt vereinbaren?
Wie erlangen wir soziale Gerechtigkeit, solange die großen Ungleichheiten in Bezug auf den
Zugang zu Wohnungen, Bildung und Einkommen und bei der Beherrschung der Medien und
der weitgehenden kulturellen und sprachlichen Dominanz einer Bevölkerungsminderheit
bestehen? Wie soll Gerechtigkeit möglich sein, wenn die Verantwortlichen für abscheuliche
Menschenrechtsverletzungen durch Amnestie davonkommen?“ (Übersetzung von NEA)
Ich benutze absichtlich den Begriff der Antinomie, um diese Problematik zu beschreiben,
nicht weil ich Pessimist bin oder gar die analytische Relevanz der Dialektik, die ja die
Möglichkeit der Versöhnung von widersprüchlichen Ausgangspunkten beinhaltet, ablehne,
sondern weil ich eben darauf hinweisen möchte, dass jede echte Lösung der Probleme
unseres Landes eine Standortverschiebung der herrschenden Gruppen impliziert. Ich gehe
trotzdem davon aus, dass wir Grund zur Hoffnung haben und dass wir keineswegs in der
Sackgasse der Armut stehenbleiben müssen. Auf wirtschaflichem Gebiet hat das neue
Südafrika mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie alle anderen Länder des Südens. Die
makro-ökonomische Strategie, die in Südafrika unter dem Namen GEAR, d.h., Growth,
Employment and Redistribution, bekannt ist, ist ein von der Weltbank vorgeschriebenes
Strukturanpassungsprogramm, welches genau die gleichen Ziele wie alle anderen
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Programme dieser Art verfolgt. Das heisst also, Südafrika soll seine Grenzen für die Waren
der ganzen Welt, sprich des Nordens, öffnen, indem es die Einfuhrzölle immer weiter senkt;
es soll weniger auf den sozialen Sektoren wie Erziehung, Gesundheit und Wohlfahrt
ausgegeben werden, der Staat soll sich aus den meisten ökonomischen Aktivitäten
zurückziehen, usw. Dem Kapital wird der Vorrang in allen Erwägungen der Staatsräson
gegeben. Das ganze Land soll sich nach dem Bedürfnis, Investitionskapital nach Südafrika
anzuziehen, richten. Die verheerenden Folgen dieser Wirtschaftspolitik sind überall auf den
Straßen in den Städten wie auch in den ländlichen Gebieten sichtbar. Eine Arbeitslosenrate
von mehr oder weniger 50%, dramatisch sich steigende Kriminalität und Gewalt, vor allem
gegen Frauen und Kinder, sowie eine dementsprechend rasch wachsende
Sicherheitsindustrie und nicht zuletzt, das Verbreiten von allerlei Seuchen, allen voran AIDS:
das sind nur einige der sichtbarsten Krisenerscheinungen. Dass eine solche Situation für die
Realisierung der Menschenwürde die denkbar ungünstigste ist, ist wohl klar. Weil solche
Verhältnisse uns die Freiheit entnehmen, wird es unmöglich, die Würde des Menschen im
neuen Südafrika zu garantieren. Wie unsere vatikanischen Vorbilder dürfen wir also ohne
weiteres die Frage stellen, mit was für einem Wunder wir es in Südafrika nach der Apartheid
zu tun haben.
Das politische Wunder, das dem System der Apartheid ein Ende machte, war die Folge einer
einmaligen geopolitischen und gesellschaftlichen Konvergenz. Ohne Gorbatchows Politik
wäre das Zustandekommen des neuen Südafrika so schnell nicht passiert. Der Mauerfall,
das Ende des kalten Krieges und der folgliche Sieg der neoliberalen Wirtschaftsorthodoxie
waren alles Elemente, die den Rahmen für das, was sich in Südafrika wie in vielen anderen
Ländern vor allem des Südens in den 90er Jahren abspielte, bildeten. Vor Ort wirkten
historische, soziale und personelle Faktoren mit, um das Wunder eines friedlichen
Übergangs vom Gewaltsystem der Apartheid zum demokratischen Rechtsstaat
herbeizuführen. Dabei spielten vor allem folgende Faktoren eine ausschlaggebende Rolle.
Das Gleichgewicht der sozialen Kräfte, das etwa im Jahre 1980 erreicht wurde, war die
eigentliche Grundlage der „verhandelten Revolution“, wie Heribert Adam und Kogila Moodley
das unwahrscheinliche Resultat des Befreiungskampfes nannten. Es stimmte nämlich, dass
die schwarzen Arbeiter einerseits und die weissen Arbeiter andererseits, die südafrikanische
Wirtschaft in den achtziger Jahren von sich aus lahmlegen konnten. Die Eigentümer und
Aktionäre der Großwirtschaft wussten also spätestens um das Jahr 1985 herum, dass das
System brüchig und reformbedürftig geworden war. Die gleichen Leute also im In- und
Ausland, die die Apartheid aufrechterhalten hatten, weil sie ihnen Gewinne in die Taschen
brachte, wollten sie jetzt baldmöglichst beseitigen, weil sie es offensichtlich nicht mehr
konnte, bzw. angesichts der rituellen Ablehnung von Rassismus, ethnischer Säuberung und
Genozid durch die Weltöffentlichkeit nur mit großen Unannehmlichkeiten konnte. Die
wichtigste Stütze des Systems wurde ihm also durch die großen Anti-Apartheidkämpfe der
70er und 80er Jahre weggetnommen. Und da die Politik Gorbaschows den Westen in die
Lage versetzte, dass er die Unterstützung einer weissen Minderheitsregierung als politischen
Garanten des kapitalistischen Gewinnsystems an der Südspitze des afrikanischen
Kontinents beenden konnte, fingen sogar die Politiker der faschistoiden Nationalen Partei an,
das Menetekel zu verstehen. Es war P. W. Botha, der bald nach dem Sowetoaufstand im
Jahre 1976 anfing, den Purzelbaum zu schlagen, der von De Klerk vollzogen wurde.
Im Afrikanischen Nationalkongress (ANC) war der „valid interlocutor“, d.h., der geeignete
Gesprächspartner vorhanden. Diese Organisation, die seit den 60er Jahren, den Kampf
gegen die Apartheid angeführt hatte, hatte sich seit ihrer Gründung im Jahre 1912 niemals
den revolutionären Sturz der weissen Minderheitsregierung zum Ziel gesetzt. Sie hatte,
ausgenommen Mitte der 80er Jahre, als eine militante Tendenz in der Partei von einer
„iranischen Revolution“ in Südafrika redete, immer wieder betont, dass es ihr strategisches
Ziel wäre, das Apartheidregime an den Verhandlungstisch zu zwingen. Der bewaffnete
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Kampf kam nie über das Niveau der bewaffneten Propaganda hinweg, war also tatsächlich
eine Weiterführung der Politik des friedlichen Widerstandes durch andere Mittel.
Wie so oft in der Geschichte einer bewegten Zeit mündete das ganze Geschehen in der
letzten Phase des Kampfes in das Tun und Lassen eines großen Menschen. In dem
südafrikanischen Fall geschah dies in einem so hohen Maße, dass die überragende
Persönlichkeit Nelson Mandelas als deus ex machina gesehen wurde. Er war es, so schien
es mindestens allen, die die objektive Bewegung der Geschichte in Südafrika nicht verfolgt
hatten, der anscheinend ganz alleine das Wunder der Peripatie in dem Land der Apartheid
vollbrachte. Es soll hier vom Verdienst dieses ehrwürdigen Menschen gar nichts
weggenommen werden. Er selber wäre der letzte, der für sich den Verdienst der politischen
Befreiung der südafrikanischen Bevölkerung in Anspruch nehmen würde. Dazu ist er nicht
nur echt bescheiden, sondern er versteht auch, dass eine rein biographische Interpretation
der Rolle des Individuums in der Geschichte auf nichts mehr und nichts weniger als Hybris
hinausläuft.
Tatsache ist, in der weißen Republik Südafrika hatten alle, die sich für politische Fragen
interessierten, spätestens ab 1976, als Soweto brannte, einen Rassenkrieg bzw. einen
Völkermord erwartet. Da die weiße Minderheit nur auf dem Weg der brutalsten Repression
die sich in Wogen der Mobilisierung gegen das Apartheidsystem auflehnende schwarze
Mehrheit beherrschen konnte, andererseits aber eben diese Mehrheit die militärische Macht,
die sie brauchte, um die Minderheit zu stürzen, auf keine Weise zusammentragen konnte,
sah die sich eskalierende Auseinandersetzung immer mehr wie ein mathematisch
berechenbarer Kollisionskurs aus. Eine Menschenschlachtung, wie es sie seit dem Zweiten
Weltkrieg nur in Ruanda, vielleicht auch noch in Indonesien oder in Kambodscha gegeben
hat, stand offensichtlich bevor.
In einem Zeitalter, wo Nachrichten immer nur schlechte Nachrichten sind, war das
Erscheinen dieses Engels an sich schon etwas Wunderbares. Was er aber vollbrachte, das
war kaum zu fassen. Er hat ganz alleine quasi dem von allen erwarteten Krieg vorgebeugt.
Sogar ernstzunehmende Akademiker und vor allem Politologen haben sich von dieser
märchenhaften Erzählung verführen lassen. Nelson Mandela ist ohne Zweifel einer der
eindruckvollsten und imposantesten Menschen, den man auf einem Lebensweg
kennenlernen könnte. Aber, wie ich schon angedeutet habe, das südafrikanische Wunder
kann auf die Taten eines Individuums alleine nicht zurückgeführt werden. Der Weg von der
Apartheid zur Demokratie hätte zwar ohne einen Mandela ganz andere Züge und Merkmale
getragen; er wäre aber über lang oder kurz von den Menschen Südafrikas angetreten
worden.
Wir sind, wie ich meine, bei weitem noch nicht ausserhalb der Gefahrenzone, dass wir so
ohne weiteres von einem Wunder reden können. Das ganze südliche Afrika bis hin zu
wichtigen zentralafrikanischen Ländern wie Uganda und Kongo gleicht einem Kessel, der
unter Hochdruck steht und zu jeder Zeit platzen könnte. Und die vielen Schikanen, die sich
nach dem Zurückziehen Mandelas aus der Tagespolitik Südafrikas innerhalb der
regierenden Partei abspielen, könnten einen zum Zynismus neigen lassen, denn dadurch
wird vor allem die Liebe vieler Mitglieder der regierenden Partei zur Scheindemokratie
offenkundig. Wie dem auch sei, zur Zeit sind wir in Südafrika noch ein normaler bürgerlich
demokratischer Rechtsstaat, der im Vergleich zu anderen Staaten in der Gegend in der Tat
theoretisch allen Bürgern und Bürgerinnen ihre Menschenwürde gewähren könnte. Bleibt nur
die Frage, ob es der regierenden Schicht gelingen wird, die Quadratur des Kreises auf
wirtschaftlichem Gebiet zu finden.
Es ist kein Witz, wenn ich behaupte, dass in dieser Hinsicht die Lage leider sehr schwarz
aussieht. Südafrika gehört in der modernen Weltwirtschaftshierarchie der Kategorie der
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Länder mittleren Einkommens an. Genauso wie etwa in Brasilien oder in Nigeria wird es
durch die Kräfte der Globalisierung in große Nöte getrieben. Während die Regierung aus
diesem Grund die Aufgabe hat, den Armen, vor allem den Arbeitslosen gegenüber, ihre im
Wahlkampf 1994 gegebenen Versprechen von „Jobs for All“ einzuhalten, kann sie die
Umverteilung von Reichtum und anderen Ressourcen, die der ANC während des
Befreiungskampfes angedroht hatte, selbstverständlich nicht, jedenfalls nicht ohne eine
katastrophale Kapitalflucht, ausführen. Das Großkapital behält also alle die strategischen
Positionen bei, die es auch vor der Wende in Südafrika hatte. Die ANC-geführte Regierung
hat sich nach langen Debatten und innerparteilichen Auseinadersetzungen auf eine
neoliberale Wirtschaftspolitik festgelegt. Die Parteilinke ist ausgegrenzt worden und die
Gewerkschaftsführung des COSATU, von der der Widerstand gegen diese Politik eigentlich
hätte kommen sollen, wurde teils durch geschicktes politisches Taktieren teils durch
strukturelle Zwänge schachmatt gesetzt. Das Ethos des Neokorporatismus, der vor allem
von den deutschen Gewerkschaften den südafrikanischen Genossinnen und Genossen
beigebracht wurde, wird heute als Credo bis auf einige Ausnahmen von allen
südafrikanischen Gewerkschaftlern als selbsverständlich hingenommen. Es finden zwar
große Auseinandersetzungen zwischen der geschmeidigen Führung der
Gewerkschaftsbewegung einerseits und jenen wenigen Gewerkschaftlern, vor allem
Vertrauensleuten und Organisatoren andererseits statt, die noch am sozialistischen Ideal von
gestern und an der basisdemokratischen Tradition der Gewerkschaften festhalten, aber es
ist eine ausgemachte Sache, dass die reformistische Tendenz den Sieg in diesem Kampf
davontragen wird. Das haben wir in den letzten Wochen im Falle des Volkswagenstreiks in
Uitenhage wieder ganz deutlich erleben müssen. Die Regierung und die Wirtschaft können
aber den Folgen der neoliberalen Politik nicht entkommen. Wie in anderen Ländern des
Südens gibt es schon und wird es in steigendem Maße klassenkämpferische
Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Eigentümern bzw. Aktionären geben. Trotz
der hohen Arbeitslosenrate haben die Gewerkschaften paradoxerweise eine große
Hebelkraft, weil die Politik der Apartheid zu einem erheblichen Mangel an geschulten
Arbeitskräften in Südafrika führte. Dieser Rückstand ist noch lange nicht ausgewischt
worden.
Ich würde aber trotz dieser Feststellung behaupten, daß diese Klassenkämpfe, in denen zum
ersten Mal die Rassentrennungslinie keine direkte Rolle spielt, im Rahmen einer
normalisierten kapitalistischen Gesellschaft stattfinden werden. Sie werden nicht wie in der
Vergangenheit notwendig die Gefahr der gesellschaflichen Destabilisierung mit sich bringen.
Es sei denn, die kriegerischen Konflikte, die das Südliche Afrika zur Zeit heimsuchen,
würden sich auf südafrikanischen Boden verlagern. Das ist nicht so unwahrscheinlich, wie es
an der Oberfläche scheinen mag; man sehe sich mal an, was zu dieser Stunde in Zimbabwe
vor sich geht.
Die Gefahr von links besteht zur Zeit gar nicht. Der Sozialismus als ernstzunehmendes
Projekt hat auch in Südafrika seine Glaubwürdigkeit verloren. Was nicht bedeutet, dass er
eine Reinkarnation nicht erleben könnte; der reale Kapitalismus hat ja in Ländern wie
Südafrika offensichtlich die Probleme der großen Mehrheit der Menschen gar nicht gelöst.
Trotz der lautstarken Anwesenheit einer sogenannten „kommunistischen“ Partei innerhalb
des ANC sind die Kommunisten tatsächlich Gefangene der ANC-Mitte. Es kann von heute
auf morgen etwas ganz anderes als das, was ich hier prophezeie, geschehen, denn wir
leben in der Tat in bewegten Zeiten, aber ich glaube aufgrund ausführlicher Kenntnisse der
Lage behaupten zu können, dass eine antikapitalistische Bewegung großen Ausmaßes sich
kurzfristig in Südafrika nicht konsolidieren wird.
Die rechtsradikale Bewegung hat zunächst ihre Zeit verpasst. Sie lernt zur Zeit die Lektion,
die Gorbatschow einst verkündete: die Geschichte bestraft diejenigen, die zu spät kommen.
Die soziale Basis der Rechten ist in sich gegenseitig bekämpfende Splittergruppen
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aufgebrochen; es ist zwar deutlich, dass verbrecherische Elemente, die ihre Schlupflöcher in
den ehemaligen Sicherheitskräften des Apartheidstaates haben und heute immer mehr in
privatisierten Sicherheitsdiensten aufzufinden sind, als eine „dritte Macht“ selektiv und
punktuell versuchen, den neuen Staat durch grausame Freveltaten zu torpedieren. Es ist
aber ebenso deutlich, dass sie keine Hoffnung mehr haben, in der weißen oder auch in
unzufriedenen Schichten der schwarzen Bevölkerung Unterstützung zu finden. Ihr Schicksal
ist es, sich immer mehr in eine kriminelle Bande zu verwandeln. In diesem Sinne ist die
Woge der Kriminalität, die über das Land hinwegspült, eine Fortsetzung des gedämpften
Bürgerkriegs, der nominell mit den ersten demokratischen Wahlen im Jahre 1994 zu Ende
ging. Die Gefahr, dass eine Art Mafia das ganze Land in ihre Macht bekommen könnte,
besteht meiner Ansicht nach in Südafrika gar nicht. Die Lebensqualität der meisten
Menschen wird zwar von der Brutalität negativ berührt, sie unterstützen aber die Regierung,
die offen wenn auch ohne großen Erfolg gegen die Verbrecher angeht. Das Dilemma der
Regierung offenbart sich in der Entstehung von Wachsamkeitsbewegungen. Diese sind aber
meines Erachtens vorübergehende Erscheinungen. Unter dem Gesichtspunkt der Thematik
dieses Vortrags ist es klar, dass die Regierung Mbekis sich weniger um die Auswirkung einer
harten Linie gegen diese Verbrecher auf ihren Wähleranteil und sich lieber um das
Gleichgewicht zwischen unumgänglichen Repressalien gegen antisoziale Elemente auf der
einen Seite und in der Verfassung des Landes verankerten Menschenrechten auf der
anderen Seite kümmern soll.
Über die Versöhnung
Das Versöhnungsmoment ist der ganz spezifische Beitrag Mandelas zum neuen Südafrika.
Er hätte ebensogut einen Geist der nachbarschaftlichen Koexistenz – wie es etwa die
palastinensische Bewegung notgedrungen tut – zum Leitstern des Übergangs werden lassen
können. Dadurch wäre aber sofort das Problem von (rassisch definierten) Minderheiten zum
Mittelpunkt des neuen Staates geworden. Statt dessen war ihm klar geworden, dass nur eine
Politik der nichtrassistischen Integration in einem einheitlichen Staat der multikulturellen
Komplexität der südafrikanischen Gesellschaft gerecht werden kann. Ich weiss aus vielen
Gesprächen unter vier Augen im Gefängnis und anderswo, dass diese Einsicht für Nelson
Mandela eine großartige Überwindung von eingefleischten Attitüden und Stereotypen
darstellt. Wie dem auch sei, diese Frage, die ich hier nur erwähnen kann, hat
selbstverständlich tiefgreifende Implikationen für die institutionelle und ideologische
Konstruktion des neuen Südafrika gehabt. Es ist eine Frage, worin die ganze formale
Geschichte des Landes, die von der britischen Tradition tief geprägt worden ist, mitschwingt.
Es ist eine Frage, worin die Ambivalenz des historischen Augenblicks schwebt, wo Losungen
wie „Afrikanische Renaissance“ und Debatten über die Identität vor allem von weißen
Südafrikanern und Südafrikanerinnen sowohl bedrohlich als auch bemächtigend sind. Es ist
auf diesem Terrain, wo wir beweisen werden, ob Südafrika ein Land der Stürme oder ein
Land der guten Hoffnung sein wird. Mandela hat nach dem Vorbild eines Bismarck oder
eines Mazzini und vieler seiner afrikanische Vorgänger trotz seiner eigenen politischen
Erziehung im Sinne eines Südafrika, das aus vier Protonationen bestehe, versucht, einen
positiven Beitrag zu leisten. Ihm und seinen intimsten Beratern ist es zu verdanken, dass wir
die Nationalitätenfrage in Südafrika (noch) nicht im Sinne eines Vielvölkerstaates diskutieren
oder zu rekonstruieren versuchen.
Die Antinomien, die die Sphäre der Freiheit in Südafrika nach der Apartheid umrahmen,
gestalten auf ähnliche Art und Weise die Sphäre der Versöhnung. Die Herstellung der
Rahmenbedingungen für die zu hoffende Integration der ganzen Bevölkerung des Landes
war die Gründeraufgabe der Regierung der Nationalen Einheit, die damals von Mandela, De
Klerk und Buthelezi angeführt wurde. „Nation building“ und Versöhnung sind die
Schlagworte, die wir spontan mit der Amtszeit Mandelas assoziieren. Wie wir heute wissen,
haben diese Männer der ersten Tage nur kurz ihre Flitterwochen in dem schönen neuen
Südafrika verbringen können. Die Männer und Frauen von heute sind viel bescheidener
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geworden. Sie haben zwar die Hoffnung auf die nationale Einheit nicht aufgegeben, aber der
Päsident des Landes spricht offen und öfters von einem Land, worin zwei Nationen leben,
eine reiche weiße Nation und eine arme schwarze Nation. Es wird im heutigen Südafrika
inbrünstig über Identitätsfragen debattiert: ob z. B. weiße Südafrikaner und
Südafrikanerinnen tatsächlich Afrikaner werden können, oder ob alle schwarze Menschen
auf der Welt ipso facto Afrikaner seien, rassistische und ethnizistische Haltungen treten
häufig zu Tage und die Zahl der rassistischen Ausschreitungen nimmt offensichtlich zu.
Allen, die sich ernsthaft mit der sozialen Frage in Südafrika befassen, ist es klar, dass in
erster Linie eine radikale Umverteilung von ererbten Ressourcen in die Wege geleitet werden
soll, wenn wir uns aus der Sackgasse der Armut und aus der Hölle der Unterentwicklung
befreien wollen. Um diese zweite Befreiung aufrechterhalten und konsolidieren zu können,
wird es unerlässlich sein, ein breitangelegtes Programm der Ausbildung der
südafrikanischen Jugend auf sämtlichen Gebieten des Lebens zu unternehmen. Die AIDSSeuche ist ein unmittelbares, aber vorübergehendes Problem, das von der Regierung Mbeki
nicht nur verkannt, sondern vor allem auf schädlich inkompetente Weise verpfuscht worden
ist. Die Kriminalität und die Gewalt, die zur Zeit die Lebensqualität aller Südafrikaner und
Südafrikanerinnen beeinträchtigt, werden nur unter besseren wirtschaftlichen Bedingungen
in Griff bekommen werden können. Wenn es für die Länder des südlichen Afrika einen
Marshall Plan gegeben hätte, hätte ich ohne weiteres gesagt, dass dem politischen Wunder
ein Wirtschaftswunder zwangsweise gefolgt wäre.
Eine solche Strategie käme aber jener Standortverschiebung gleich, von der anfangs die
Rede war. Stattdessen aber bewegt sich das Kapital in Südafrika, seinem Wesen
entsprechend in die entgegengesetzte Richtung! Es besteht heute in der Tat die Gefahr,
dass Südafrika entgegen der Absicht seiner politischen Führung zum gehassten Hegemon
des Subkontinents werden könnte. Denn das südafrikanische Kapital, das ja jetzt überall hin
kann, nicht nur weil die Apartheid abgeschafft ist, sondern auch weil die Ära der
Globalisierung alle Märkte, auch die fragilen Märkte der schwachen Länder des südlichen
Afrika, als für das internationale Kapital offen deklariert worden sind, bewegt sich zielbewusst
und auf aggressive Weise in die grossartigen Ausbeutungsgelegenheiten, die ihm in
Lesotho, Swaziland, Mosambik und den anderen Ländern der SADC zuwinken. Die
südafrikanische politische Führung kann noch so oft behaupten, es handele sich um
abgestimmte gerechte Entwicklung im ganzen Gebiet der Gemeinschaft, wenn diese noblen
Worte in der Wirklichkeit dazu führen, dass die anderen Länder der Gemeinschaft immer
mehr vom südafrikanischen Kapital abhängig wird, könnte das irgendwann zu internationalen
Auseinandersetzungen wie zur Zeit in Kongo und in Angola kommen. Dieses Schicksal
müssen wir auf jeden Fall umgehen.
Zum Schluss soll eine kurze Aussage über die Bedeutung der viel gerühmten
südafrikanischen Wahrheitskommission nicht ausbleiben. Ich habe mich anderswo1
ausführlich mit diesem Instrument der „verhandelten Revolution“ auseinandergesetzt. Hier
möchte ich ganz kurz behaupten, dass die Kommission weder im Hinblick auf Wahrheit noch
im Hinblick auf Versöhnung viel Erfolg hatte. Dafür soll ihr aber die Schuld nicht in die
Schuhe geschoben werden. Denn der Auftrag, auf dessen Basis sie ihre Arbeit verrichtete,
war von vorneherein nicht zu realisieren. Der populäre Glaube, dass in einer vom Rassismus
verunstalteten Gesellschaft die vermeintlich therapeutischen Riten einer solchen
Kommission die Versöhnung der diversen Bevölkerungsteile herbeiführen könnte, war ein
notwendiges Märchen der ersten Jahre des Übergangs. Er hat in keinem Staat der Welt und
zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit irgendwelche Glaubwürdigkeit haben
können. Er rührte in erster Linie von dem Charisma der beiden Zauberer der neueren
südafrikanischen Geschichte, also Desmond Tutus und Nelson Mandelas her.
1
Siehe mein zu veröffentlichtes Buch Von der Apartheid zur liberalen Demokratie, das im Beck Verlag im
Erscheinen begriffen ist.
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Unter dem Gesichtspunkt der Vergangenheitsbewältigung rührt die eigentliche Schwäche
der Kommission daher, dass sie um die Frage der Moralschuld herumredet, indem sie sie
zwischen Tätern und Opfern gleichmässig zu verteilen versucht und sie zugleich
individualisiert, dadurch, dass sie vom Systemzusammenhang losgelöst wird. Dies ist die
direkte Folge des verhandelten Kompromisses, denn die Kommission musste eine
Formulierung erfinden, mit der sich alle Südafrikanerinnen und Südafrikaner identifizieren
können. Deswegen werden alle „Täter“ ohne Nuancierung gleich behandelt. Es ging der
Kommission nicht um die Moralität, sondern eben um die sogenannte Legalität.
Es soll deutlich gesagt werden, dass das System der Apartheid, seine Institutionen,
Strukturen und Obrigkeitshierarchie nicht untersucht wurden, trotz allem, was im Bericht
andeutungsweise behauptet wird. Man konzentrierte die ganze Untersuchung auf die
monströsen Individuen, jene Urbösen, die grobe Verletzungen verübt hatten.
Definitionsfragen entarten in reine Wortspiele, wenn man versucht, ausserhalb des Systems
zu diskutieren. Es versteht sich, dass jede Person, die sich an einer
Menschenrechtsverletzung schuldig gemacht hat, durch keine Argumentation ihrer Schuld
entlastet werden kann. Doch es besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen dem (weißen
oder schwarzen) Polizisten, der den Passzwang gegen die schwarze Bevölkerung während
der Apartheid vollstreckte, und dem uniformierten Rowdy, der mit oder ohne Zustimmung
seiner Vorgesetzten gefoltert und getötet hat. Die ganze Sache wird suspekt und kommt
einer Scharade gleich, wenn wir feststellen, dass mit nur einer Ausnahme keiner der
Apartheidgrößen, der Strategen, Theoretiker und Denker sich vor der Kommission hat
verantworten müssen. Es fällt auch auf, dass der ganze Wirtschaftssektor, die Justiz und
andere wichtige Stützen der Apartheid wie etwa die Medien beinahe makellos
davongekommen sind. Andere Sektoren, z. B. die Akademikerinnen und Akademiker, die
das Apartheidsystem durch ihre pseudowissenschaftlichen Schriftchen rechtfertigten und
kosmetisch zurecht machten, wurden nicht mal vor die Kommission geladen, ungeachtet der
Tatsache, dass sie die soziale und intellektuelle Umgebung, in der wir zur Zeit der Apartheid
leben mussten, zu verschmutzen geholfen hatten.
Es wäre voreilig und überheblich, behaupten zu wollen, die Wahrheitskommission wäre mit
ihrem Nation-building-Versöhnungsprojekt gescheitert, auch wenn jeden Tag in Südafrika
grässliche Zeichen dafür vorhanden sind, dass wir noch immer in einer zutiefst zerspaltenen
Gesellschaft leben. Ich glaube, behaupten zu können, dass andere Versuche als derjenige
der Kommission, sich mit der jüngsten Vergangenheit des Landes auseinanderzusetzen, viel
mehr zum Versöhnungsprozess beigetragen haben. Viele Museen, allen voran das District
Six Museum und das Robben Island Museum, haben ohne Zweifel sehr viel zur Erweiterung
des historischen Bewusstseins aller Südafrikaner und Südafrikanerinnen beigetragen. Sie
haben dies übrigens bewerkstelligt, ohne revanchistische Gefühle anzufeuern, obwohl diese
nicht verborgen bleiben.
Es gibt auch eine tiefergehende strukturelle Kritik des Berichts der Kommission, die von
verschiedenen Universitätsdozenten geleistet worden ist. Sie betonen, dass der Bericht sich
mit der Frage des Rassismus, einer der zentralen Fragen des Systems der Apartheid, nicht
genügend auseinandersetzt und meinen, dass dieser Mangel von vorneherein dazu führen
muss, dass der Bericht keine Versöhnung herbeiführen könne. Deborah Posel (1999 29–30)
schreibt z.B. wie folgt:
„Wenn wir die Bedingungen, unter denen der Rassismus in Südafrika hervorgebracht,
reproduziert und intensiviert wurde, nicht verstehen, ohne dabei seine Beziehungen zu
anderen Machtmechanismen wie etwa dem Geschlecht oder der Klasse aus dem Auge zu
verlieren, wie können wir darauf hoffen, ihn zu überwinden?“ (Übersetzung von NEA)
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Das ist eine schwerwiegende Kritik, aber es soll noch einmal gesagt werden: eine
gesellschaftstherapeutische Herangehensweise ohne die entsprechenden Massnahmen im
Unterbau des Systems sind von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Ein weiterer Punkt soll
abschliessend noch über die Versöhnungsaufgabe der Wahrheitskommission erwähnt
werden: Die Wiedergutmachung, die den Opfern versprochen wurde, fand keinen Eingang in
die „Interim Constitution“ von 1993. Zwar kam sie im Gründungsgesetz der Kommission vor,
jedoch nur als Vorschlag, der entweder von der Regierung akzeptiert werden konnte, oder
auch nicht. Man vergleiche dies mit der Amnestieklausel, die selbstverständlich in die
„Interim Constitution“ aufgenommen wurde und unter der Bedingung der vollständigen
Aufklärung präskriptiv ist. Zur Zeit beklagen sich in Südafrika sogar die Mitglieder der
Kommission darüber, dass die Regierung Mbekis die Wiedergutmachung gar nicht als eine
Frage höchster Dringlichkeit einschätzt (siehe z.B. Morris 1999). Dass solche Fragen nicht
verschwinden werden, sehen wir gerade deutlich bei den Verhandlungen über die
Entschädigung von Sklaven- und anderen Zwangsarbeitern, die die Konzentrationslager der
Nazis vor 55 Jahren überlebt haben. Und dass von Versöhnung wohl nur im rhetorischen
Sinne die Rede sein kann, solange solche ungelösten Fragen noch im Raume schweben, ist
wohl auch klar.
Was aber nicht besagen soll, dass die ganze Arbeit der Kommission eine bloße Charade und
eine ungeheure Geldverschwendung gewesen wäre. Sie bleibt ein bezeichnendes
historisches sowie historiographisches Experiment und ist ausschlaggebend für das
Verständnis der Geschichte Südafrikas nach der Apartheid. Sie ist schon jetzt ein Teil der
südafrikanischen Geschichte und der Geschichtsbücher. Weil sie ein so einzigartiger
Versuch eines Volkes ist, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, und zwar im
Sinne von unmittelbar erlebter Vergangenheit, also von Zeitgeschichte, wird sie auf alle
künftigen diesbezüglichen Versuche einen großen Einfluss ausüben. Ein Vorgang, der
offensichtlich aus einem banalpolitischen Kalkül hervorgegangen ist, würde normalerweise
über die Grenzen eines kleinen Landes hinweg keine Bedeutung haben. Die Bedingungen,
unter denen Südafrika zur bürgerlich demokratischen Gesellschaft wurde sowie die
Resonanz der charismatischen Persönlichkeit Mandelas haben aber dazu geführt, dass die
Ereignisse in unserem Land in erster Linie für den afrikanischen Kontinent, aber auch
darüber hinaus für alle multikulturellen Gesellschaftsformationen potenziell einflussreich sind.
Am Schluss dieser Notizen über Freiheit und Versöhnung am Beispiel Südafrika möchte ich
Njabulo Ndebeles Warnung zitieren:
„Es besteht die Befürchtung, dass die Erfordernisse eines modernen Staates, der selber
mächtigen globalen Kräften unterworfen ist, das emanzipatorische Projekt überwältigen
könnten.“
Die Errungenschaften des Befreiungskampfes sind von kardinaler Bedeutung in der
modernen Welt vor allem für das Verständnis des Rassismus. Sie sind ohne jeglichen
Zweifel ein bemerkenswertes Phänomen, sollen aber nicht ins Surreale überinterpretiert
werden. Erst wenn Ndebeles Befürchtung beseitigt worden ist, werden wir von einem
Wunder bzw. mehreren Wundern in Südafrika reden können.
Zitierte Aufsätze
Ndebele, N. (1999) “Of lions and rabbits: thoughts on democracy and reconciliation”. Paper
delivered at the After the TRC: Reconciliation in the New Millennium Conference, University
of Cape Town, 10–12 August 1999. Unpub. mimeo.
Posel, D. (1999) “The TRC Report: What kind of history? What kind of truth?” Paper
delivered at The TRC: Commissioning the Past Conference, University of the Witwatersrand,
11–14 June 1999. Unpub. mimeo.
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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